Wenn ich mit Menschen- und mit Engelszungen redete und hätte der Liebe nicht, so wäre ich ein tönend Erz oder eine klingende Schelle. Und wenn ich weissagen könnte und wüßte alle Geheimnisse und alle Erkenntnis und hätte allen Glauben, also daß ich Berge versetzte, und hätte der Liebe nicht, so wäre ich nichts.«
Petrus zitierte wieder den heiligen Paulus. Für ihn war der Apostel der große okkulte Deuter der Botschaft Christi. Wir angelten an jenem Nachmittag, nachdem wir den ganzen Vormittag gewandert waren. Kein Fisch biß an, doch meinen Führer kümmerte das nicht. Ihm zufolge war Angeln so etwas wie ein Gleichnis für die Beziehung des Menschen zur Welt: Wir wissen, was wir wollen, und werden es erhalten, wenn wir nicht lockerlassen, doch die Zeit, die wir brauchen werden, um an unser Ziel zu gelangen, hängt von Gottes Hilfe ab.
«Es ist immer gut, etwas Langsames zu tun, bevor man im Leben eine wichtige Entscheidung trifft«, sagte er.»Die Zen-Mönche setzen sich hin und hören den Felsen beim Wachsen zu. Ich angle lieber.«
Doch zu dieser Stunde des Tages und in der Hitze scherten sich sogar die faulen rötlichen Fische unmittelbar unter der Wasseroberfläche nicht um den Angelhaken. Man hätte die Angelschnur auch außerhalb des Wassers halten können, es hätte keinen Unterschied gemacht. Ich beschloß, zu passen und einen kleinen Spaziergang in der Umgebung zu machen.
Ich kam bis zu einem alten verlassenen Friedhof in der Nähe des Flusses mit einem unverhältnismäßig großen Tor. Als ich zu Petrus zurückkam, fragte ich ihn über den Friedhof aus.
«Das Tor gehörte zu einem alten Pilgerhospiz«, sagte er.
«Doch es wurde aufgegeben, und später hatte jemand die Idee, die Fassade zu nutzen und dahinter den Friedhof zu bauen.«
«Der auch aufgegeben wurde.«
«Ja, genau. Die Dinge in diesem Leben sind nur von kurzer Dauer. «Ich sagte, er habe vergangene Nacht sehr hart über die Leute auf dem Fest geurteilt. Petrus war erstaunt. Er meinte, wir hätten doch nur Erfahrungen ausgetauscht, die wir beide in unserem Leben schon gemacht hätten.
«Alle sind wir auf der Suche nach Eros, und wenn Eros zu Philos werden will, empfinden wir die Liebe als unnütz. Ohne zu begreifen, daß Philos uns zu einer höheren Form der Liebe führen will, zu Agape.«
«Erzähl mir mehr über Agape«, bat ich ihn.
Petrus antwortete, daß man über Agape nicht reden solle, sie müsse gelebt werden. Möglicherweise könne er mir noch an diesem Abend eines der Gesichter der Agape zeigen. Doch dazu müsse sich das Universum verhalten wie bei der Übung des Angelns: Es müsse das Seinige für einen guten Ausgang tun.
«Der Bote kann dir helfen, doch es gibt etwas, das liegt außerhalb seines Einflußbereiches, außerhalb deiner Wünsche und deiner selbst.«
«Und was ist das?«
«Der Funke Gottes. Das, was die Menschen gemeinhin Glück nennen.«
Als die Sonne etwas milder geworden war, nahmen wir unsere Wanderung wieder auf. Die Rota Jacobea verlief durch einige Weinberge und bestellte Felder, die um diese Tageszeit menschenleer dalagen. Wir kreuzten die Hauptstraße, die ebenfalls verlassen war, und kehrten in den Wald zurück. In der Ferne konnte man den Pico de San Lorenzo sehen, den höchsten Punkt Kastiliens. Seit ich Petrus in der Nähe von Saint-Jean-Pied-de-Port zum ersten Mal begegnet war, hatte sich in mir viel verändert. Brasilien, die unerledigten Geschäfte, alles dies war fast vollständig aus meinem Kopf verschwunden.
Das einzige Lebendige war mein Ziel, über das ich jede Nacht mit Astrain sprach, der jedesmal deutlicher in Erscheinung trat.
