29 Etwas flackert auf

»Das sein Wahnsinn«, knurrte Domon von seinem Platz aus, wo er mit verschränkten Armen stand, als wollte er den Weg aus dem Wagen blockieren. Vielleicht tat er es ja tatsächlich. Sein Kinn war stur nach vorn geschoben und präsentierte einen Bart, der zwar gestutzt, aber noch immer länger als das Haar auf seinem Kopf war, und seine Hände waren in ständiger Bewegung wie bei einem Mann, der daran dachte, sie zu Fäusten zu ballen oder mit etwas zu ringen. Domon war ein breiter Mann und gar nicht so fett, wie es auf den ersten Blick aussah. Mat wollte Faustschläge oder einen Ringkampf vermeiden, wenn es ging.

Er band das schwarze Seidentuch um seinen Hals zu Ende, verbarg die Narbe und schob die langen Enden unter seinen Mantel. Die Wahrscheinlichkeit, dass es in Jurador jemanden gab, der über einen Mann aus Ebou Dar mit einem schwarzen Tuch Bescheid wusste... Nun, die Chancen schienen gut zu stehen, selbst wenn man sein Glück abzog. Natürlich musste man immer in Betracht ziehen, dass er ta'veren war, aber wenn er Suroth oder einer Gruppe von Dienern aus dem Tarasin-Palast begegnen würde, hätte er auch mit einem um den Kopf gewickelten Handtuch im Bett liegen bleiben können, und es würde trotzdem geschehen. Manchmal musste man einfach auf sein Glück vertrauen. Das Problem war nur, dass an diesem Morgen beim Aufwachen wieder die Würfel in seinem Kopf rollten. Sie prallten noch immer gegen die Innenseiten seines Schädels.

»Ich habe es versprochen«, sagte er. Es war gut, wieder vernünftige Kleidung zu tragen. Der Mantel bestand aus feinem grünem Tuch, wies einen erstklassigen Schnitt auf und hing bis fast zu seinen Knien und den umgeschlagenen Stiefelstulpen. Es gab keine Stickereien — vielleicht hätten ein paar nicht geschadet —, aber an den Ärmeln war ein Hauch von Spitze. Und er trug ein gutes Seidenhemd. Er wünschte sich, er hätte einen Spiegel gehabt. An einem solchen Tag musste sich ein Mann von seiner besten Seite präsentieren. Er hob den Umhang vom Bett auf und schwang ihn sich über die Schultern. Nicht so ein grelles Ding, wie Luca sie immer trug. Dunkelgrau, fast so dunkel wie die Nacht. Nur das Futter war rot. Die Umhangnadel bestand aus einfachen Silberknoten, die nicht größer als seine Daumen waren.

»Sie hat ihr Wort gegeben, Bayle«, sagte Egeanin. »Ihr Wort. Das wird sie nicht brechen, niemals.« Egeanin klang völlig überzeugt. Jedenfalls überzeugter, als Mat es war. Aber manchmal musste ein Mann ein Risiko eingehen. Selbst wenn es sein Hals war, den er riskierte. Er hatte es versprochen. Und er hatte sein Glück.

»Es sein trotzdem Wahnsinn«, murrte Domon. Aber er trat mürrisch von der Tür weg, als Mat seinen breitkrempigen schwarzen Hut aufsetzte. Nun ja, jedenfalls, als Egeanin ihn mit einem schnellen Ruck ihres Kopfes dazu aufforderte. Seinen finsteren Blick behielt er aber bei.

Sie folgte Mat aus dem Wagen, schaute finster drein und fummelte an der langen schwarzen Perücke herum. Vielleicht fühlte sie sich damit noch immer unbehaglich, vielleicht saß sie jetzt auch anders, nachdem Egeanins Haar seit einem Monat darunter gewachsen war. Aber noch nicht genug, um ohne Perücke gehen zu können. Nicht, bevor mindestens weitere hundert Meilen zwischen ihnen und Ebou Dar lagen. Vielleicht würde es nicht sicher sein, bevor sie die Damonaberge nach Murandy hinein überquert hatten.

Der Himmel war wolkenlos, die Sonne erklomm gerade den Horizont und stand noch hinter der Segeltuchmauer des Wanderzirkus, und der Morgen war nur warm im Vergleich mit einem Schneesturm. Es war nicht die Kühle eines Spätwintermorgens bei den Zwei Flüssen, sondern eine Kälte, die tief in einen hinkroch und den Atem in kaum sichtbare Wölkchen verwandelte. Die Zirkusleute eilten umher wie Ameisen in einem Ameisenhaufen, dem man einen Tritt versetzt hatte, und erfüllten die Luft mit lautstarken Rufen, wer die Jonglierreifen weggeräumt oder sich ein Paar rot gestreifter Hosen geliehen oder die Auftrittplattform verrückt hatte. Es sah aus und klang wie der Anfang eines Aufruhrs, aber in keiner der Stimmen lag echte Wut. Sie brüllten ständig herum und fuchtelten mit den Armen, aber vor einer Vorstellung kam es nie zu Handgreiflichkeiten, und irgendwie würde jeder Artist an seinem Platz sein, bevor man die ersten Zuschauer einließ. Sie waren ja vielleicht langsam wie die Schnecken, wenn es darum ging, sich reisefertig zu machen, aber eine Vorstellung bedeutete Geld, und dafür konnten sie sich flink bewegen.

»Ihr glaubt ernsthaft, Ihr könntet sie heiraten«, murmelte Egeanin, die an seiner Seite ging und dabei gegen ihre abgetragenen braunen Wollröcke trat. An Egeanin war nichts Zierliches. Sie hatte einen großen Schritt, und sie hielt mühelos mit. Ob Kleid oder nicht, sie schien ein Schwert an der Hüfte zu brauchen. »Es gibt keine andere Erklärung. Bayle hat Recht. Ihr seid wahnsinnig!«

Mat grinste. »Die Frage ist doch, will sie mich heiraten? Manchmal heiraten die seltsamsten Leute.« Wenn man wusste, dass man hängen würde, konnte man nur noch eines machen: die Henkersschlinge angrinsen. Also grinste er und ließ sie mit einem Stirnrunzeln auf dem harten Gesicht dort stehen. Er glaubte sie leise fluchen zu hören, auch wenn er es nicht verstand. Sie war schließlich nicht diejenige, die die letzte Person auf der Welt heiraten musste, die sie wollte. Eine Adlige, die nur aus kühler Reserviertheit bestand und die Nase hoch in der Luft trug, wo er Tavernenmädchen mit schmachtendem Lächeln und willigen Blicken mochte. Eine Thronerbin, aber nicht irgendein Thron, vielmehr der Kristallthron, der Kaiserliche Thron von Seanchan. Eine Frau, die seinen Kopf wie ein Rad kreiseln und ihn sich fragen ließ, ob er sie gefangen hielt oder sie ihn. Wenn einen das Schicksal an der Kehle packte, blieb einem nichts anderes übrig, als zu grinsen.

Er schritt fröhlich aus, bis er in Sichtweite des fensterlosen purpurnen Wagens war, und dann blieb er abrupt stehen. Eine Gruppe Akrobaten, vier schlanke Männer, die sich die Chavana-Brüder nannten, obwohl es offensichtlich war, dass sie nicht nur vier verschiedene Mütter hatten, sondern aus verschiedenen Ländern stammten, kamen aus einem grünen Wagen geschossen, brüllten einander an und gestikulierten wild. Sie warfen dem purpurnen Wagen und Mat einen Blick zu, aber für mehr waren sie zu sehr in ihren Streit vertieft und hatten es zu eilig. Gorderan lehnte an einem der purpurnen Räder, kratzte sich am Kopf und betrachtete stirnrunzelnd die beiden Frauen, die am Fuß der hölzernen Treppe des Wagens standen. Zwei Frauen, beide in dunkle Umhänge gekleidet, mit verhüllten Gesichtern, und doch war das geblümte Kopftuch, das aus der Kapuze der größeren Frau hervorlugte, unverkennbar. Nun ja. Er hätte wissen müssen, dass Tuon ihre Zofe dabei haben wollte. Adlige machten keinen Schritt ohne ihre Zofen. Ob der Einsatz nun einen Pfennig oder eine Krone war, am Ende kam es nur darauf an, wie die Würfel fielen. Sie hatten ihre Chance gehabt, ihn zu verraten. Trotzdem setzte er jetzt das zweite Mal auf eine Frau. Auf zwei Frauen. Welcher Narr würde das tun, zweimal auf dieselbe Marke? Aber er musste die Würfel werfen. Eigentlich rollten sie schon.

