Lieber hätte ich einen Baum aufgerichtet. Mit diesem Kreuz auf dem Rücken hatte ich das Gefühl, als sei die Suche nach Erkenntnis notwendig mit Selbstopferung verbunden.«
In dem luxuriösen Hotel, in dem wir uns einquartiert hatten, wirkten meine Worte irgendwie fehl am Platz. Das Erlebnis mit dem Kreuz schien viel weiter zurückzuliegen als erst vierundzwanzig Stunden, und es paßte so gar nicht zu dem Bad aus schwarzem Marmor, dem warmen Wasser im Whirlpool und dem Glas vorzüglichen Rioja-Weins, das ich langsam leerte.
«Warum das Kreuz?«fragte ich in den Raum hinein, der so weitläufig war, daß ich Petrus nicht sehen konnte.
«Es war schwierig, den Empfangschef davon zu überzeugen, daß du kein Bettler bist«, rief er aus dem Schlafzimmer herüber.
Ich wußte aus Erfahrung, daß es keinen Zweck hatte, weiter in ihn zu dringen, wenn er eine Frage nicht beantworten wollte.
Ich stand auf, zog meine lange Hose und ein sauberes Hemd an und erneuerte die Verbände. Vorsichtig wickelte ich sie ab: Die Wunden begannen bereits zu vernarben, und ich fühlte mich gestärkt und frohgemut.
Wir aßen im Hotelrestaurant zu Abend. Petrus bestellte die Spezialität des Hauses, eine Paella Valenciana, die wir mit einigen Gläsern köstlichen Riojas schweigend hinunterspülten.
Nach dem Essen lud mich Petrus zu einem Spaziergang ein.
Wir verließen das Hotel und gingen Richtung Bahnhof, Petrus wie üblich schweigend. Wir gelangten zu einem dreckigen, nach Öl stinkenden Rangierbahnhof. Petrus hockte sich auf das Trittbrett einer riesigen Lokomotive.
«Setz dich neben mich«, sagte er.
Doch ich wollte meine Hosen nicht schmutzig machen und blieb stehen. Ich fragte ihn, ob wir nicht lieber zum Hauptplatz von Ponferrada gehen könnten.»Der Jakobsweg ist fast zu Ende«, sagte mein Führer.»Und da unsere Realität diesen nach Öl stinkenden Waggons näher ist als den idyllischen Winkeln, die wir von unserer Wanderung her kennen, möchte ich, daß unsere heutige Unterhaltung hier stattfindet.«
Dann bat er mich, Turnschuhe und Hemd auszuziehen, und lockerte mir die Verbände an den Armen, so daß diese freier beweglich waren. Die an den Händen beließ er, wie sie waren.
«Mach dir keine Sorgen«, sagte er.»Du brauchst deine Hände jetzt nicht. Zumindest müssen sie nichts greifen.«
Er war ernster als sonst, und sein Tonfall ließ mich aufhorchen.
Irgend etwas Wichtiges würde gleich geschehen.
Petrus setzte sich wieder auf das Trittbrett der Lokomotive und sah mich lange an. Dann sagte er:
«Über das, was gestern geschehen ist, möchte ich nichts sagen. Du wirst selber herausfinden, was es bedeutet -
allerdings erst, wenn du dereinst den Pilgerweg nach Rom gehst, den Weg der Charismen und der Wunder. Ich möchte dich nur vor etwas warnen: Menschen, die sich für weise halten, zögern, wenn sie befehlen sollen, und rebellieren, wenn sie dienen sollen. Sie glauben, es sei eine Schande, Befehle zu geben, und ehrenrührig, Befehle zu empfangen.
