Saint-Jean-Pied-de-Port


Maskierte Menschen und ihnen voran eine Blaskapelle, alle in Rot, Grün und Weiß gekleidet, den Farben des französischen Baskenlandes, zogen durch die Hauptstraße von Saint-Jean-Pied-de-Port. Es war Sonntag, ich hatte zwei Tage am Lenkrad meines Wagens verbracht und hatte keine Minute zu verlieren, und schon gar nicht die Zeit, um an diesem Fest teilzunehmen.

Ich bahnte mir einen Weg durch die Menge und erreichte schließlich die Befestigungen, die den ältesten Teil der Stadt bilden, in dem ich Madame Savin treffen sollte. Sogar in diesem Winkel der Pyrenäen war es tagsüber heiß, und ich stieg schweiß gebadet aus dem Wagen.

Ich klopfte an die Tür. Klopfte abermals, vergebens. Km drittes Mal. Mir antwortete nur die Stille. Unruhig setzte ich mich auf einen Mauervorsprung. Meine Frau hatte mir gesagt, daß ich mich genau an diesem Tag dort einfinden sollte, doch niemand Öffnete. Vielleicht war Madame Savin ausgegangen, um sich den Umzug anzusehen, dachte ich; doch es war ebensogut möglich, daß ich zu spät gekommen war und sie beschlossen hatte, mich nicht mehr zu empfangen. Die Wanderung über den Jakobsweg war zu Ende, noch bevor sie begonnen hatte.

Plötzlich öffnete sich die Tür, und ein Kind stürmte auf die Straße. Ich sprang auf und fragte in meinem schlechten Französisch nach Madame Savin. Das kleine Mädchen lachte und wies ins Innere des Hauses. Da erst bemerkte ich meinen Irrtum: Die Tür führte in einen riesigen Innenhof, der von mittelalterlichen, mit Balkons versehenen Häusern umstanden war. Man hatte die Tür für mich offengelassen, und ich hatte nicht einmal gewagt, die Klinke zu ergreifen. Ich ging schnell hinein und lief zu dem Haus, das mir das Mädchen gezeigt hatte. Im Inneren fuhr eine dicke, nicht mehr ganz junge Frau einen schmächtigen jungen Mann mit traurigen braunen Augen auf baskisch an. Ich wartete, bis die Alte den Jungen unter einem Schwall von Beschimpfungen in die Küche schickte.

Dann erst wandte sie sich an mich, und ohne zu fragen, was ich denn wollte, führte sie mich resolut in den zweiten Stock des kleinen Hauses. Die Tür zu einem der Zimmer stand offen.

Darin stand ein mit Büchern, Gegenständen, Statuetten des heiligen Jacobus und Souvenirs des Wallfahrtsweges vollgestellter Schreibtisch. Sie nahm ein Buch aus dem Regal, setzte sich an den einzigen Tisch im Zimmer.

«Ich nehme an, Sie sind auch ein Wallfahrer nach Santiago de Compostela«, sagte sie ohne Umschweife.»Ich muß Ihren Namen in das Register für den Jakobsweg eintragen.«

Ich sagte ihr meinen Namen, und sie wollte wissen, ob ich die Jakobsmuscheln mitgebracht hätte. So nennt man die großen Kammuschelschalen, die am Grab des Apostels als Symbol für die Pilgerreise angebracht sind und die den Pilgern untereinander als Erkennungszeichen dienen. Vor meiner Abreise nach Spanien war ich in Brasilien an einen Wallfahrtsort gefahren, Aparecida do Norte. Dort hatte ich ein auf drei Muscheln montiertes Bildnis der Heiligen Jungfrau erstanden. Ich zog es aus meiner Reisetasche und reichte es Madame Savin.

«Hübsch, aber unpraktisch«, meinte sie, als sie mir die Muscheln zurückgab.»Sie könnten auf dem Weg zerbrechen.«

«Sie werden nicht zerbrechen. Ich werde sie zum Grab des Apostels bringen.«

Madame Savin schien nicht viel Zeit für mich zu haben. Sie gab mir ein kleines Heft, das mir die Unterbringung in den Klöstern längs des Weges erleichtern sollte, versah es mit dem Stempel von Saint-Jean-Pied-de-Port, um anzugeben, wo ich meine Reise begonnen hatte, und sagte, daß ich nunmehr mit dem Segen Gottes aufbrechen könne.

«Aber wo ist mein Führer?«fragte ich sie.

«Was für ein Führer?«entgegnete sie überrascht, doch mit einem Aufblitzen in den Augen.