Er begegnete Selucias kaltem Blick mit einem Lächeln und riss den Hut herunter, um vor Tuon einen eleganten Kratzfuß zu machen. Nichts Übertriebenes, nur mit einem kleinen Herumwirbeln des Umhangs. »Seid Ihr zum Einkaufen bereit?« Beinahe hätte er sie meine Lady genannt, aber solange sie nicht bereit war, seinen Namen...

»Ich bin schon seit einer Stunde bereit, Spielzeug«, erwiderte Tuon kühl. Sie ergriff seinen Umhang an einer Ekke, hob sie hoch und betrachtete das rote Futter und seinen Mantel, bevor sie den Umhang wieder losließ. »Spitze steht Euch. Vielleicht lasse ich Eure Gewänder mit Spitze schmücken, wenn ich Euch zu einem Pokalträger mache.«

Einen Augenblick lang ließ ihn sein Lächeln im Stich. Konnte sie ihn auch dann noch zu einem Da'covale machen, wenn sie ihn heiratete? Er würde Egeanin danach fragen müssen. Beim Licht, warum konnten es Frauen einem niemals leicht machen?

»Soll ich Euch begleiten, mein Lord?«, fragte Gorderan langsam, der sich jetzt bemühte, die Frauen nicht direkt anzuschauen. Er schob die Daumen hinter den Gürtel und bemühte sich, auch Mat nicht direkt anzusehen. »Zum Tragen vielleicht?«

Tuon sagte kein Wort. Sie stand einfach da und schaute zu Mat hoch, abwartend, mit ihren großen Augen, deren Blick mit jeder Sekunde kühler wurde. Die Würfel rollten und klapperten in seinem Kopf. Nun, er zögerte nur einen Herzschlag lang, bevor er die Rotwaffe mit einer Kopfbewegung fortschickte. Vielleicht waren es auch zwei Herzschläge. Er musste seinem Glück vertrauen. Ihrem Wort vertrauen. Vertrauen ist das Geräusch des Todes. Er trat hart auf diesen Gedanken. Das hier war kein Lied, und keine alte Erinnerung konnte ihn führen. Die Würfel in seinem Kopf rollten weiter.

Mit einer leichten Verbeugung bot er ihr den Arm, den Tuon betrachtete, als hätte sie noch nie zuvor einen Arm gesehen; sie schürzte die vollen Lippen. Dann ergriff sie ihren Umhang und ging mit Selucia im Schlepptau los, sodass er hinter ihr hereilen musste. Nein, Frauen machten es einem nie leicht.

Trotz der frühen Stunde bewachten bereits zwei stämmige Burschen mit Keulen den Eingang, ein dritter hielt einen Glaskrug für die Münzen, die dann durch den Schlitz der mit Eisen beschlagenen Truhe am Boden geworfen wurden. Sie sahen alle zu ungeschickt aus, um ein Kupferstück zu stehlen, ohne dabei aufs Gesicht zu fallen, aber Luca ging kein Risiko ein. Es warteten bereits zwanzig oder dreißig Leute innerhalb der schweren Taue, die zum Eingang führten, und unglücklicherweise war auch Latelle da; ihr Kleid war mit blutrotem Flitter verziert, ihr Umhang mit blauem. Lucas Frau dressierte Bären. Mat glaubte, dass die Bären ihre Kunststücke vorführten, weil sie Angst hatten, von ihr gebissen zu werden.

»Ich habe alles im Griff«, sagte er zu ihr. »Glaubt mir, es gibt keinen Grund zur Sorge.« Er hätte sich seinen Atem genauso gut sparen können.

Latelle ignorierte ihn und warf Tuon und Selucia besorgte Blicke zu. Sie und ihr Mann waren die Einzigen vom Wanderzirkus, die wussten, wer sie wirklich waren. Es hatte keinen Grund gegeben, sie von dem morgendlichen Ausflug in Kenntnis zu setzen. Luca wäre ausgerastet. Der Blick, den Latelle für Mat übrig hatte, war nicht besorgt, sondern nur so hart wie ein Stein. »Vergesst nicht«, sagte sie leise, »wenn Ihr uns zum Galgen schickt, dann geht Ihr mit.« Dann schnaubte sie und musterte wieder die Leute, die auf den Einlass warteten. Latelle war sogar noch besser als Luca darin, das Gewicht eines Geldbeutels zu schätzen, bevor die Schnüre geöffnet wurden. Außerdem war sie zehnmal so hart wie ihr Mann. Die Würfel rollten weiter. Was auch immer sie in Bewegung gesetzt hatte, Mat hatte noch nicht den schicksalhaften Augenblick erreicht. Den entscheidenden Augenblick.

»Sie ist eine gute Frau für Meister Luca«, murmelte Tuon, als sie sich ein Stück weit entfernt hatten.

Mat sah sie von der Seite an und rückte den Hut auf seinem Kopf zurecht. In ihrem Tonfall hatte kein Spott gelegen. Hasste sie Luca denn so sehr? Oder verkündete sie, welche Art von Ehefrau sie sein würde? Oder... Sollte man ihn doch zu Asche verbrennen, wenn er versuchte, diese Frau zu enträtseln, würde er noch genauso verrückt werden, wie Domon ihn schon hielt. Sie musste der Grund für die Würfel in seinem Kopf sein. Was würde sie tun?

Es war ein kurzer Weg im Licht der aufgehenden Sonne bis zur Stadt, auf einer ungepflasterten Straße, die über baumlose Hügel führte, aber auf ihr wimmelte es von Leuten, so wie es auf den Hügeln von Windmühlen und Salzteichen wimmelte. Sie starrten stur geradeaus und bewegten sich so zielgerichtet, dass sie niemanden vor sich wahrzunehmen schienen. Mat ging um einen Mann mit einem Mondgesicht herum, der beinahe in ihn hineingelaufen wäre, was wiederum dazu führte, dass er einem weißhaarigen alten Burschen aus dem Weg springen musste, der auf dürren Beinen ein beachtliches Tempo vorlegte. Das brachte ihn direkt vor ein fettes Mädchen, das mit ihm zusammengestoßen wäre, wäre er nicht erneut zur Seite gesprungen.

»Übt Ihr einen Tanz, Spielzeug?«, sagte Tuon und schaute über eine schlanke Schulter zu ihm hoch. Ihr Atem gefror vor der Kapuze zu einem unscheinbaren weißen Wölkchen. »Er ist nicht sehr anmutig.«

Er öffnete den Mund, um sie darauf hinzuweisen, wie belebt die Straße war, und plötzlich wurde ihm bewusst, dass da nur noch sie und Selucia waren. Die Leute, die gerade noch dort gegangen waren, waren verschwunden, die vor ihnen liegende Straße lag bis zur nächsten Biegung verlassen da. Langsam drehte er den Kopf. Zwischen ihm und dem Wanderzirkus war auch keiner, nur die Leute, die in der Schlange warteten, und die sah auch nicht länger als zuvor aus. Jenseits des Zirkus schlängelte sich die Straße in die Hügel und führte in Richtung eines in der Ferne liegenden Waldes, und sie war leer. Es war nicht eine Menschenseele in Sicht. Er drückte die Finger gegen die Brust und tastete durch den Mantel nach dem Fuchskopf-Medaillon. Bloß ein Stück Silber an einer Lederschnur. Er wünschte sich, es wäre so kalt wie Eis gewesen. Tuon hob eine Braue. Selucias starrer Blick schalt ihn als einen Narren.

»Wenn wir hier herumstehen, kann ich Euch kein Kleid kaufen«, sagte er. Das war der Sinn dieser Expedition, sein Versprechen, für Tuon etwas Besseres zu finden als Kleider, die unförmig an ihr herunterhingen und sie wie ein Kind in einem Erwachsenenkleid aussehen ließen. Jedenfalls war er sich ziemlich sicher, dass er etwas dergleichen versprochen hatte, und sie war fest davon überzeugt. Die Nadelkunst der Zirkusnäherin fand Tuons Zustimmung, aber nicht der zur Verfügung stehende Stoff. Artistenkostüme glitzerten mit Flitter und Perlen und hellen Farben, aber der Stoff war für gewöhnlich der billigste, den sie finden konnten. Die Leute, die Besseren hatten, verwahrten ihn und benutzten ihn, bis er verschlissen war. Jurador machte sein Geld mit Salz, und mit Salz ließ sich viel Geld verdienen. Die Geschäfte der Stadt sollten jeden Stoff führen, den sich eine Frau nur wünschen konnte.

