Die Liebe


Wer mit dem Boten spricht, sollte nicht nach Dingen fragen, die die Welt der Geister betreffen«, sagte Petrus am nächsten Tage.»Der Bote dient nur einem: dir in der materiellen Welt zu helfen. Er wird dir nur helfen, wenn du genau weißt, was du willst.«

Wir hatten in einer kleinen Ortschaft haltgemacht, und Petrus hatte ein Bier und ich ein Soda bestellt. Der Untersatz meines Glases war eine Plastikscheibe, die mit farbigem Wasser gefüllt war. Meine Finger malten abstrakte Figuren in das Wasser, und mir gingen viele Dinge durch den Kopf.

«Du hast gesagt, daß der Bote sich in dem Jungen manifestiert habe, weil er mir etwas zu sagen hatte.«

«Etwas Dringendes«, bestätigte er.

Wir sprachen weiter über Boten, Engel und Dämonen. Es fiel mir schwer, eine so praktische Verwendung der Mysterien der

>Tradition< zu akzeptieren. Petrus bestand darauf, daß wir immer eine Belohnung suchen müssen, und ich erinnerte ihn daran, daß Jesus gesagt hatte, daß der Reiche nicht ins Himmelreich komme.

«Jesus hat auch den Mann belohnt, der die Talente seines Herrn zu mehren wußte. Außerdem haben die Menschen nicht nur an ihn geglaubt, weil er so gut reden konnte. Er mußte Wunder tun, um die zu belohnen, die ihm folgten.«

«In meiner Bar spricht niemand schlecht über Christus«, unterbrach uns der Wirt, der unserer Unterhaltung gefolgt war.

«Niemand spricht hier schlecht über Jesus«, entgegnete Petrus.»Schlecht über Jesus reden ist, wenn man in seinem Namen Böses tut. So wie es auf diesem Platz geschehen ist.«

Der Wirt schwankte einen Augenblick lang. Doch dann entgegnete er:

«Ich hatte damit nichts zu tun. Ich war noch ein Kind.«

«Schuld haben immer die anderen«, knurrte Petrus. Der Wirt ging zur Küchentür hinaus. Ich fragte, worüber sie gerade geredet hätten.

«Vor fünfzig Jahren, mitten im 20. Jahrhundert, wurde ein Zigeuner dort gegenüber verbrannt. Er war der Hexerei und der Verunglimpfung der heiligen Hostie beschuldigt worden. Der Fall wurde über den Greueln des spanischen Bürgerkrieges vergessen, und heute erinnert sich keiner mehr daran. Außer den Einwohnern dieser Stadt.«

«Woher weißt du das, Petrus?«

«Ich gehe den Jakobsweg nicht zum ersten Mal.«

Wir waren die einzigen, die in der Bar etwas tranken. Draußen brannte die Sonne. Es war unsere Siesta-Zeit. Kurz darauf kam der Wirt mit dem Dorfpfarrer zurück.

«Wer sind diese Herren?«fragte der Pfarrer.

Petrus wies auf die Jakobsmuschel auf seinem Rucksack.

Tausend Jahre hindurch waren Pilger auf dem Weg vor dieser Bar vorbeigezogen, und die Tradition wollte, daß jeder Pilger geehrt und aufgenommen wurde. Der Pfarrer wechselte sofort seinen Ton.

«Wie ist es möglich, daß Pilger auf dem Jakobsweg schlecht über Jesus reden?«fragte er, und sein Tonfall klang so wie beim Katechismusunterricht.

«Niemand spricht hier schlecht über Jesus. Wenn wir uns über etwas negativ geäußert haben, dann war es über die im Namen Jesu verübten Verbrechen. Wie zum Beispiel die Verbrennung des Zigeuners hier auf dem Platz.«

Die Jakobsmuschel auf Petrus' Rucksack hatte auch den Wirt seinen Ton ändern lassen. Diesmal wandte er sich respektvoll an ihn.

«Der Fluch des Zigeuners wirkt heute noch«, sagte er, während ihn der Pfarrer tadelnd ansah.