Im Hotelzimmer hast du gesagt, daß der Weg der Erkenntnis dazu führt, geopfert zu werden. Das ist falsch. Deine Lehrzeit ist gestern nicht zu Ende gegangen. Die Praktiken der R.A.M.
bringen den Menschen dazu, den guten Kampf zu kämpfen und größere Chancen im Leben zu haben. Deine gestrige Erfahrung ist nur eine Prüfung des Jakobsweges und als solche sozusagen eine Vorbereitung für den Pilgerweg nach Rom.«
Und wehmütig fügte er hinzu:»Es macht mich traurig, daß du so denkst.«
Es stimmte, was er sagte: Die ganze Zeit, die wir jetzt schon zusammen waren, hatte ich fast an allem gezweifelt, was er mich lehrte. Ich war nicht demütig und mächtig wie Castaneda in seiner Beziehung zu Don Juan, sondern hochfahrend und rebellisch angesichts der Einfachheit der Praktiken der R.A.M.
Doch für diese Erkenntnis war es jetzt zu spät.
«Schließ die Augen«, gebot Petrus.»Mach die R.A.M.-
Atemübung, und versuche mit diesem Eisen, diesen Maschinen und diesem Ölgestank in Einklang zu kommen. Dies ist unsere Welt. Du darfst die Augen erst wieder öffnen, wenn ich meinen Teil zu Ende gebracht habe und dir ein weiteres Exerzitium beibringe.«
Ich konzentrierte mich auf den Atem und schloß die Augen.
Mein Körper begann sich zu entspannen. Zuerst lauschte ich den Geräuschen der Stadt, ein paar bellenden Hunden in der Ferne und dem Raunen von Stimmen, die nicht weit von uns miteinander stritten. Plötzlich hörte ich Petrus einen italienischen Pepino-di-Carpi-Schlager anstimmen, der in meiner Jugend ein großer Hit gewesen war. Ich verstand zwar die Worte nicht, doch das Lied weckte alte Erinnerungen und half mir, mich zu entspannen.
«Vor nicht allzu langer Zeit«, begann Petrus,»- ich arbeitete gerade an einem Projekt für die Präfektur von Mailand — erhielt ich eine Botschaft von meinem Meister. Jemand sei den Weg der >Tradition< zu Ende gegangen, habe aber nicht sein Schwert empfangen. Ihn sollte ich auf dem Jakobsweg führen.
Ich war nicht weiter überrascht; ich war darauf gefaßt, daß es irgendwann passieren würde, denn ich hatte meine Aufgabe noch nicht erfüllt: einen Pilger auf der >Milchstraße< zu führen, so wie ich einst geführt worden war. Doch ich war auch nervös, weil es das erste und einzige Mal sein würde und weil ich nicht wußte, ob ich meiner Aufgabe gewachsen sein würde.«
Pertrus' Worte überraschten mich sehr. Ich war davon ausgegangen, daß er schon zigmal den Jakobsweg gegangen war.
«Du bist gekommen, und ich habe dich geführt«, fuhr er fort.
«Ich muß gestehen, daß es am Anfang sehr schwer war, weil du dich mehr für die intellektuelle Seite der Lehren interessiertest als für den wahren Sinn des Jakobsweges, der der Weg der gewöhnlichen Menschen ist. Nach unserer Begegnung mit Alfonso wurde meine Beziehung zu dir sehr viel enger und stärker, und ich glaubte, ich würde dich dazu bringen, das Geheimnis deines Schwertes selbst herauszufinden. Doch das war nicht der Fall, und jetzt mußt du es in dem bißchen Zeit, das dir noch bleibt, ganz allein ergründen.«
Das Gespräch nahm eine Wendung, die mich beunruhigte und mich bei der R.A.M.-Atemübung aus dem Tritt brachte. Petrus mußte das bemerkt haben, denn er stimmte erneut den Schlager an und hörte erst auf, als ich wieder entspannt war.
«Wenn du das Geheimnis enträtselst und dein Schwert findest, wirst du auch das Antlitz der R.A.M. entdecken und der Macht teilhaftig werden. Doch das ist noch nicht alles. Um das allumfassende Wissen zu erlangen, wirst du die anderen beiden der >drei Wege< gehen müssen, auch den geheimen Weg, den dir niemand, der ihn bereits gegangen ist, enthüllen wird. Ich sage dir das alles auch nur, weil wir uns jetzt nur noch einmal begegnen werden.«
Mir stockte das Herz, und ich öffnete unwillkürlich die Augen.
