Der Sieg über sich selbst


Eines Abends erreichten wir eine alte Burg des Templerordens.

Wir rasteten dort, und Petrus rauchte seine übliche Zigarette, und ich trank ein bißchen von dem Wein, der von unserem Mittagsmahl übriggeblieben war. Ich blickte auf die Landschaft: einige Bauernhäuser, der Burgturm, das hügelige Feld, das gepflügte, für die Aussaat vorbereitete Land. Plötzlich tauchte hinter den verfallenen Mauern rechts von mir ein Hirte auf, der mit seinen Schafen vom Feld zurückkam. Der Himmel war rot, der von den Tieren aufgewirbelte Staub ließ die Landschaft verschwimmen, als wäre es ein Traum, eine magische Vision.

Der Hirte hob die Hand und winkte uns zu. Wir winkten zurück.

Die Schafe zogen vor uns vorbei und setzten ihren Weg fort.

Petrus erhob sich.»Nun komm. Wir müssen uns beeilen«, sagte er.

«Warum?«

«Darum. Findest du nicht, daß wir schon ziemlich lange auf dem Jakobsweg sind?«

Doch irgend etwas sagte mir, daß seine Eile etwas mit der magischen Szene mit dem Hirten und seinen Schafen zu tun hatte.

Zwei Tage später erreichten wir einige Berge, die im Süden aufragten und die Monotonie der riesigen Weizenfelder durchbrachen. Das Terrain wies einige Erhebungen auf, doch es war gut sichtbar von den gelben Zeichen markiert, auf die mich Pater Expeditus hingewiesen hatte. Petrus ließ die Markierungen jedoch kommentarlos links liegen und wandte sich nach Norden. Ich machte ihn darauf aufmerksam, und seine Antwort war kurz angebunden, daß er der Führer sei und wisse, wohin er mich führe.

Nach einer halben Stunde Wegstrecke begann ich ein Geräusch zu hören, das so klang wie herabstürzendes Wasser.

Um uns herum lagen nur sonnenverbrannte Felder, und ich fragte mich, was das wohl für ein Geräusch war. Doch je länger wir wanderten, desto lauter wurde das Geräusch, bis kein Zweifel mehr daran bestand, daß es von einem Wasserfall stammte. Das Merkwürdigste war nur, daß ich um mich blickte und weder Berge noch Wasserfalle sehen konnte.

Erst als wir über einen kleinen Hügel gekommen waren, stand ich vor einem außergewöhnlichen Werk der Natur: In einer Bodensenke, in die ein fünfstöckiges Haus passen würde, floß Wasser ins Innere der Erde. Die Wände dieses riesigen Loches waren von einer üppigen Vegetation bedeckt, die so ganz anders als die der Umgebung war und das herabstürzende Wasser umrahmte.

«Laß uns dort hinuntersteigen«, schlug Petrus vor.

Wir stiegen langsam hinunter, und mir kam es so vor, als stiegen wir wie bei Jules Verne zum Mittelpunkt der Erde. Der Abstieg war steil und schwierig, und ich mußte mich an den dornigen Zweigen und scharfen Steinen festhalten, um nicht abzustürzen. Mit völlig zerkratzten Armen und Beinen kam ich unten an.

«Ein schönes Werk der Natur«, sagte Petrus.

Ich stimmte ihm zu. Eine Oase mitten in der Wüste. Sie war dicht bewachsen, und die Wassertropfen bildeten einen Regenbogen.

