Cebreiro


Sind Sie Pilger?«fragte ein kleines Mädchen, das die einzige lebende Seele an diesem glühendheißen Nachmittag in Villafranca del Bierzo zu sein schien.

Die Kleine mochte etwa acht Jahre alt sein, sie war in ihren ärmlichen Kleidern zu mir an den Brunnen gekommen, an dem ich mich etwas ausruhte.

Meine einzige Sorge war, so schnell wie möglich nach Santiago de Compostela zu gelangen und dieses verrückte Abenteuer zu beenden. Mich verfolgten Petrus' traurige Stimme auf dem Bahnhof und sein abwesender Blick, mit dem er mir beim Ritual der >Tradition< in die Augen gesehen hatte — als wären all seine Bemühungen, mir zu helfen, umsonst gewesen. Sicher hätte es Petrus gern gesehen, wenn statt des Australiers ich zum Altar gerufen worden wäre. Mein Schwert konnte durchaus in dieser verlassenen und legendenumwobenen Burg versteckt sein, denn der Ort war genau, was ich suchte: ein verlassener heiliger Ort, nur von wenigen Pilgern besucht, denen er aufgrund der Reliquien des Templerordens heilig war.

Nun, da der Australier zum Altar gerufen worden war, fühlte sich Petrus bestimmt vor den anderen gedemütigt, weil er als Führer versagt und mich nicht zu meinem Schwert geführt hatte.

Zudem hatte das Ritual der >Tradition< in mir wieder die Faszination für die Kenntnisse des Okkulten aufleben lassen, die ich auf dem Jakobsweg so konsequent zu vergessen lernte.

Die Anrufungen, die Kontrolle über die Materie, die Kommunikation mit anderen Welten, all das war viel interessanter als die Praktiken der R.A.M. Auch wenn möglicherweise gerade sie mein Leben viel direkter beeinflußten: Seit Beginn der Wanderung auf dem Jakobsweg hatte ich mich zweifellos verändert, hatte mit Petrus' Hilfe herausgefunden, daß sie mich in die Lage versetzten, Wasserfalle zu überwinden, Feinde zu besiegen und mit dem Boten über praktische, greifbare Dinge zu reden. Ich hatte das Antlitz meines Todes gesehen und miterlebt, wie die blaue Kugel der alles umfassenden Liebe die ganze Welt umhüllte.

Ich war bereit, den guten Kampf zu kämpfen und mein Leben zu einer Kette von Erfolgen zu machen.

Dennoch fühlte ein verborgener Teil meines Seins Sehnsucht nach den magischen Zirkeln, den transzendentalen Formeln, dem Weihrauch und der >heiligen Tinte<. Was Petrus eine

>Hommage an die Alten< genannt hatte, war für mich ein nostalgisches Wiedereintauchen in altbekannte Lektionen gewesen, zu denen ich mich weiterhin machtvoll hingezogen fühlte. Und allein die Aussicht, daß mir der Zugang zu dieser Welt künftig versperrt sein könnte, nahm mir den Antrieb weiterzumachen.

Als ich nach dem Ritual der >Tradition< zum Hotel zurückkam, lag neben meinem Schlüssel Der Pilgerführer in meinem Fach, ein Buch, das Petrus immer benutzt hatte, wenn die gelben Markierungen schlecht zu erkennen waren und wenn es darum ging, die Entfernung zwischen zwei Städten abzuschätzen. Ich verließ Ponferrada noch am selben Morgen. Am Nachmittag stellte ich fest, daß die Karte nicht maßstabgetreu war: Ich mußte eine Nacht unter freiem Himmel in einem natürlichen, von einem Felsen gebildeten Unterstand verbringen.

Dort überdachte ich noch einmal alles, was seit der Begegnung mit Madame Savin geschehen war, und mir ging Petrus'

beharrlicher Versuch nicht aus dem Sinn, mir klarzumachen, daß im Gegensatz zu dem, was man uns immer beigebracht hatte, die Ergebnisse das Wichtigste seien. Sich anstrengen war gesund und unerläßlich, doch die Anstrengung machte ohne Ergebnisse keinen Sinn. Das einzige Ergebnis, das ich von mir und aufgrund all dessen, was geschehen war, erhoffen konnte, war mein Schwert zu finden. Das war bislang nicht geschehen. Und es fehlten nur noch wenige Tage Fußmarsch, bis ich Santiago erreichen würde.

«Wenn Sie ein Pilger sind, kann ich Sie zum Tor der Vergebung führen. «Das Mädchen am Brunnen von Villafranca del Bierzo ließ sich nicht abwimmeln.»Wer durch dieses Tor geht, braucht nicht nach Santiago zu gehen. «Ich hielt ihr ein paar Peseten hin, damit sie ging und mich in Frieden ließ. Doch das Mädchen begann, mit dem Wasser des Brunnens zu spielen, und machte meinen Rucksack und meine Bermudas naß.

«Kommen Sie, kommen Sie schon«, insistierte sie. Da fielen mir die Worte aus einem der Briefe des Apostels Paulus wieder ein, die Petrus ständig zitiert hatte:»Der da pflügt, soll auf Hoffnung pflügen; und der da drischt, soll auf Hoffnung dreschen, daß er seiner Hoffnung teilhaftig werde.«

Ich mußte nur noch ein wenig durchhalten. Ohne Angst vor einer Niederlage bis zum Ende suchen. Die Hoffnung nicht aufgeben, daß ich mein Schwert finden und sein Geheimnis entschlüsseln würde.