Petrus wollte wissen, wie. Der Pfarrer sagte, das seien Geschichten, die sich das Volk erzähle. Die Kirche unterstütze dies keineswegs. Doch der Wirt fuhr fort:»Bevor er starb, sagte der Zigeuner, daß das jüngste Kind des Dorfes seine Dämonen empfangen und von ihnen besessen sein werde. Wenn dieses Kind alt werde und sterbe, würden die Dämonen auf ein anderes Kind übergehen. Und dies über die Jahrhunderte.«

«Das Land hier ist genauso wie das der umliegenden Dörfer.

Wenn sie unter der Dürre leiden, tun wir es auch. Wenn es dort regnet und die Ernte gut ist, füllen auch wir unsere Kornspeicher. Hier geschieht nichts, was nicht auch in den anderen Dörfern geschieht. Diese Geschichte ist pure Erfindung.«

«Nichts ist geschehen, weil wir den Fluch aus unserem Dorf verbannt haben.«

«Nun, dann gehen wir doch zu ihm hin«, entgegnete Petrus.

Der Pfarrer lachte und sagte, das sei ein Wort. Der Wirt schlug das Kreuz. Doch niemand rührte sich.

Petrus zahlte die Zeche und bestand darauf, daß jemand uns zu der Person führte, die mit dem Fluch belegt war. Der Pater entschuldigte sich damit, daß er in die Kirche zurück müsse, wo noch Arbeit auf ihn wartete. Und er ging, bevor wir anderen etwas sagen konnten.

Der Wirt sah Petrus ängstlich an.

«Machen Sie sich keine Sorgen«, sagte mein Führer.»Sie brauchen uns nur das Haus zu zeigen, in dem er lebt. Und wir werden versuchen, die Stadt vom Fluch zu befreien.«

Der Wirt trat mit uns auf die staubige Straße in die heiße Mittagssonne. Wir gingen zusammen bis zum Ortsausgang, und er wies auf ein in einiger Entfernung am Jakobsweg gelegenes Haus.

«Wir schicken immer Essen und Kleidung, alles, was man so braucht«, entschuldigte er sich.

«Aber selbst der Pfarrer geht nicht dorthin.«

Wir verabschiedeten uns von ihm und begaben uns zu dem Haus. Der Mann blieb abwartend stehen. Vielleicht dachte er, wir würden an dem Haus vorbeigehen. Doch Petrus ging auf die Vordertür zu und klopfte. Als ich zurücksah, war der Wirt verschwunden.

Eine etwa sechzigjährige Frau kam an die Tür. Neben ihr wedelte ein riesiger schwarzer Hund mit dem Schwanz und schien sich über den Besuch zu freuen. Die Frau fragte, was wir denn wollten, sie habe zu tun, sie sei gerade dabei, Wäsche zu waschen, und ein paar Töpfe stünden auf dem Feuer. Sie schien von unserem Besuch nicht überrascht zu sein. Ich führte das darauf zurück, daß schon viele Pilger, die von dem Fluch nichts wußten, auf der Suche nach Unterkunft bei ihr angeklopft hatten.

«Wir sind Pilger auf dem Weg nach Santiago de Compostela und hätten gern etwas heißes Wasser«, sagte Petrus.»Ich bin sicher, Sie werden es uns nicht abschlagen.«

Etwas unwillig öffnete die Alte die Tür. Wir traten in ein kleines, sauberes, spärlich möbliertes Zimmer. Es standen dort ein Sofa, dessen Plastiküberzug eingerissen war, eine Anrichte und ein Resopaltisch mit zwei Stühlen. Auf der Anrichte befanden sich ein Bild des Heiligen Herzens Jesu, einige Heilige und ein aus Spiegeln gefertigtes Kruzifix. Das Zimmer hatte zwei Türen.

Durch die eine konnte ich das Schlafzimmer sehen. Die Frau geleitete Petrus durch die andere zur Küche.

«Ich habe gerade kochendes Wasser auf dem Herd«, sagte sie.

«Ich hole schnell ein Gefäß, und dann können Sie weiterziehen.«

Ich blieb mit dem riesigen Hund im Wohnzimmer. Er wedelte zufrieden und freundlich mit dem Schwanz. Kurz darauf kam die Frau mit einer alten Konservendose, füllte sie mit heißem Wasser und reichte sie Petrus.

«Hier. Und nun gehen Sie mit Gottes Segen.«

Doch Petrus rührte sich nicht. Er zog ein Teebeutelchen aus dem Rucksack, hängte es in die Dose und sagte, er wolle das wenige, was er besitze, aus Dankbarkeit dafür, daß sie uns aufgenommen habe, mit ihr teilen.