Ich konnte mich nicht mehr konzentrieren. Mein Führer summte wieder den Schlager, und es dauerte lange, bis es mir gelang, mich etwas entspannen.
«Morgen wirst du eine Nachricht erhalten, die dir sagen wird, wo ich bin. Es wird ein kollektives Initiationsritual stattfinden, ein Ritual zu Ehren der >Tradition<. Zu Ehren der Männer und Frauen, die in all diesen Jahrhunderten geholfen haben, die Flamme der Erkenntnis, des guten Kampfes und der Agape zu nähren. Du wirst nicht mit mir reden können, da es ein heiliger Ort ist, an dem wir uns treffen, getränkt mit dem Blut der Ritter, die den >Weg der Tradition< gegangen sind und denen es trotz ihrer scharfen Schwerter nicht gelungen ist, die Finsternis zu besiegen.
Doch ihr Opfermut war nicht umsonst. Zum Beweis dafür treffen sich morgen, Jahrhunderte später, Menschen dort, die sehr unterschiedliche Wege gehen, um ihren Tribut zu leisten. Eins mußt du dir merken: Selbst wenn du einmal ein Meister wirst, vergiß nie, daß dein Weg nur einer von vielen ist, die zu Gott führen. Jesus hat einmal gesagt, daß im Haus seines Vaters viele Wohnungen sind, und er wußte genau, wovon er sprach.
Eines fernen Tages wirst auch du eine Nachricht von mir erhalten, in der ich dich bitten werde, jemanden auf dem Jakobsweg zu führen, so wie ich es mit dir getan habe. Dann erst wirst du das große Geheimnis der Wanderung durchleben -
ein Geheimnis, das ich dir jetzt nur mit Worten enthülle, das aber selbst gelebt werden muß, damit man es versteht.«
Dann folgte Stille. Ich dachte schon, Petrus hätte es sich anders überlegt und sei bereits jetzt gegangen. Am liebsten hätte ich die Augen geöffnet, um mich zu vergewissern, doch ich bezwang mich und konzentrierte mich auf die Atemübung.
«Das Geheimnis ist folgendes«, sagte Petrus' Stimme endlich.
«Du kannst nur lernen, indem du lehrst. Gemeinsam sind wir den Jakobsweg gegangen, doch während du die Praktiken lerntest, lernte ich erst deren Bedeutung kennen. Indem ich dich lehrte, lernte ich die Wahrheit. Indem ich die Rolle des Führers annahm, fand ich meinen eigenen Weg.
Wenn es dir gelingt, dein Schwert zu finden, mußt du jemand anderen auf dem Jakobsweg führen. Erst wenn du die Rolle des Meisters akzeptierst, wirst du alle Antworten in deinem Herzen finden. Wir wissen bereits alles, bevor jemand uns davon erzählt. Das Leben lehrt uns mit jedem Augenblick etwas, und das einzige Geheimnis liegt darin, zu akzeptieren, daß wir durch unseren Alltag ebenso weise werden können wie Salomo und ebenso mächtig wie Alexander der Große. Doch zu dieser Erkenntnis gelangen wir erst, wenn wir gezwungen sind, jemanden etwas zu lehren und an so außergewöhnlichen Abenteuern wie diesem hier teilzunehmen.«
Und nun kam der ungewöhnlichste Abschied, den ich je erlebt habe. Jemand, mit dem ich eine so intensive Beziehung gehabt und von dem ich erhofft hatte, daß er mich zu meinem Ziel führen würde, ließ mich auf halbem Weg stehen, noch dazu mitten auf einem stinkenden Rangierbahnhof. Und mir blieb nichts anderes übrig, als es mit geschlossenen Augen hinzunehmen.