Vielleicht wollte mir dieses Mädchen ja etwas sagen, was ich mich zu verstehen weigerte. Warum sollte sich mein Schwert, wenn das Tor der Vergebung, das sich in einer Kirche befand und dieselbe spirituelle Wirkung hatte wie die Ankunft in Santiago, nicht dort befinden?

«Gut, dann laß uns gehen«, sagte ich zum Mädchen. Ich blickte auf den Berg zurück, den ich gerade heruntergestiegen war. Ich mußte wieder umkehren und ihn noch einmal besteigen. Ich war offenbar an dem Tor der Vergebung achtlos vorbeigegangen, weil mein ganzes Trachten nur darauf gerichtet war, in Santiago anzukommen. Oder aber meine Eile und meine Niedergeschlagenheit hatten mich mein Ziel übersehen lassen. Hier aber war ein Mädchen, das darauf bestand, daß ich umkehrte. Warum hatte es nicht einfach mein Geld genommen und war abgehauen?

Petrus hatte immer gesagt, daß meine Phantasie mit mir durchging. Doch vielleicht war das diesmal nicht der Fall.

Während ich dem Mädchen zum Tor der Vergebung folgte, erinnerte ich mich an die Geschichte dieses Portals. Die Kirche hatte eine Art Kompromiß mit den kranken Pilgern geschlossen, denn der Jakobsweg verlief von hier aus über Gebirgszüge nach Santiago. Im 12. Jahrhundert hatte ein Papst Pilgern, die auf dem Jakobsweg erkrankt waren und nicht mehr weiterwandern konnten, eine Art Notlösung zugestanden: Wenn sie das Tor der Vergebung durchschritten, gewährte er ihnen denselben Ablaß wie den anderen Pilgern, die den Weg zu Ende gingen. Mit diesem Trick hatte jener Papst das Problem der Berge aus der Welt geschafft und die Pilgerzüge gefördert.

Wir erklommen die gewundenen, rutschigen Wege, über die ich zuvor heruntergekommen war. Das Mädchen lief schnell wie der Blitz voraus, und ich mußte es mehrfach bitten, langsamer zu gehen, was es eine Zeitlang gutwillig tat, bis es sich wieder vergaß und erneut losrannte. Eine halbe Stunde später waren wir am Tor der Vergebung angelangt.»Ich habe den Schlüssel zur Kirche«, sagte das Mädchen.»Ich gehe hinein und schließe Ihnen von innen auf.«

Das Mädchen verschwand durch den Haupteingang, während ich draußen wartete. Es war eine kleine Kapelle, und das Hauptportal an der Nordseite war rundum mit Kammuscheln und Szenen aus dem Leben des heiligen Jacobus geschmückt.

Als ich den Schlüssel im Schloß hörte, tauchte plötzlich aus dem Nichts ein riesiger deutscher Schäferhund auf und stellte sich zwischen mich und das Portal.

Mein Körper war sofort kampfbereit.»Schon wieder«, dachte ich bei mir.»Hat diese Geschichte denn kein Ende? Ständig neue Prüfungen, Kämpfe und Demütigungen. Und keine Spur von meinem Schwert.«

Doch da öffnete sich das Tor der Vergebung, und die Kleine erschien. Als sie den Hund sah, dessen Blick sich in meine starren Augen bohrte, sagte sie ein paar zärtliche Worte zu ihm, worauf er sich sofort beruhigte und ihr schwanzwedelnd in die Kirche folgte.

Wahrscheinlich hatte Petrus recht. Meine Phantasie gaukelte mir etwas vor. Ein einfacher deutscher Schäferhund war zu etwas Bedrohlichem, Übernatürlichem geworden. Das war ein schlechtes Omen, ein Anzeichen dafür, daß Erschöpfung zur Niederlage führt.

Doch es gab noch eine Hoffnung, und erwartungsvoll folgte ich dem Mädchen durch das Tor der Vergebung und erwirkte mir somit denselben Ablaß, den die kranken Santiago-Pilger erhalten.

Meine Blicke durchstreiften die karge Kapelle auf der Suche nach dem einzigen Gegenstand, der mich interessierte.

«Dort sehen Sie die Kapitelle in Form einer Muschel, dem Symbol des Jakobsweges«, begann das Mädchen in typischem Reiseführerstil.»Dies ist die Santa Agueda aus dem…«

Mir wurde bald klar, daß ich den ganzen Weg vergebens zurückgegangen war.

«Und dies ist Jacobus, der Maurentöter, der sein Schwert gezückt hat und unter dessen Pferd die Mauren hegen, die Statue stammt aus dem…«

Da war das Schwert des heiligen Jacobus. Doch nicht meines.

Ich wollte dem Mädchen ein paar Peseten geben. Doch es lehnte sie beinahe beleidigt ab und bat mich, die Kirche umgehend zu verlassen. Ihre Führung war beendet.

Ich stieg den Berg wieder hinunter und wandte meine Schritte nach Santiago de Compostela. Als ich Villafranca del Bierzo zum zweiten Mal durchquerte, sprach mich ein Mann an, der sich mit dem Namen >Angel<, zu deutsch Engel, vorstellte und sich erbot, mir die Kirche des San Jose Operario zu zeigen. Der Mann mochte einen zauberhaften Namen haben, doch er berührte mich im Moment wenig, da ich mich gerade von einer Enttäuschung erholen mußte. Petrus hatte sich erneut als guter Menschenkenner erwiesen, denn in meiner Neigung, mir Dinge vorzustellen, die es gar nicht gibt, hatte ich wieder einmal eine der großen Lektionen übersehen, die ich direkt vor Augen hatte.