Diesmal gab es kein Fingergewackel. Tuon wechselte einen Blick mit Selucia. Die größere Frau schüttelte den Kopf und verzog kurz und bedauernd den Mund. Tuon schüttelte ihren Kopf. Und sie hoben die Umhänge ein Stück an und gingen auf die eisenbeschlagenen Stadttore zu. Frauen! Er beeilte sich, zu ihnen aufzuschließen. Immerhin waren sie seine Gefangenen. Das waren sie, jawohl. Sie warfen lange Schatten voraus. Hatten diese anderen Leute Schatten geworfen, bevor sie verschwunden waren? Mat konnte sich auch nicht daran erinnern, dass einer von ihnen Nebelwölkchen ausgestoßen hatte. Es schien keine Rolle zu spielen. Sie waren verschwunden, und er würde nicht darüber nachdenken, wo sie hergekommen oder wohin sie verschwunden waren. Vermutlich hatte es damit zu tun, dass er ein Ta'veren war. Er würde einfach nicht mehr daran denken. Genau, das würde er tun. Die polternden Würfel ließen wenig Platz für anderes.

Die Torwächter schienen sich für Fremde nicht sonderlich zu interessieren, oder zumindest nicht für einen Mann und zwei Frauen, die zu Fuß gingen. Es waren hartgesichtige Burschen mit weißlackierten Brustpanzern und konischen Helmen, die Rosshaare als Busch hatten; sie betrachteten die vermummten Frauen unbeteiligt, aber aus irgendeinem Grund hefteten sich ihre Blicke einen Augenblick lang misstrauisch auf Mat, bevor sie sich wieder auf ihre Hellebarden stützten und gelangweilt auf die Straße starrten. Aller Wahrscheinlichkeit nach handelte es sich um Einheimische, auf jeden Fall waren es keine Seanchaner. Die Salzhändler und die örtliche Lady, Aethelaine, die anscheinend das sagte, was die Salzhändler ihr befahlen, hatten ohne zu zögern den Schwur der Wiederkehr geleistet und angeboten, eine Salzsteuer zu entrichten, noch bevor man sie überhaupt danach fragte. Zweifellos würden die Seanchaner hier irgendwann einen Repräsentanten einsetzen, nur um alles im Auge zu behalten, aber im Moment hatten sie Wichtigeres für ihre Soldaten zu tun. Bevor sich Mat mit diesem Ausflug einverstanden erklärt hatte, hatte er Thom und Juilin vorausgeschickt, um absolut sicherzugehen, dass sich in Jurador keine Seanchaner aufhielten. Ein Dummkopf konnte über sein eigenes Glück stolpern, wenn er nicht aufpasste.

Jurador war eine geschäftige Stadt mit gepflasterten Straßen, von denen die meisten breit waren und von mit roten Schindeln gedeckten Steinhäusern gesäumt wurden. Häuser und Gasthöfe standen Schulter an Schulter mit Ställen und Tavernen, hier lärmte der Hammer eines Schmieds auf seinem Amboss, und dort ratterte der Webstuhl eines Teppichwebers, und überall — so hatte es zumindest den Anschein — hämmerten Küfer Eisenringe auf Fässer, die für den Salztransport bestimmt waren. Straßenhändler priesen lautstark Nadeln und Schleifen an. Auf jeder Straße bewachten Männer und Frauen die auf schmalen Tischen vor ihren Läden ausgestellten Waren und brüllten Listen der Dinge heraus, die drinnen angeboten wurden.

Die Häuser der Salzhändler waren leicht zu erkennen, sie wiesen drei Stockwerke statt nur zwei auf, belegten achtmal so viel Platz wie alle anderen, und jedes von ihnen hatte zur Straße hin einen Säulengang und wurde von weißen Gusseisengittern zwischen den Säulen abgeschirmt. An den meisten Häusern wiesen auch die unteren Fenster solche Gitter auf, auch wenn sie nicht immer lackiert waren. Das erinnerte an Ebou Dar, aber abgesehen von der olivfarbenen Haut der Menschen war das auch schon so gut wie alles. Hier gab es keine tiefen Ausschnitte und auch keine hochgenähten Röcke, die farbige Unterröcke enthüllten. Die Frauen trugen bestickte Kleider mit hohen Kragen bis fast unters Kinn; für die normalen Leute gab es schlichtere Stickereien, für die reicheren wesentlich aufwändigere; deren Umhänge waren von oben bis unten bestickt, und ihre Gesichter wurden von durchsichtigen Schleiern verhüllt, die an goldenen oder aus Elfenbein geschnitzten Kämmen hingen, die in dunklen, aufgerollten Zöpfen steckten. Die kurzen Mäntel der Männer waren fast genauso reich verziert, die Farben waren fast ebenso hell, und ob arm oder reich, die meisten Männer trugen lange Gürtelmesser, deren Klingen nur unwesentlich weniger gekrümmt waren als jene in Ebou Dar. Ob reich oder arm, die Burschen hatten die Angewohnheit, ihre Messergriffe zu tätscheln, als würden sie ständig mit einem Angriff rechnen, also war es vielleicht doch das Gleiche wie in Ebou Dar.

Der Palast der Lady Aethelaine schien sich von außen nicht von den stattlichen Häusern der Salzhändler zu unterscheiden, aber er befand sich am Hauptplatz der Stadt, einer großen Fläche aus polierten Steinfliesen, auf der ein breiter runder Marmorspringbrunnen Wasser in die Luft spritzte. Allerdings füllten Leute an den Ecken des Platzes Eimer aus Steintrögen. Der Springbrunnen verbreitete einen Geruch von Salzlauge. Sie war ein Symbol von Juradors Reichtum, und sie wurde aus derselben Quelle wie die Salzteiche in den umgebenden Hügeln abgepumpt. Mat bekam eine Menge von der Stadt zu sehen, bevor die Sonne den halben Weg zum Zenit erklommen hatte.

Jedes Mal, wenn Tuon und Selucia einen Laden erspähten, der Seide ausstellte, blieben sie an dem langen schmalen Tisch stehen, um Tuchrollen zu betasten und mit zusammengesteckten Köpfen zu flüstern, wobei sie die Bemühungen der aufmerksamen Verkäufer abwehrten. Die waren sehr aufmerksam, bis sie bemerkten, dass Mat zu den beiden Frauen gehörte. Mit ihrer schlecht sitzenden, abgetragenen Wollkleidung sahen sie nicht wie Kunden aus, die sich Seide leisten konnten. Mat aber schon, der eine Seite seines Umhangs zurückgeschlagen hatte, um das Futter sehen zu lassen. Aber wann auch immer er Interesse zu zeigen versuchte — Frauen behaupteten stets, sie wollten, dass man Interesse zeigte! —, wann auch immer er nahe genug herankam, um zu hören, was sie sagten, verstummten die Frauen und blickten ihn aus den Tiefen ihrer Kapuzen mit kühlen schwarzen und kühlen blauen Augen an, bis er ein paar Schritte zurückwich. Dann beugte Selucia wieder den Kopf zu Tuon herunter, und sie fingen erneut an zu murmeln und die Seide zu betasten, rote Seide, blaue Seide, grüne Seide, glatt schimmernde Seide und verzierte Seide. Jurador war eine sehr reiche Stadt. Glücklicherweise hatte Mat einen fetten Geldbeutel voller Gold eingesteckt. Aber nichts schien passend zu sein. Tuon schüttelte unweigerlich den Kopf, und die beiden rauschten wieder in die Menge hinein, während Mat sich beeilte, mit ihnen bis zum nächsten Seidengeschäft mitzuhalten. Die Würfel prallten von der Innenseite seines Kopfes ab.

Sie waren nicht die Einzigen vom Zirkus, die in die Stadt gekommen waren. Er entdeckte Aludra, deren Gesicht von ihren perlengeschmückten Zöpfen umrahmt wurde und die an der Seite eines grauhaarigen Mannes durch die Menge ging, der dem Ausmaß der hellen Stickereien auf dem Seidenmantel nach zu urteilen ein Salzhändler sein musste. Was konnte eine Illuminatorin von einem Salzhändler wollen? Was auch immer sie zu ihm sagte, sein erfreutes Lächeln fügte seinem Gesicht noch ein paar zusätzliche Falten hinzu, und er nickte.