«Ich mag keine Abschiedsszenen«, fuhr Petrus fort.»Wir Italiener sind sehr emotional, uns geht so etwas immer an die Nieren. Es ist nun einmal so: Du mußt dein Schwert allein finden, damit du an deine Macht glauben kannst, Alles, was ich dir vermitteln konnte, habe ich dir vermittelt. Es bleibt nur noch das Exerzitium des Tanzes, das ich dir jetzt beibringen werde, weil du es morgen während des Rituals brauchst.«
Er schwieg. Viel später durfte ich endlich die Augen öffnen.
Petrus saß auf einer der Wagenkupplungen der Lokomotive. Ich mochte nichts sagen, denn der Brasilianer ist auch eher emotional. Die Neonlampe über uns begann zu flackern, und in der Ferne kündigte ein Zug pfeifend seine Ankunft an.
Da lehrte mich Petrus das Exerzitium des Tanzes.
«Eines noch«, sagte er und blickte mir dabei tief in die Augen.
«Als ich damals meine Pilgerwanderung beendet hatte, malte ich ein schönes, überdimensionales Bild, auf dem ich alles darstellte, was ich bis dahin erlebt hatte. Das ist der Weg der gewöhnlichen Menschen, und du kannst das gleiche tun, wenn du willst. Wenn du nicht malen kannst, schreib etwas, denk dir ein Ballett aus. So können durch deine Vermittlung auch andere Menschen die Rota Jacobea gehen, egal wo sie sich befinden.«
Der Zug, der gepfiffen hatte, fuhr in den Bahnhof ein. Petrus winkte mir und verschwand zwischen den Waggons. Und ich stand da, während unweit von mir der Zug mit kreischenden Bremsen zum Stillstand kam, und versuchte, die geheimnisvolle Milchstraße mit ihren Sternen über mir zu entziffern, die mich bis hierher geführt hatte und die in aller Stille die Einsamkeit und das Schicksal aller Menschen lenkte.
Am nächsten Tag lag eine Nachricht in meinem Schlüsselfach: 7.00 UHR P.M. CASTILLO DE LOS TEMPLARIOS.
Ich verbrachte den Tag damit, kreuz und quer durch das kleine Ponferrada zu streifen, immer die Burg auf dem kleinen Hügel vor Augen, wo ich mich bei Sonnenuntergang einfinden sollte.
Die Templer haben meine Phantasie seit jeher angeregt, und die Burg in Ponferrada war nicht die einzige Spur, die der Templerorden auf der Rota Jacobea hinterlassen hatte. Der Orden war von neun Rittern gegründet worden, die beschlossen hatten, nicht mehr an Kreuzzügen teilzunehmen.
Sie hatten sich bald über ganz Europa DAS EXERZITIUM DES TANZES
Entspanne dich und schließe die Augen. Erinnere dich an die ersten Melodien, die du in deinem Lehen gehört hast. Summe sie innerlich vor dich hin. Ganz allmählich läßt du einen Teil deines Körpers — Füße, Bauch, Hände, Kopf usw. -, doch nur einen Teil, die Melodie tanzen, die du gerade singst.
Nach fünf Minuten kannst du mit Singen aufhören. Lausche auf die Geräusche, die dich umgehen. Komponiere aus ihnen eine Musik und tanze sie mit deinem ganzen Körper. Vermeide es, an irgend etwas zu denken, sondern versuche, dich an die Bilder zu erinnern, die spontan auftauchen.
Der Tanz ist eins der vollkommensten Kommunikationsmittel mit der Unendlichen Weisheit. Dauer: fünfzehn Minuten. verteilt und tiefgreifende gesellschaftliche Veränderungen am Anfang dieses Jahrtausends hervorgerufen. Während der größte Teil des Adels jener Zeit nur darauf bedacht war, seinen Reichtum auf Kosten der im Feudalsystem üblichen Knechtschaftsarbeit zu vermehren, weihten die Tempelritter ihr Leben, ihre Güter und ihre Schwerter einer einzigen Sache: dem Schutz der Pilger nach Jerusalem, wobei sie eine Form des spirituellen Lebens entwickelten, die ihnen auf der Suche nach Weisheit und Erkenntnis helfen sollte.