Die Frau holte sichtlich verärgert zwei Tassen und setzte sich mit Petrus an den Resopaltisch. Während ich dem Gespräch der beiden zuhörte, sah ich weiterhin den Hund an.

«Man hat mir im Dorf erzählt, daß über diesem Haus ein Fluch liegt«, meinte Petrus beiläufig.

Ich sah die Augen des Hundes aufblitzen, als habe er die Unterhaltung verstanden. Die Alte stand abrupt auf.

«Das ist eine Lüge! Das ist ein alter Aberglaube! Seien Sie so gut und trinken Sie Ihren Tee aus, ich habe noch viel zu tun.«

Der Hund spürte den Stimmungswechsel der Frau. Er blieb reglos in Habachtstellung. Doch Petrus setzte das Gespräch seelenruhig fort.

Er goß langsam den Tee in die Tasse, führte sie an seine Lippen und setzte sie wieder ab, ohne einen Schluck getrunken zu haben.

«Er ist sehr heiß«, meinte er.»Warten wir noch eine Weile, bis er etwas abkühlt.«

Die Frau setzte sich nicht wieder. Sie war von unserer Anwesenheit sichtbar verärgert, und es tat ihr nun leid, die Tür aufgemacht zu haben. Sie bemerkte, daß ich den Hund anstarrte, und rief ihn zu sich. Das Tier gehorchte, doch auch nachdem es neben ihr stand, sah es mich weiterhin an.

«Deshalb, mein lieber Paulo«, sagte Petrus, indem er mich ansah,»deshalb ist dir dein Bote gestern in dem Kind erschienen.«

Plötzlich bemerkte ich, daß nicht ich den Hund, sondern der Hund mich anblickte. Seit ich hereingekommen war, hatte mich das Tier hypnotisiert und meinen Blick festgehalten. Der Hund sah mich an und zwang mir seinen Willen auf. Ich fühlte plötzlich eine große Mattigkeit, den Wunsch, auf diesem zerschlissenen Sofa einzuschlafen, weil es draußen sehr heiß war und ich keine Lust hatte zu laufen. Dies alles kam mir seltsam vor, und mein Gefühl sagte mir, daß ich in einen Hinterhalt geraten war. Der Hund starrte mich an, und je länger er mich anstarrte, desto müder wurde ich.»Laß uns aufbrechen«, sagte Petrus, indem er sich erhob und mir die Tasse reichte.»Trink etwas, denn die Dame des Hauses möchte, daß wir bald gehen.«

Ich schwankte, doch es gelang mir, die Tasse zu nehmen, und der Tee belebte mich ein wenig. Ich wollte etwas sagen, nach dem Namen des Tieres fragen, doch ich brachte keinen Ton heraus. Etwas in mir war erwacht, etwas, das Petrus mich nicht gelehrt hatte, was sich aber dennoch in mir manifestierte. Es war der unbezwingbare Wunsch, fremdartige Worte auszusprechen, deren Sinn ich nicht kannte. Ich glaubte, daß Petrus etwas in den Tee getan hatte. Alles rückte weit weg, und ich bekam nur ungenau mit, was die Frau zu Petrus sagte. Ich war von Euphorie erfüllt und beschloß, die fremdartigen Worte, die mir in den Sinn kamen, laut auszusprechen.

Ich sah in dem Raum nur den Hund. Als ich begann, diese fremdartigen Worte auszusprechen, die ich selbst nicht verstand, hörte ich, wie der Hund zu knurren begann. Er verstand sie. Ich wurde immer erregter und redete immer lauter.

Der Hund erhob sich und bleckte die Zähne. Er war nun nicht mehr das sanfte Tier, das mir bei meiner Ankunft begegnet war, sondern etwas Böses, Bedrohliches, das mich jederzeit angreifen konnte. Ich wußte, daß die Worte mich beschützten, und redete immer lauter, wendete all meine Kraft gegen den Hund, während ich fühlte, daß in mir eine andere Macht war, die verhinderte, daß das Tier mich angriff.