Und einzig aus diesem Grund ließ ich mich von Angel überreden mitzugehen. Doch die Kirche war verschlossen, und Angel hatte keinen Schlüssel. Wenigstens konnte er mir die Statue des heiligen Joseph mit seinem Tischlerwerkzeug über dem Portal zeigen. Zum Dank wollte ich ihm ein paar Peseten geben, doch er wies sie gekränkt zurück und ließ mich mitten auf der Straße stehen.

«Wir sind stolz auf unsere Stadt«, sagte er zum Abschied.»Wir tun dies nicht für Geld. «Eine Viertelstunde später lag Villafranca del Bierzo mit seinen Portalen, seinen Straßen und seinen geheimnisvollen Führern, die keine Gegenleistung erwarteten, endgültig hinter mir.

Während ich durch die beschwerliche Gebirgslandschaft weiterzog, in der ich nur langsam vorankam, hing ich weiter meinen bedrückenden Gedanken nach: wie einsam ich mich fühlte, wie ich mich schämte, Petrus enttäuscht zu haben, wo wohl mein Schwert war und was für ein Geheimnis es barg.

Doch ganz allmählich schoben sich die Bilder des Mädchens und Angels in den Vordergrund. Während ich die Blicke starr auf meine Belohnung gerichtet hatte, hatten sie mir, ohne eine Gegenleistung zu erwarten, ihr Bestes gegeben: ihre Liebe zu dieser Stadt. Ein etwas wirrer Gedanke begann sich in mir zu entwickeln, eine Art Verbindungsglied zwischen all diesen Dingen. Petrus hatte immer darauf bestanden, daß die Suche nach Belohnung unbedingt notwendig sei, um zum Sieg zu gelangen. Jedesmal wenn ich den Rest der Welt vergessen und nur an mein Schwert gedacht hatte, war ich von Petrus unsanft in die Wirklichkeit zurückgeholt worden.

Das konnte kein Zufall sein, dahinter steckte bestimmt ein Plan, und darin war auch das Geheimnis meines Schwertes zu suchen. Ein Gedanke regte sich in mir und nahm allmählich Gestalt an. Er war zwar noch nicht ganz klar und deutlich, doch irgend etwas sagte mir, daß ich auf dem richtigen Weg war.

Ich war dankbar, Angel und dem Mädchen begegnet zu sein. In der Art, wie sie von den Kirchen gesprochen hatten, lag die alles verschlingende Liebe. Sie hatten mich zweimal den Weg gehen lassen, den ich mir für jenen Nachmittag vorgenommen hatte. Und darüber war die Faszination des Rituals der

>Tradition< verblaßt, und ich war auf spanischen Boden zurückgekehrt.

Ich erinnerte mich an einen Tag in den Pyrenäen ganz zu Beginn meiner Pilgerreise, als Petrus mir eröffnete, daß wir mehrere Tage im Kreis gegangen seien. Wie sehnte ich mich nach jenem Tag zurück. Es war ein glückhafter Anfang gewesen. Wer weiß, vielleicht war die heutige Wiederholung das Vorzeichen für ein gutes Ende? Abends gelangte ich in ein Dorf und übernachtete bei einer alten Dame, die mich auch wieder fast umsonst verköstigte und logierte, Beim Abendessen kamen wir ins Plaudern, und sie erzählte mir von ihrem tiefen Glauben an Jesus vom Heiligen Herzen und von ihrer einzigen Sorge, die die Olivenernte dieses Dürrejahres betraf. Ich trank den Wein, aß die Suppe und ging früh schlafen.

Der Gedanke, der allmählich in mir Gestalt annahm und bald aufbrechen würde, machte mich ruhiger. Ich betete, führte einige der Exerzitien durch, die mich Petrus gelehrt hatte, und beschloß, mit Astrain zu sprechen.

Ich mußte unbedingt mit ihm über das reden, was während meines Kampfes mit dem Hund geschehen war. Damals hatte er alles getan, um mir zu schaden, und nachdem er sich während meiner Mühen mit dem Kreuz verweigert hatte, war ich entschlossen gewesen, ihn für immer aus meinem Leben zu bannen. Doch wenn ich seine Stimme nicht erkannt hätte, wäre ich den Versuchungen erlegen, die mich während des ganzen Kampfes bestürmt hatten.

«Du hast alles getan, um der Legion zum Sieg zu verhelfen«, hielt ich ihm vor.

«Ich kämpfe nicht gegen meine Brüder«, entgegnete Astrain.

Genau das war die Antwort, die ich erwartet hatte. Ich war schon vorgewarnt, und es war dumm, dem Boten gram zu sein, weil er seiner eigenen Natur folgte. Ich mußte in ihm den Gefährten suchen, der mir in Augenblicken wie diesem half.