1118 versammelten sich Hugues de Payns und noch acht weitere Ritter im Innenhof einer alten Burg und taten einen Schwur der Liebe zur Menschheit. Zwei Jahrhunderte später gab es in der damals bekannten Welt bereits fünftausend Komtureien, die zwei Arten der Lebensgestaltung miteinander verbanden, die bislang unvereinbar erschienen: das Mönchtum und das Rittertum. Die Schenkungen und Spenden der Komturen und Tausender dankbarer Pilger führten dazu, daß der Templerorden in kurzer Zeit unermeßlichen Reichtum anhäufen konnte, der mehr als einmal dazu diente, bedeutende Persönlichkeiten der Christenheit zu befreien, die von den Muselmanen als Geiseln genommen worden waren. Die Rechtschaffenheit der Ritter war so unbestritten, daß Könige und Adlige den Templern ihre Güter anvertrauten und nur noch mit Dokumenten reisten, die das Vorhandensein dieser Güter nachwiesen. So ein Dokument konnte in irgendeiner der Burgen des Ordens gegen die entsprechende Summe eingelöst werden und war die Vorstufe unserer heutigen Wechsel.
Die Frömmigkeit der Templer führte dazu, daß sie die Wahrheit dessen begriffen, was Petrus am Vorabend gesagt hatte: Das Haus des Vaters hat viele Wohnungen. Denn sie trachteten danach, die Glaubenskämpfe aufzugeben und die wichtigsten monotheistischen Religionen jener Zeit zu vereinen, das Christentum, den Judaismus und den Islam. Ihre Kapellen erhielten daher die runde Kuppel des jüdischen Tempels Salomos, den achteckigen Grundriß arabischer Moscheen und die für die christlichen Kirchen typischen Kirchenschiffe. Doch wie alle, die ihrer Zeit voraus sind, wurden die Templer mit Skepsis bedacht. Ihre große wirtschaftliche Macht erweckte den Neid der Könige und ihre religiöse Offenheit den Argwohn der Kirche. Am Freitag, den 13, Oktober 1307, entfesselten der Vatikan und die wichtigsten Staaten Europas eine der größten Polizeiaktionen des Mittelalters. In einer einzigen Nacht wurden die Vorsteher in ihren Burgen festgenommen und ins Gefängnis geworfen. Sie wurden angeklagt, geheime Zeremonien durchzuführen, bei denen sie den Dämon anbeteten und Jesus Christus lästerten.
Weiter warf man ihnen vor, orgiastische Rituale vollführt und mit den Novizen Sodomie betrieben zu haben. Den Rittern wurden durch Folter Geständnisse abgepreßt, nicht wenige schworen dem Orden ab. Und so verschwand der Templerorden von der historischen Landkarte des Mittelalters. Die Schätze wurden konfisziert und die Mitglieder über die ganze Welt verstreut. Der letzte Großmeister des Ordens, Jacques de Molay, wurde in Paris zusammen mit einem Gefährten bei lebendigem Leibe verbrannt. Sein letzter Wunsch war es gewesen, im Anblick der Kathedrale Notre-Dame zu sterben.
Die spanischen Könige, die damals in die Kämpfe der Reconquista verwickelt waren, nahmen die verfolgten Ritter aus ganz Europa auf, um sich ihre Unterstützung im Kampf gegen die Mauren zu sichern. Diese Ritter gingen in spanischen Orden, beispielsweise dem Orden des heiligen Jacobus vom Schwert, auf, der für den Schutz des Jakobsweges zuständig war.
Dies alles ging mir durch den Kopf, als ich um Punkt sieben Uhr abends durch das Haupttor der alten Templerburg von Ponferrada ging, wo mein Zusammentreffen mit der >Tradition< stattfinden sollte.