Von diesem Augenblick an verlief alles in Zeitlupe. Ich sah, daß die Frau schreiend auf mich zukam und versuchte, mich hinauszudrängen, und daß Petrus die Frau festhielt, doch der Hund achtete nicht auf ihren Streit. Er starrte mir in die Augen und richtete sich knurrend und zähnebleckend auf. Ich versuchte, die fremde Sprache zu verstehen, die ich sprach, doch jedesmal wenn ich versuchte, ihren Sinn zu ergründen, nahm die Macht in mir ab, und der Hund näherte sich, wurde stärker. Ich fing an, die Worte laut herauszuschreien, und die Frau begann ebenfalls zu schreien. Der Hund bellte und bedrohte mich, doch solange ich redete, war ich sicher. Ich hörte ein lautes Lachen, doch ich wußte nicht, ob es dieses Lachen wirklich oder nur in meiner Phantasie gab.

Unvermittelt und als würde alles gleichzeitig geschehen, durchfuhr ein Windstoß das Haus, und der Hund stieß ein lautes Heulen aus und stürzte sich auf mich. Ich hob den Arm, um mein Gesicht zu schützen, brüllte ein Wort und erwartete den Aufprall.

Der Hund warf sich mit seinem ganzen Gewicht auf mich, und ich fiel auf das Sofa. Einige Sekunden lang starrten wir einander Auge in Auge an, dann rannte er unvermittelt aus dem Haus.

Ich begann hemmungslos zu weinen. Ich erinnerte mich an meine Familie, an meine Frau und an meine Freunde. Eine ungeheure Liebe erfüllte mich, eine unendliche Freude, die mir jedoch zugleich absurd vorkam, da mir bewußt war, was mit dem Hund passiert war. Petrus packte mich am Arm und führte mich hinaus, während die Frau uns beide vor sich herschob. Ich blickte um mich, doch der Hund war spurlos verschwunden. Ich legte meinen Arm um Petrus und hörte nicht auf zu weinen, während wir in der Sonne wanderten.

An den zurückgelegten Weg kann ich mich nicht erinnern, ich kam erst wieder zu mir, als ich an einem Brunnen saß und Petrus mir das Gesicht und den Nacken anfeuchtete. Ich bat um einen Schluck Wasser, doch er sagte, mir würde nur übel werden, wenn ich etwas tränke. Eine unendliche Liebe für alles und für alle durchflutete mich. Ich blickte um mich und sah die Bäume am Straßenrand, den kleinen Brunnen, bei dem wir gehalten hatten, spürte die frische Brise und hörte die Vögel im Wald singen. Es war, wie Petrus mir gesagt hatte: Ich sah das Antlitz meines Engels. Auf meine Frage, ob wir schon weit vom Haus der Frau entfernt seien, antwortete er, daß wir schon mindestens eine Viertelstunde gegangen seien.

«Du willst sicher wissen, was geschehen ist«, meinte er.

Im Augenblick interessierte es mich nicht. Der Hund, die Frau, der Wirt waren ferne Erinnerungen, die nichts mit dem zu tun hatten, was ich jetzt fühlte. Ich sagte Petrus, daß ich gern weitergehen wolle. Mit mir sei alles in Ordnung.

Ich stand auf, und wir nahmen den Jakobsweg wieder auf.

Während des verbleibenden Nachmittags war ich wortkarg, immer noch in dieses angenehme Gefühl getaucht, das alles zu erfüllen schien. Hin und wieder dachte ich noch, daß Petrus etwas in den Tee getan haben mußte, doch auch das war letztlich unwichtig. Was zählte, war, daß ich die Berge, die Bäche, die Blumen am Wegesrand, das herrliche Antlitz meines Engels sah.

Um acht Uhr abends erreichten wir ein Hotel, und ich befand mich noch immer — wenn auch nicht mehr ganz so intensiv — in diesem seligen Zustand. Der Besitzer bat um meinen Paß, um mich einzutragen.»Sie sind aus Brasilien? Da war ich schon mal. In einem Hotel am Strand von Ipanema.«

Dieser absurde Satz brachte mich wieder in die Realität zurück.

Mitten auf der Rota Jacobea, in einem vor vielen Jahrhunderten gebauten Dorf, gab es einen Hotelier, der den Strand von Ipanema kannte.

«Wenn du jetzt mit mir reden willst, ich bin bereit«, sagte ich zu Petrus,»ich muß wissen, was heute geschehen ist.«

Der Zustand der Seligkeit war vorüber. An seine Stelle war wieder der Verstand mit seiner Angst vor dem Unbekannten und mit der dringenden Notwendigkeit getreten, mit beiden Füßen auf der Erde zu stehen.