Es gelang mir, ihn immer neben mir sitzend zu sehen, ich bemerkte, daß er im rechten Auge einen nervösen Tick hatte und immer lächelte, wenn ich Dinge wiederholte, die er gesagt hatte, um mich zu vergewissern, daß ich ihn verstanden hatte.
Vor ein paar Wochen, vor allem in den ersten Tagen der Wanderung, hatte ich manchmal befürchtet, den Weg nicht zu Ende gehen zu können. Als wir durch Roncesvalles kamen, war ich der ganzen Sache überdrüssig gewesen und hatte nur gewünscht, schnell in Santiago anzukommen, mein Schwert wiederzubekommen, um dann wieder den Kampf aufzunehmen, den Petrus (den heiligen Paulus zitierend) den guten Kampf nannte. Doch jetzt war alles, was mich an die Zivilisation band und was ich zuerst widerwillig aufgegeben hatte, so gut wie vergessen. In diesem Augenblick waren für mich nur die Sonne über mir wichtig und die Vorfreude auf Agape.
Wir stiegen in eine Schlucht hinunter, überquerten einen Bach und keuchten auf der anderen Seite wieder hinauf. Dieser Bach mußte einstmals ein wilder Fluß gewesen sein, der sich brodelnd in die Erde und deren Geheimnisse gegraben hatte.
Jetzt war er nur noch ein Bach, den man zu Fuß durchqueren konnte. Doch sein Werk, das tiefe Tal, das er gegraben hatte, gab es noch, und es zu bezwingen kostete mich große Mühen.
Wie hatte Petrus doch gesagt:»Alles im Leben ist von kurzer Dauer.«
«Petrus, hast du schon viel geliebt?«
Diese Frage war mir ganz spontan entschlüpft, und ich war selbst über meinen Mut überrascht. Bis zu diesem Augenblick wußte ich nur das Allernotwendigste über das Privatleben meines Führers.
«Ich hatte schon viele Frauen, wenn du das damit meinst. Und ich habe jede einzelne sehr geliebt. Doch Agape habe ich nur bei zweien gefühlt.«
Ich erzählte ihm, daß auch ich viel geliebt habe und allmählich besorgt darüber sei, daß ich mich an niemanden binden könne.
Wenn das so weiterginge, stünde mir ein einsames Alter bevor, und davor hätte ich große Angst.
«Ich würde eine Krankenschwester engagieren«, lachte er.
«Aber glaube nicht, daß du auf ein geruhsames Rentenalter zusteuerst. «Es war fast neun Uhr, als es dämmerte. Die Weinberge lagen hinter uns, und wir befanden uns in einer wüstenähnlichen Landschaft. Ich blickte um mich und konnte in der Ferne eine kleine, in den Fels gebaute Einsiedelei erkennen, die denen glich, die wir auf unserem Wege schon gesehen hatten. Wir gingen noch etwas weiter und verließen dann die gelbmarkierte Strecke, um direkt auf das kleine Gebäude zuzugehen.
Als wir nahe genug heran waren, rief Petrus einen Namen, den ich nicht verstand, und blieb, auf die Antwort wartend, stehen.
Obwohl wir die Ohren gespitzt hatten, hörten wir nichts. Petrus rief noch einmal, aber niemand antwortete.
«Laß uns trotzdem gehen«, sagte er. Und wir trabten los.
Es waren nur vier weißgekalkte Wände. Die Tür stand offen, oder besser gesagt, es gab gar keine Tür, sondern nur eine etwa einen halben Meter hohe Pforte, die unsicher an einer Angel hing. Drinnen gab es einen aus Steinen gebauten Ofen und einige sorgfältig auf dem Boden ineinandergestellte Schüsseln. Zwei davon waren voller Weizen und Kartoffeln.
Wir setzten uns schweigend. Petrus zündete sich eine Zigarette an und meinte, wir sollten noch etwas warten. Meine Beine schmerzten vor Müdigkeit, doch irgend etwas in dieser Einsiedelei erregte mich, anstatt mich zu beruhigen.
Wahrscheinlich hätte ich Angst bekommen, wäre Petrus nicht bei mir gewesen.
«Wer auch immer hier wohnt, wo schläft er?«fragte ich und brach so das Schweigen, das mir zuzusetzen begann.
«Dort, wo du jetzt sitzt«, sagte Petrus, indem er auf den nackten Boden wies. Ich wollte mich schon woanders hinsetzen, doch er bat mich, genau da sitzen zu bleiben, wo ich saß. Die Temperatur schien gefallen zu sein, denn ich begann zu frösteln.