Das war seine einzige Aufgabe. Mein Groll verrauchte, und wir begannen, angeregt über den Jakobsweg, über Petrus und das Geheimnis des Schwertes zu reden, das ich in mir bereits zu fühlen begann. Er sagte mir nichts Bedeutsames, nur daß diese Geheimnisse ihm nicht zugänglich seien. Doch so hatte ich zumindest jemanden, dem ich mein Herz ausschütten konnte, nachdem ich einen ganzen Nachmittag lang geschwiegen hatte. Wir redeten bis spät in die Nacht miteinander, bis die Alte an meine Tür klopfte, um mir zu sagen, daß ich im Schlaf sprach. Ich erwachte wohlgemut und nahm meine Wanderung früh am Morgen wieder auf. Meinen Berechnungen zufolge würde ich noch am selben Nachmittag die Provinz Galizien erreichen, deren Hauptstadt Santiago de Compostela ist. Der Weg führte stetig bergauf, und ich konnte mein normales Wandertempo nur mit Mühe beibehalten. Vor jeder Anhöhe hoffte ich, daß es auf der anderen Seite nun endlich bergab ginge. Doch es kamen immer nur noch höhere Berge, die es zu überwinden galt. Die physische Anstrengung vertrieb meine düsteren Gedanken, und ich begann, freundschaftlichere Gefühle für mich selbst zu hegen.

Verdammt, dachte ich, wer wird denn in dieser Welt überhaupt einen Menschen ernst nehmen, der alles aufgibt, um ein Schwert zu suchen? Würde es mir wirklich so viel ausmachen, wenn ich es nicht fände? Immerhin beherrsche ich inzwischen die Praktiken der R.A.M., habe meinen Boten kennengelernt, mit dem Hund gekämpft und meinen Tod gesehen. Der Jakobsweg war wichtig für mich, und das Schwert war nur eine Folgeerscheinung. Natürlich würde ich es gern finden, aber lieber noch wollte ich herausfinden, was ich mit ihm anfangen wollte. Denn irgendeine praktische Anwendung mußte es dafür geben, ähnlich den Exerzitien, die mich Petrus gelehrt hatte.

Unvermittelt blieb ich stehen. Der Gedanke, der bislang gleichsam verschüttet gewesen war, brach hervor. Alles um mich herum wurde hell, und eine Welle von Agape durchströmte mich. Ich wünschte, Petrus wäre dagewesen, damit ich ihm sagen könnte, was er immer von mir hatte hören wollen und was die Krönung all der Lehren des Jakobsweges war: die Antwort auf die Frage nach dem Geheimnis meines Schwertes.

Im Grunde betraf dieses Geheimnis alles, was der Mensch in diesem Leben zu erringen versuchte: Wir müssen wissen, wozu wir etwas wollen, was wir damit anfangen wollen.

So hatte ich es nie gesehen. Während des ganzen Jakobsweges wollte ich immer nur herausbekommen, wo das Schwert versteckt lag. Ich hatte mich nie gefragt, warum ich es finden wollte und wozu ich es brauchte. Meine ganze Energie richtete sich auf die Belohnung, und ich begriff nicht, daß jemand, der sich etwas wünscht, genau wissen muß, wozu er sich dieses wünscht. Dies ist der einzige Grund, auf die Suche nach einer Belohnung zu gehen, und dies war das Geheimnis meines Schwertes.

Auf irgendeinem Weg mußte Petrus erfahren, daß ich das herausgefunden hatte, auch wenn ich ihn nie wiedersehen würde. Er hatte diesen Tag so sehr herbeigesehnt.

Still kniete ich nieder, riß eine Seite aus meinem Notizbuch und schrieb auf, was ich mit meinem Schwert machen wollte. Dann faltete ich das Blatt sorgfältig zusammen und legte es unter einen Stein. Die Zeit würde diese Botschaft bald zerstören, doch symbolisch hatte ich sie Petrus hiermit übermittelt.

Er wußte, daß ich mein Schwert finden würde. So war auch Petrus' Mission erfüllt.

Ich stieg weiter bergan, Agape durchstömte mich und brachte die Landschaft ringsum zum Leuchten. Jetzt, wo ich das Geheimnis gelöst hatte, mußte ich nur noch finden, was ich suchte. Jetzt glaubte ich zuversichtlich und unerschütterlich daran, es zu schaffen. Ich begann das italienische Lied zu singen, das mir Petrus auf dem Bahnhof vorgesummt hatte. Da ich die Worte nicht kannte, erfand ich einfach welche. Ich wanderte gerade durch einen dichten Wald, niemand war in der Nähe, und so sang ich ganz laut. Nach und nach ergaben die von mir erfundenen Worte einen geheimen Sinn.

Etwas Ähnliches hatte ich bei meiner ersten Begegnung mit der Legion erlebt. Damals hatte sich in mir die Gabe, in fremden Zungen zu reden, manifestiert. Ich war Diener des Heiligen Geistes gewesen, der mich benutzte, um eine Frau zu retten, einen Feind zu erschaffen, und der mich die grausame Art des guten Kampfes gelehrt hatte. Jetzt war es anders: Ich war Herr meiner selbst und lernte, mit dem Universum zu sprechen.

Ich begann, mit allen Dingen zu reden, die ich am Wegrand antraf: mit den Baumstämmen, den Wasserpfützen, den herabgefallenen Blättern und schönen Kletterpflanzen. Kinder konnten das, doch wenn sie älter wurden, vergaßen sie es. Und die Dinge antworteten mir auf geheimnisvolle Weise, als verstünden sie, was ich sagte.

Petrus hatte wieder einmal recht: Indern ich mich selbst etwas lehrte, wurde ich zum Meister.