«Nach dem Abendessen«, antwortete er.

Petrus bat den Hotelbesitzer, den Fernseher einzuschalten, jedoch ohne Ton. Er meinte, so könne ich am besten zuhören, ohne zu viele Fragen zu stellen, weil ein Teil von mir das ansehen würde, was auf dem Bildschirm passierte. Er fragte mich, bis zu welchem Zeitpunkt meine Erinnerung zurückreiche.

Ich antwortete ihm, daß ich mich an alles außer an unseren Weg zum Brunnen erinnern könne.

«Das ist unwichtig«, antwortete er. Im Fernsehen begann irgendein Film, in dem es um Kohlebergwerke ging. Die Darsteller trugen Kleidung der Jahrhundertwende.»Gestern, als ich das Drängen deines Boten spürte, wußte ich, daß dir auf dem Jakobsweg ein Kampf bevorstand. Du bist hier, um dein Schwert zu finden und die Praktiken der R.A.M. zu lernen. Doch jedesmal wenn ein Führer einen Pilger geleitet, gibt es mindestens eine Situation, die sich der Kontrolle beider entzieht und die so etwas wie eine Prüfung der praktischen Umsetzung des inzwischen Gelernten ist. In deinem Falle war es die Begegnung mit dem Hund.

Die Einzelheiten des Kampfes und warum Dämonen häufig in Tieren leben, erkläre ich dir ein andermal. Wichtig ist jetzt, daß du begreifst, daß diese Frau bereits an den Fluch gewöhnt war.

Für sie war er etwas Normales, in das sie sich geschickt hatte, und die Engherzigkeit der Welt erschien ihr als etwas Gutes.

Sie hatte gelernt, sich mit wenigem zufriedenzugeben, obwohl das Leben großzügig ist und viele Geschenke für uns bereithält.

Als du dieser armen Alten die Dämonen ausgetrieben hast, brachtest du ihr Universum aus dem Gleichgewicht. Vor ein paar Tagen haben wir über die Schmerzen gesprochen, die Menschen sich selbst zufügen. Wenn wir ihnen das Gute zu zeigen versuchen, ihnen zeigen wollen, daß das Leben großzügig ist, weisen sie dieses Ansinnen häufig zurück, als stamme es vom Dämon. Sie wagen nicht, etwas vom Leben zu fordern, weil die Angst vor der Niederlage zu groß ist. Doch wer den guten Kampf kämpfen will, der muß die Welt als einen unendlich großen Schatz ansehen, der darauf wartet, entdeckt und erobert zu werden.«

Petrus fragte mich, ob ich wisse, was ich hier auf dem Jakobsweg mache.

«Ich bin auf der Suche nach meinem Schwert«, antwortete ich.

«Und wozu willst du das Schwert haben?«

«Weil es mir die Macht und die Weisheit der >Tradition< verleihen wird.«

Ich merkte, daß ihn meine Antwort nicht ganz zufriedenstellte.

Doch er fuhr fort:

«Du bist auf der Suche nach einer Belohnung. Du wagst zu träumen und tust alles, um diesen Traum Wirklichkeit werden zu lassen. Bis du es gefunden hast, mußt du genau wissen, was du mit deinem Schwert tun wirst. Doch etwas spricht für dich: Du suchst nach einer Belohnung. Du gehst den Jakobsweg nur, weil du für deine Anstrengung belohnt werden willst. Ich habe durchaus bemerkt, daß du alles, was ich dir beibringe, anwendest und dabei ein praktisches Ziel verfolgst.

Das ist sehr positiv.

Du mußt nur noch die Praktiken der R.A.M. mit deiner Intuition vereinen. Die Sprache deines Herzens wird die richtige Art bestimmen, dein Schwert zu finden und zu benutzen.

Andernfalls werden sich die Exerzitien und die Praktiken der R.A.M. in der nutzlosen Weisheit der >Tradition< verlieren.«

Petrus hatte mir das auf andere Art schon öfter gesagt, und obwohl ich ihm zustimmte, war es nicht das, was ich wissen wollte. Es waren zwei Dinge geschehen, für die ich keine Erklärung hatte: Ich hatte in fremden Zungen gesprochen und war von einem Gefühl der Freude und Liebe durchflutet worden, nachdem ich den Hund verjagt hatte.