Niemand außer mir war dort. Ich wartete, eine Zigarette nach der ändern rauchend, und fürchtete schon, ich hätte mich geirrt und das Ritual hatte schon um sieben Uhr morgens stattgefunden. Doch als ich schon gehen wollte, kamen zwei junge Frauen herein, auf deren Kleidern die niederländische Fahne und die Kammuschel, das Symbol des Jakobsweges, genäht waren. Sie gesellten sich zu mir, wir wechselten ein paar Worte und stellten fest, daß wir alle drei aus demselben Grund hier waren.
Jede Viertelstunde stieß jemand Neues dazu: ein Australier, fünf Spanier, ein weiterer Niederländer. Außer über die Frage der Uhrzeit, die bei allen Zweifel erweckt hatte, sprachen wir nicht weiter miteinander. Wir setzten uns in einen verfallenen Vorraum, an dessen Stelle wohl einstmals die Vorratskammer gelegen war, und beschlossen zu warten, wenn's sein mußte auch einen weiteren Tag und eine weitere Nacht.
Wir vertrieben uns die Wartezeit damit, daß wir über die Gründe sprachen, die uns hierhergeführt hatten. So erfuhr ich, daß der Jakobsweg von unterschiedlichen Orden benutzt wurde, die zum größten Teil mit der >Tradition< verbunden waren. Die hier Anwesenden hatten viele Prüfungen und Initiationsrituale durchlaufen, von denen ich die meisten allerdings noch von Brasilien her kannte. Nur der Australier und ich waren Anwärter auf den höchsten Grad des >ersten Weges<. Obwohl wir nicht länger darüber sprachen, merkte ich, daß der Weg des Australiers nichts mit den Praktiken der R.A,M. gemein hatte.
Gegen Viertel vor neun erscholl in der alten Burgkapelle ein Gong, und wir gingen gemeinsam hinüber.
Der Anblick war beeindruckend. Die Kapelle — oder besser, was davon übrig war, denn auch sie war weitgehend verfallen — war von Fackeln erleuchtet. Dort, wo einst der Altar gestanden hatte, hoben sich sieben Gestalten ab, die mit den jahrhundertealten Gewändern der Templer bekleidet waren: Kappe und Helm aus Stahl, Panzerhemd, Schwert und Schild.
Es verschlug mir den Atem: Es war so, als sei ich in eine andere Zeit zurückversetzt. Das einzige, was noch an die Realität gemahnte, war unsere Kleidung, die Jeans und die T-Shirts mit den aufgenähten Kammmuscheln.
Selbst im schwachen Licht der Fackeln konnte ich erkennen, daß einer der Ritter Petrus war.»Tretet näher zu euren Meistern«, sagte einer von ihnen, der wie der Älteste wirkte.»Seht ihnen nur in die Augen. Entkleidet euch und empfangt die Gewänder.«
Ich trat zu Petrus und blickte ihm tief in die Augen. Er befand sich in einer Art Trance und schien mich nicht zu erkennen.
Doch ich bemerkte eine gewisse Traurigkeit in seinem Blick, die gleiche Traurigkeit, die am Vorabend in seiner Stimme mitgeklungen hatte. Ich zog mich ganz aus, und Petrus überreichte mir eine Art schwarze, wohlriechende Tunika, die locker an meinem Körper herabfiel. Einer dieser Meister muß mehr als einen Schüler haben, mutmaßte ich, doch ich konnte es nicht nachprüfen, wer es war, da ich Petrus in die Augen blicken mußte.
Der Hohepriester führte uns in die Mitte der Kapelle, und zwei Ritter begannen, einen Kreis um uns herum zu ziehen, und sprachen, während sie ihn heiligten.
So wurde der Kreis als unentbehrlicher Schutz für jene gezogen, die sich in ihm befanden. Ich bemerkte, daß vier von uns eine weiße Tunika trugen, was bedeutete, daß sie vollkommene Keuschheit gelobt hatten.
