Der Tod


Sind Sie Pilger?«fragte die alte Frau, die uns das Frühstück servierte. Wir befanden uns in Azofra, einem Ort mit kleinen Häusern, die an ihrer Fassade Wappen aus dem Mittelalter trugen, und mit einem Brunnen, an dem wir kurz zuvor unsere Wasserflaschen gefüllt hatten.

Ich nickte, und die Augen der Frau blickten voller Achtung und Stolz.

«Als ich ein Kind war, kam täglich mindestens ein Pilger auf dem Weg nach Compostela durch den Ort. Was nach dem Krieg und nach der Franco-Zeit geschehen ist, weiß ich nicht.

Jedenfalls sieht es so aus, als hätten die Wallfahrten aufgehört.

Man sollte hier eine Straße bauen. Heute wollen die Leute doch nur noch Auto fahren.«

Petrus schwieg. Seit dem Erwachen war er schlecht gelaunt.

Ich stimmte der Frau zu und stellte mir eine neue, geteerte Straße vor, die durch Berge und Täler führte, stellte mir Autos mit einer auf die Kühlerhaube gemalten Jakobsmuschel vor und Souvenirläden vor den Toren der Klöster. Ich trank meinen Milchkaffee aus und aß mein Brot mit Olivenöl. Ein Blick in den Jakobswegführer von Aymeric Picaud sagte mir, daß wir wahrscheinlich am Abend in Santo Domingo de la Calzada ankommen würden, und ich nahm mir vor, im Parador Nacional zu übernachten.

Ich hatte viel weniger Geld ausgegeben, als ich gedacht hatte, obwohl wir immer drei Mahlzeiten am Tag zu uns nahmen. Jetzt war der Augenblick gekommen, sich etwas Extravagantes zu leisten.

Beim Aufwachen war ich von einem seltsamen Gefühl der Eile getrieben gewesen und wollte so schnell wie möglich in Santo Domingo ankommen. Auf unserem Weg zur Einsiedelei war ich noch überzeugt davon gewesen, daß ich dieses Gefühl nie wieder haben würde. Petrus war melancholischer, schweigsamer als sonst, und ich wußte nicht, ob die Begegnung mit Alfonso zwei Tage zuvor der Grund dafür war. Ich hätte gern Astrain gerufen, um mit ihm ein wenig darüber zu reden. Doch ich hatte ihn noch nie morgens gerufen und wußte nicht, ob es klappen würde. Daher verwarf ich diesen Gedanken.

Nach dem Frühstück nahmen wir unsere Wanderung wieder auf. Wir kamen an einem mittelalterlichen Haus mit seinem Wappen vorbei, an den Ruinen einer alten Pilgerherberge und einem Provinzpark am Rande der Ortschaft. Als ich mich anschickte, über die Felder weiter zuwandern, spürte ich eine starke Gegenwart neben mir. Ich ging weiter, doch Petrus hielt mich zurück.

«Fliehen bringt nichts. Bleib stehen und stelle dich.«

Das Gefühl war unangenehm, ähnlich wie eine Magenkolik.

Einen Augenblick lang wollte ich noch glauben, daß das am Brot mit Olivenöl lag, doch ich hatte es schon zuvor gespürt, und es gab keinen Zweifel: Es war Anspannung. Anspannung und Angst.

«Blick zurück!«Petrus' Tonfall war dringlich.»Blick zurück, bevor es zu spät ist!«

Ich wandte mich jählings um. Neben mir, auf der linken Seite, befand sich ein kleines verlassenes Haus, in das die von der Sonne verdorrten Pflanzen hineinwuchsen. Ein Olivenbaum reckte seine knorrigen Zweige in den Himmel. Und zwischen Olivenbaum und dem Haus stand ein Hund und starrte mich an.

Ein schwarzer Hund, derselbe, den ich ein paar Tage zuvor aus dem Haus der Frau vertrieben hatte.