Ich begriff, daß ich etwas Entscheidendes vergessen hatte.

Weil ich es eilig gehabt hatte, anzukommen und aufgenommen zu werden, hatte ich das alte Wort nicht ausgesprochen, die Losung derer, die dem Orden der >Tradition< angehören oder angehört haben. Ich machte sofort meinen Fehler wieder gut und sagte das Wort. Da entriß mir Madame Savin das Heft, das sie mir wenige Minuten zuvor gegeben hatte.

«Sie werden es nicht brauchen«, sagte sie, während sie einen Stapel alter Zeitungen von einer Pappschachtel nahm.»Ihr Weg und Ihre Unterkunft werden in den Händen Ihres Führers liegen.«

Madame Savin zog dann einen Hut und einen Umhang aus der Pappschachtel. Beide wirkten wie alte Kleidungsstücke, waren jedoch gut erhalten. Sie bat mich, mich in die Mitte des Zimmers zu stellen, und begann dann still zu beten. Dann legte sie mir den Umhang um die Schultern und setzte mir den Hut auf. Ich bemerkte, daß an den Hut und auf die Schulterstücke des Umhangs Muscheln genäht waren. Ohne ihr Gebet zu unterbrechen, nahm die alte Frau einen Stab, der in einer Ecke des Büros gestanden hatte, und legte ihn in meine rechte Hand.

An diesem langen Stock hing oben eine kleine Kalebasse für Wasser. Da stand ich nun in Jeans-Bermudas und einem T-Shirt mit der Aufschrift >I LOVE NY<, und darüber das mittelalterliche Gewand der Santiago-de-Compostela-Pilger.

Die alte Dame trat auf mich zu. In einer Art Trance legte sie ihre Hände flach auf meinen Kopf und sagte:

«Möge dich der Apostel Jacobus begleiten und dir das Einzige zeigen, was du entdecken sollst. Geh weder zu schnell noch zu langsam, doch immer so, daß du die Gesetze und das, was der Weg verlangt, einhältst. Gehorche dem, der dich führen wird, auch wenn er dir befiehlt, zu töten, Gott zu lästern oder irgendeine unsinnige Tat zu vollführen. Du mußt unbedingten Gehorsam schwören.«

Ich schwor.

«Der Geist der alten Pilger der >Tradition< sei auf deiner Reise mit dir. Der Hut möge dich vor der Sonne und bösen Gedanken schützen. Der Umhang möge dich vor dem Regen und vor bösen Worten schützen. Der Stab möge dich vor den Feinden und vor bösen Taten schützen. Der Segen Gottes und des heiligen Jacobus und der Jungfrau Maria mögen dich Tag und Nacht begleiten. Amen. «Dann fiel sie wieder in ihr altes Verhalten zurück: Mürrisch raffte sie die Kleidungsstücke zusammen und verstaute sie in der Schachtel, stellte den Stab mit der Kalebasse wieder in die Zimmerecke und bat mich, schnell aufzubrechen, da mein Führer mich ein oder zwei Kilometer von Saint-Jean-Pied-de-Port entfernt erwartete.

«Er haßt Blasorchester«, erklärte sie.»Aber er wird es sogar noch in ein, zwei Kilometer Entfernung hören: Die Pyrenäen sind ein außergewöhnlich guter Resonanzkasten.«

Ohne ein weiteres Wort stieg sie die Treppe hinunter und kehrte in die Küche zurück, um den jungen Mann mit den traurigen Augen weiter zu malträtieren. Im Hinausgehen fragte ich sie, was ich mit dem Wagen machen solle, und sie riet mir, ihr die Schlüssel dazulassen, weil sie jemand abholen käme. Also nahm ich meinen kleinen blauen Rucksack, an dem ein Schlafsack festgezurrt war, aus dem Kofferraum. Ich steckte das Bildnis der heiligen Muttergottes von Aparecida und die Muscheln in die Innentasche, schulterte den Rucksack und ging wieder zu Madame Savin zurück, um ihr die Wagenschlüssel zu geben.

«Sie verlassen die Stadt am besten, indem Sie dieser Straße bis zum Tor unten am Festungswall folgen. Und wenn Sie in Santiago de Compostela angekommen sind, beten Sie ein Ave Maria für mich. Ich bin diesen Weg oft gegangen. Jetzt gebe ich mich damit zufrieden, in den Augen der Pilger die Begeisterung zu lesen, die ich selber noch fühle, aber aufgrund meines Alters nicht mehr in die Tat umsetzen kann.