Wir warteten fast eine Stunde lang. Petrus rief ihn noch zweimal und gab es dann auf. Als ich dachte, daß wir nun aufstehen und gehen wollten, sagte er, indem er seine dritte Zigarette ausdrückte:»Hier sind zwei Manifestationen der Agape vorhanden, Es ist nicht die einzige, doch eine der reinsten. Agape ist die alles umfassende, vollkommene Liebe, die Liebe, die den verschlingt, der sie erfährt. Wer Agape kennt und erlebt, sieht, daß auf der Welt zu lieben das einzig Wichtige ist. Dies war die Liebe, die Jesus für die Menschheit empfand, und sie war so groß, daß sie die Sterne erschütterte und den Lauf der Geschichte des Menschen veränderte. Sein einsames Leben war imstande, etwas zu tun, das Königen, Heeren und Kaiserreichen nicht gelang.
In den Jahrtausenden der Geschichte unserer Zivilisation wurden viele Menschen von dieser alles verschlingenden Liebe erfaßt. Sie hatten so viel zu geben — und die Welt forderte so wenig — , daß sie gezwungen waren, Wüsten und einsame Orte aufzusuchen, weil die Liebe so groß war, daß sie sie veränderte. Aus ihnen wurden die heiligen Eremiten, die wir heute kennen.
Für mich und für dich, die wir eine andere Form der Agape erfahren, mag dieses Leben hart und erschreckend erscheinen.
Dennoch bewirkt die verschlingende Liebe, daß alles, absolut alles seine Wichtigkeit verliert. Diese Menschen leben nur dafür, von ihrer Liebe verzehrt zu werden.«
Petrus erzählte mir, daß hier ein Mann namens Alfonso lebe. Er hatte ihn auf seiner ersten Wallfahrt nach Compostela kennengelernt, als er gerade Obst für sich pflückte. Sein damaliger Führer, ein Mann, der sehr viel erleuchteter war als er, war ein Freund von Alfonso, und alle drei hatten das Ritual der Agape oder das Ritual der blauen Kugel durchgeführt.
Petrus sagte, daß dies für ihn eine der wichtigsten Erfahrungen in seinem Leben gewesen sei. Noch heute erinnere er sich, jedesmal wenn er die Übung mache, an die Einsiedelei und an Alfonso. Petrus' Stimme klang belegt, es war das erste Mal, daß ich bei ihm so etwas wie Rührung bemerkte.
«Agape ist die Liebe, die verschlingt«, wiederholte er, als konnte dieser Satz diese merkwürdige Art Liebe am besten erklären.»Martin Luther King sagte einmal, daß Christus, als er uns aufforderte, unsere Feinde zu lieben, mit diesem Lieben Agape meinte. Denn seiner Meinung nach sei es >unmöglich, unsere Feinde zu lieben, diejenigen, die uns Schaden zufügen und unseren mühevollen Alltag herabwürdigen< Doch Agape ist mehr als nur jemanden lieben. Es ist ein Gefühl, das alles einnimmt, all unsere Lücken füllt und jegliche Aggressionsgebärde im Keim erstickt.
Du hast gelernt, wiedergeboren zu werden, nicht grausam zu dir selber zu sein, mit deinem Boten zu sprechen. Doch alles, was du von nun an tun wirst, alles Positive, was du von diesem Jakobsweg für dich mitnimmst, wird nur Sinn machen, wenn du von der alles verschlingenden Liebe berührt wirst.«
Ich erinnerte Petrus daran, daß er gesagt hatte, es gebe zwei Formen der Agape. Und daß er möglicherweise nicht die erste dieser Formen erlebt habe, da er ja kein Eremit geworden sei.
«Du hast recht. Du, ich und mit uns die Mehrzahl der Pilger, die den Jakobsweg mit Hilfe der Worte der R.A.M. gegangen sind, haben Agape in ihrer anderen Form erfahren: im Enthusiasmus, in der Begeisterung.