«Amides, Theonidias, Anitor!«sagte der Hohepriester.»Kraft der Engel, Herr, lege ich das Gewand der Erlösung an. Möge alles, was ich wünsche, Wirklichkeit werden durch Dich, hochheiliger Adonai, dessen Reich ewig währt. Amen.«
Der Hohepriester legte den weißen Umhang mit dem rotgestickten Templerkreuz über das Kettenhemd, und die anderen Ritter folgten seinem Beispiel.
Punkt neun Uhr, in der Stunde Merkurs, des Boten, stand ich erneut inmitten eines Kreises der >Tradition<. Der Duft von Weihrauch, Minze, Basilienkraut und Benzoe erfüllte die Kapelle. Und die Ritter begannen mit der Anrufung des mächtigen Königs N. Ich hatte bereits an unzähligen ähnlichen Zeremonien teilgenommen, doch die Templerburg schien meine Phantasie anzuregen, denn plötzlich vermeinte ich in der linken Ecke der Kapelle einen glitzernden Vogel zu sehen. Dann besprengte uns der Hohepriester mit Wasser, ohne das Innere des Kreises zu betreten, und schrieb mit geweihter Tinte die 72 Namen auf den Boden, mit denen Gott in der >Tradition< angerufen wird.
Wir alle, Pilger und Ritter, begannen die heiligen Namen zu sprechen. Die Flammen der Fackeln knisterten, ein Zeichen, daß der angerufene Geist sich unterworfen hatte.
Dann kam das Tanzen. Niemand durfte den Schutzkreis übertreten. Ich prägte mir den Umfang des Kreises ein und tat genau, was Petrus mich gelehrt hatte.
Ich dachte an meine Kindheit. Eine Stimme, eine ferne weibliche Stimme in mir, stimmte ein Wiegenlied an. Ich kniete nieder, rollte mich ganz in Samenposition ein und spürte, wie meine Brust, nur meine Brust, zu tanzen begann. Ich fühlte mich wohl und war bereits ganz in das Ritual der >Tradition< eingetaucht. Allmählich veränderte sich die Musik in mir, die Bewegungen wurden heftiger, und ich fiel in eine tiefe Ekstase.
Alles um mich herum war dunkel, und mein Körper wurde wie schwerelos. Ich durchstreifte die blühenden Wiesen von Aghata und traf dort meinen Großvater und einen Onkel, der meine Kindheit entscheidend geprägt hatte. Ich spürte, wie die Zeit in ihrem Spinnennetz aus Quadraten vibrierte, in denen alle Straßen zusammenlaufen und ineinander aufgehen und einander ähnlich werden, obwohl sie so unterschiedlich sind.
Irgendwann sah ich den Australier blitzschnell vorüberziehen: Sein Körper war von einem roten Glanz überzogen.
Die nächste Vision war ein Kelch und ein Hostienteller, und dieses Bild blieb sehr lange, als wollte es mir etwas sagen.
Ich vermochte es nicht zu deuten, obwohl die Botschaft sicher mit meinem Schwert zu tun hatte. Dann vermeinte ich das Antlitz der R.A.M. zu sehen, das aus der Dunkelheit hervortrat, als Kelch und Hostienteller verschwanden. Doch als es sich näherte, war es nur das Antlitz von N., dem angerufenen Geist und meinem alten Bekannten. Wir nahmen keinen Kontakt zueinander auf, und sein Antlitz löste sich in der wabernden Dunkelheit auf. Ich weiß nicht, wie lange wir getanzt haben. Plötzlich hörte ich eine Stimme:
«JAHWE, TETRAGRAMMATON…«, doch ich wollte nicht aus der Trance erwachen. Die Stimme aber rief beharrlich:
«JAHWE, TETRAGRAMMATON…«, und ich erkannte die Stimme des Hohenpriesters, die uns aus der Trance zurückholte.