Tuon schüttelte den Kopf, und die beiden Frauen gingen zum nächsten Laden und ignorierten die tiefen Verbeugungen des Händlers. Nun ja, die meisten waren für Mat gedacht. Vielleicht glaubte der dürre Narr ja, er wollte die Seide für sich kaufen. Nicht, dass er einen oder auch mehrere Seidenmäntel ausgeschlagen hätte, aber wer konnte schon über Mäntel nachdenken, wenn er darauf wartete, dass diese verfluchten Würfel verstummten? Nur ein paar dezente Stickereien, auf den Ärmeln und an den Schultern.

Thom ging an ihm vorbei, den bronzefarbenen Umhang fest um den Körper geschlungen; er gähnte, als hätte er die Nacht nicht geschlafen. Vielleicht hatte er es auch nicht. Der Gaukler hatte nicht wieder angefangen zu trinken, aber Lopin und Nerim beschwerten sich darüber, dass er bis in die frühen Morgenstunden wach blieb und eine Lampe brennen ließ, damit er immer wieder seinen kostbaren Brief lesen konnte. Was konnte an einem Brief von einer toten Frau so faszinierend sein? Eine Tote. Beim Licht, vielleicht waren all die Leute auf der Straße...! Nein, er würde einfach nicht darüber nachdenken.

Tuon zog eine Bahn Seide in die Höhe und ließ sie wieder fallen, dann drehte sie sich um, ohne sich eine andere anzusehen. Selucia warf der Verkäuferin einen solch hochnäsigen Blick zu, dass die Frau ihn verärgert erwiderte.

Mat schenkte ihr ein Lächeln. Verärgerte Ladenbesitzer konnten dazu führen, dass Stadtwächter anfingen Fragen zu stellen, und wer vermochte schon zu sagen, wo das schließlich enden mochte? Er wusste, dass sein Lächeln die meisten Frauen beruhigen konnte. Die rundgesichtige Frau schnaubte und beugte sich vor, um die Seide so zärtlich zu glätten, als würde sie ein Kind zu Bett bringen. Die meisten Frauen, dachte er säuerlich.

Ein Stück weit die Straße hinunter ließ eine Frau mit einem schlichten Umhang die Kapuze zurückfallen, und Mat stockte der Atem. Edesina setzte die Kapuze wieder auf, aber sie beeilte sich nicht, und der Schaden war ohnehin schon angerichtet, das zur Schau gestellte alterslose Gesicht einer Aes Sedai, das jeder erkennen würde, der wusste, worauf er zu achten hatte. Niemand auf der Straße ließ erkennen, dass er etwas bemerkt hatte, aber Mat konnte nicht jedes Gesicht sehen. Dachte gerade jemand an eine Belohnung? Im Augenblick hielt sich zwar kein Seanchaner in Jurador auf, aber sie kamen ständig vorbei.

Edesina rauschte um eine Ecke, und zwei Gestalten mit dunklen Umhängen folgten ihr. Hatten die Sul'dam nur eine von ihnen im Lager zurückgelassen, um die beiden Aes Sedai im Auge zu behalten? Aber vielleicht waren Joline und Teslyn ja ganz in der Nähe, und er hatte sie nur übersehen. Er verdrehte den Hals und suchte in der Menschenmenge nach einem weiteren schmucklosen Umhang, aber jeder, den er sah, wies zumindest kleine Stickereien auf.

Da traf es ihn wie ein Stein zwischen den Augen. Jeder Umhang, den er sehen konnte, wies zumindest kleine Stikkereien auf. Wo steckte die verdammte Tuon und die verdammte Selucia? Rollten die Würfel nicht schneller?

Schwer atmend stellte er sich auf die Zehenspitzen, aber die Straße war ein Meer aus verzierten Umhängen, verzierten Mänteln und Kleidern. Das musste nicht bedeuten, dass sie zu fliehen versuchten. Tuon hatte ihr Wort gegeben; sie hatte eine perfekte Gelegenheit zum Verrat ungenutzt verstreichen lassen. Aber beide Frauen mussten bloß drei Worte sagen, und jeder, der sie hörte, würde vermutlich den seanchanischen Akzent erkennen. Das würde möglicherweise ausreichen, um die Jagdhunde auf seine Spur zu setzen. Voraus befanden sich zwei Geschäfte, die offenbar Stoffe anboten, jeweils auf einer Straßenseite. Und vor keinem Geschäft standen zwei Frauen mit schwarzen Umhängen. Sie hätten mühelos um eine Ecke gehen können, aber er musste seinem Glück vertrauen. Sein Glück war vor allem dann verlässlich, wenn es um reine Glücksspiele ging. Die verfluchten Frauen hielten es vermutlich für ein verfluchtes Spiel. Sollte man ihn zu Asche verbrennen, er vertraute auf sein Glück.

Er schloss die Augen, drehte sich mitten auf der Straße im Kreis und machte dann einen Schritt vorwärts. Völlig willkürlich. Er prallte gegen jemanden, hart genug, dass sie beide aufstöhnten. Ein stämmiger Bursche mit einem kleinen Mund und grobem Stickwerk auf den Schultern seines einfachen Mantels starrte ihn finster an, als er die Augen wieder öffnete, und strich über den Griff seines Krummdolchs. Mat war das egal. Er schaute direkt auf einen der beiden Läden. Er setzte den Hut fester auf und rannte los. Die Würfel rollten schneller.

Mit Tuchballen voll gestopfte Regale säumten die Wände des Ladens vom Boden bis zur Decke; noch mehr Ware stapelte sich auf langen Tischen. Die Ladenbesitzerin war eine dürre Frau mit einer großen Warze auf dem Kinn, ihre Helferin war schlank und hübsch und schaute wütend drein. Mat kam gerade rechtzeitig in den Verkaufsraum geschossen, um zu hören, wie die Besitzerin sagte: »Zum letzten Mal, wenn ihr mir nicht sagt, was ihr hier wollt, lasse ich Nelsa die Stadtwächter holen.« Tuon und Selucia gingen mit noch immer hochgeschlagenen Kapuzen langsam eine Wand voller Stoffballen ab und blieben stehen, um ein Gewebe anzufassen, aber keine von ihnen schenkte der Besitzerin irgendwelche Beachtung.

»Sie gehören zu mir«, stieß Mat atemlos hervor. Er zupfte den Geldbeutel aus der Tasche und warf ihn auf den nächsten freien Tisch. Das Klirren, das er bei seiner Landung machte, zauberte ein breites Lächeln auf das schmale Gesicht der Besitzerin. »Gebt ihnen, was immer sie wollen«, sagte er. Dann wandte er sich Tuon zu und fügte fest hinzu: »Wenn Ihr etwas kaufen wollt, dann hier. Ich hatte heute Morgen mehr Bewegung, als ich wollte.«

Falls möglich, hätte er die Worte in dem Moment, in dem sie seinen Mund verließen, wieder zurückgenommen. Sprach man so zu einer Frau, dann sprang sie einem ins Gesicht wie die Flamme von einem von Aludras Feuerstöcken, jedes Mal. Aber Tuons große Augen schauten aus dem Schutz der Kapuze zu ihm hoch. Und ihre vollen Lippen wölbten sich zu einem leichten Lächeln. Es war ein persönliches Lächeln, allein für sie selbst bestimmt, nicht für ihn. Das Licht allein wusste, was es bedeuten sollte. Er hasste es, wenn Frauen das taten. Wenigstens hatten die Würfel nicht angehalten. Das musste doch ein gutes Zeichen sein, oder?

Tuon brauchte keine Worte, um ihre Auswahl zu treffen, stumm deutete sie auf einen Ballen nach dem anderen und zeigte mit ihren kleinen dunklen Händen, wie viel die Besitzerin mit ihrer Schere abschneiden sollte. Die Frau machte die Arbeit selbst, statt sie an ihre Helferin zu delegieren, und unter diesen Umständen war das auch sicher angebracht. Rote Seide in vielen verschiedenen Farbtönen wurde von der langen, scharfen Schere abgeschnitten, und grüne Seide in ein paar Schattierungen und mehr Arten blauer Seide, als Mat sie für möglich gehalten hätte. Tuon wählte feines Leinen in verschiedenen Stärken und Bahnen heller Wolle — darüber besprach sie sich mit Selucia in gedämpftem Flüsterton —, aber in der Hauptsache nahm sie Seide. Mat bekam wesentlich weniger von seinem Geldbeutel zurück als erwartet.

