Der Schöpfer und die Kreatur


Sechs Tage lang waren wir durch die Pyrenäen gewandert, die Berge hinauf- und hinabgestiegen. Jedesmal, wenn die letzten Sonnenstrahlen die höchsten Gipfel gerade noch beschienen, ließ mich Petrus das Exerzitium vom Samenkorn machen. Am dritten Tag zeigte uns ein Wegweiser aus Beton, daß wir uns auf spanischem Boden befanden. Petrus hatte nach und nach einiges aus seinem Privatleben preisgegeben. Ich fand heraus, daß er Italiener war und von Beruf Industriedesigner. Ich fragte ihn, ob all das, was er aufgegeben hätte, um einen Pilger zu führen, der auf der Suche nach einem Schwert war, ihn nicht in Gedanken weiter beschäftigte.

«Ich möchte, daß dir eines klar ist«, antwortete er.»Ich führe dich nicht zu deinem Schwert. Es zu finden ist ganz allein deine Sache. Ich bin hier, um dich auf dem Jakobsweg zu führen und dich die Praktiken der R.A.M. zu lehren. Wie du sie dann bei der Suche nach deinem Schwert anwendest, ist dir überlassen.«

«Du hast meine Frage nicht beantwortet.«

«Eine Reise ist immer ein Akt der Wiedergeburt. Du wirst vor vollkommen neue Situationen gestellt, der Tag vergeht viel langsamer, und zumeist verstehst du die Sprache nicht, die die Menschen sprechen. Genau wie ein Kind, das aus dem Mutterleib kommt. Unter solchen Umständen mißt du dem, was dich umgibt, eine viel größere Bedeutung bei, da dein Überleben davon abhängt. Du bist Menschen gegenüber offener, weil sie dir vielleicht in schwierigen Lagen helfen können. Und du nimmst das kleinste Geschenk der Götter mit so großer Freude auf, als handele es sich um etwas, was man sein ganzes Leben lang nie wieder vergißt.

Zugleich wirst du, da alles neu ist, vor allem der Schönheit aller Dinge gewahr und bist glücklich darüber zu leben. Daher ist die Wallfahrt seit jeher eine der objektivsten Formen, um zur Erleuchtung zu gelangen. Um seine Sünden abzulegen, muß man immer weitergehen, sich neuen Situationen stellen und wird dafür die Tausenden von Segnungen empfangen, die das Leben dem großzügig gewährt, der sie von ihm erbittet.

Glaubst du wirklich, daß ich mir wegen eines halben Dutzends von Projekten Sorgen mache, die ich nicht umgesetzt habe, weil ich jetzt hier mit dir zusammen bin?«

Petrus sah um sich, und ich folgte seinen Blicken. Eine Ziegenherde zog über den Abhang eines Berges. Eine Ziege, die waghalsigste, stand auf einem hohen Felsvorsprung. Ich fragte mich, wie sie dort hingekommen war und wie sie von dort wieder weggelangen könnte. Doch noch als ich mir diese Frage stellte, sprang die Ziege, für mich unsichtbare Punkte zu Hilfe nehmend, zu ihren Gefährten zurück. Alles ringsum strahlte eine kraftvolle Ruhe aus, den Frieden einer Welt, die noch viel wachsen und erfinden konnte und wußte, daß es voranzuschreiten galt, immer voranzuschreiten. Auch wenn ein heftiges Erdbeben oder ein mörderischer Sturm manchmal in mir das Gefühl erweckten, die Natur sei grausam, so habe ich doch begriffen, daß sie nur Wechselfälle des Weges sind. Auch die Natur befindet sich auf einer Reise, auf der Suc he nach der Erleuchtung.

«Ich bin sehr glücklich, hier zu sein«, sagte Petrus.»Denn die Arbeit, die ich nicht gemacht habe, zählt nicht, und die Arbeiten, die ich anschließend machen werde, werden um so besser gelingen.«

Nachdem ich das Werk von Carlos Castaneda gelesen hatte, wünschte ich mir, einmal dem alten indianischen Medizinmann Don Juan zu begegnen. Als ich Petrus sah, wie er die Berge betrachtete, hatte ich das Gefühl, mit jemandem zusammen zu sein, der sein Bruder hätte sein können.

Am Nachmittag des siebten Tages hatten wir, nachdem wir durch einen Tannenwald gewandert waren, den höchsten Punkt einer Anhöhe erreicht. Dort hatte Karl der Große das erste Mal auf spanischem Boden gebetet. Die Inschrift auf einem alten Denkmal bat den Reisenden, zur Erinnerung an dieses Ereignis ein Salve Regina zu beten, was wir beide taten. Dann bat mich Petrus, die Übung des Samenkorns ein letztes Mal durchzuführen.