Zur Mittagszeit machte ich keine Rast. Während ich durch die kleinen Dörfer am Wege kam, redete ich leiser, lachte in mich hinein, und wenn mich jemand dabei beobachtet haben sollte, wird er gedacht haben, daß die Pilger heutzutage verrückt in der Kathedrale von Santiago ankommen. Doch das war nicht wichtig, denn ich feierte das Leben um mich herum und wußte jetzt, was ich mit meinem Schwert tun würde, wenn ich es fand.

Den ganzen restlichen Nachmittag ging ich wie in Trance. Ich kannte mein Ziel und fühlte das vielfältige Leben, das mich umgab und das mir Agape zurückgab. Am Himmel begannen dicke Wolken aufzuziehen. Ich hoffte, es würde regnen, denn nach der langen Wanderung durch das ausgetrocknete Land würde der Regen eine Erlösung sein. Um drei Uhr nachmittags betrat ich galizischen Boden und sah auf meiner Karte, daß mich vor dem Ende dieser Etappe nur noch ein Berg erwartete.

Ich beschloß, hinaufzusteigen und in Tricastela, dem ersten bewohnten Ort, durch den ich beim Abstieg kommen würde, zu übernachten. Mit Tricastela hatte vor Urzeiten ein großer König, Alfonso IX., einst seinen Traum von einer großartigen Stadt verwirklichen wollen. Heute, Jahrhunderte später, war aus dem Traum noch immer nicht mehr als ein bescheidenes Dorf geworden.

Noch immer singend und in meiner erfundenen Sprache vor mich hin redend, begann ich den Aufstieg des letzten Berges, des Cebreiro. Der Name ging auf römische Siedlungen zurück und schien auf den Monat Februar zu verweisen, in dem irgend etwas Bedeutendes geschehen sein mußte. Einst war der Paß des Cebreiro der schwierigste der Rota Jacobea, doch heute hatten sich die Dinge gewandelt. Der Aufstieg war zwar steiler als andere, doch eine riesige Fernsehantenne auf einem benachbarten Berg diente den Pilgern als Bezugspunkt und verhinderte, daß sie vom Weg abkamen, was früher häufig vorgekommen war und oft tödlich geendet hatte. Die Wolken senkten sich immer mehr, bald schon würde ich in den Nebel kommen. Um nach Tricastela zu gelangen, mußte ich mich genau an die gelben Markierungen halten, denn die Fernsehantenne war im Nebel verschwunden. Wenn ich mich verlief, mußte ich noch eine Nacht im Freien verbringen, was bei dem zu erwartenden Regen nicht gerade verlockend erschien. Sich Regentropfen auf das Gesicht fallen lassen, das freie Leben in vollen Zügen genießen und die Nacht an einem heimeligen Ort mit einem Glas Wein und in einem Bett beenden, in dem man sich für die Wanderung des nächsten Tages ausruht, ist eines. Etwas anderes ist es, wenn man im Schlamm liegt und einem der Regen ins Gesicht peitscht, der die Verbände aufweicht und den Schlaf raubt.

Ich mußte mich jetzt entscheiden. Entweder mußte ich weiter durch den Nebel wandern — noch war es hell genug — oder sofort umkehren, zum Übernachten ins letzte Dorf zurückkehren, durch das ich gekommen war, und die Besteigung des Cebreiro auf den nächsten Tag verschieben.

Etwas Seltsames war mit mir geschehen. Die Gewißheit, daß ich das Geheimnis meines Schwertes herausgefunden hatte, trieb mich vorwärts und in den Nebel hinauf, der mich bald ganz umgeben würde. Es war aus einem ganz anderen inneren Antrieb heraus als dem, der mich dem Mädchen zum Tor der Vergebung oder Angel zur Kirche des heiligen Joseph, dem Arbeiter, hatte folgen lassen. Ich erinnerte mich, wie ich bei den wenigen Malen, an denen ich mich bereit erklärte, einen spirituellen Kursus in Brasilien abzuhalten, die mystische Erfahrung mit dem Fahrradfahren verglichen hatte. Wir steigen aufs Fahrrad, treten auf die Pedale und fallen. Wir fahren und fallen, fahren und fallen und lernen keineswegs allmählich, das Gleichgewicht zu halten. Dennoch ist das vollkommene Gleichgewicht plötzlich da, und wir beherrschen das Gefährt vollkommen. Es gibt keine kumulative Erfahrung, sondern eine Art» Wunder«, das sich erst in dem Augenblick vollzieht, in dem das Fahrrad» uns fährt«, oder besser gesagt, wenn wir bereit sind, uns dem Gleichgewicht der beiden Räder anheimzugeben. Und indem wir uns ihm anheimgeben, benutzen wir den ursprünglichen Impuls zu fallen dazu, ihn in eine Kurve oder einen Antrieb für die Pedale zu verwandeln.

Hier nun, am Cebreiro, merkte ich, daß das Wunder geschehen war. Bisher war ich den Jakobsweg gegangen, jetzt» ging er mich«. Ich folgte dem, was man allgemein Intuition nennt. Und wegen der alles verschlingenden Liebe, die mich den ganzen Tag durchströmte, und weil ich das Geheimnis meines Schwertes entdeckt hatte und aus der Zuversicht heraus, daß der Mensch im Augenblick der Krise schon die richtige Entscheidung trifft, schritt ich furchtlos auf den Nebel zu.