In der Antike bedeutete Enthusiasmus Trance, Verzückung, Verbindung mit Gott. Der Enthusiasmus ist die auf eine Idee, eine Sache gerichtete Agape. Wir haben das alle schon einmal erlebt. Wenn wir lieben und mit ganzer Seele an etwas glauben, fühlen wir uns stärker als die Welt und sind von einer Gelassenheit erfüllt, die aus der Gewißheit herrührt, daß nichts unseren Glauben besiegen kann. Diese seltsame Kraft macht, daß wir immer zum ric htigen Zeitpunkt die richtigen Entscheidungen treffen, und wenn wir unser Ziel erreicht haben, sind wir über unsere eigenen Fähigkeiten erstaunt.
Denn während des guten Kampfes ist alles andere unwichtig, wir werden vom Enthusiasmus zu unserem Ziel getragen.
Der Enthusiasmus ist am stärksten beim Kind. Als Kind sind wir noch eng mit der Gottheit verbunden und so begeistert beim Spielen, daß für uns die Puppen lebendig sind und unsere Zinnsoldaten marschieren können. Als Jesus sagte, daß den Kindern das Himmelreich gehöre, bezog er sich auf Agape in der Form des Enthusiasmus. Die Kinder kamen zu ihm, ohne sich um seine Wunder, seine Weisheit, die Pharisäer und die Apostel zu scheren. Sie kamen fröhlich, und ihr Antrieb war die Begeisterung.«
Ich erzählte Petrus, ich hätte just an jenem Abend begriffen, daß ich mich ganz und gar dem Jakobsweg verschrieben hatte.
Diese Tage und Nächte auf spanischem Boden hätten mich fast mein Schwert vergessen lassen und seien zu einer einzigartigen Erfahrung geworden. Alles andere sei unbedeutend geworden.
«Heute nachmittag haben wir versucht zu angeln, aber die Fische haben nicht angebissen«, sagte Petrus.»Normalerweise lassen wir zu, daß die Begeisterung uns bei diesen geringen Dingen, die im Vergleich zur Größe eines jeden Lebens bedeutungslos sind, unseren Händen entgleitet. Wir verlieren die Begeisterung wegen unserer kleinen und notwendigen Niederlagen während des guten Kampfes. Und da wir nicht wissen, daß die Begeisterung eine höhere, auf den Sieg hin gerichtete Kraft ist, lassen wir zu, daß sie unseren Fingern entgleitet. Und wir bemerken dabei nicht, daß uns damit auch der wahre Sinn unseres Lebens entgleitet. Wir geben der Welt die Schuld an unserem Lebensüberdruß, an unseren Niederlagen und vergessen dabei, daß wir es waren, die diese alles rechtfertigende, überwältigende Kraft haben entwischen lassen, die Manifestation der Agape in der Form der Begeisterung.«
Der Friedhof am Bach tauchte vor meinem inneren Auge auf.
Dieses merkwürdige, übergroße Portal war eine perfekte Verkörperung des verlorengegangenen Sinns. Hinter diesem Tor gab es nur die Toten.
Als hätte er meinen Gedanken erraten, begann Petrus von etwas Ähnlichem zu sprechen.
«Vor ein paar Tagen mußt du dich gewundert haben, daß ich wegen eines armen Kerls, der Kaffee auf meine bereits verdreckten Bermudas gegossen hatte, den Kopf verloren habe. In Wirklichkeit rührte meine Gereiztheit daher, daß ich in den Augen dieses jungen Mannes sah, wie die Begeisterung aus ihm gewichen war wie Blut, das aus aufgeschnittenen Pulsadern rinnt. Ich sah, wie dieser junge Mann, der so kräftig und voller Leben war, anfing zu sterben, denn in ihm starb mit jedem Augenblick ein wenig Agape. Ich bin nicht mehr jung und habe gelernt, mit bestimmten Dingen zu leben, doch dieser junge Mann machte mich mit seiner Art und in Anbetracht dessen, was er alles für die Menschheit Gutes tun könnte, ärgerlich und traurig zugleich. Ich bin mir sicher, daß meine Aggressivität seine Selbstgefälligkeit erschüttert und so dem Tod der Agape zumindest für einige Zeit Einhalt geboten hat.
Genauso wie du, als du Agape in ihrem reinen Zustand erlebt hast, indem du den Geist im Hund jener Frau verwandelt hast.
Dies war eine edle Geste, und ich war froh, dein Führer zu sein.
Deshalb werde ich zum ersten Mal auf dem Jakobsweg ein Exerzitium mit dir zusammen machen.«
Und Petrus lehrte mich das Ritual der Agape, das Ritual der blauen Kugel.