Es ging ein starker Wind, und es war sehr kalt. Ich wandte ein, daß es noch zu früh sei — es war höc hstens drei Uhr — , doch er bat mich, darüber nicht zu diskutieren und es sofort zu tun.

Ich kniete mich auf den Boden und begann die Übung. Alles verlief normal bis zu dem Augenblick, als ich die Arme ausstreckte und anfing, mir die Sonne vorzustellen. Als ich an diesem Punkt angelangt war, leuchtete eine riesige Sonne vor mir, und ich spürte, daß ich in tiefe Ekstase fiel. Meine Erinnerung daran, daß ich ein Mensch war, verlosch langsam, und ich machte jetzt keine Übung mehr, sondern war ein Baum geworden. Ich war glücklich. Die Sonne leuchtete und drehte sich um sich selbst — das war vorher noch nie geschehen. Ich stand dort mit ausgestreckten Ästen, der Wind schüttelte mein Laub, und ich wäre am liebsten immer so stehen geblieben. Bis mich etwas berührte und alles für den Bruchteil einer Sekunde dunkel wurde.

Ich öffnete sofort die Augen. Petrus hatte mir eine Ohrfeige gegeben und hielt mich an den Schultern gepackt.

«Vergiß dein Ziel nicht!«rief er wütend aus.»Vergiß nicht, daß du noch viel zu lernen hast, bevor du dein Schwert findest!«

Ich setzte mich auf die Erde, zitterte frierend im eisigen Wind.

«Passiert das immer?«fragte ich.

«Fast immer. Vor allem bei Leuten wie dir, die von den Details fasziniert sind und das Ziel ihrer Suche aus den Augen verlieren.«

Petrus hatte einen Pullover aus seinem Rucksack geholt und ihn sich übergezogen. Ich zog mir ein weiteres T-Shirt über mein I LOVE NY. Ich hätte nie gedacht, daß es in dem Sommer, den die Zeitungen als den >heißesten des Jahrzehnts< bezeichneten, so kalt sein könnte. Die beiden Schichten hielten den Wind etwas ab, doch ich bat Petrus, schneller zu gehen, damit mir warm wurde. Der Weg führte nun über einen sehr leicht zu erklimmenden Abhang. Ich dachte, mein Frösteln käme womöglich von unserer kargen Ernährung, denn wir aßen nur Fische und die Früchte des Waldes. Doch Petrus erklärte mir, daß uns kalt sei, weil wir den höchsten Punkt unserer Wanderung durch die Berge erreicht hätten.

Wir waren keine fünfhundert Meter gegangen, als sich die Landschaft hinter einer Wegbiegung vollkommen veränderte.

Vor uns breitete sich eine endlose Ebene mit sanften Erhebungen aus. Links, nicht weiter als zweihundert Meter von uns entfernt, erwartete uns ein kleines Dorf mit seinen rauchenden Schornsteinen. Ich wollte meine Schritte

beschleunigen, doch Petrus hielt mich zurück.

«Ich glaube, jetzt ist der geeignetste Augenblick, um dich die zweite Praktik der R.A.M. zu lehren«, sagte er, indem er den Boden prüfte und mir ein Zeichen gab, es ihm gleichzutun.

Ich setzte mich widerwillig. Der Anblick des kleinen Dorfes und seiner rauchenden Schornsteine hatte mich verwirrt. Plötzlich wurde mir bewußt, daß wir uns, ohne einer Menschenseele zu begegnen, seit einer Woche in der freien Natur aufgehalten, unter freiem Himmel geschlafen hatten und immer den ganzen Tag über gewandert waren. Mir waren die Zigaretten ausgegangen, und ich mußte die gräßlichen Selbstgedrehten von Petrus rauchen. Ohne Federbett schlafen und ungewürzten Fisch essen, so etwas hatte ich wunderbar gefunden, als ich zwanzig war, doch auf dem Jakobsweg verlangte es mir eine gewaltige Portion Überwindung ab. Ich wartete ungeduldig darauf, daß Petrus seine Zigarette gerollt und schweigend aufgeraucht hatte, während ich von der Wärme eines Glases Wein in einer Bar träumte, die ich in weniger als fünf Minuten Fußmarsch vor uns liegen sah. In seinen molligen Pullover gemummelt, saß Petrus ruhig da und blickte geistesabwesend auf die unendliche Ebene.