Ich verlor mein Zeitgefühl und spürte auch Petrus nicht mehr neben mir. Ich blickte dem Hund fest in die Augen. Etwas in mir

— vielleicht die Stimme Astrains oder meines Schutzengels -

sagte mir, daß er mich angreifen würde, sobald ich den Blick von ihm wandte. So standen wir unendlich lange Minuten da und blickten einander an. Ich fühlte, daß ich, nachdem ich die Größe der alles verschlingenden Liebe erfahren hatte, nun wieder vor den alltäglichen und immerwährenden Bedrohungen des Lebens stand. Ich fragte mich, warum mich das Tier von so weit her verfolgt hatte. Was es überhaupt wollte, denn ich war ein Pilger auf der Suche nach seinem Schwert und hatte weder Lust noch Geduld, mir auf dem Weg Probleme mit Menschen oder Tieren aufzuhalsen. Ich versuchte dies alles mit meinen Blicken zu sagen — mir waren die Mönche in dem Kloster wieder eingefallen, die sich mit Blicken verständigten — , doch der Hund regte sich nicht. Er starrte mich weiter ungerührt an, bereit, mich anzugreifen, wenn ich die Konzentration verlöre oder Angst zeigte.

Angst! Ich stellte fest, daß die Angst verschwunden war. Mir kam die Situation zu albern vor, als daß ich Angst haben mußte. Mein Magen krampfte sich zwar zusammen, und ich mußte mich vor lauter Anspannung fast übergeben, doch Angst hatte ich nicht. Hätte ich sie, dann würden es meine Augen verraten und das Tier mich wie schon einmal umwerfen. Ich durfte den Blick nicht abwenden, auch dann nicht, als ich spürte, daß sich auf einem Pfad rechts von mir eine Gestalt näherte.

Die Gestalt hielt einen Augenblick lang inne und kam dann direkt auf uns zu. Sie kreuzte die imaginäre Linie, die die Augen des Tieres mit meinen verband, und sagte etwas, das ich nicht verstehen konnte. Es war eine Frauenstimme, und ihre Gegenwart war gut, freundlich und positiv.

Im Bruchteil der Sekunde, in dem sich die Gestalt zwischen meine und die Augen des Hundes schob, entspannte sich mein Magen. Ich hatte einen mächtigen Freund, der dort war und mir in diesem absurden, unnötigen Kampf zu Hilfe kam. Als die Gestalt ganz vorbeigegangen war, senkte der Hund den Blick, machte einen Satz, lief hinter das verlassene Haus, und ich verlor ihn aus den Augen.

Erst in diesem Moment begann mein Herz vor Angst so heftig zu klopfen, daß mir schwindlig wurde und ich glaubte, gleich ohnmächtig zu werden. Alles um mich herum drehte sich. Ich sah auf die Straße, die Petrus und ich wenige Minuten zuvor entlanggekommen waren, und suchte die Gestalt, die mir die Kraft gegeben hatte, den Hund zu besiegen. Es war eine Nonne. Sie ging von uns weg nach Azofra, und ich konnte ihr Gesicht nicht sehen, doch ich erinnerte mich an ihre Stimme — die Stimme einer höchstens Zwanzigjährigen. Ich schaute auf den Weg, auf dem sie gekommen war: Es war ein schmaler Pfad, der nirgendwohin führte.

«Sie war es… sie hat mir geholfen«, murmelte ich, während sich das Schwindelgefühl weiter verstärkte.

«Nun füge einer ohnehin schon außergewöhnlichen Welt nicht noch deine Phantastereien hinzu«, sagte Petrus, trat neben mich und faßte mich unter.»Sie kam vom Kloster von Canas, das etwa fünf Kilometer von hier entfernt liegt. Deshalb kannst du es auch nicht sehen.«

Mein Herz schlug noch immer heftig, und ich spürte, daß mir gleich übel werden würde. Ich konnte nichts sagen, geschweige denn um eine Erklärung bitten. Ich setzte mich auf den Boden, und Petrus erfrischte mich mit Wasser auf Stirn und Nacken.

Ich erinnerte mich daran, daß er das auch getan hatte, nachdem wir aus dem Haus der Frau gekommen waren. Doch damals hatte ich geweint und mich gut gefühlt. Jetzt war es genau umgekehrt.

Petrus ließ mich so lange ausruhen, wie ich es brauchte. Das Wasser belebte mich etwas, und die Übelkeit ließ allmählich nach. Als ich mich wieder gestärkt fühlte, forderte mich Petrus auf, ein wenig zu gehen, und ich gehorchte ihm. Wir gingen etwa eine Viertelstunde, dann mußte ich wieder rasten. Wir setzten uns an den Fuß eines rollo, einer der vielen mittelalterlichen Säulen mit einem Kreuz darauf, die die Rota Jacobea säumen.

«Die Angst hat dir mehr zugesetzt als der Hund«, bemerkte Petrus.

Ich wollte wissen, was es mit dieser absurden Begegnung auf sich hatte.