Sagen Sie das dem heiligen Jacobus. Sagen Sie ihm auch, daß ich irgendwann auf einem anderen, direkteren und weniger mühsamen Weg zu ihm kommen werde.«

Ich verließ die Stadt durch die Porte d'Espagne im Festungswall. Einst war dies der von den römischen Eroberern bevorzugte Weg gewesen, und auch die Armeen Karls des Großen und Napoleons Truppen waren durch das Tor gezogen.

Ich wanderte schweigend, hörte von fern das Blasorchester, und inmitten der Ruinen eines Dorfes in der Nähe von Saint- Jean wurde ich unvermittelt von einem starken Gefühl überwältigt, und meine Augen füllten sich mit Tränen: Dort in den Ruinen wurde mir zum ersten Mal bewußt, daß meine Füße auf dem geheimnisumwobenen Jakobsweg gingen.

Die Musik und die in die Morgensonne getauchten Pyrenäen rings um das Tal gaben mir das Gefühl, etwas ganz Ursprüngliches, etwas von den Menschen längst Vergessenes zu erleben. Es war ein seltsames, starkes Gefühl, das ich nicht beschreiben konnte, das mich veranlaßte, meine Schritte zu beschleunigen, damit ich so schnell wie möglich den Ort erreichte, an dem mich laut Madame Savin mein Führer erwartete. Im Gehen hatte ich mein T-Shirt ausgezogen und in meinen Rucksack gesteckt. Die Schulterriemen begannen in meine nackten Schultern zu schneiden. Meine alten Turnschuhe hingegen waren so gut eingelaufen, daß ich sie nicht spürte. Nach etwa vierzig Minuten gelangte ich nach einer Biegung des Weges, der um einen riesigen Felsen führte, zu dem alten versiegten Brunnen. Auf der Erde saß ein etwa fünfzigjähriger schwarzhaariger Mann, der wie ein Zigeuner aussah und in einem Rucksack kramte.

«Hallo. Du wartest wohl schon auf mich. Ich heiße Paulo«, sagte ich auf spanisch, schüchtern wie immer, wenn ich einen Unbekannten treffe.

Der Mann hörte auf, in dem Rucksack herumzustöbern, und schaute mich von oben bis unten an. Sein Blick war kalt, und er schien über meine Ankunft nicht überrascht zu sein. Ich hatte das unbestimmte Gefühl, ihn zu kennen.

«Ja, ich habe auf dich gewartet, aber ich dachte nicht, daß ich dich so schnell treffen würde. Was willst du?«

Durch seine Frage etwas verwirrt, antwortete ich ihm, daß ich der sei, den er auf dessen Suche nach dem Schwert die

>Milchstraße< entlangführen solle.

«Das wird nicht notwendig sein«, sagte der Mann.»Wenn du willst, kann ich es für dich finden. Aber entscheide dich schnell. «Mir kam die Unterhaltung immer merkwürdiger vor. Dennoch wollte ich ihm, da ich ja unbedingten Gehorsam geschworen hatte, gleich antworten. Wenn er das Schwert für mich finden könnte, würde ich sehr viel Zeit gewinnen und konnte schnell nach Brasilien zu meiner Familie und meiner Arbeit zurückkehren, die mich in Gedanken noch immer beschäftigte.

Es konnte dies auch eine List sein, aber eine Antwort würde nichts schaden.

Ich hatte schon beschlossen, das Angebot anzunehmen, da hörte ich plötzlich hinter mir eine Stimme mit sehr starkem Akzent auf spanisch sagen:

«Man braucht einen Berg nicht zu besteigen, um zu wissen, daß er hoch ist.«

Das war die Losung. Ich drehte mich um und sah einen etwa vierzigjährigen Mann in Khakibermudas und einem schweißdurchtränkten weißen Hemd, der den Zigeuner anstarrte. Er hatte graumeliertes Haar und sonnengebräunte Haut. In meiner Hast hatte ich die elementarsten Sicherheitsvorkehrungen vergessen und mich dem erstbesten, den ich getroffen hatte, in die Arme geworfen.

«Das Schiff ist sicherer, wenn es im Hafen liegt. Doch nicht dazu wurden Schiffe gebaut«, antwortete ich auf das Losungswort. Der Mann wandte währenddessen den Blick nicht vom Zigeuner, der seinerseits den Mann nicht aus den Augen ließ. Sie sahen einander einige Minuten lang furchtlos und ruhig an, bis der Zigeuner den Rucksack mit einer verächtlichen Geste auf den Boden stellte und in Richtung Saint-Jean-Pied-de-Port verschwand.