«Hier erlaubt uns die Natur, auch unsere Kraft zu zeigen. Laß uns den Wasserfall hinaufklettern«, sagte mein Führer.»Mitten durch das Wasser.«

Ich betrachtete das Szenarium vor mir noch einmal. Jetzt sah ich nicht mehr die Schönheit der Oase, die zauberhafte Laune der Natur. Ich stand vor einer über fünfzehn Meter hohen Wand, über die das Wasser mit ohrenbetäubendem Rauschen herabstürzte. Der kleine, durch das herabfallende Wasser geschaffene See war nicht mehr als mannstief, denn der Fluß floß tosend in eine Öffnung ab, die in die Tiefen der Erde hinabzureichen schien. Es gab an der Wand nichts, woran ich mich hätte festhalten können, und der kleine See war nicht tief genug, um einen Sturz aufzufangen. Ich stand vor einer vollkommen unlösbaren Aufgabe. Mir fiel ein Erlebnis wieder ein, das ich vor fünf Jahren während eines Rituals gehabt hatte, bei dem es wie bei diesem um einen Kletteraufstieg ging. Der Meister hatte mir freigestellt, weiterzumachen oder nicht. Ich war damals jünger und von seinen Kräften und den Wundern der >Tradition< fasziniert und beschloß weiterzuklettern. Ich mußte meinen Mut und meinen Schneid beweisen.

Nach einem fast halbstündigen Aufstieg lag der schwierigste Teil vor mir. Da kam ein Wind auf, der so stark war, daß ich mich mit aller Kraft an einem kleinen Absatz festklammern mußte, auf den ich mich gestützt hatte, damit ich nicht herunterstürzte. Ich schloß die Augen, war auf das Schlimmste gefaßt und hatte meine Fingernägel in den Fels gegraben. Um so überraschter war ich, als ich kurz darauf bemerkte, daß mir jemand in eine bequemere, sicherere Stellung half. Ich öffnete die Augen, und der Meister war neben mir.

Auf ein paar Winke von ihm schwieg der Wind plötzlich. Mit geradezu unheimlicher Geschicklichkeit, in der es Augenblicke reinster Levitation gab, stieg er den Berg hinunter und winkte mir, ihm zu folgen.

Ich kam mit schlotternden Beinen unten an und fragte empört, warum er dem Wind nicht Einhalt geboten habe, bevor er mich traf.

«Weil ich es war, der den Wind hat wehen lassen«, antwortete er.

«Um mich zu töten?«

«Um dich zu retten. Du wärest nicht in der Lage gewesen, diesen Berg zu besteigen. Als ich dich fragte, ob du ihn besteigen wolltest, wollte ich nicht deinen Mut auf die Probe stellen, sondern deine Weisheit.

Du selbst hast dir einen Befehl geschaffen, den ich nicht gegeben habe«, sagte der Meister.»Könntest du levitieren, gäbe es kein Problem. Aber du wolltest tapfer sein, wo es nur darum ging, intelligent zu sein.«

An jenem Tag erzählte er mir von Meistern, die während des Prozesses der Erleuchtung wahnsinnig geworden seien und nicht mehr zwischen ihren Kräften und den Kräften ihrer Schüler unterscheiden konnten. Im Laufe meines Lebens bin ich vielen Größen der >Tradition< begegnet. Ich habe drei Meister kennengelernt — unter anderem meinen eigenen — ; sie waren physisch zu Dingen fähig, die weit über das hinausgingen, was Menschen sich erträumen mögen. Ich habe Wunder erlebt, genaue Voraussagen der Zukunft gehört, vergangene Inkarnationen gesehen. Mein Meister hat mir schon zwei Monate, bevor die Argentinier die Insel überfielen, vom Falklandkrieg erzählt. Er beschrieb ihn in allen Einzelheiten, erklärte mir — auf der astralen Ebene — , weshalb dieser Konflikt stattfinden mußte.

Doch von diesem Tag an begann ich auch zu bemerken, daß es auch Meister gibt, die, wie mein Meister sagte,»während des Prozesses der Erleuchtung wahnsinnig wurden«. Das sind Menschen, die den Meistern in allem fast gleichen, auch was ihre Kräfte betrifft: Einen von ihnen habe ich gesehen, wie er in fünfzehnminütiger Konzentration ein Samenkorn zum Sprießen brachte. Doch dieser Mann — und einige andere — hatte bereits viele Schüler in den Wahnsinn und in die Verzweiflung getrieben. Es hatte Leute gegeben, die waren in psychiatrischen Anstalten gelandet, und es gibt zumindest einen bestätigten Selbstmord. Diese Männer stehen auf der sogenannten» schwarzen Liste «der >Tradition<, doch sie lassen sich nicht kontrollieren, und viele von ihnen sind noch heute tätig.