«Im Leben wie auch auf dem Jakobsweg gibt es bestimmte Dinge, die unabhängig von unserem Willen geschehen. Bei unserer ersten Begegnung sagte ich dir, daß ich im Blick des Zigeuners den Namen des Dämons gelesen habe, dem du dich würdest stellen müssen. Ich war erstaunt zu sehen, daß dieser Dämon ein Hund war, doch ich sagte damals nichts. Erst als wir zum Haus der Frau kamen und du zum ersten Mal die alles verschlingende Liebe manifestiert hast, sah ich deinen Feind.

Als du den Hund von dieser Frau entferntest, hast du ihn nirgendwo hingeschickt. Nichts geht verloren, alles verändert sich, so ist es doch, nicht wahr? Du hast nicht wie Jesus die Geister einer Herde Schweine vorgeworfen, die sich in den Abgrund stürzte. Du hast den Hund einfach nur vertrieben. Jetzt hat sich diese ziellose Kraft an deine Fersen geheftet. Bevor du dein Schwert findest, wirst du entscheiden müssen, ob du Sklave oder Herr dieser Kraft sein willst.«

Die Müdigkeit fiel nach und nach von mir ab. Ich atmete tief durch, spürte den kühlen Stein der Säule an meinem Rücken.

Petrus gab mir noch etwas Wasser und fuhr fort:

«Besessenheit tritt dann auf, wenn die Menschen die Macht über die Kräfte der Erde verlieren. Der Fluch des Zigeuners hat jene Frau mit Angst erfüllt, und die Angst schlug die Bresche, durch die der Bote des Toten eingedrungen ist. Dies ist zwar kein gewöhnlicher Fall von Besessenheit, doch selten ist er auch wieder nicht. Es kommt eben sehr darauf an, wie man auf anderer Leute Drohungen reagiert.«

Mir fiel ein Abschnitt aus der Bibel ein. Im Buch Hiob steht:

«Alles, was ich am meisten fürchtete, geschah mir.«

«Eine Drohung löst nichts aus, wenn sie nicht angenommen wird. Wenn du den guten Kampf kämpfst, darfst du das nie vergessen. Ebenso wie du nie vergessen darfst, daß Angriff und Flucht zum Kampf gehören. Nicht zum Kampf gehört, vor Angst gelähmt stehenzubleiben.«

Ich hatte keine Angst gefühlt. Ich wunderte mich selbst darüber und sagte das zu Petrus.

«Das habe ich durchaus bemerkt. Andernfalls hätte dich der Hund angegriffen. Und er hätte den Kampf ganz sicher gewonnen. Doch der Hund hatte auch keine Angst. Das Witzigste war die Ankunft dieser Nonne. Als du eine positive Gegenwart spürtest, hat dich deine blühende Phantasie glauben machen, daß jemand gekommen war, um dir zu helfen.

Und dieser Glaube hat dich gerettet. Auch wenn er auf einer vollkommen falschen Grundlage entstanden war. «Petrus hatte recht. Er lachte laut, und ich stimmte in sein Gelächter ein. Wir erhoben uns, um unsere Wanderung fortzusetzen. Ich fühlte mich heiter und unbeschwert.

«Noch etwas«, fügte Petrus an.»Das Duell mit dem Hund kann nur mit dem Sieg von einem von euch beiden enden. Der Hund wird wiederkommen, und das nächste Mal wird er versuchen, den Kampf bis zu Ende auszufechten. Sonst wird sein Geist dich für den Rest deines Lebens in Atem halten.«

Als wir dem Zigeuner begegnet waren, hatte Petrus mir gesagt, er kenne den Namen dieses Dämons. Ich fragte danach,

«Legion«, sagte er.»Denn es sind ihrer viele.«

Wir gingen über Felder, die die Bauern für die Aussaat vorbereiteten. Vereinzelte Landarbeiter betätigten primitive Wasserpumpen. Am Rande des Jakobsweges bilden aufgeschichtete Steine endlose Mauern, die sich überschneiden und in den Umrissen der Felder verschwinden.

Ich dachte an die vielen Jahrhunderte, in denen diese Felder nun schon bestellt worden waren, und dennoch tauchte immer wieder ein Stein auf, der weggeschafft werden mußte, der die Flugschar zerbrach, das Pferd lahmen und die Hände des Landarbeiters schwielig werden ließ.