«Das Gefühl der Freude hattest du, weil dein Handeln von Agape bestimmt war.«

«Du redest so viel von Agape, und bis jetzt hast du mir noch nicht genau erklärt, was das ist. Hat es mit einer höheren Form der Liebe zu tun?«

«Genau. Der Augenblick, in dem du diese intensive Liebe kennenlernen wirst, die den Liebenden verschlingt, ist nicht mehr weit. Dennoch begnüge dich damit zu wissen, daß sie sich frei in dir manifestiert.«

«Ich hatte dieses Gefühl schon häufiger. Doch es hielt nicht so lange an und war auch anders. Es überkam mich immer nach einem beruflichen Erfolg, wenn ich etwas geschafft hatte oder wenn ich ahnte, daß das Schicksal es gut mit mir meinte.

Dennoch verschloß ich mich diesem Gefühl und fürchtete mich davor, es intensiv auszuleben. Als könnte diese Freude den Neid anderer wecken oder als wäre ich ihrer unwürdig.«

«Bevor wir die Agape kennenlernen, machen wir das alle«, sagte er, während er auf den Fernsehbildschirm starrte. Ich fragte ihn dann nach den fremden Zungen, in denen ich gesprochen hatte.

«Das hat mich überrascht. Dies is t keine Praktik des Jakobsweges. Es ist ein Charisma und gehört zu den Praktiken der R.A.M. auf dem Pilgerweg nach Rom.«

Ich hatte schon vom Charisma gehört, doch ich bat Petrus, es mir genauer zu erklären.

«Die Charismen sind Gaben des Heiligen Geistes, die sich im Menschen manifestieren. Es gibt ganz unterschiedliche Arten: die Gabe des Heilens, die Gabe, Wunder zu tun, die Gabe der Prophezeiung, um nur einige zu nennen. Du hast die Gabe der Sprachen erfahren, die Gabe, in fremden Zungen zu sprechen, die den Aposteln mit dem Pfingstwunder zuteil wurde. Die Gabe, in fremden Zungen zu sprechen, ist Ausdruck der unmittelbaren Verbindung mit dem Heiligen Geist. Sie dient machtvollen Gebeten, Exorzismen — wie in deinem Fall — und der Weisheit. Die Tage unserer Wanderung auf dem Jakobsweg und die Praktiken der R.A.M. haben, einmal abgesehen von der Gefahr, die der Hund für dich darstellte, zufällig die Gabe der Sprachen in dir geweckt. Das wird nicht wieder geschehen, es sei denn, du findest dein Schwert und beschließt, den Pilgerweg nach Rom zu gehen. Jedenfalls ist es ein gutes Vorzeichen.«

Ich schaute auf den stummgeschalteten Fernseher. Die Geschichte in den Kohlebergwerken war zu einer Folge von Bildern von Männern und Frauen geworden, die ständig redeten, stritten, sich unterhielten. Hin und wieder küßte ein Schauspieler eine Schauspielerin.

«Noch etwas«, sagte Petrus.»Es könnte sein, daß du den Hund wieder triffst. Versuch in diesem Falle nicht, die Gabe der Sprachen in dir zu wecken, weil sie nicht wiederkehren wird.

Vertraue auf das, was deine Intuition dir sagen wird. Ich werde dir eine weitere Praktik der R.A.M. beibringen, die diese Intuition in dir weckt. Du wirst dadurch beginnen, die geheime Sprache deines Geistes verstehen zu lernen, und sie wird dir in deinem Leben jederzeit sehr nützlich sein. «Petrus schaltete den Fernseher just in dem Augenblick aus, als ich anfing, mich für die Handlung zu interessieren. Dann ging er an die Bar und bestellte eine Flasche Mineralwasser. Wir tranken beide etwas davon, und dann nahm er die Flasche mit nach draußen.

Wir setzten uns und schwiegen. Die Stille der Nacht umfing uns, und die Milchstraße am Himmel erinnerte mich an mein Ziel: mein Schwert zu finden.

Nach einer Weile lehrte mich Petrus das Exerzitium des Wassers.

«Ich bin müde und werde jetzt schlafen gehen«, sagte er.