Diese Geschichte schoß mir durch den Kopf, als ich diesen Wasserfall anschaute, der unmöglich erklommen werden konnte. Ich dachte an die lange Zeit, die Petrus und ich zusammen gewandert waren, ich erinnerte mich an den Hund, der mich angegriffen und dem ich nichts getan hatte, an Petrus'

Aufbrausen im Restaurant wegen des jungen Mannes, der uns bedient hatte, an seine Trunkenheit während der

Hochzeitsfeier. Nur daran konnte ich mich erinnern.

«Petrus, ich werde diesen Wasserfall auf gar keinen Fall hinaufklettern. Aus einem einzigen Grunde: Es ist unmöglich. «Statt zu antworten, setzte er sich schweigend ins Gras. Ich setzte mich neben ihn. Wir schwiegen eine geschlagene Viertelstunde. Sein Schweigen verwirrte mich, und ich ergriff als erster das Wort.

«Petrus, ich will diesen Wasserfall nicht hinaufklettern, weil ich fallen könnte. Ich weiß, daß ich nicht sterben werde, denn als ich das Antlitz meines Todes sah, sah ich auch den Tag, an dem er kommen wird. Doch ich könnte für den Rest meines Lebens zum Krüppel werden.«

«Paulo, Paulo…«, rügte er lächelnd. Er hatte sich vollkommen verändert. In seiner Stimme war etwas von dieser alles verschlingenden Liebe, und seine Augen leuchteten.

«Du wirst sicher gleich sagen, daß ich mein Gehorsamsgelübde breche, das ich abgegeben habe, bevor ich den Weg antrat.«

«Nein, nein, du brichst das Gelübde nicht. Du hast keine Angst und bist auch nicht faul. Zudem wirst du nicht gedacht haben, daß ich einen unnützen Befehl gebe. Du willst nicht hinaufklettern, weil du an die >Schwarzen Meister< denkst. Von deiner Entscheidungsfreiheit Gebrauch machen bedeutet nicht, ein Gelübde zu brechen. Diese Freiheit wird einem Pilger niemals versagt.«

Ich blickte auf den Wasserfall und dann wieder zu Petrus. Ich schätzte die Möglichkeiten eines Aufstiegs ab und sah keine.

«Hör gut zu«, sagte er.»Ich werde vor dir hinaufklettern, ohne irgendeine Gabe zu benutzen. Und ich werde es schaffen.

Wenn ich es schaffe, dann nur, weil ich weiß, wohin ich die Füße setzen muß. Du mußt es genauso machen. Auf diese Art hebe ich deine Entscheidungsfreiheit auf. Erst wenn du dich weigerst, nachdem du mich hast hinaufklettern sehen, brichst du dein Gelübde.«

Petrus begann seine Turnschuhe auszuziehen. Er war mindestens zehn Jahre älter als ich, und wenn er es schaffte, hatte ich ihm nichts mehr entgegenzusetzen. Ich schaute den Wasserfall an, und mir wurde ganz mulmig.

Doch Petrus rührte sich nicht von der Stelle. Barfuß saß er da, schaute in den Himmel und sagte:»Einige Kilometer von hier entfernt ist im Jahre 1502 einem Hirten die Jungfrau Maria erschienen. Heute ist ihr Fest, das Fest der Heiligen Jungfrau des Weges, und ihr widme ich meinen Sieg. Ich rate dir, dasselbe zu tun. Schenk ihr nicht den Schmerz, den du in den Füßen spürst, und auch nicht die Wunden, die dir die Steine an den Händen zufügen werden.