Petrus ging schweigend neben mir her, und mir fiel auf, daß er seit dem Morgen kaum etwas gesagt hatte. Nach der Unterhaltung bei der mittelalterlichen Säule hatte er sich hinter seinem Schweigen verschanzt und einen Großteil meiner Fragen unbeantwortet gelassen. Ich hätte gern mehr über die Geschichte mit den» vielen Dämonen «erfahren, Jeder Mensch habe nur einen Boten, hatte er mir erklärt, doch mehr war im Moment nicht aus ihm herauszuholen. Dann mußte ich eben auf eine bessere Gelegenheit warten. Wir stiegen eine kleine Anhöhe hinauf, und oben angekommen sahen wir den Hauptturm der Kirche von Santo Domingo de la Calzada. Der Anblick munterte mich auf. Ich begann vom Komfort und dem Zauber des Parador Nacional zu träumen. Ich hatte gelesen, daß das Gebäude vom heiligen Antonius höchstpersönlich als Pilgerherberge erbaut worden war. Einmal hatte dort auch der heilige Franziskus von Assisi auf seinem Weg nach Compostela übernachtet. All das machte mich ganz aufgeregt.

Es war etwa sieben Uhr abends, als Petrus mich stehenbleiben hieß. Ich erinnerte mich an Roncesvalles, an das langsame Gehen, als es mich wegen der Kälte so sehr nach einem Glas Wein verlangt hatte, und ich befürchtete, daß er etwas Ähnliches im Schilde führte.

«Ein Bote wird dir niemals dabei helfen, einen anderen zu vernichten, denn Boten sind weder gut noch böse, doch einander loyal verbunden. Vertraue nicht darauf, daß dein Bote dir hilft, den Hund zu besiegen.«

Jetzt wollte ich nicht über Boten sprechen. Ich wollte schnell in Santo Domingo ankommen.

«Die Boten toter Menschen können den Körper von jemanden besetzen, der von Angst beherrscht wird. Daher sind es wie im Falle des Hundes viele. Die Angst der Frau hat sie gerufen.

Nicht nur den Boten des toten Zigeuners, sondern die vielen, die auf der Suche nach einer Möglichkeit, mit den Kräften der Erde in Kontakt zu treten, im Raum umherirren.«

Erst jetzt beantwortete er meine Frage. Die seltsam gekünstelte Art, wie er mit mir sprach, sagte mir, daß er überhaupt nicht darüber reden wollte. Mein Instinkt warnte mich, doch ich fragte trotzdem:

«Was soll das, Petrus?«

Mein Führer antwortete nicht. Er verließ den Weg und ging auf einen alten, fast entlaubten Baum zu, der ein gutes Stück abseits auf dem Feld stand und weit und breit der einzige Baum war. Da er mir nicht bedeutet hatte, ihm zu folgen, blieb ich auf dem Weg stehen. Und wurde Zeuge einer seltsamen Szene: Petrus ging um den Baum herum und sagte etwas mit lauter Stimme, während er zu Boden blickte. Als er geendet hatte, machte er mir ein Zeichen.»Setz dich hierhin«, sagte er. Seine Stimme klang anders als sonst, irgendwie zärtlich, vielleicht auch traurig.»Du bleibst jetzt hier. Morgen treffe ich dich in Santo Domingo de la Calzada.«

Bevor ich noch etwas sagen konnte, fuhr Petrus fort:»Bald schon, aber ganz sicher nicht heute, wirst du dich deinem wichtigsten Feind auf dem Jakobsweg stellen müssen: dem Hund. Wenn dieser Tag gekommen ist, bleib ruhig, denn ich werde in der Nähe sein und dir die Kraft geben, die du zu deinem Kampf brauchen wirst. Doch heute wirst du dich einem anderen Feind stellen, einem fiktiven Feind, der dich zerstören oder dein bester Gefährte sein kann: dem Tod.

Der Mensch ist das einzige Wesen in der Natur, dem bewußt ist, daß es sterben wird. Daher, und nur daher, empfinde ich eine tiefe Achtung vor der menschlichen Spezies und glaube, daß ihre Zukunft besser sein wird als ihre Gegenwart. Obwohl ich weiß, daß ihre Tage gezählt sind und alles enden wird, wenn man es am wenigsten erwartet, ist er es, der das Leben zu einem Kampf macht, der eines ewigen Wesens würdig ist.

Was die Leute Eitelkeit nennen — Werke, Kinder hinterlassen, etwas tun, damit der eigene Name niemals vergessen wird — , halte ich für einen Ausdruck der menschlichen Würde.