«Irgendwo muß diese Wolkendecke doch aufhören«, dachte ich, während ich mich bemühte, die gelben Markierungen auf den Steinen und den Bäumen am Weg zu erkennen. Seit einer Stunde sah ich kaum die Hand vor Augen, und ich sang immer weiter, um die Angst zu vertreiben, und wartete darauf, daß etwas Außergewöhnliches geschah. Mitten im Nebel, ganz allein in dieser unwirklichen Umgebung, sah ich mich auf dem Jakobsweg noch einmal wie in einem Film in dem Augenblick, wo der Held etwas tut, was niemand tun würde, während das Publikum sich denkt, daß so etwas nur im Kino passiert. Doch ich erlebte diese Situation im wirklichen Leben. Der Wald wurde immer stiller, und der Nebel begann sich ein wenig zu lichten.

Vielleicht war er ja bald zu Ende, doch er tauchte alles um mich herum in ein geheimnisvolles, fast unheimliches Licht.

Die Stille war jetzt fast vollkommen, und ich bemerkte es erst, als ich eine Frauenstimme links von mir zu hören glaubte. Ich blieb sofort stehen. Hoffte, ich würde sie wieder hören, doch es war wieder still. Ich hörte nichts, nicht einmal die üblichen Geräusche des Waldes, die Grillen, Insekten, Tiere, die auf trockene Blätter traten. Ich schaute auf die Uhr. Viertel nach fünf. Es mußten noch etwa vier Kilometer bis nach Torrestrela sein, und wenn ich mich beeilte, kam ich ohne weiteres noch vor Einbruch der Nacht dort an.

Als ich aufschaute, hörte ich wieder die Frauenstimme. Damit begann eine der wichtigsten Erfahrungen meines Lebens. Die Stimme kam nicht von irgendwo aus dem Wald, sondern aus meinem Innern. Ich hörte sie ganz klar und deutlich. Es war weder meine Stimme noch die von Astrain. Sie sagte mir nur, ich solle weitergehen, und ich gehorchte, ohne zu zögern. Der Nebel wurde immer dünner, und vor mir auf dem steilen, rutschigen Gelände ragten ein paar vereinzelte Bäume auf.

Dann, unvermittelt, wie durch Zauberhand, löste sich der Nebel ganz auf. Und vor mir erhob sich auf dem Gipfel des Berges das Kreuz.

Ich blickte um mich, sah ein Meer von Wolken, dort, wo ich herausgetreten war, und hoch über mir ein weiteres Wolkenmeer. Zwischen diesen beiden Ozeanen lagen die Gipfel der höchsten Berge und der Gipfel des Cebreiro mit dem Kreuz. Mich überkam der Wunsch zu beten. Obwohl mir klar war, daß dies mich vom Weg nach Torrestrela abbringen würde, beschloß ich, bis zum Gipfel hinaufzusteigen und meine Gebete am Fuße des Kreuzes zu sprechen. Während des vierzigminütigen Aufstiegs war alles um mich herum und in mir still. Die Sprache, die ich erfunden hatte, war versiegt, ich brauchte sie nicht mehr, um mit Gott und den Menschen zu kommunizieren. Der Jakobsweg» ging mich«, und er würde mich zu dem Ort führen, an dem sich mein Schwert befand.

Petrus hatte wieder einmal recht behalten.

Als ich oben auf dem Gipfel ankam, saß ein Mann neben dem Kreuz und schrieb. Im ersten Moment hielt ich ihn für einen Boten, eine übernatürliche Vision. Doch dann sah ich die Kammuschel auf seinem Hemd. Es war nur ein Pilger, der mich lange ansah und dann ging, weil ihn meine Gegenwart störte.

Vielleicht wartete er auf dasselbe wie ich — auf einen Engel — , und beide stellten wir fest, daß der andere nur ein Mensch war.

Auf dem Weg der gewöhnlichen Menschen.

Obwohl ich beten wollte, brachte ich kein Wort über die Lippen.

Lange stand ich vor dem Kreuz und blickte auf die Berge und die Wolken, die Himmel und Erde bedeckten und nur die höchsten Gipfel freigaben. Einige hundert Meter unter mir lag ein Weiler mit fünfzehn Häusern und einer kleinen erleuchteten Kirche. Jetzt wußte ich wenigstens, wo ich notfalls übernachten konnte, wenn der Jakobsweg es so vorsah. Obwohl Petrus gegangen war, war ich doch nicht führerlos: Der Weg» ging mich«.

Ein verirrtes Lamm kam den Berg herauf und stellte sich zwischen mich und das Kreuz. Es sah mich etwas erschreckt an. Lange blickte ich zum dunklen Himmel empor, zum Kreuz und dem weißen Lamm zu seinen Füßen. Auf einmal spürte ich, wie müde ich von den ganzen Prüfungen, den Kämpfen, Lektionen und den Märschen war. Ein fürchterlicher Schmerz durchfuhr meinen Magen, kroch in die Kehle hinauf und machte sich in einem trockenen, tränenlosen Schluchzen Luft — vor diesem Kreuz, das ich nicht aufrichten mußte, weil es einsam und hoheitsvoll vor mir stand und dem Wetter trotzte. Es versinnbildlichte das Schicksal, das der Mensch nicht seinem Gott, sondern sich selbst auferlegt.