«Wie hat dir unsere Wanderung durch die Pyrenäen gefallen?«

fragte er kurz darauf.»Sie war sehr schön«, antwortete ich, ohne weiter darüber reden zu wollen.

«Sie muß wirklich sehr schön gewesen sein, denn wir haben sechs Tage für eine Strecke gebraucht, die man an einem Tag bewältigen kann.«

Ich konnte es nicht glauben. Er nahm die Karte und zeigte mir die Entfernung: siebzehn Kilometer. Auch wenn man wegen der Auf- und Abstiege nur langsam wanderte, war dieser Weg in sechs Stunden zu schaffen.

«Du bist so versessen darauf, dein Schwert zu erreichen, daß du das Wichtigste vergessen hast: Man muß zu ihm gehen.

Indem du auf Santiago gestarrt hast, das du von hier aus nicht sehen kannst, hast du nicht bemerkt, daß wir an einigen Stellen auf verschiedenen Wegen vier- oder fünfmal hintereinander vorbeigekommen sind.«

Jetzt, da Petrus es sagte, erinnerte ich mich daran, daß der Mont Itchasheguy, der höchste der Region, manchmal rechts und manchmal links von mir gelegen hatte. Mir war das damals durchaus aufgefallen, doch ich hatte nicht den einzig möglichen Schluß daraus gezogen, nämlich daß wir im Kreis gelaufen waren.

«Ich bin einfach verschiedene Wege gegangen und habe dabei die Schmugglerpfade im Wald genutzt. Aber du hättest es trotzdem merken müssen. Schuld daran ist, daß das Gehen an sich für dich unwichtig war. Für dich zählte nur dein Wunsch anzukommen.«

«Und wenn ich es gemerkt hätte?«

«Dann hatten wir auch sieben Tage gebraucht, denn die Praktiken der R.A.M. wollen es so. Doch du hättest mehr von den Pyrenäen gehabt.«

Ich war dermaßen überrascht, daß ich die Kälte und das Dorf vergaß.

«Wenn man auf ein Ziel zugeht«, fuhr Petrus fort,»ist es äußerst wichtig, auf den Weg zu achten. Denn der Weg lehrt uns am besten, ans Ziel zu gelangen, und er bereichert uns, während wir ihn zurücklegen. Man könnte dies mit dem sexuellen Akt vergleichen. Entscheidend für die Intensität des Orgasmus ist das Vorspiel. Das weiß inzwischen jedes Kind.

Das eilt auch, wenn man im Leben ein Ziel verfolgt. Der gute oder schlechte Ausgang hängt vom Weg ab, den wir einschlagen, um es zu erreichen, und von der Art, wie wir diesen Weg gehen. Daher ist die Zweite Praktik der R.A.M. so wichtig: Sie besteht darin, aus dem, was wir gewohnt sind, tagtäglich die Geheimnisse zu schöpfen, die uns die Routine zu sehen hindert.«

Und Petrus lehrte mich das Exerzitium der Langsamkeit.»In der Stadt, in unserem Alltag, sollte diese Übung zwanzig Minuten lang durchgeführt werden. Doch da wir uns auf dem geheimnisvollen Jakobsweg befinden, werden wir eine Stunde brauchen, um bis in das Dorf zu gelangen.«

Die Kälte, die ich inzwischen vergessen hatte, kehrte wieder zurück, und ich blickte Petrus mutlos an. Doch er achtete nicht darauf: Er schulterte seinen Rucksack, und wir begannen die zweihundert Meter in nervtötender Langsamkeit zurückzulegen.

Anfangs blickte ich nur zur Taverne, einem kleinen alten, zweistöckigen Gebäude, über dessen Tür ein hölzernes Schild angebracht war. Wir waren so nah, daß ich sogar das Datum lesen konnte, an dem das Haus gebaut worden war: 1652. Wir bewegten uns, doch es schien so, als kämen wir nicht von der Stelle. Petrus setzte, so langsam es irgend ging, einen Fuß vor den anderen. Ich zog meine Uhr aus dem Rucksack und band sie mir um.

«So wird es nur schlimmer«, sagte er,»denn die Zeit verlauft nicht immer gleich schnell. Wir sind es, die ihren Gang bestimmen.«

Ich begann, ständig auf die Uhr zu sehen, und fand, daß er recht hatte. Je mehr ich auf sie sah, desto langsamer vergingen die Minuten. Ich beschloß, seinen Rat zu befolgen, und steckte die Uhr wieder in die Tasche. Ich versuchte, auf die Landschaft, die Ebene, die Steine, auf die meine Schuhe traten, zu achten, doch ich schaute weiterhin ständig auf die Taverne und war davon überzeugt, daß wir kein bißchen vorangekommen waren.