Schwach, wie er ist, versucht der Mensch jedoch die Gewißheit des Todes zu verdrängen. Er sieht nicht, daß gerade dieser der Antrieb für die besten Taten im Leben ist. Der Mensch hat Angst vor Schritten im Dunklen, alles Unbe- kannte erfüllt ihn mit Schrecken, und er kann seine Angst nur überwinden, indem er vergißt, daß seine Tage gezahlt sind. Dabei wäre er doch andererseits imstande, so viel mehr zu wagen, in seinem täglichen Leben Erfolg zu haben und weiterzukommen — er hat ja nichts zu verlieren, denn der Tod ist unausweichlich.

Der Tod ist unser großer Verbündeter, weil er unserem Leben den wahren Sinn gibt. Doch um das wahre Antlitz unseres Todes zu sehen, müssen wir alle Ängste und Schrecken kennen, die die einfache Erwähnung seines Namens in jedem Lebewesen zu wecken imstande ist. «Petrus hockte sich unter den Baum und bat mich, mich neben ihn zu setzen. Dann zog er zwei belegte Brote aus dem Rucksack, die er mittags gekauft hatte.

«Hier droht dir keine Gefahr«, sagte er, indem er mir die belegten Brote reichte.»Es gibt keine giftigen Schlangen, und der Hund wird dich erst wieder angreifen, wenn er die Niederlage von heute morgen vergessen hat. In der Umgebung gibt es auch keine Wegelagerer und ähnliches. Du befindest dich an einem absolut sicheren Ort. Mit einer Ausnahme: der Gefahr deiner Angst.

Vor zwei Tagen hast du ein Gefühl erlebt, so intensiv und heftig wie der Tod — die alles verschlingende Liebe. Und du hast zu keinem Zeitpunkt geschwankt oder dich gar gefürchtet, weil du unvoreingenommen auf die universelle Liebe reagiert hast.

Doch wir alle haben Vorurteile in bezug auf den Tod, weil wir nicht begreifen, daß er nur eine weitere Manifestation der Agape ist.«

Ich entgegnete, daß ich durch das jahrelange Training der Magie praktisch jegliche Angst verloren hätte. Ich fürchtete mich in Wahrheit mehr vor der Art, wie ich sterben würde, als vor dem Tod an sich.

«Nun, dann wirst du heute die schlimmste Todesart erleben.«

Und Petrus lehrte mich das Exerzitium des Lebendig-begraben-Werdens. DAS EXERZITIUM DES LEBENDIG-BEGRABEN-WERDENS

Lege dich auf den Boden und entspanne dich. Falte deine Hände auf der Brust und liege da wie eine Leiche.

Stelle dir deine Beerdigung in allen Einzelheiten vor, als würde sie morgen stattfinden. Der Unterschied ist jedoch, daß du lebendig begraben werden wirst. Während sich alles abspielt —

die Andacht in der Kapelle, der Weg zum Grab, das Herablassen des Sarges, die Würmer in der Grube — , spanne deine Muskeln im Versuch, sie zu bewegen, immer stärker an.

Spanne deine Muskeln, so stark es irgend geht, an. Widerstehe dem Wunsch, dich zu bewegen. Bis zu dem Augenblick, in dem du es nicht mehr aushältst. Dann sprenge die Bretter des Sarges mit einer einzigen Bewegung, atme tief ein. Jetzt bist du frei.

Diese Bewegung hat noch mehr Wirkung, wenn sie von einem aus den Tiefen deines Körpers herrührenden Schrei begleitet wird. »Du darfst es nur einmal durchführen«, sagte er, und mir fiel spontan eine ähnliche Schauspielübung ein.»Du mußt die ganze Wahrheit, die ganze Angst erwecken, damit das Exerzitium an den Wurzeln deiner Seele rüttelt und deinem Tod die Schreckensmaske abreißt, die sein freundliches Antlitz verdeckt.«

Petrus stand auf, und seine Gestalt hob sich scharf gegen den im Abendlicht lodernden Himmel ab. Da ich sitzen geblieben war, wirkte er überwältigend, wie ein Riese.