«Ich heiße Petrus«, sagte der Neuankömmling, nachdem der Zigeuner hinter dem riesigen Felsen verschwunden war, den ich wenige Minuten zuvor umrundet hatte.»Das nächste Mal sei vorsichtiger.«

Seine Stimme klang sympathischer als die des Zigeuners und auch als die von Madame Savin. Er nahm seinen Rucksack, auf dessen Rückseite eine Muschel abgebildet war, zog eine Flasche Wein daraus hervor, trank einen Schluck davon und reichte sie dann mir. Nachdem ich getrunken hatte, fragte ich ihn, wer der Zigeuner gewesen sei.

«Dieser Weg verläuft an der Grenze zwischen Spanien und Frankreich und wird häufig von Schmugglern und flüchtigen Terroristen aus dem spanischen Baskenland benutzt«, erklärte mir Petrus.»Die Polizei kommt fast nie hierher.«

«Das ist keine Antwort. Ihr habt euch angesehen, als wärt ihr alte Bekannte. Und auch ich hatte das Gefühl, ihn zu kennen, deshalb war ich auch so unbedacht.«

Petrus lachte und meinte, wir sollten uns nun auf den Weg machen. Ich nahm meine Sachen, und wir wanderten schweigend. Doch Petrus' Lachen hatte mich verstehen lassen, daß er dasselbe dachte wie ich: Wir waren einem Dämon begegnet.

Wir gingen eine geraume Weile, ohne etwas zu sagen.

Madame Savin hatte recht gehabt: Man konnte selbst in einer Entfernung von beinahe drei Kilometern noch das Blasorchester hören. Ich hatte Petrus gern eine Menge Fragen zu seinem Leben, seiner Arbeit und dem Grund seines Hierseins gestellt. Doch ich wußte, daß wir noch siebenhundert Kilometer gemeinsamen Weges vor uns hatten und ich zum gegebenen Zeitpunkt auf diese Fragen eine Antwort erhalten würde. Allein, der Zigeuner ging mir nicht aus dem Sinn, und schließlich brach ich das Schweigen.»Petrus, ich glaube, daß der Zigeuner der Dämon war.«

«Ja, das war der Dämon. «Als er es mir bestätigte, spürte ich eine Mischung aus Schrecken und Erleichterung.»Aber das war nicht der Dämon, den du in der >Tradition< kennengelernt hast.«

In der >Tradition< ist der Dämon ein Geist, der weder gut noch böse ist. Ihm wird die Rolle des Wächters der meisten für den Menschen erreichbaren Geheimnisse zugeschrieben, und er hat die Macht über die materiellen Dinge. Er ist ein gefallener Engel, der sich mit den Menschen identifiziert und bei entsprechender Gegenleistung immer bereit ist, ihm einen Gefallen zu tun. Auf meine Frage, was denn der Unterschied zwischen dem Zigeuner und den Dämonen der >Tradition< sei, antwortete Petrus lachend:

«Wir werden auf unserem Weg noch weitere treffen. Du wirst es schon selber herausfinden. Erinnere dich an die Unterhaltung, die du mit dem Zigeuner hattest, dann wird dir etwas auffallen.«

Ich rief mir die zwei Sätze ins Gedächtnis, die wir miteinander gesprochen hatten. Er hatte gesagt, er habe mich erwartet, und mir versichert, er werde das Schwert für mich finden.

Darauf erklärte mir Petrus, daß die beiden Sätze wunderbar in den Mund eines Diebes paßten, der dabei erwischt wird, wie er einen Rucksack stiehlt: Er versucht, Zeit zu gewinnen und sich, während er seine Flucht vorbereitet, den anderen gewogen zu machen. Beide Sätze könnten einen verborgenen tieferen Sinn enthalten, oder aber seine Worte gaben nur genau das wieder, was er dachte.

«Und welche ist die richtige Deutung?«

«Beide. Der arme Dieb hat, während er sich verteidigte, seine Worte aus der Luft gegriffen. Er hielt sich für schlau und war dabei nur das Werkzeug einer höheren Macht. Wäre er geflohen, als ich kam, müßten wir uns jetzt nicht über ihn unterhalten. Doch er hat sich mir gestellt, und ich habe in seinen Augen den Namen eines Dämons gesehen, dem du noch auf unserem Weg begegnen wirst.«

Für Petrus war dieses Treffen ein gutes Omen, weil sich der Dämon schon früh offenbart hatte.