Alle bieten immer nur den Schm erz ihrer Buße dar. Dann ist nichts Verwerfliches, doch ich glaube, daß es sie glücklich macht, wenn die Menschen ihr auch ihre Freude darbieten.«

Ich hatte keine Lust zu reden. Ich zweifelte noch immer daran, daß Petrus es schaffen würde, die Wand hinaufzuklettern. Ich hielt das alles für eine Farce und glaubte, daß er mich im Grunde nur zu etwas überreden wollte, was mir widerstrebte.

Für alle Fälle schloß ich dennoch die Augen und betete zur Jungfrau des Weges. Ich versprach ihr, daß ich, wenn Petrus und ich es schaffen würden, die Wand hinaufzuklettern, eines Tages an diesen Ort zurückkehren würde.

«Alles, was du bis heute gelernt hast, hat nur einen Sinn, wenn es auf etwas angewandt wird. Erinnere dich daran, daß ich dir gesagt habe, der Jakobsweg sei der Weg der gewöhnlichen Menschen. Tausendmal habe ich das gesagt. Auf dem Jakobsweg und im Leben ist Weisheit nur dann etwas wert, wenn sie dem Menschen hilft, Hindernisse zu überwinden.

Ein Hammer wäre ein sinnloser Gegenstand, gäbe es nicht Nägel, die er einschlagen kann. Und selbst wenn es Nägel gibt, die er einschlagen kann, hätte der Hammer keine Aufgabe, wenn ich nur denken würde: >Diese Nägel kann ich mit zwei Schlägen einschlagen.< Der Hammer muß agieren, sich der Hand des Besitzers anvertrauen und seiner Aufgabe gemäß benutzt werden.«

Mir fielen die Worte des Meisters in Itatiaia wieder ein:»Wer ein Schwert besitzt, muß es ständig auf die Probe stellen, damit es nicht in der Scheide verrostet.«

«Der Wasserfall ist der Ort, an dem du alles, was du bislang gelernt hast, in die Praxis umsetzen wirst«, sagte mein Führer.

«Einen Vorteil hast du bereits: Du kennst das Datum deines Todes, und die Angst wird dich nicht lahmen, wenn du schnell entscheiden mußt, wo du dich abstützen sollst. Doch vergiß nicht, daß du mit dem Wasser arbeiten und es für deine Zwecke nutzen mußt. Und vergiß auch nicht, deinen Fingernagel ins Nagelbett des Daumens zu graben, wenn ein böser Gedanke dich beherrscht. Vor allem mußt du dich die ganze Zeit auf die alles verschlingende Liebe stützen, weil sie dich führt und all deine Schritte rechtfertigt.«

Petrus unterbrach sich, zog sein Hemd und die Bermudas aus.

Vollkommen nackt stieg er in das kalte Wasser der kleinen Lagune, tauchte ganz ein und streckte die ausgebreiteten Arme zum Himmel. Ich sah, daß er glücklich war und das kühle Wasser und den Regenbogen genoß, den die Wassertropfen um uns herum bildeten.

«Da ist noch etwas«, sagte er, bevor er durch den Schleier des Wasserfalles ging.»Dieser Wasserfall wird dich lehren, ein Meister zu sein. Ich werde hinaufsteigen, doch zwischen dir und mir wird immer ein Wasserschleier liegen. Ich werde hinaufsteigen, ohne daß du sehen kannst, wohin ich meine Füße setze und wohin meine Händen greifen.

Auch ein Schüler wird niemals die Schritte seines Meisters nachahmen können. Denn jeder hat seine eigene Art zu leben, mit den Schwierigkeiten und mit den Erfolgen fertig zu werden.