«Eine Frage habe ich noch, Petrus.«

«Und die wäre?«

«Heute morgen warst du schweigsam und merkwürdig. Hast du noch vor mir geahnt, daß der Hund kommen würde?«

«Als wir gemeinsam die alles verschlingende Liebe erlebten, teilten wir die Erfahrung des Absoluten. Das Absolute zeigt allen Menschen, wer sie wirklich sind, ein unendliches Netz aus Ursache und Wirkung, wobei jede kleinste Geste des einen sich im Leben des anderen widerspiegelt. Heute morgen war dieser Teil des Absoluten noch sehr lebendig in meiner Seele. Ich hatte nicht nur dein Ich, sondern alles gesehen, was es auf der Welt gibt, ohne Grenzen von Zeit und Raum. Jetzt hat sich die Wirkung etwas gelegt und wird nur beim nächsten Mal, wenn wir die Übung der alles verzehrenden Liebe machen werden, wieder aufleben.«

Ich erinnerte mich an Petrus' schlechte Laune an diesem Morgen. Wenn das, was er sagte, stimmte, dann mußte die Welt einen schwierigen Augenblick durchmachen.

«Ich werde im Parador auf dich warten«, sagte er im Weggehen.»Ich werde deinen Namen am Empfang hinterlassen.«

Ich folgte ihm mit meinem Blick, solange ich konnte. Auf den Feldern zu meiner Linken hatten die Bauern ihre Arbeit beendet und gingen nach Hause. Ich beschloß das Exerzitium zu machen, sobald es ganz dunkel war. Ich war ruhig. Dies war das erste Mal seit dem Beginn meiner Wanderung auf dem Jakobsweg, daß ich vollkommen allein war. Ich erhob mich und erkundete die Umgebung. Doch die Nacht fiel schnell herein, und ich beschloß zum Baum zurückzukehren, weil ich fürchtete, mich zu verirren. Da es kein Licht gab, das mich hätte blenden können, wäre es durchaus möglich gewesen, im Licht der Sichel des zunehmenden Mondes den Pfad zu sehen und nach Santo Domingo de la Calzada zu gelangen.

Bis zu diesem Augenblick hatte ich keinerlei Angst und glaubte, es würde sehr viel Phantasie notwendig sein, um in mir die Furcht vor einem gräßlichen Tod zu wecken. Doch so alt man auch war: Wenn die Nacht hereinbrach, brachte sie stets die seit unserer Kindheit in der Seele verborgenen Ängste mit sich.

Je dunkler es wurde, desto unbehaglicher fühlte ich mich.

Ich befand mich ganz allein auf dem Feld, und wenn ich schreien würde, gab es niemanden, der mich hörte. Mir fiel ein, daß ich am Morgen durchaus einen Kreislaufkollaps hätte haben können. Niemals zuvor in meinem Leben war mein Herz so außer Kontrolle geraten.

Und wenn ich nun gestorben wäre? Das Leben wäre zu Ende gewesen, das war die logische Folgerung. Auf meinem Weg der

>Tradition< hatte ich schon mit vielen Geistern gesprochen. Ich war nur vollkommen sicher, daß es ein Leben nach dem Tode gab, doch ich war nie darauf gekommen zu fragen, wie sich der Übergang vom Leben zum Tode vollzog. Von einer Dimension in die andere überzugehen mußte furchtbar sein. Da konnte man noch so gut vorbereitet sein. Wäre ich beispielsweise an diesem Morgen gestorben, wären der Jakobsweg, die Jahre meiner Ausbildung, die Sehnsucht nach meiner Familie und das in meinem Gürtel versteckte Geld umsonst gewesen. Ich erinnerte mich an eine Pflanze, die in Brasilien auf meinem Arbeitstisch stand. Die Pflanze würde es weiter geben, so wie alle andere Pflanzen, die Autobusse, der Verkäufer an der Ecke, der immer etwas mehr verlangt, die Telefonistin bei der Auskunft. All diese kleinen Dinge, die hatten verschwinden können, wenn ich tatsächlich heute morgen einen Kollaps gehabt hätte, wurden plötzlich ungeheuer wichtig für mich. Sie, und nicht die Sterne oder die Weisheit, sagten mir, daß ich lebendig war.

Die Nacht war ziemlich dunkel, und am Horizont konnte man den schwachen Widerschein der Stadt erkennen. Ich legte mich auf den Boden und schaute in die Zweige des Baumes über mir. Ich begann seltsame Geräusche zu hören, alle möglichen Geräusche. Sie stammten von den nachtaktiven Tieren, die jetzt auf die Jagd gingen. Petrus konnte nicht alles wissen, wenn er genauso Mensch war wie ich. Wie sollte ich sicher sein, daß es nicht doch Giftschlangen gab. Und Wölfe, die ewigen europäischen Wölfe, sie könnten doch beschlossen haben, eben in dieser Nacht hier umherzustreifen, weil sie meine Witterung aufgenommen hatten. Ein lauteres Geräusch wie das eines zerbrechenden Zweiges ließ mich aufschrecken und mein Herz wieder heftiger schlagen.