«Aber mach du jetzt diese Übung. Erwecke deine Intuition, deine geheime Seite. Laß die Logik aus dem Spiel, denn das Wasser ist ein flüssiges Element und läßt sich nicht so einfach beherrschen. Doch es wird ganz allmählich, gewaltlos, eine neue Beziehung zwischen dir und dem Universum aufbauen.«

Und er schloß, bevor er ins Hotel trat:»Man hat nicht immer einen Hund, der einem hilft.«

Ich genoß die Kühle und die Stille der Nacht. Das Hotel lag weitab von der nächsten Stadt, und niemand fuhr die Straße entlang, an der ich saß. Ich dachte an den Besitzer, der Ipanema kannte und dem es absurd vorkommen mußte, daß ich mich an diesem kargen Ort aufhielt, auf den die Sonne jeden Tag wieder mit derselben Heftigkeit niederbrannte.

Ich wurde allmächlich müde und beschloß, die Übung gleich zu machen. Ich schüttete den Rest des Wassers auf den Betonboden. Sofort bildete sich eine Pfütze. Sie hatte weder eine bestimmte Form, noch stellte sie irgend etwas dar, aber darum ging es mir auch nicht. Meine Finger begannen durch das kalte Wasser zu fahren, und ich gelangte allmählich in den hypnotischen Zustand, der einen überkommt, wenn man ins Feuer blickt. Ich dachte an nichts, spielte nur mit dem Wasser einer Pfütze. Ich machte am Rand ein paar Striche, und die Pfütze schien sich in eine nasse Sonne zu verwandeln, doch die Striche verliefen schnell wieder ineinander. Dann schlug ich mit der Handfläche mitten in die Pfütze. Das Wasser spritzte und über DAS EXERZIT IUM DES ERWECKENS DER INTUITION

(Das Exerzitium des Wassers)

Mache auf einer glatten, wasserundurchlässigen Oberfläche eine Pfütze. Sieh diese Pfütze eine Zeitlang an. Dann beginne, absichts- und ziellos, mit dieser Wasserpfütze zu spielen. Male etwas vollkommen Sinnloses mit dem Wasser. Mache diese Übung eine Woche lang jeweils mindestens zehn Minuten.

Suche in dieser Übung nicht nach praktischen Ergebnissen. Sie wird ganz allmählich deine Intuition wecken. Vertrau ihr immer, auch wenn sie beginnt, sich auch zu anderen Tageszeiten zu manifestieren. zog den Betonboden mit Tropfen, schwarzen Sternen auf grauem Grund. Ich war ganz in diese kindische Übung versunken, die kein Ziel verfolgte, sondern einfach nur Spaß machte. Ich fühlte, daß mein Geist fast vollkommen ausgeschaltet war. Das erreichte ich sonst nur nach langen Meditationen und in tiefer Entspannung. Gleichzeitig sagte mir etwas, daß tief in mir, in den verborgenen Bereichen meines Geistes, eine Kraft Gestalt annahm und sich anschickte, sich zu manifestieren.

Ich spielte lange mit der Pfütze, und es fiel mir schwer, mit der Übung aufzuhören. Hätte mir Petrus die Übung mit dem Wasser am Anfang der Reise beigebracht, hätte ich sie bestimmt für eine Zeitvergeudung gehalten. Doch jetzt, nachdem ich in fremden Zungen geredet und Dämonen ausgetrieben hatte, stellte diese Wasserpfütze einen ersten zaghaften Kontakt zur Milchstraße über mir her. Sie spiegelte deren Sterne wider, schuf Zeichnungen, die ich nicht entschlüsseln konnte, und verschaffte mir das Gefühl, gleichsam einen neuen Code der Kommunikation mit der Welt zu schaffen. Den geheimen Code der Seele, der Sprache, die wir zwar verstehen, aber nur selten hören.

Es war spät geworden. Die Lichter am Empfang des Hotels brannten nicht mehr, und ich ging ganz leise hinein. In meinem Zimmer rief ich noch einmal Astrain. Er erschien mir deutlicher, und ich sprach eine Zeitlang mit ihm über mein Schwert und meine Lebensziele.

Einstweilen äußerte er sich nicht, doch Petrus hatte mir ja gesagt, daß Astrain erst im Laufe der Zeit, je häufiger ich ihn anrief, zu einer lebendigen und mächtigen Gegenwart an meiner Seite werden würde.

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