Lehren heißt zeigen, daß etwas möglich ist. Lernen heißt, seine eigenen Möglichkeiten ausloten.«

Mehr sagte er nicht. Er trat hinter den Schleier des Wasserfalls und begann hinaufzuklettern. Ich sah seine Gestalt nur wie durch Milchglas. Langsam und stetig stieg er hinauf. Je näher er dem Ziel kam, desto mehr fürchtete ich mich, denn nun war bald ich dran. Schließlich kam der schwierigste Moment: das herunterstürzende Wasser zu durchqueren. Eigentlich hätte ihn die Wucht des Wassers niederwerfen müssen. Doch Petrus'

Kopf tauchte auf, und das Wasser wurde zu seinem silbrigen Mantel. Dann hievte er sich mit einer einzigen Bewegung empor, und ich verlor ihn sekundenlang aus den Augen. Dann erschien Petrus endlich an einem der Ufer. Sein Körper war naß, glitzerte in der Sonne. Er lächelte.

«Los!«rief er, indem er mir zuwinkte.»Jetzt bist du an der Reihe.«

Jetzt war ich an der Reihe. Oder ich mußte meinem Schwert auf immer entsagen.

Ich zog mich ganz aus und betete wieder zur Heiligen Jungfrau des Weges. Dann machte ich einen Kopfsprung ins Wasser. Es war eiskalt, und mein Körper wurde beim Eintauchen ganz steif.

Doch dann spürte ich das wunderbare Gefühl, am Leben zu sein. Ich watete auf den Wasserfall zu.

Das Wasser, das auf meinen Kopf niederrauschte, gab mir wieder den absurden» Realitätssinn «zurück, der den Menschen dann schwächt, wenn er seinen Glauben und seine Kraft am meisten braucht. Ich begriff, daß der Wasserfall stärker war, als ich gedacht hatte, und wenn er sich direkt auf meine Brust ergoß, würde er mich umwerfen, auch wenn ich mit beiden Füßen fest im See stand. Ich bahnte mir einen Weg durch das Wasser und stand dann zwischen dem Wasservorhang und dem Stein in einem kleinen Zwischenraum, in den ich, wenn ich mich eng an den Fels preßte, gerade mit meinem Körper paßte. Und da sah ich, daß die Aufgabe leichter war, als ich gedacht hatte.

Das, was ich anfangs für eine glatte Wand gehalten hatte, war in Wahrheit ein Fels mit vielen Einbuchtungen. Mir wurde bei dem Gedanken ganz schwindelig, daß ich aus Angst vor einem glatten Stein beinahe auf mein Schwert verzichtet hatte, der in Wahrheit ein Felsen war, einer von der Art, die ich schon zig Male erklommen hatte. Mir war, als hörte ich Petrus sagen:

«Siehst du? Hat man erst ein Problem gelöst, wirkt es umwerfend einfach.«

Ich begann, das Gesicht dicht am Gestein, den feuchten Fels hinaufzuklettern. In zehn Minuten hatte ich die Wand fast ganz erklommen. Doch der Sieg, den ich mit dem Aufstieg errungen hatte, nützte mir nichts, wenn es mir nicht gelang, die kurze Strecke durch den Wasserfall hindurch zu überwinden, die mich vom freien Himmel trennte. Dort lag die Gefahr, und es war eine Gefahr, die Petrus, ich weiß nicht wie, gemeistert hatte. Ich betete noch einmal zur Heiligen Jungfrau des Weges, zu einer Jungfrau, von der ich nie zuvor gehört hatte und in die ich dennoch in diesem Augenblick meinen ganzen Glauben, meine ganze Hoffnung auf einen Sieg setzte. Vorsichtig hielt ich zuerst mein Haar, dann meinen Kopf in das reißende Wasser, das über mir toste.

Das Wasser umhüllte mich ganz und trübte meine Sicht. Ich spürte seinen Aufprall und klammerte mich fest an den Felsen.