Nachdem der ganze Stoff zusammengefaltet und ordentlich verschnürt war, um dann in eine große Bahn aus grobem Leinen gepackt zu werden — die kostete nichts, vielen herzlichen Dank —, war er ein Bündel so dick wie das Gepäck eines Hausierers. Es überraschte Mat nicht im Mindesten, dass man von ihm erwartete, das Bündel auf den Schultern zu tragen, während er in der einen Hand noch seinen Hut halten musste. Da zog man seine besten Sachen an, kaufte einer Frau Seide, und sie fand trotzdem eine Möglichkeit, einen schuften zu lassen! Vielleicht ließ sie ihn auf diese Weise für seine harschen Worte bezahlen.

Er zog viele Blicke starrender Narren auf sich, als er die Stadt im Schlepptau der beiden Frauen verließ. Sie rauschten so zufrieden daher wie Katzen, die an der Sahne genascht hatten. Selbst in ihre Umhänge gehüllt, sagte ihre Haltung alles. Die Sonne stand immer noch nicht im Zenit, aber die Schlange der Leute, die in die Vorstellung wollten, reichte bis fast zur Stadt. Die meisten zeigten auf ihn, als wäre er ein geschminkter Spaßmacher. Einer der großen Pferdeknechte, die die Münzenkiste bewachten, zeigte ein zahnlückiges Grinsen und öffnete den Mund, aber Mat warf ihm einen strengen Blick zu, und der Bursche entschied sich, seine Aufmerksamkeit wieder auf die Münzen zu richten, die von den Städtern in den Glaskrug wanderten. Mat glaubte, noch nie so erleichtert gewesen zu sein, wieder in Lucas Zirkus zu sein.

Mat und die beiden Frauen standen noch keine drei Schritte im Eingang, als Juilin angelaufen kam, wunderbarerweise einmal ohne Thera oder seine rote Mütze. Das Gesicht des Diebefängers hätte aus uralter Eiche geschnitzt sein können. Er musterte die Leute, die an ihnen vorbei zu den Vorstellungen strömten, und hielt die Stimme leise. Leise und drängend. »Ich wollte dich suchen kommen. Es ist Egeanin. Sie wurde... verletzt. Kommt schnell.«

Der Tonfall des Mannes verriet genug, aber was noch schlimmer war, die Würfel in Mats Kopf hämmerten jetzt wie auf einer Trommel. Er warf den Pferdeknechten den Stoff zu mit dem Befehl, ihn genauso scharf zu bewachen wie die Münzenkiste, oder er würde die Frauen auf ihn hetzen, aber er wartete nicht ab, um zu sehen, ob sie ihn ernst nahmen. Juilin bewältigte den Rückweg im Laufschritt, und Mat rannte auf der breiten Hauptstraße des Zirkusgeländes hinter ihm her, wo die lärmende Menge den vier mit nackter Brust auftretenden Chavana-Brüdern dabei zusah, wie sie auf den Schultern des jeweils anderen standen. Verrenkungskünstler in hauchdünnen Hosen und glitzernden Westen saßen auf den Köpfen, und eine Seiltänzerin in mit Sternen verzierten blauen Hosen erklomm eine lange Holzleiter, um mit ihrer Darstellung zu beginnen. Kurz vor der Seiltänzerin duckte sich Juilin in eine der schmalen Gassen, in denen Wäsche auf Leinen zwischen den Zelten und Wagen hing, Artisten auf Hockern und Wagentreppen saßen und darauf warteten, mit ihren Darstellungen weiterzumachen, und die Zirkuskinder herumliefen und mit Bällen und Reifen spielten. Mat wusste mittlerweile, was ihr Ziel war, aber der Diebefänger lief zu schnell, um überholt zu werden.

Voraus sah er den grünen Wagen: Latelle schaute darunter, und Luca in einem seiner hellroten Umhänge bedeutete zwei Jongleuren, einfach weiterzugehen. Die beiden Frauen, die bauschige Hosen trugen und die Gesichter weiß wie die Hofnarren von Adligen geschminkt hatten, warfen einen ausgiebigen Blick unter den Wagen, bevor sie weitergingen. Als Mat näher kam, konnte er sehen, was sie angestarrt hatten. Domon saß ohne Mantel unter dem Rand des Wagens auf dem Boden und wiegte eine reglose Egeanin in den Armen. Ihre Augen waren geschlossen, aus einem Mundwinkel rann Blut. Ihre Perücke hing schief. Aus irgendeinem Grund stach dieses Detail hervor. Sie gab sich immer so viel Mühe, diese Perücke vernünftig aufzusetzen. Die Würfel dröhnten wie Donnerhall.

»Das könnte eine Katastrophe sein«, knurrte Luca und teilte seinen finsteren Blick zwischen Juilin und Mat auf. Aber es war ein wütender Blick, kein ängstlicher. »Vielleicht habt Ihr mich in den Ruin getrieben!« Er verscheuchte ein paar Kinder mit weit aufgerissenen Augen und fauchte eine dicke Frau an, deren Röcke mit silbernen Flittern funkelten. Miyora ließ Leoparden Kunststücke vorführen, die sich Latelle nicht getraut hätte, aber sie warf lediglich den Kopf zurück, bevor sie weiterrauschte. Niemand nahm Luca so ernst wie er sich selbst.

Er schrak zusammen, als Tuon und Selucia herbeieilten, und schien kurz davor zu stehen, auch ihnen den Befehl zum Weitergehen zu geben, bevor er sich besann. Tatsächlich fing er an, nachdenklich die Stirn zu runzeln. Und besorgt. Anscheinend hatte ihm seine Frau nicht erzählt, dass Mat und die Frauen das Zirkusgelände verließen, und es war offensichtlich, dass sie in der Stadt gewesen waren. Die blauäugige Frau trug ein gewaltiges Stoffbündel auf dem Rücken, aber sie stand gerade aufgerichtet. Man hätte denken sollen, dass die Zofe einer Lady daran gewöhnt war, Dinge zu tragen, aber ihr Gesicht bot ein Bild empörter Gereiztheit. Latelle musterte sie von oben bis unten, dann schaute sie Mat höhnisch an, als wäre er der Grund, dass die Frau ihren bemerkenswerten Busen rausstreckte. Lucas Frau war sehr gut mit höhnischen Blicken, aber Tuons strenge Miene ließ Latelle beinahe gütig erscheinen. Hier schaute ein Richter aus der Kapuze, ein Richter, der bereit war, das Urteil zu sprechen.

Im Augenblick war es Mat egal, was die Frauen dachten. Diese verdammten Würfel. Er warf den Umhang zurück, ließ sich auf ein Knie hinab und führte die Finger an Egeanins Hals. Ihr Puls schlug schwach, dünn und flatternd.

»Was ist passiert?«, fragte er. »Habt ihr nach einer der Schwestern geschickt?« Egeanin zu bewegen würde sie vielleicht umbringen, aber vielleicht war noch genug Zeit zum Heilen da, falls sich die Aes Sedai beeilten. Aber er würde die Namen nicht laut aussprechen, nicht, wo so viele Leute hier vorbeigingen und neugierig stehen blieben, bis Luca oder Latelle sie fortschickten. Bei ihr bewegte sich jeder viel schneller als bei ihm. Latelle war eigentlich die Einzige, die wirklich für Luca sprang.

»Renna!« Domon spuckte den Namen aus. Trotz des kurzen Haarschopfs und dem Illianerbart, der seine Oberlippe frei ließ, sah er jetzt nicht im Mindesten lächerlich aus. Er sah ängstlich und mörderisch aus, eine gefährliche Kombination. »Ich gesehen haben, wie sie Egeanin in den Rücken stach und floh. Hätte ich sie erreichen können, hätte ich ihr das Genick gebrochen, aber meine Hand sein alles, das Egeanins Blut festhält. Wo bleiben die verfluchten Aes Sedai?« So viel zu Mats Bemühungen um eine vorsichtige Ausdrucksweise.