Ich überlegte mir, daß es vielleicht helfen würde, wenn ich mir in Gedanken Geschichten erzählte, doch diese Übung machte mich so nervös, daß ich mich nicht konzentrieren konnte.

Irgendwann hielt ich es nicht mehr aus und zog wieder die Uhr aus der Tasche. Aber es waren erst elf Minuten vergangen.

«Mach diese Übung doch nicht zu einer Quälerei, denn das ist nicht ihr Sinn«, sagte Petrus.»Versuch zu genießen, daß du dich in einer Geschwindigkeit bewegst, die du nicht gewohnt bist. Wenn du die Dinge anders als gewohnt DAS EXERZITIUM DER LANGSAMKEIT

Gehe zwanzig Minuten lang halb so schnell wie gewöhnlich.

Achte auf alle Details, auf die Leute und die Landschaft um dich herum. Der beste Augenblick, um diese Übung zu machen, ist die Zeit nach dem Mittagessen. Wiederhole diese Übung sieben Tage nacheinander. machst, läßt du zu, daß ein neuer Mensch in dir wächst. Aber die Entscheidung liegt bei dir.«

Der letzte Satz war so freundlich gesagt, daß er mich etwas beruhigte. Wenn es an mir war, zu entscheiden, was ich tun sollte, dann wollte ich das Beste aus dieser Situation machen.

Ich ließ in mir einen seltsamen Zustand entstehen, als wäre die Zeit etwas ganz Fernes, das mich nicht interessierte. Ich wurde immer ruhiger und begann die mich umgebenden Dinge mit anderen Augen zu betrachten. Meine Phantasie, die aufbegehrte, als ich angespannt war, arbeitete nun für mich. Ich schaute auf die kleine Stadt vor mir und begann eine Geschichte zu ihr zu erfinden: Ich stellte mir vor, wie sie gebaut worden war, ich malte mir die Pilger aus, die durch sie gezogen waren, die Freude, nach dem kalten Wind der Pyrenäen auf Menschen zu treffen und eine Unterkunft zu finden. Irgendwann vermeinte ich in der Stadt eine starke, geheimnisvolle und weise Gegenwart zu sehen. Meine Phantasie füllte die Ebene mit Rittern und Schlachten. Ich konnte ihre Schwerter in der Sonne blitzen sehen und ihr Kriegsgeschrei hören. Die kleine Stadt war nun nicht mehr der Ort, der meine Seele mit Wem und meinen Körper mit einer Decke wärmen sollte: Er war ein historischer Markstein, ein Werk heldenhafter Menschen, die alles aufgegeben hatten, um sich in dieser Einöde niederzulassen. Dort lag die Welt und umgab mich, und ich begriff, daß ich nur selten auf sie geachtet hatte.

Ehe ich mich versah, standen wir vor der Tür der Taverne, und Petrus forderte mich auf einzutreten.»Der Wein geht auf mich«, sagte er.»Wir werden früh schlafen gehen, denn morgen stelle ich dich einem großen Hexer vor.«

Ich schlief tief und traumlos. Kaum hatte der Tag begonnen, sich über die beiden einzigen Straßen des Städtchens Roncesvalles auszubreiten, da klopfte Petrus an meine Zimmertür. Wir waren im oberen Stockwerk der Taverne untergebracht, die auch als Hotel diente.

Wir tranken Kaffee, aßen Brot mit Olivenöl und brachen dann auf. Ein dichter Nebel hing über dem Ort. Ich begriff, daß Roncesvalles genaugenommen gar keine kleine Stadt war, wie ich geglaubt hatte. Zur Zeit der großen Wallfahrten auf dem Jakobsweg war sie das mächtigste Kloster der ganzen Region, dessen direkter Einfluß sich bis über die Grenzen von Navarra erstreckte. Und es hatte sich nicht verändert: Seine wenigen Gebäude gehörten zu einer Stiftskirche. Das einzige weltliche Gebäude war die Taverne, in der wir abgestiegen waren.

Wir gingen durch den Nebel und traten in die Stiftskirche.