Ich wurde immer angespannter. Es war wohl besser, die Übung gleich zu machen und dann ins Hotel zu gehen. Ich begann mich zu entspannen und faltete die Hände auf der Brust, lag da wie ein Leichnam. Irgend etwas neben mir bewegte sich. Ich schreckte hoch.

Es war nichts. Die Nacht hatte alles eingenommen und die Schrecken des Menschen mit sich gebracht. Ich legte mich wieder hin, diesmal entschlossen, jede Art von Angst für das Exerzitium zu nutzen. Ich merkte, daß ich schwitzte, obwohl die Temperatur ziemlich stark gefallen war.

Ich stellte mir vor, wie der Sarg geschlossen und zugeschraubt wurde. Ich lag reglos da, doch ich war lebendig, hätte meiner Familie gern gesagt, daß ich alles miterlebte, daß ich sie liebte, doch kein Ton kam aus meinem Mund. Mein Vater und meine Mutter weinten, um den Sarg herum standen meine Freunde, und ich war allein! So viele geliebte Menschen waren da, und niemand begriff, daß ich lebte, daß ich noch nicht alles getan hatte, was ich auf dieser Welt hatte tun wollen. Ich versuchte verzweifelt, die Augen zu öffnen, ein Zeichen zu geben, gegen den Sargdeckel zu schlagen. Doch nichts in meinem Körper rührte sich. Ich spürte, wie der Sarg schwankte, sie trugen mich zu Grabe.

Ich konnte das Scheppern der Ringe in den Eisenhalterungen, die Schritte der Menschen und die eine oder andere Stimme hören. Jemand sagte, es würde später ein Abendessen geben, ein anderer meinte, ich sei früh gestorben. Der Duft der Blumen um meinen Kopf herum begann mir die Luft zu nehmen.

Ich erinnerte mich, daß ich aus Furcht, einen Korb zu bekommen, zwei oder drei Frauen nicht den Hof gemacht hatte.

Ich erinnerte mich auch an einige Situationen, in denen ich, Im Glauben, ich könnte es auch noch später tun, etwas aufgeschoben hatte, was ich eigentlich sofort tun wollte. Ich tat mir selbst unendlich leid, nicht nur, weil ich lebendig begraben wurde, sondern weil ich Angst vor dem Leben hatte. Warum Angst vor einem Nein haben, warum etwas aufschieben, wo doch das Wichtigste ist, das Leben in vollen Zügen zu genießen? Da lag ich nun in einen Sarg gesperrt, und es war zu spät, um umzukehren und den Mut zu zeigen, den ich hätte haben sollen.

Da lag ich nun und war mein eigener Judas gewesen, hatte mich selbst verraten. Da lag ich nun und konnte keinen Muskel bewegen, mein Kopf sehne um Hilfe, und die Menschen dort draußen standen mitten im Leben, fragten sich, was sie heute abend tun würden, blickten die Statuen und die Häuser an, die ich nie wieder sehen sollte. Ein Gefühl großer Ungerechtigkeit erfüllte mich, weil ich begraben wurde, während die anderen weiterlebten. Besser wäre es gewesen, es hatte eine Katastrophe gegeben und wir alle würden jetzt zusammen im selben Boot sitzen, das uns zum selben schwarzen Punkt trug, zu dem ich jetzt getragen wurde. Hilfe! Ich lebe, ich bin nicht gestorben, mein Verstand funktioniert noch!

Sie stellten meinen Sarg am Rand der Grube ab. Sie werden mich begraben! Meine Frau wird mich vergessen, wird einen anderen heiraten und das Geld ausgeben, das wir all diese Jahre zusammengespart haben! Doch was bedeutete das jetzt noch? Ich will jetzt bei ihr sein, denn ich lebe!

Ich höre Weinen, fühle aus meinen Augen Tränen rinnen. Wenn sie jetzt den Sarg öffnen, sähen sie mich und würden mich retten. Doch ich spüre nur, daß der Sarg in die Grube heruntergelassen wird. Plötzlich ist alles dunkel. Vorher war noch ein Lichtschein durch eine Ritze gedrungen, doch nun herrscht vollkommene Dunkelheit. Die Schaufeln der Totengräber klopfen die Erde fest, und ich lebe! Bin lebendig begraben! Ic h spüre, wie die Luft drückend wird, der Blumenduft wird unerträglich, und ich höre, wie sich die Schritte der Leute entfernen. Der Schrecken ist allumfassend. Ich kann mich nicht bewegen, und wenn sie jetzt gehen, wird es bald Nacht sein, und niemand wird mich im Grab klopfen hören!