«Herr«, konnte ich endlich beten.»Ich bin nicht an dieses Kreuz geschlagen, und auch Dich sehe ich dort nicht. Das Kreuz ist leer und soll es für immer bleiben, weil die Zeit des Todes vorüber ist und jetzt in mir ein Gott aufersteht. Dieses Kreuz war das Symbol für die unendliche Macht, die wir alle besitzen, die wir aber ans Kreuz geschlagen und getötet haben. Jetzt wird diese Macht wiedergeboren, die Welt ist gerettet, und ich bin fähig, ihre Wunder zu vollbringen. Denn ich bin den Weg der gewöhnlichen Leute gegangen, in ihnen habe ich Dein Geheimnis entdeckt.

Auch Du bist den Weg der gewöhnlichen Menschen gegangen.

Du hast uns gezeigt, wozu wir fähig sein konnten, wenn wir nur wollten, aber wir wollten nicht. Du hast uns gezeigt, daß die Macht und die Glorie für uns alle erreichbar ist, doch diese unvermittelte Vision unserer eigenen Möglichkeiten war zuviel für uns. Wir haben Dich nicht gekreuzigt, weil wir dem Sohn Gottes undankbar waren, sondern weil wir uns davor fürchteten, unsere eigenen Fähigkeiten anzuwenden. Wir haben Dich gekreuzigt, weil wir Angst hatten, zu Göttern zu werden. Mit der Zeit und mit der Überlieferung wurdest Du wieder zu einer fernen Gottheit, und wir kehrten zu unserem Schicksal als Menschen zurück. Es ist keine Sünde, glücklich zu sein. Ein halbes Dutzend Exerzitien und ein offenes Ohr reichen, damit es einem Menschen gelingt, seine unmöglichsten Träume zu verwirklichen. Weil ich stolz auf meine Kenntnisse war, hast Du mich den Weg gehen lassen, den alle gehen können, und mich entdecken lassen, was alle wissen könnten, wenn sie dem Leben mehr Beachtung schenken würden. Du hast mich sehen lassen, daß die Suche nach Glück eine ganz persönliche Suche ist und es kein Rezept gibt, das wir an andere weitergeben könnten. Bevor ich mein Schwert finde, mußte ich sein Geheimnis entdecken. Und es war so einfach, es geht nur darum zu wissen, was man mit ihm tun will. Mit ihm und dem Glück, das es für mich bedeuten wird.

Ich bin viele Kilometer gewandert, um Dinge herauszufinden, die ich bereits wußte, die wir alle wissen, aber die so schwer anzunehmen sind. Gibt es etwas Schwierigeres für den Menschen, Herr, als herauszufinden, daß er die Macht erreichen kann? Diesen Schmerz, den ich jetzt in meiner Brust fühle und der mich schluchzen läßt und das Lamm erschreckt, gibt es, seit es Menschen gibt. Nur wenige nehmen die Last des eigenen Sieges auf sich: Die meisten geben ihre Träume auf, wenn sie sich als erfüllbar erweisen. Sie weigern sich, den guten Kampf zu kämpfen, weil sie nicht wissen, was sie mit dem eigenen Glück anfangen sollen. So wie ich mein Schwert finden wollte, ohne zu wissen, was ich damit anfangen wollte.«

Ein Gott erwachte in mir, und der Schmerz wurde immer stärker. Ich spürte, daß mein Meister in der Nähe war, und endlich konnte ich auch weinen. Ich weinte aus Dankbarkeit dafür, daß mein Meister mich auf den Jakobsweg geschickt hatte, um mein Schwert zu suchen. Ich weinte aus Dankbarkeit gegenüber Petrus, weil er mich gelehrt hatte, daß sich meine Träume erfüllen ließen, wenn ich erst einmal herausgefunden hatte, was ich damit anfangen wollte. Ich sah das leere Kreuz und das Lamm zu seinen Füßen.

Das Lamm erhob sich, und ich folgte ihm. Es wußte, wohin es mich bringen sollte, denn die Welt war trotz der Wolken für mich durchsichtig geworden. Auch wenn ich die Milchstraße am Himmel nicht sehen konnte, so war ich doch sicher, daß es sie gab und sie allen den Jakobsweg zeigte. Ich folgte dem Lamm, das auf den kleinen Ort zuging, der Cebreiro heißt wie der Berg.

Dort war irgendwann ein Wunder geschehen. Ein Bauer war an einem stürmischen Tag aus einem nahegelegenen Dorf heraufgewandert, um in Cebreiro die Messe zu hören. Diese Messe wurde von einem Mönch gelesen, dem der Glaube beinahe abhanden gekommen war und der die Anstrengungen des Bauern geringschätzte. Doch bei der heiligen Kommunion verwandelte sich die Hostie in das Fleisch Christi und der Wein in sein Blut. Die Reliquien, ein Schatz, der größer ist als aller Reichtum des Vatikans, werden noch immer dort in der kleinen Kapelle aufgehoben.

Das Lamm blieb am Eingang des Ortes stehen. Es gab nur eine einzige Straße, und die führte direkt zur Kirche. In diesem Augenblick erfaßte mich eine ungeheure Angst, und ich stammelte ein ums andere Mal:»Herr, ich bin nicht würdig, Dein Haus zu betreten. «Doch das Lamm sah mich an und gab mir mit seinen Blicken zu verstehen, ich müsse meine Unwürdigkeit vergessen, weil die Macht in mir wiedergeboren würde, so wie sie in jedem Menschen wiedergeboren werden kann, der sein Leben in einen guten Kampf verwandelt.»Der Tag wird kommen«, sagten mir die Blicke des Lammes,»an dem der Mensch wieder stolz auf sich selber sein kann, und dann wird die ganze Natur das Erwachen des göttlichen Geistes preisen.«

Das Lamm war jetzt mein Führer auf dem Jakobsweg. Für einen Moment wurde alles dunkel um mich, und ich begann Szenen zu sehen, die denen glichen, wie ich sie in der Apokalypse gelesen hatte: Das Große Lamm auf seinem Thron, Menschen, die ihre Kleider im Blut des Lammes reinwuschen.