Dabei hielt ich den Kopf gesenkt, um so eine Luftblase zu bilden, in der ich atmen konnte. Ich vertraute meinen Händen und meinen Füßen vollkommen. Meine Hände hatten schon ein altes Schwert gehalten, meine Füße waren den Jakobsweg gegangen, und sie halfen mir jetzt. Dennoch machte mich das Tosen des Wassers fast taub, und ich rang nach Atem. Ich beschloß, den Wasserstrom mit dem Kopf zu durchstoßen, und sekundenlang war alles um mich herum schwarz. Ich hielt mich mit Händen und Füßen an den Vorsprüngen, doch der Lärm des Wassers schien mich an einen Ort zu tragen, einen geheimnisvollen fernen Ort, an dem nichts mehr wichtig war, wo ich mich physisch nicht überfordern mußte und wo es nur Ruhe und Frieden gab.

Meine Füße und Hände widerstanden der tödlichen Versuchung, mich einfach fallen zu lassen. Und mein Kopf tauchte langsam wieder aus dem Wasser auf. Eine innige Liebe zu meinem Körper erfaßte mich, der mir den abenteuerlichen Weg zu meinem Schwert bestehen half.

Als mein Kopf ganz aus dem Wasser heraus war, sah ich die Sonne über mir leuchten, und ich atmete die Luft um mich herum tief ein. Das gab mir wieder Kraft. Ich schaute um mich und sah wenige Zentimeter über mir die Hochebene, auf der wir zuvor gewandert waren und die das Ende unserer Tagesreise war. Es fiel mir schwer, nicht sofort loszustürzen, doch wegen des fallenden Wassers konnte ich keine Einbuchtung sehen, und so verharrte ich in der schwierigsten Position des gesamten Aufstiegs. Das Wasser prallte gegen meine Brust, als wollte es mich zur Erde zurückzwingen, die ich um meiner Träume willen zu verlassen gewagt hatte.

Jetzt war nicht der Moment, um an Meister und Freunde zu denken. Und ich konnte auch nicht den Kopf wenden, um nachzusehen, ob Petrus da war und mich notfalls retten konnte, falls ich abrutschen sollte. Er hat sicher diesen Aufstieg schon Tausende von Malen gemacht, dachte ich, und weiß genau, daß ich seine Hilfe verzweifelt brauche. Doch er läßt mich im Stich. Oder vielleicht läßt er mich auch nicht im Stich und steht hinter mir, doch ich kann den Kopf nicht wenden, weil ich sonst das Gleichgewicht verliere. Ich muß meinen Sieg ganz allein erringen.

Meine Füße und eine Hand krallten sich weiter in den Fels, während sich die andere Hand löste und versuchte, in Einklang mit dem Wasser zu gelangen. Sie durfte nicht den kleinsten Widerstand leisten, denn ich brachte bereits all meine Kräfte auf. Meine Hand, die das wußte, wurde zu einem Fisch, der sich dem Wasser hingab, jedoch genau wußte, was er wollte.

Mir fielen die Filme meiner Kindheit wieder ein, in denen ich Lachse gesehen hatte, die Wasserfälle hinaufsprangen, weil sie ein Ziel hatten und es genau wie ich erreichen mußten.

Der Arm reckte sich langsam empor, machte sich wie ein Lachs die Kraft des Wassers zunutze, tauchte wieder ins Wasser ab, suchte nach Halt an den über die Jahrhunderte glattgespülten Steinen. Irgendwo mußte es doch eine Einbuchtung geben: Wenn Petrus es geschafft hatte, schaffte ich das auch. Alles tat mir weh, kurz vor dem Ziel erlahmten meine Kräfte, verlor ich die Zuversicht. Häufiger schon hatte ich in meinem Leben im letzten Augenblick verloren: Ich hatte einen Ozean durchschwömmen und war an den letzten kleinen Wellen, die sich am Ufer brachen, gescheitert. Doch jetzt war ich auf dem Jakobsweg, und dieses Scheitern konnte sich nicht ewig wiederholen — heute mußte ich siegen.