»Ich bin genau hier, Bayle Domon«, verkündete Teslyn kalt und kam mit Thera herbeigeeilt, die einen entsetzten Blick auf Tuon und Selucia warf und sich mit einem spitzen Schrei an Juilins Arm klammerte, die Augen zu Boden geschlagen. So wie sie anfing zu zittern, würde sie in einer Minute vermutlich selbst dort liegen.

Als die Aes Sedai sah, was dort vor ihr lag oder vielleicht auch wo es lag, machte sie ein Gesicht, als hätte sie eine Hand voll Dornen im Mund. Aber sie kroch schnell unter den Wagen an Domons Seite und umklammerte Egeanins Kopf mit knochigen Händen. »Joline ist darin besser als ich«, murmelte sie, »aber vielleicht schaffe ich...«

Der silberne Fuchskopf auf Mats Brust wurde kalt, und Egeanin bäumte sich so wild auf, dass ihr die Perücke vom Kopf fiel und sie sich fast aus Domons Griff befreite, während sie die Augen weit aufriss. Der Krampf dauerte nur lange genug, dass sie sich mit einem erstickten Keuchen zur Hälfte aufsetzte, dann sackte sie wieder gegen Domons Brust, und das Medaillon wurde erneut zu einem Stück bearbeiteten Silber. Daran war Mat fast schon gewöhnt. Er hasste es, dass er daran gewöhnt war.

Auch Teslyn sackte zusammen; beinahe wäre sie umgekippt, hätte Domon nicht den Griff gewechselt und die Aes Sedai mit einer Hand gestützt. »Danke«, sagte Teslyn nach einem Moment, das Wort klang, als hätte man es ihr abgerungen. »Aber ich brauche keine Hilfe.« Doch sie stützte sich am Wagen ab, um sich aufzurichten, und ihr kalter Aes Sedai-Blick forderte jeden heraus, eine entsprechende Bemerkung zu machen. »Die Klinge ist von einer Rippe abgeglitten und hat darum ihr Herz verfehlt. Sie braucht jetzt nur noch Ruhe und Nahrung.«

Mat wurde klar, dass sie keine Zeit verschwendet hatte, sich einen Umhang zu schnappen. Auf der einen Seite der Gasse stand eine Gruppe Frauen in glitzernden Umhängen vor einem grünen Zelt und schaute ihnen neugierig zu. Auf der anderen Seite warfen ein halbes Dutzend Männer und Frauen in weiß gestreiften Mänteln und engen Hosen, allesamt Pferdeartisten, Teslyn schnelle Blicke zu und steckten flüsternd die Köpfe zusammen. Zu spät, um sich darum zu sorgen, dass jemand das Gesicht einer Aes Sedai erkennen würde. Zu spät, um sich darum zu sorgen, dass einer von ihnen eine Heilung erkannte, wenn er sie sah. Die Würfel prallten gegen die Innenseiten von Mats Kopf. Sie waren nicht verstummt; das Spiel war noch nicht gelaufen.

»Wer sucht nach ihr, Juilin?«, fragte er. »Juilin?«

Der Diebefänger hörte auf, Tuon und Selucia anzustarren und Thera etwas zuzumurmeln, allerdings streichelte er die zitternde Frau auch weiterhin. »Vanin und die Rotwaffen, Lopin und Nerim. Olver auch. Er war weg, bevor ich ihn aufhalten konnte. Aber bei dem hier...« Er hörte lange genug auf, Thera zu beruhigen, um auf die Hauptstraße zu zeigen. Selbst auf diese Entfernung war das Stimmengewirr deutlich hörbar. »Sie braucht sich nur einen dieser verzierten Umhänge zu besorgen, und sie kann mit den ersten Besuchern, welche die Vorführung verlassen, herausschlüpfen. Wenn wir versuchen, jede Frau mit hochgeschlagener Kapuze aufzuhalten, selbst wenn wir nur versuchen sollten, in sie hineinzuschauen, dann bekommen wir es mit einem Aufruhr zu tun. Diese Leute sind empfindlich.«

»Eine Katastrophe«, stöhnte Luca und zog den Umhang eng um seine Gestalt. Latelle legte einen Arm um ihn. Das musste so sein, als würde man von einer Leopardin getröstet; auf jeden Fall sah Luca nicht besonders getröstet aus.

»Soll man mich doch zu Asche verbrennen, warum?«, knurrte Mat. »Renna war immer bereit, mir das verdammte Handgelenk zu lecken! Ich dachte immer, wenn eine die Nerven verliert...!« Er sah nicht einmal in Theras Richtung, aber Juilin warf ihm trotzdem einen bösen Blick zu.

Domon war mit Egeanin in den Armen aufgestanden.

Zuerst kämpfte sie schwach dagegen an — Egeanin war nicht die Frau, die sich wie eine Puppe herumtragen ließ —, aber schließlich schien sie zu begreifen, dass sie, wenn sie sich auf die Füße stellte, umkippen würde. Sie ließ sich mit einem empörten Blick gegen die Brust des Illianers sacken. Domon würde es noch lernen; selbst wenn eine Frau Hilfe brauchte, wenn sie sie nicht wollte, würde sie einen später dafür bezahlen lassen, dass man sie ihr gewährt hatte. »Ich bin die Einzige, die ihr Geheimnis kennt«, sagte sie mit schwacher Stimme. »Jedenfalls die Einzige, die es hätte weitererzählen können. Vielleicht hat sie geglaubt, sie könnte unbeschadet nach Hause gehen, wenn ich tot bin.«

»Was für ein Geheimnis?«, fragte Mat.

Die Frau zögerte aus irgendeinem Grund und starrte auf Domons Brust. Schließlich seufzte sie. »Renna ist einmal an die Leine gelegt worden. Bethamin und Seta auch. Sie können die Macht lenken. Oder es vielleicht lernen, ich weiß es nicht. Aber bei diesen dreien hat das A'dam funktioniert. Vielleicht funktioniert es bei jeder Sul'dam.« Mat pfiff durch die Zähne. Nun, das wäre für jeden Seanchaner ein Schlag gegen den Kopf.

Luca und seine Frau sahen sich verwirrt an und verstanden offensichtlich kein Wort. Teslyn stand der Mund offen, die sprichwörtliche Aes Sedai-Gelassenheit vom Schock fortgespült. Aber Selucia gab einen erbosten Laut von sich, ihre blauen Augen blitzten, und sie ließ den Stoff vom Rücken fallen und machte einen Schritt auf Domon zu. Ein schnelles Aufblitzen von Tuons Fingern ließ sie ruckartig anhalten, aber es war dennoch zögernd. Tuons Gesicht war eine dunkle, unleserliche Maske. Aber es gefiel ihr nicht, was sie da gehört hatte. Richtig, sie hatte gesagt, sie würde Damane abrichten. Oh, sollte man ihn doch zu Asche verbrennen, würde er etwa zu allem Überfluss auch noch eine Frau heiraten, die die Macht lenken konnte?

Das Geräusch von Hufen verkündete die Ankunft von Harnan und den anderen drei Rotwaffen, die im schnellen Trab die Gasse zwischen den Zelten und Wagen herangeritten kamen. Unter den Umhängen hatten sie die Schwerter umgeschnallt; Metwyn trug zusätzlich noch einen Dolch, der fast so lang wie sein Kurzschwert war, und Gorderan hatte seine schwere Armbrust gespannt am Sattel hängen. Der Spanner an seinem Gürtel würde eine volle Minute brauchen, um die dicke Sehne zurückzuziehen, aber auf diese Weise brauchte er nur noch einen Bolzen einlegen. Harnan trug einen Reiterbogen und einen vollen Köcher an der Hüfte. Fergin führte Pips mit sich.

Harnan machte sich nicht die Mühe abzusteigen. Er musterte Tuon und Selucia misstrauisch und Luca und Latelle mit fast genauso großen Zweifeln, dann beugte er sich im Sattel vor. »Renna hat ein Pferd gestohlen, mein Lord«, sagte er leise. »Sie hat einen der Pferdeknechte am Eingang niedergeritten. Vanin folgt ihr. Er sagte, sie könnte es bis zum Abend nach Coramen schaffen. Das ist die Richtung, die sie eingeschlagen hat. Sie ist viel schneller als die Wagen. Aber sie reitet ohne Sattel; mit etwas Glück können wir sie einholen.« Er klang fast so, als wäre dieses Glück eine feststehende Tatsache. Die Männer der Bande vertrauten mehr auf Mat Cauthons Glück als er selbst.