Es war das Erwachen des Gottes in jedem. Ich sah auch Kämpfe, schwierige Zeiten, Katastrophen, die die Erde in den kommenden Jahren erschüttern würden. Doch alles endete mit dem Sieg des Lammes und mit dem Erwachen des schlafenden Gottes und seiner Macht auf Erden.

Da erhob ich mich und folgte dem Lamm bis zur kleinen Kapelle, die von dem Bauern und von dem Mönch gebaut worden war, der am Ende das glaubte, was er tat. Niemand kennt ihre Namen. Zwei nebeneinanderliegende Grabsteine bezeichnen den Ort, an dem ihre Gebeine begraben sind. Und niemand kann sagen, welches das Grab des Mönches und welches das des Bauern ist. Damit das Wunder geschehen konnte, mußten beide Mächte den guten Kampf kämpfen.

Die Kapelle war hell erleuchtet, als ich an ihrer Tür ankam. Ja, ich war würdig einzutreten, denn ich hatte ein Schwert und wußte, was ich mit ihm anfangen würde. Es war nicht das Tor der Vergebung, denn mir war schon vergeben worden, ich hatte meine Kleider im Blut des Lammes gewaschen. Jetzt wollte ich nur noch das Schwert ergreifen und hinausgehen, um den guten Kampf zu kämpfen.

In dem kleinen Gebäude gab es kein Kreuz. Auf dem Altar standen die Reliquien des Wunders: der Kelch und der Hostienteller, die ich während des Tanzes gesehen hatte, und ein Reliquienschrein mit dem Fleisch und dem Blut Christi. Ich konnte wieder an Wunder und an das Unmögliche glauben, was der Mensch in seinem Alltag vollbringen kann. Die hohen Gipfel, die mich umgaben, schienen mir zu sagen, daß sie nur dort waren, um den Menschen herauszufordern. Und daß der Mensch nur dazu geboren wurde, um die Ehre dieser Herausforderung anzunehmen.

Das Lamm verschwand zwischen den Bänken, und ich blickte nach vorn. Vor dem Altar stand lächelnd — und vielleicht ein wenig erleichtert — mein Meister. Mit meinem Schwert in der Hand.

Ich blieb stehen, und er kam auf mich zu, ging an mir vorbei ins Freie. Ich folgte ihm. Vor der Kapelle zog er, während er in den dunklen Himmel blickte, das Schwert aus der Scheide und bat mich, den Griff gemeinsam mit ihm zu halten. Er richtete das Schwert in die Höhe und sprach den heiligen Psalm derer, die reisen und kämpfen, um zu siegen.

Ob tausend fallen zu deiner Seite und zehntausend zu deiner Rechten, so wird es doch dich nicht treffen. Es wird dir kein Übel begegnen, und keine Plage wird zu deiner Hütte sich nahen.

Da kniete ich nieder, und er berührte mit der Klinge meine Schulter und sprach:

Denn Er hat Seinen Engeln befohlen über dir, daß sie dich behüten auf allen deinen Wegen. Auf Löwen und Ottern wirst du gehen, und treten auf junge Löwen und Drachen.

Als er das gesagt hatte, begann es zu regnen. Es regnete, und die Erde wurde fruchtbar, und dieses Wasser würde erst wieder zum Himmel zurückkehren, wenn es einen Samen hatte keimen, einen Baum hatte wachsen und eine Blume sich hatte öffnen lassen. Es regnete immer stärker, und ich kniete mit erhobenem Haupt da, fühlte zum ersten Mal auf dem ganzen Jakobsweg das Wasser, das vom Himmel kam. Ich erinnerte mich an die verlassenen Felder und war glücklich, daß sie in dieser Nacht benetzt wurden. Ich erinnerte mich an die Steine von Leon, die Weizenfelder von Navarra, die Trockenheit von Kastilien, die Weinberge von Rioja, die heute das Wasser tranken, das in Sturzbächen herunterkam und die Kraft des Himmels mit sich brachte. Ich erinnerte mich daran, daß ich ein Kreuz aufgerichtet hatte, das durch das Unwetter wieder umstürzen würde, damit ein anderer Pilger das Befehlen und Dienen lernte. Ich dachte an den Wasserfall, der jetzt mit dem Regenwasser anschwoll, und an Foncebadon, wo ich den Boden mit so viel Macht erneut befruchtet hatte. Ich dachte an all das Wasser, das ich aus so vielen Brunnen getrunken hatte und das ihnen jetzt wieder zurückgegeben wurde. Ich war meines Schwertes würdig, weil ich wußte, was ich mit ihm tun würde.

Der Meister reichte mir das Schwert, und ich ergriff es. Ich suchte mit dem Blick das Lamm, aber es war verschwunden.

Doch das war jetzt nicht wichtig. Das lebendige Wasser kam vom Himmel herunter und ließ die Klinge meines Schwertes glänzen.

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