«Ich werde dir helfen, die Begeisterung zu wecken, eine Kraft zu schaffen, die sich wie eine blaue Kugel um den ganzen Planeten herum erstrecken wird«, sagte er.»Um dir zu zeigen, daß ich Achtung vor deiner Suche empfinde, und aus Achtung vor dem, was du bist.«
Bis zu jenem Augenblick hatte Petrus sich nie — weder positiv noch negativ — zu der Art und Weise geäußert, wie ich DAS RITUAL DER BLAUEN KUGEL
1. Setze dich bequem bin und entspanne dich. Laß dein Herz sich frei fühlen, voll freundschaftlicher Gefühle, über alle kleinlichen Probleme erhaben, die dich vielleicht gerade beschäftigen. Summe leise ein Lied aus deiner Kindheit. Stelle dir vor, wie dein Herz wächst und dein Zimmer und dann deine Wohnung oder dein Haus mit einem starken, strahlenden blauen Licht erfüllt.
2. Wenn du an diesem Punkt angelangt bist, beginne die Gegenwart der Heiligen zu fühlen, denen du als Kind deinen Glauben schenktest. Merke, wie sie bei dir sind, von überallher kommen, lächeln und dir Glauben an dein Leben, Vertrauen in dein Leben geben.
3. Stelle dir vor, daß sich die Heiligen dir nähern, um ihre Hände auf deinen Kopf zu legen, und dir Liebe, Frieden und das Gefühl von Gemeinschaft mit der Welt wünschen.
4. Wenn dieses Gefühl stark geworden ist, fühle, wie das blaue Licht in dich hinein- und aus dir herausströmt wie ein leuchtender Fluß. Dieses blaue Licht beginnt nun, sich in deiner Wohnung oder deinem Haus, dann in deinem Stadtteil, deiner Stadt, deinem Land zu verbreiten und umgibt am Ende die ganze Welt wie eine riesige blaue Kugel. Sie ist die Manifestation der Höchsten Liebe, die jenseits unserer Alltagskämpfe liegt, dich jedoch stärkt, dir Kraft, Energie und Frieden gibt.
5. Halte dieses über die Welt gebreitete Licht so lange wie möglich aufrecht. Dein Herz ist offen, verbreitet Liebe. Diese Phase des Exerzitiums sollte mindestens fünf Minuten dauern.
6. Kehre ganz allmählich aus deiner Trance in die Welt zurück.
Die Heiligen werden in der Nähe bleiben. Das blaue Licht wird weiterhin über die Welt verteilt sein.
Dieses Ritual kann, wenn es nicht anders geht, von einer Person allein, sollte aber wenn möglich von mehreren Personen vollführt werden. Dabei sollen sie einander an den Händen halten. die Exerzitien durchführte. Er hatte mir geholfen, die erste Begegnung mit dem Boten zu deuten, hatte mich beim Exerzitium des Samenkorns aus der Trance gerissen, doch zu keinem Zeitpunkt hatte er sich für das interessiert, was sie in mir bewirkten. Mehr als einmal hatte ich ihn gefragt, weshalb er meine Gefühle nicht erfahren wolle, und er hatte mir geantwortet, daß die einzige Verpflichtung, die er als Führer habe, darin bestehe, mir den Jakobsweg und die Praktiken der R.A.M. zu zeigen. Es liege bei mir, die Ergebnisse entweder zu nutzen oder abzulehnen.
Als er sagte, er wolle das Exerzitium mit mir zusammen machen, fühlte ich mich plötzlich seines Lobes unwürdig. Er kannte meine Fehler und hatte häufig an seiner Fähigkeit gezweifelt, mich auf dem Jakobsweg zu führen. Ehe ich ihm das ansatzweise sagen konnte, fiel er mir ins Wort.
«Sei nicht grausam zu dir. Sonst hast du keine Lehre gezogen aus dem, was ich dir beizubringen suchte. Sei nett zu dir selber.
Nimm ein verdientes Lob an.«
Mir stiegen Tränen in die Augen. Petrus nahm mich bei der Hand, und wir gingen hinaus. Die Nacht war dunkel, dunkler als sonst. Ich setzte mich neben ihn, und wir begannen zu singen.
Die Musik stieg in mir auf, und ich folgte der Melodie mühelos.