Aber es schien keine andere Wahl zu geben. Die Würfel donnerten noch immer durch seinen Kopf. Noch bestand die Chance, dass sie zu seinen Gunsten fielen. Eine kleine Chance. Mat Cauthons Glück. »Schafft Eure Leute so schnell auf die Straße, wie sie zusammenpacken können, Luca«, sagte er und schwang sich in Pips Sattel. »Lasst die Segeltuchwand und alles andere, das ihr nicht schnell auf die Wagen laden könnt, einfach zurück. Reist einfach nur ab.«

»Seid Ihr verrückt?«, krächzte Luca. »Wenn ich versuche, die Besucher zu verjagen, dann wird es einen Aufstand geben! Und sie werden ihr Geld zurückhaben wollen!« Beim Licht, der Mann würde noch an sein Geld denken, wenn sein Hals schon längst auf dem Richtblock lag.

»Denkt an das, was Euch passieren wird, wenn Euch morgen hier tausend Seanchaner finden.« Mats Stimme war so kalt, wie er sie hinbekam. Wenn er versagte, würden die Seanchaner Lucas Wanderzirkus in kürzester Zeit gestellt haben, ganz egal, wie sehr er seine Pferde antrieb. Nach dem Verziehen seines Mundes zu urteilen, als hätte er in eine saure Pflaume gebissen, wusste Luca das auch. Mat zwang sich, den Mann zu ignorieren. Die Würfel rollten hart, aber sie blieben noch nicht stehen. »Juilin, gib Luca das ganze Gold, bis auf einen dicken Beutel.« Vielleicht konnte sich der Mann seinen Weg freikaufen, sobald die Seanchaner sahen, dass er ihre Tochter der verdammten Neun Monde nicht bei sich hatte. »Hol alle zusammen und reitet los, so schnell ihr könnt. Sobald du außer Sichtweite der Stadt bist, geh in die Wälder. Ich finde euch.«

»Alle?« Juilin schirmte Thera mit seinem Körper ab und wies mit dem Kopf auf Tuon und Selucia. »Lass die beiden in Jurador zurück, vielleicht hören die Seanchaner dann auf, wenn sie sie zurückbekommen. Zumindest könnte es sie aufhalten. Du sagst doch dauernd, dass du sie früher oder später freilassen willst.«

Mat erwiderte Tuons Blick. Große dunkle feuchte Augen in einem glatten, ausdruckslosen Gesicht. Sie hatte die Kapuze ein Stück zurückgeschoben, sodass er ihr Gesicht deutlich erkennen konnte. Wenn er sie zurückließ, konnte sie die Worte nicht sagen, oder falls sie es doch tat, würde er zu weit weg sein, als dass sie eine Rolle gespielt hätten. Wenn er sie zurückließ, würde er nie erfahren, warum sie immer so geheimnisvoll lächelte oder was hinter dem Geheimnis steckte. Beim Licht, er war ein Narr! Pips machte ein paar ungeduldige Schritte.

»Alle«, sagte er. Nickte Tuon kaum merklich, wie für sich selbst bestimmt? Warum sollte sie nicken? »Lass uns reiten«, sagte er zu Harnan.

Sie mussten ihre Pferde im Schritttempo durch die Menschenmenge lenken, um aus dem Zirkus herauszukommen, aber sobald sie die Straße erreichten, ließ Mat Pips losgaloppieren, und sein Umhang flatterte hinter ihm her, und er hielt den Kopf unten, damit ihm der Hut nicht heruntergerissen wurde. Es war kein Tempo, das man einem Pferd lange Zeit zumuten konnte. Die Straße wand sich um Hügel und überquerte Anhöhen, gelegentlich führte sie auch über die Hügel, wenn die Steigung nicht zu groß war. Sie spritzten durch knöcheltiefe Bäche und donnerten über niedrige Holzbrücken, die tiefere Gewässer überspannten. Auf den Hügeln erschienen wieder Bäume, Kiefern und Zwerglorbeer zeigten unter den winterkahlen Ästen das einzige Grün. An einige Hügel schmiegten sich Bauernhöfe, niedrige Steinhäuser mit Schindeldächern und höhere Scheunen, und gelegentlich eine Ansiedlung aus acht oder zehn Häusern.

Ein paar Meilen von dem Zirkus entfernt entdeckte Mat einen breiten Mann, der wie ein Sack Hafer im Sattel hockte. Das Pferd war ein langbeiniger Brauner, der sich in einem gleichmäßigen Trab vorwärts bewegte. Es war nur natürlich, dass ein Pferdedieb ein Auge für ein gutes Tier hatte. Vanin hörte ihren Hufschlag und drehte sich um, ließ sein Pferd aber nur im Schritttempo weitergehen. Das war ein schlechtes Zeichen.

Als Mat Pips neben dem Braunen zügelte, spuckte Vanin aus. »Die beste Chance haben wir, wenn wir ihr Pferd zu Tode geritten finden, sodass ich ihre Fußspuren weiterverfolge«, murmelte er. »Sie treibt es schneller an, als ich gedacht hätte, selbst ohne Sattel. Wenn wir ein schnelles Tempo vorlegen, können wir sie vielleicht gegen Sonnenuntergang erwischen. Falls ihr Pferd nicht zusammenbricht oder stirbt, ist das in etwa der Zeitpunkt, zu dem sie Coramen erreicht.«

Mat schob den Hut zurück, um die Sonne zu betrachten, die fast genau über ihnen stand. Es war ein langer Weg, um ihn in weniger als einem halben Tag zurückzulegen. Wenn er kehrtmachte, konnte er bei Sonnenuntergang ein gutes Stück von Jurador weg sein, zusammen mit Thom, Juilin und den anderen. Zusammen mit Tuon. Die Seanchaner wussten dann, dass sie Mat Cauthon jagen mussten. Der Mann, der die Tochter der Neun Monde entführt hatte, würde nicht genug Glück haben, um bloß zum Da'covale gemacht zu werden. Und irgendwann am morgigen oder übernächsten Tag würden sie Luca pfählen. Luca und Latelle, Petra und Clarine und den ganzen Rest. Ein Dickicht aus Pfählen. Die Würfel rollten und polterten in seinem Kopf.

»Wir können es schaffen«, sagte er. Sie hatten keine andere Wahl.

Vanin spuckte aus.

Es gab nur eine Möglichkeit, auf einem Pferd eine große Distanz schnell zurückzulegen, wenn man am Ende noch auf einem lebenden Pferd sitzen wollte. Sie ließen die Tiere eine halbe Meile gehen, dann eine halbe Meile traben. Ein leichter Galopp, dann ein Sprint, danach ging es wieder im Schritt weiter. Die Sonne senkte sich, und die Würfel rollten. Sie ritten um spärlich bewaldete Hügel herum und über von Bäumen bewachsene Kämmen hinweg. Flüsse, die mit drei Schritten überquert werden konnten, ließen die Hufe der Pferde kaum feucht werden, und dreißig Schritte breite Ströme hatten flache Brücken aus Holz oder auch aus Stein. Die Sonne sank immer tiefer, und die Würfel rollten schneller. Sie hatten fast den Elbar erreicht, und kein Zeichen von Renna außer Kratzern im harten Staub der Straße, auf die Vanin zeigte, als wären es aufgemalte Hinweisschilder.

»Wir kommen näher«, murmelte der fette Mann. Aber er klang nicht glücklich.

Dann umrundeten sie einen Hügel, und vor ihnen lag eine weitere niedrige Brücke. Jenseits davon bog die Straße nach Norden ab, um den nächsten Hügelkamm durch einen Sattel hindurch zu überqueren. Die Sonne, die genau oben auf dem Kamm saß, blendete sie. Coramen lag auf der anderen Seite des Kamms. Mat zog den Hut tiefer, um die Augen zu beschatten, und hielt auf der Straße nach der Frau Ausschau, nach irgendjemandem, ob zu Fuß oder beritten, und sein Mut sank.

Vanin fluchte und streckte den Arm aus.