Die Schritte entfernen sich, niemand hört die Schreie, die ich in Gedanken ausstoße, ich bin allein, und die Finsternis, die stickige Luft, der Blumenduft machen mich verrückt. Plötzlich höre ich ein Geräusch. Es sind die Würmer, die Würmer, die immer näher kommen, um mich lebendig zu verschlingen. Ich versuche mit aller Kraft irgendeinen Teil meines Körpers zu bewegen, doch er bleibt reglos. Die Würmer beginnen an mir hochzukriechen. Sie sind ölig und kalt. Sie krabbeln über mein Gesicht, kriechen in meine Hose. Einer dringt in meinen Anus, ein anderer beginnt sich in eines meiner Nasenlöcher zu stehlen. Hilfe! Ich werde bei lebendigem Leibe verschlungen, und niemand hört mich, niemand sagt etwas zu mir. Der Wurm, der in meine Nase gekrochen war, windet sich nun meinen Rachen hinunter. Ich fühle, wie ein weiterer in mein Ohr hineinkriecht. Ich muß hier raus! Wo ist Gott, warum antwortet er nicht? Sie beginnen meine Kehle zu verschlingen, und ich werde nun nie wieder schreien können! Sie kommen überall herein, durch die Ohren, durch die Mundwinkel, durch sämtliche Körperöffnungen. Ich spüre diese schleimigen, öligen Dinger in mir, ich muß schreien, ich muß mich befreien! Ich bin in dieses finstere, kalte Grab gesperrt, bin allein, werde bei lebendigem Leibe verschlungen! Es gibt kaum noch Luft, und die Würmer fressen mich auf! Ich muß mich bewegen. Ich muß diesen Sarg aufbrechen. Mein Gott, nimm alle meine Kräfte zusammen, denn ich muß mich bewegen! Ich muß hier raus, ich muß… ich werde mich bewegen! Ich werde mich bewegen!

Ich habe es geschafft! Die Bretter des Sarges flogen in alle Richtungen, das Grab verschwand, und ich atmete die reine Luft des Jakobsweges ein. Ich zitterte von Kopf bis Fuß, war schweißüberströmt. Doch das war unwichtig: Ich lebte.

Das Zittern hörte nicht auf, doch ich tat nichts, um es unter Kontrolle zu bringen. Das Gefühl einer unendlichen Ruhe überkam mich, und ich spürte, daß jemand neben mir stand. Ich schaute und sah das Gesicht meines Todes. Es war nicht der Tod, den ich Minuten zuvor erlebt hatte, ein Tod, der vom Schrecken in meiner Phantasie geschaffen war, sondern mein wahrer Tod, mein Freund und Ratgeber, der nie wieder zulassen würde, daß ich auch nur an einem einzigen Tag meines Lebens feige war. Von nun an würde er mir mehr als Petrus' Hand und Ratschlag helfen. Er würde nicht zulassen, daß ich auf morgen verschob, was ich heute leben konnte. Er würde mich nie wieder vor den Kämpfen im Leben fliehen lassen und mir helfen, den guten Kampf zu kämpfen. Nie wieder, zu keinem Zeitpunkt würde ich mich lächerlich fühlen, wenn ich etwas tat. Weil er dort war und mir sagte, daß ich, wenn er einmal meine Hände ergreifen würde, um mit mir in andere Welten zu reisen, dann die größte aller Sünden nicht mitnehmen dürfe: die Reue. Seine Anwesenheit und sein freundliches Antlitz gaben mir die Gewißheit, daß ich nunmehr gierig vom Quell des Lebens trinken würde.

Die Nacht barg nun weder Geheimnisse noch Schrecken. Es war eine glückliche Nacht, eine friedliche Nacht. Als das Zittern vorüber war, erhob ich mich und ging zu den Wasserpumpen der Landarbeiter. Ich wusch die Bermudas aus und zog ein Paar andere an, die ich noch im Rucksack hatte. Dann kehrte ich zum Baum zurück und aß die zwei Butterbrote, die Petrus mir zurückgelassen hatte. Nie hatte ich etwas Köstlicheres gegessen, denn ich lebte, und der Tod schreckte mich nicht mehr.

Ich beschloß, daselbst zu schlafen. Schließlich hatte es nie eine ruhigere Dunkelheit als diese gegeben.

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