Ich begann leise in die Hände zu klatschen, während ich den Oberkörper vor- und zurückschwingen ließ. Das Händeklatschen wurde stärker, und in mir floß frei die Musik, eine Lobeshymne auf den dunklen Himmel, die wüstenähnliche Ebene, die leblosen Felsen. Ich begann die Heiligen zu sehen, an die ich als Kind geglaubt hatte, die aber das Leben von mir entfernt hatte, weil auch ich einen großen Teil Agape in mir abgetötet hatte. Doch jetzt kehrte die alles verschlingende Liebe freigebig wieder zu mir zurück, und die Heiligen lächelten genauso vom Himmel wie damals in meiner Kindheit.
Ich breitete die Arme aus, damit die Agape floß, und ein geheimnisvoller Strom aus blauem Licht begann in mich hinein-und aus mir herauszufließen, wusch meine Seele und vergab mir meine Sünden. Da begann ich zu weinen. Ich weinte, weil ich den Enthusiasmus wieder fühlte, den ich als Kind angesichts des Lebens gefühlt hatte. Nichts mehr konnte mir in diesem Augenblick etwas anhaben.
Das Licht breitete sich erst über die Landschaft aus, und dann umhüllte es die ganze Welt. In jede Tür, in jede Gasse war es gedrungen und hatte für Bruchteile von Sekunden jedes lebende Wesen berührt.
Ich spürte, daß jemand kam und sich rechts neben mich setzte, und glaubte, es sei mein Bote, denn er würde der einzige sein, der dieses starke Licht sehen konnte. Jemand ergriff meine zum Himmel erhobenen Hände. In diesem Augenblick wurde der Strom blauen Lichts noch stärker, so intensiv, daß ich glaubte, ohnmächtig zu werden. Doch es gelang mir, ihn noch so lange aufrechtzuerhalten, bis ich das Lied zu Ende gesungen hatte.
Dann entspannte ich mich, vollkommen erschöpft, doch eins mit dem Leben und glücklich über das, was ich gerade erlebt hatte.
Die Hände, die meine Hände gehalten hatten, gaben diese frei.
Ich bemerkte, daß eine Hand die Hand von Petrus war. Und tief in meinem Herzen ahnte ich, wessen die andere Hand war.
Ich öffnete die Augen, und neben mir saß der Mönch Alfonso.
Er lächelte.»Buenas noches. «Ich lächelte zurück, ergriff seine Hand und drückte sie fest an meine Brust. Er ließ mich gewähren, zog dann aber seine Hand sanft zurück.
Keiner sagte etwas. Eine geraume Weile später erhob sich Alfonso und ging wieder in die felsige Ebene zurück. Meine Blicke folgten ihm, bis die Dunkelheit ihn ganz in sich aufgenommen hatte.
Petrus brach kurz darauf das Schweigen. Er erwähnte Alfonso nicht.
«Mache dieses Exerzitium, sooft du kannst, und ganz allmählich wird die Agape wieder in dir leben. Wiederhole es, bevor du ein Vorhaben in Angriff nimmst, an den ersten Tagen einer Reise oder wenn etwas deine Gefühle aufgewühlt hat.
Wenn möglich, mache es mit jemandem zusammen, den du gern hast. Es ist eine Erfahrung, die mit anderen geteilt werden sollte. «Das war wieder der alte Petrus, der Fachmann, Lehrer und Führer, von dem ich so wenig wußte. Der gefühlsbetonte Augenblick in der Hütte war vorüber. Dennoch, er hatte meine Hand wahrend des Exerzitiums ergriffen, und ich hatte die Größe seiner Seele gespürt.
Wir kehrten zur weißen Einsiedelei zurück, in der noch unsere Sachen lagen.
«Ihr Bewohner wird heute nicht mehr zurückkommen, ich glaube, wir können hier schlafen«, sagte Petrus und legte sich nieder. Ich rollte meinen Schlafsack aus, trank einen Schluck Wein und legte mich auch nieder. Ich war erschöpft von der alles verschlingenden Liebe. Doch es war eine Müdigkeit, die frei von Anspannung war, und bevor ich meine Augen schloß, dachte ich an den hageren, bärtigen Mönch, der mir eine gute Nacht gewünscht und sich neben mich gesetzt hatte. Irgendwo dort draußen wurde dieser Mann von der göttlichen Flamme verzehrt. Vielleicht war deshalb die Nacht so dunkel, weil er alles Licht der Welt in sich aufgenommen hatte.