Ein schweißbedeckter Brauner kämpfte sich auf der anderen Flussseite die Steigung hinauf, eine Frau trat ihm hektisch in die Flanken, trieb ihn an, die Höhe zu überwinden. Renna war zu verzweifelt gewesen, die Seanchaner zu erreichen, um auf der Straße zu bleiben. Sie war vielleicht zweihundert Schritte von ihnen entfernt, und es hätten genauso gut Meilen sein können. Ihr Tier stand kurz vor dem Zusammenbruch, aber bevor sie sie erreicht hatten, konnte sie abspringen und in Sichtweite der Garnison laufen. Dazu musste sie nur die Hügelkuppe erreichen, weitere fünfzig Schritte.

»Mein Lord?«, sagte Harnan. Er hatte einen Pfeil eingespannt und den Bogen halb erhoben. Gorderan hielt die schwere Armbrust an die Schulter, ein dicker, spitzer Bolzen war eingelegt.

In seinem Inneren fühlte Mat, wie etwas aufflackerte und dann starb. Er wusste nicht, was es war. Irgendetwas. Die Würfel hallten so laut wie Donnerhall. »Schießt«, sagte er.

Er wollte die Augen schließen. Die Armbrust schnappte; der Bolzen sauste als schwarzer Schemen durch die Luft. Renna taumelte nach vorn, als er sie in den Rücken traf. Sie hatte es fast geschafft, sich vom Hals des Braunen hochzustemmen, als Harnans Pfeil sie erwischte.

Langsam sackte sie vom Pferd, rutschte den Abhang hinunter, kam ins Rollen, prallte von Schösslingen ab, rollte immer schneller und schneller, bis sie mit einem Klatschen im Fluss landete. Einen Augenblick lang trieb sie mit dem Gesicht nach unten gegen das Ufer, dann erfasste sie die Strömung und zog sie mit sich, im Wasser bauschten sich ihre Röcke auf. Langsam trieb sie der Mündung entgegen. Vielleicht würde sie irgendwann das Meer erreichen. Und damit waren es drei. Nie wieder, dachte Mat, als Renna hinter eine Biegung trieb und aus der Sicht verschwand. Und wenn ich deswegen sterben muss, nie wieder.

Auf dem Ritt zurück nach Osten trieben sie die Pferde nicht an. Dafür gab es keinen Grund, und Mat fühlte sich zu Tode erschöpft. Aber sie legten auch keine Pausen ein, es sei denn, um die Pferde zu tränken und sie verschnaufen zu lassen. Niemand wollte reden.

Nach Mitternacht erreichten sie Jurador, die Stadt war eine dunkle Masse mit fest verschlossenen Toren. Wolken verhüllten den Mond. Überraschenderweise war die Segeltuchwand um Lucas Wanderzirkus direkt hinter der Stadt noch immer da. Zwei in Decken gehüllte, stämmige Männer schnarchten unter dem großen Spruchband, während sie den Eingang bewachten. Selbst von der Straße aus und in der Dunkelheit war es eindeutig, dass die Fläche hinter der Wand von Wagen und Zelten gefüllt wurde.

»Wenigstens kann ich Luca sagen, dass er doch nicht fliehen muss«, meinte Mat müde und lenkte Pips auf das Spruchband zu. »Vielleicht gibt er uns ja einen Platz, an dem wir ein paar Stunden schlafen können.« Bei dem ganzen Gold, das er zurückgelassen hatte, hätte Luca ihnen seinen eigenen Wagen geben müssen, aber da Mat den Mann kannte, hoffte er, irgendwo wenigstens sauberes Stroh zu bekommen. Morgen würde er aufbrechen, um Thom und die anderen zu finden. Und Tuon. Morgen, wenn er ausgeruht war.

In Lucas großem Wagen erwartete ihn eine Überraschung. Er war wirklich geräumig, jedenfalls für einen Wagen, mit einem schmalen Tisch in der Mitte und genug Platz, dass man um ihn herumgehen konnte. Tisch, Schränke und Regalbretter waren alle poliert, bis sie glänzten. Tuon saß auf einem vergoldeten Stuhl — Luca musste natürlich einen Stuhl haben und selbstverständlich einen vergoldeten, wo jeder andere mit einem Hocker auskommen musste! —, und Selucia stand hinter ihr. Ein strahlender Luca sah zu, wie Latelle Tuon einen Teller voll dampfender kleiner Kuchen anbot, die die schwarze kleine Frau studierte, als würde sie tatsächlich etwas essen wollen, das Lucas Frau gebacken hatte.

Tuon zeigte nicht die geringste Verblüffung, als Mat den Wagen betrat. »Ist sie gefangen oder tot?«, sagte sie und nahm einen Kuchen, wobei sie die Finger auf diese seltsam anmutige Weise gebogen hielt.

»Tot«, erwiderte er tonlos. »Luca, was beim Licht...?«

»Ich verbiete es, Spielzeug!«, fauchte Tuon und stach mit dem Finger nach ihm. »Ich verbiete Euch, um eine Verräterin zu trauern!« Ihre Stimme wurde etwas weicher, blieb aber energisch. »Sie hat den Tod verdient, weil sie das Reich verraten hat, und sie hätte Euch genauso verraten. Sie wollte Euch verraten. Was Ihr getan habt, war Gerechtigkeit; ich verkünde, dass es das ist.« Ihr Ton verriet, dass, wenn sie etwas verkündete, es dann auch so war.

Mat kniff einen Moment lang die Augen zusammen.

»Sind alle anderen auch noch hier?«, wollte er wissen.

»Natürlich«, sagte Luca, der noch immer wie ein Dorftrottel lächelte. »Die Lady... die Hochlady; verzeiht mir, Hochlady.« Er machte eine tiefe Verbeugung. »Sie hat mit Merrilin und Sandar gesprochen, und... Nun, Ihr seht es ja. Eine sehr überzeugende Frau, die Lady. Die Hochlady. Cauthon, was mein Gold angeht... Ihr habt gesagt, sie sollten es mir geben, aber Merrilin sagte, er würde mir eher die Kehle durchschneiden, und Sandar hat gedroht, mir den Schädel einzuschlagen, und...« Mats Blick ließ ihn verstummen, dann strahlte er plötzlich wieder. »Seht, was die Lady mir gegeben hat!« Er riss einen der Schränke auf und holte ein gefaltetes Stück Papier hervor, das er andächtig in beiden Händen hielt. Es war dickes Papier, so weiß wie Schnee; teuer. »Eine Vollmacht. Natürlich nicht versiegelt, aber unterzeichnet. Valan Lucas Großer Wanderzirkus und Prächtige Zurschaustellung von Mysterien und Wundern steht jetzt unter dem persönlichen Schutz der Hochlady Tuon Athaem Kore Paendrag. Natürlich wird jeder wissen, wer das ist. Ich könnte nach Seanchan reisen. Ich könnte vor der Kaiserin auftreten! Möge sie ewig leben«, fügte er hastig hinzu und verbeugte sich ein weiteres Mal vor Tuon.

Für nichts, dachte Mat düster. Er sank auf eines der Betten und stützte die Ellbogen auf die Knie, was ihm einen scharfen Blick von Latelle einbrachte. Vermutlich hielt allein Tuons Anwesenheit sie davon ab, ihm eine Kopfnuss zu verpassen!

Tuon hob entschieden die Hand, eine schwarze Porzellanpuppe, aber trotz des schäbigen und zu groß geratenen Kleids jeden Fingerbreit eine Königin. »Ihr werdet das nicht benutzen, außer in großer Not, Meister Luca. Großer Not!«

»Natürlich, Hochlady; natürlich.« Luca verbeugte sich so oft, dass es den Anschein hatte, als würde er gleich den Boden küssen.

Alles verdammt noch mal für nichts!

»Ich habe genau aufgeführt, wer nicht unter meinem Schutz steht, Spielzeug.« Tuon biss in einen Kuchen und strich sich mit einem Finger ganz langsam einen Krümel von der Lippe. »Könnt Ihr erraten, wessen Name die Liste anführt?« Sie lächelte. Es war kein bösartiges Lächeln. Sondern wieder eines jener Lächeln, die für sie selbst bestimmt waren, Amüsement oder Entzücken wegen etwas, das er nicht erkennen konnte. Plötzlich bemerkte er etwas. Der kleine Strauß Seidenrosen, den er ihr gegeben hatte, war an ihrer Schulter festgesteckt.

Mat fing an zu lachen; er konnte einfach nicht anders. Er warf den Hut auf den Boden und lachte. Trotz allem, trotz all seiner Bemühungen, kannte er diese Frau nicht im Mindesten! Nicht einmal annähernd! Er lachte, bis ihm die Rippen wehtaten.

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