Widerstrebend kehrte ich zur Erde zurück. Befand mich erneut im magischen Kreis in der uralten Templerburg.
Wir Pilger sahen einander an. Der jähe Schnitt schien allen mißfallen zu haben. Ich konnte mich kaum zurückhalten, dem Australier zu sagen, daß ich ihn gesehen hatte. Als ich ihn ansah, merkte ich, daß Worte überflüssig waren: Er hatte mich auch gesehen.
Die Ritter stellten sich im Kreis um uns herum auf und schlugen mit den Schwertern auf die Schilde, was einen ohrenbetäubenden Lärm hervorrief. Dann ersuchte der Hohepriester den Geist, sich friedlich zurückzuziehen:»Möge der Friede Gottes immer zwischen dir und mir herrschen.
Amen.«
Der Kreis wurde aufgelöst, und wir knieten alle mit gesenktem Kopf nieder. Ein Ritter betete sieben Vaterunser und sieben Ave-Marias mit uns. Der Hohepriester fügte ein Glaubensbekenntnis hinzu, indem er sagte, Unsere Heilige Mutter von Medjugorje, die seit 1982 in Jugoslawien erscheint, habe es so bestimmt. Wir begannen nun mit einem christlichen Ritual.
«Andrew, erhebe dich und trete vor«, befahl der Hohepriester.
Der Australier ging zum ehemaligen Altar, wo die sieben Ritter inzwischen wieder Aufstellung genommen hatten.
Ein weiterer Ritter, der sein Führer sein mußte, sagte:»Bruder, suchst du die Gemeinschaft des Hauses und die barmherzigen Anordnungen, die in ihm herrschen?«Der Australier bejahte.
Und mir wurde klar, welches christliche Ritual wir gerade erlebten: die Initiation eines Templers.»Ich bin bereit, alles im Namen Gottes zu ertragen, und ich möchte Diener des Hauses sein für den Rest meiner Tage.«
Es folgten noch viele weitere rituelle Fragen und Ermahnungen.
Einige davon machten in der heutigen Welt keinerlei Sinn mehr.
Andere betrafen tiefe Frömmigkeit und Liebe. Andrew beantwortete alle mit gesenktem Kopf und blieb standhaft dabei, daß er in die Gemeinschaft des Hauses eintreten wolle.
Schließlich wandte sich sein Führer an den Hohenpriester und wiederholte alle Antworten, die ihm der Australier gegeben hatte.
Zum Schluß näherte sich sein Meister feierlich und übergab ihm sein Schwert.
Eine Glocke läutete, und ihr Klang hallte wider von den Wänden der alten Burg. Wir senkten alle den Kopf, und die Ritter entschwanden unseren Blicken. Als wir den Kopf wieder hoben, waren wir nur noch zehn, denn der Australier war mit den Rittern zum rituellen Bankett gegangen.
Wir zogen uns wieder um und verabschiedeten uns ohne viel Umstände voneinander. Der Tanz mußte lange gedauert haben, denn es tagte bereits. Unendliche Einsamkeit erfüllte meine Seele.
Ich war neidisch auf den Australier, der sein Schwert erhalten und sein Ziel erreicht hatte. Ich selber war ganz auf mich gestellt, ohne das Geheimnis meines Schwertes noch seinen Standort zu kennen.
Als ich kurz vor Tagesanbruch aus der Burg trat, läutete die Glocke noch immer. Sie gehörte einer nahen Kirche und rief die Gläubigen zur Frühmesse. Die Stadt erwachte. Vor ihr lag ein Tag voller Arbeit, unglücklicher Liebe, ferner Träume und Rechnungen, die bezahlt werden mußten. Doch weder die Glocke noch die Stadt wußten, daß in jener Nacht ein uraltes Ritual vollzogen worden war und daß das, von dem alle seit Jahrhunderten glaubten, es sei tot, sich immer wieder erneuerte und seine unendliche Macht zeigte.