Drinnen zelebrierten, in weiße Paramente gekleidet, einige Patres die erste Morgenmesse. Ich verstand kein Wort. Die Messe wurde offenbar auf baskisch gelesen. Petrus setzte sich ganz hinten auf eine Bank und bat mich, neben ihm Platz zu nehmen.

Die Kirche war riesengroß, voller Kunstgegenstände von unschätzbarem Wert. Petrus erklärte mir leise, daß sie mit Schenkungen von Königen und Königinnen von Portugal, Spanien, Frankreich und Deutschland an einer Stelle gebaut worden sei, die Kaiser Karl der Große dazu bestimmt hatte. Die heilige Jungfrau von Roncesvalles auf dem Hochaltar, die ganz aus Silber geformt und deren Gesicht aus edlem Holz geschnitzt war, hielt einen Blumenstrauß aus Edelsteinen in der Hand. Der Weihrauchduft, das gotische Kirchenschiff und die weißgekleideten Patres und ihre Gesänge begannen mich in eine Art Trance zu versetzen, die ich schon während der Rituale der >Tradition< erlebt hatte.

«Und der Hexer?«fragte ich, als mir wieder einfiel, was Petrus am Abend zuvor gesagt hatte.

Petrus wies mit einer Kopfbewegung auf einen hageren Pater mittleren Alters, der eine Brille trug und mit den anderen Mönchen auf den langen Bänken rechts und links des Hochaltars saß. Ein Hexer, der gleichzeitig Pater war! Am liebsten wäre mir gewesen, die Messe wäre sofort zu Ende gegangen, doch wie Petrus mir am Vortage gesagt hatte, sind wir es, die den Rhythmus der Zeit bestimmen: Meine Ungeduld führte dazu, daß die kirchliche Zeremonie mehr als eine Stunde dauerte. Als die Messe geendet hatte, ließ mich Petrus allein auf der Bank zurück und verschwand in der Tür, durch die die Patres hinausgegangen waren. Ich sah mir eine Weile die Kirche an, fühlte, daß ich irgendein Gebet hätte sprechen müssen, doch ich konnte mich auf nichts konzentrieren. Die Bilder schienen fern, an eine Vergangenheit geheftet, die niemals wiederkehren würde, so wie auch das goldene Zeitalter des Jakobsweges nie wiederkehren würde.

Petrus erschien in der Tür und bedeutete mir wortlos, daß ich ihm folgen solle.

Wir gelangten in einen Garten im Inneren des Klosters, der von einem Kreuzgang umgeben war. In der Mitte des Gartens stand ein Brunnen, und auf seinem Rand saß der Pater mit der Brille.

«Pater Expedito, dieser hier ist der Wallfahrer«, stellte Petrus mich vor.

Der Pater streckte mir seine Hand hin, und ich begrüßte ihn.

Dann schwiegen wir. Ich wartete darauf, daß irgend etwas passierte, doch ich hörte nur Hähne in der Ferne krähen und die Rufe der jagenden Sperber. Der Pater blickte mich ausdruckslos an, ähnlich wie Madame Savin, als ich das alte Wort gesagt hatte.

Schließlich, nach einem langen, quälenden Schweigen, sagte Pater Miguel:

«Mir scheint, Sie sind die Stufen der >Tradition< zu früh hinaufgestürmt, mein Bester.«

Ich entgegnete, daß ich bereits 38 Jahre alt sei und die Ordalien alle erfolgreich bestanden hätte.

«Außer einer, der letzten und wichtigsten«, sagte er, indem er mich weiterhin ausdruckslos anstarrte.»Und ohne diese Feuerprobe ist alles, was Sie gelernt haben, bedeutungslos.«

«Deshalb mache ich jetzt die Wallfahrt nach Santiago.«

«Das garantiert überhaupt nichts. Kommen Sie mit mir.«

Petrus blieb im Garten zurück, und ich folgte Pater Miguel. Wir durchquerten Klosterhöfe, kamen an der Stelle vorbei, an der König Sancho der Starke begraben lag, und gelangten zu einer kleinen Kapelle, die abseits der Hauptgebäude lag, die das Kloster von Roncesvalles bildeten.

Die Kapelle war leer, bis auf einen Tisch, ein Buch und ein Schwert. Aber es war nicht meines.

Pater Miguel setzte sich an den Tisch und ließ mich stehen.

Dann nahm er einige Kräuter, zündete sie an, und der Raum füllte sich mit Düften. Die Situation erinnerte mich immer mehr an mein Zusammentreffen mit Madame Savin.

«Zuerst einmal werde ich Sie aufklären«, sagte Pater Miguel.