Die freie Hand fuhr über den glatten Stein. Der Druck des Wassers nahm zu. Ich spürte, daß der Rest meines Körpers sich verkrampfte. Da plötzlich fand die freie Hand eine Einbuchtung im Stein. Sie war nicht groß und lag außerhalb der Aufstiegsroute. Die andere Hand konnte sich dort aufstützen, wenn sie an der Reihe war. Ich merkte mir die Stelle, und die freie Hand ging weiter auf die Suche nach meiner Rettung.

Wenige Zentimeter von der ersten Einbuchtung wartete eine andere auf mich. Das war sie. Das war die Stelle, die seit Jahrhunderten den Pilgern auf dem DER ATEM DER R.A.M.

Lasse alle Luft aus deinen Lungen strömen, leere sie soweit wie möglich. Dann atme langsam ein, während du die Arme hebst. Konzentriere dich beim Einatmen, damit Liebe, Friede und Einklang mit dem Universum in dich einziehen.

Halte so lange wie möglich bei erhobenen Armen die Luft an und genieße die innere und äußere Harmonie. Dann stoße schnell die ganze Luft aus und sprich dabei das Wort R.A.M.

Wiederhole dies fünf Minuten lang. Jakobsweg als Stütze gedient hatte. Ich klammerte mich mit aller Kraft dort fest. Die andere Hand löste sich, wurde von der Macht des Flusses zurückgeworfen. Doch sie beschrieb einen großen Bogen im Himmel und fand die Stelle, die sie erwartete.

Mein Körper folgte dann in einer einzigen Bewegung dem Weg, den meine Hände gebahnt hatten, und ich hievte mich nach oben.

Der letzte große Schritt war getan. Mein ganzer Körper durchstieß das Wasser, und im Augenblick darauf war der Wasserfall nur mehr ein zahmes Bächlein. Ich schleppte mich ans Ufer und überließ mich meiner Erschöpfung. Die Sonne brannte auf meinen Körper und wärmte mich. Und ich wurde mir wieder bewußt, daß ich gesiegt hatte, daß ich lebendig war wie vorher, als ich in dem See dort unten gestanden hatte.

Durch das Rauschen des Wassers hindurch hörte ich Petrus'

Schritte näher kommen.

Ich wollte aufstehen, um meine Freude zu zeigen, doch mein erschöpfter Körper weigerte sich.

«Bleib ruhig liegen, ruh dich aus«, sagte er.»Versuch langsam zu atmen.«

Ich fiel sofort in einen tiefen, traumlosen Schlaf. Als ich erwachte, war die Sonne schon quer über den ganzen Himmel gewandert, und Petrus, der inzwischen wieder angekleidet war, reichte mir meine Wäsche und sagte, wir müßten nun weitergehen.

«Ich bin zu müde«, wandte ich ein.

«Laß nur. Ich werde dich lehren, Energie aus allem zu beziehen, was dich umgibt.«

Und Petrus lehrte mich den Atem der R.A.M.

Ich machte die Übung fünf Minuten lang und fühlte mich besser.

Ich erhob mich, zog mich an und nahm meinen Rucksack.

«Komm her«, sagte Petrus.

Ich ging bis zum Rand der Hochebene. Unter meinen Füßen toste der Wasserfall.»Von hier oben sieht es bedeutend einfacher aus als von unten«, sagte ich.

«Genau. Und wenn ich dir diesen Ausblick vorher gezeigt hätte, wäre das ein Verrat an dir gewesen. Du hättest deine Möglichkeiten falsch eingeschätzt.«

Ich war noch schwach und machte die Übung noch einmal.

Allmählich kam das Universum um mich herum in Einklang mit mir und drang in mein Herz. Ich fragte Petrus, warum er mir den Atem der R.A.M. nicht schon früher beigebracht habe, denn ich sei auf dem Jakobsweg häufig matt und müde gewesen.

«Weil du es nie gezeigt hast«, sagte er lachend und fragte mich, ob ich noch ein paar von diesen köstlichen Butterkeksen aus Astroga hätte.

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