«Der Jakobsweg ist nur einer von vier Wegen. Es ist der Weg des Schwertes. Er kann Ihnen Macht geben, aber das reicht nicht.«

«Und welche sind die anderen drei?«

«Ich kenne zumindest noch zwei: den Weg nach Jerusalem, der zugleich der Weg der Kelche oder des Grals ist, der einem die Macht verleiht, Wunder zu tun, und den Weg nach Rom, der auch der Weg der Stäbe genannt wird und einem die Kommunikation mit anderen Welten ermöglicht.«

«Da fehlt noch der Weg der Münzen, um die vier Farben der Tarotkarten zu komplettieren«, scherzte ich. Und Pater Miguel lachte.

«Genau. Dies ist der geheime Weg, den Sie, wenn Sie ihn eines Tages gehen sollten, niemandem verraten dürfen. Aber lassen wir ihn einstweilen außen vor. Wo sind Ihre Jakobsmuscheln?«

Ich öffnete den Rucksack und holte die Muscheln mit dem Bildnis Unserer Jungfrau von der Erscheinung heraus. Er stellte sie auf den Tisch, breitete beide Hände über sie aus, begann sich zu konzentrieren und bat mich, es ihm gleichzutun. Der Duft, der in der Luft lag, wurde immer intensiver. Sowohl der Pater als auch ich hatten die Augen geöffnet, und plötzlich sah ich, daß genau das geschah, was ich damals in Itatiaia gesehen hatte: Die Muscheln leuchteten. Das Leuchten wurde immer stärker, und ich hörte eine geheimnisvolle Stimme aus der Kehle des Pater Miguel klingen, die sagte:»Dort, wo dein Schatz ist, dort wird dein Herz sein. «Das war ein Satz aus der Bibel. Die Stimme fuhr fort:

«Dort, wo dein Herz ist, wird die Wiege des zweiten Kommens Jesu Christi sein; wie diese Muscheln ist auch der Wallfahrer auf dem Jakobsweg nur eine Hülle. Wenn die Hülle aufbricht, erscheint das aus Agape bestehende Leben.«

Er zog seine Hände zurück, und die Muscheln hörten auf zu leuchten. Dann schrieb er meinen Namen in das Buch, das auf dem Tisch lag. Auf dem ganzen Jakobsweg habe ich nur drei Bücher gesehen, in die mein Name geschrieben wurde: das Buch von Madame Savin, das des Pater Miguel und das Buch der Macht, in das ich später selber meinen Namen schreiben sollte.

«Das war's«, sagte er.»Sie können mit dem Segen der Jungfrau von Roncesvalles und dem Segen des heiligen Jacobus vom Schwert weiterziehen.«

«Der Jakobsweg wird durch gelbe Punkte angezeigt, die überall in Spanien zu finden sind«, sagte der Pater, während wir zu der Stelle zurückkehrten, an der Petrus auf uns wartete.»Wenn Sie sich irgenwann einmal verlaufen sollten, suchen Sie nach den gelben Zeichen — an Bäumen, auf Steinen, auf Wegweisern — , und Sie werden einen sicheren Ort erreichen.«

«Ich habe einen guten Führer.«

«Dennoch sollten Sie versuchen, sich vor allem auf sich selbst zu verlassen. Damit Sie nicht sechs Tage lang durch die Pyrenäen im Kreis laufen.«

Also kannte der Pater die Geschichte bereits.

Wir kamen zu Petrus und verabschiedeten uns dann voneinander. Petrus und ich verließen Roncesvalles am Vormittag, der Nebel hatte sich schon vollständig aufgelöst. Ein gerader, ebener Weg lag vor uns, und ich bemerkte die gelben Zeichen, von denen Pater Miguel gesprochen hatte. Der Rucksack war jetzt etwas schwerer, denn ich hatte in der Taverne eine Flasche Wein gekauft, obwohl Petrus gemeint hatte, es sei unnötig. Nach Roncesvalles sollten Hunderte kleiner Städte am Weg liegen, und ich würde nur selten unter freiem Himmel schlafen.

«Petrus, Pater Miguel hat vom zweiten Kommen Christi gesprochen, als wäre es etwas, das gerade geschieht.«

«Das tut es auch! Es geschieht ständig, und das ist das Geheimnis deines Schwertes.«

«Außerdem hast du mir erzählt, ich würde einen Hexer treffen, und ich traf auf einen Pater. Was hat die Magie mit der katholischen Kirche zu tun?«

Petrus sagte nur ein einziges Wort.

«Alles.«

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