«Einstweilen mach dir seinetwegen keine Sorgen, denn, wie gesagt, er wird nicht der einzige bleiben. Er ist vielleicht der wichtigste, doch er wird nicht der einzige bleiben.«

Wir setzten unsere Wanderung fort. Die bislang etwas wüstenartig wirkende Vegetation bestand jetzt aus locker verteilten Büschen. Vielleicht sollte ich besser Petrus' Rat befolgen und die Dinge auf mich zukommen lassen. Hin und wieder machte er eine Bemerkung zu historischen Ereignissen, die sich dort ereignet hatten, wo wir gerade vorbeikamen. Ich habe beispielsweise das Haus gesehen, in dem eine Königin am Vorabend ihres Todes geschlafen hat, und eine kleine in die Felsen geschmiegte Kapelle, die Einsiedelei eines heiligen Mannes, von dem die wenigen Bewohner des Landstrichs behaupteten, er tue Wunder.

«Wunder sind doch etwas sehr Wichtiges, findest du nicht?«

fragte mich Petrus.

Ich stimmte ihm zu, sagte ihm aber auch, daß ich bislang kein großes Wunder gesehen hätte. Meine Lehrjahre innerhalb der

>Tradition< seien eher intellektuell ausgerichtet gewesen. Ich glaubte, daß ich, wenn ich mein Schwert wiedergefunden haben würde, imstande wäre, meinerseits die großen Dinge zu tun, die mein Meister tat.

«Aber das sind keine Wunder, weil sie die Gesetze der Natur nicht ändern. Mein Meister gebraucht seine Kräfte, um…«

Ich brachte meinen Satz nicht zu Ende, weil ich keine Erklärung für die Tatsache fand, daß mein Meister Geister materialisieren konnte, daß er Gegenstände von ihrem Platz bewegte, ohne sie zu berühren, und daß er, wie ich es mehr als einmal gesehen hatte, in der dunklen Wolkendecke eines Nachmittags Lücken blauen Himmels öffnete.

«Vielleicht tut er das, um dich davon zu überzeugen, daß er das Wissen und die Macht besitzt«, entgegnete Petrus.

«Das ist möglich«, meinte ich etwas halbherzig.

Wir setzten uns auf einen Stein, weil Petrus mir sagte, er hasse es, im Gehen zu rauchen. Die Lungen nähmen dann mehr Nikotin auf, und davon würde ihm übel werden.

«Dein Meister hat dir das Schwert verweigert, weil du nicht weißt, aus welchem Grunde er die Wunder tut. Weil du vergessen hast, daß der Weg der Erkenntnis ein Weg ist, der allen Menschen offensteht, den ganz gewöhnlichen Menschen.

Ich werde dich auf unserem Wege einige Exerzitien und Rituale lehren, die als die Praktiken der R.A.M. bekannt sind.

Jedermann wird zu irgendeinem Zeitpunkt seines Lebens Zugang zu mindestens einer von ihnen finden. Jeder, der geduldig und klarsichtig sucht, kann sie alle, ohne Ausnahme, in den Lektionen entdecken, die uns das Leben erteilt. Die Praktiken der R.A.M, sind so einfach, daß Leute wie du, die die Angewohnheit haben, das Leben zu verkomplizieren, ihnen häufig keinen Wert beimessen. Doch sie und drei weitere Gruppen von Praktiken sind es, die den Menschen in die Lage versetzen, alles, wirklich alles zu erhalten, was er sich wünscht.

Jesus lobte den Herrn, als seine Jünger begannen, Wunder zu tun und Kranke zu heuen, und er dankte Ihm, weil Er die Dinge vor den Weisen verbarg, sie indes den einfachen Menschen offenbarte. Schließlich sollte man, wenn man an Gott glaubt, auch glauben, daß Gott gerecht ist.«

Petrus hatte recht. Es wäre ungerecht von Gott, nur gelehrten Menschen, die über die Zeit und das Geld verfügen, um teure Bücher zu kaufen, Zugang zum wahren Wissen zu gestatten.

«Den wahren Weg zur Weisheit erkennt man an drei Dingen«, erklärte Petrus.»Zuerst einmal muß er Agape enthalten.

Darüber werde ich dir später etwas erzählen. Dann muß er im Leben praktisch anwendbar sein, sonst wird die Weisheit nutzlos und verkommt wie ein Schwert, das niemals gebraucht wird. Schließlich muß es ein Weg sein, den jeder gehen kann. Wie diesen hier, den Jakobsweg.«

Wir waren den ganzen Nachmittag gewandert, und erst als die Sonne allmählich hinter den Bergen verschwand, beschloß Petrus erneut haltzumachen. Um uns herum leuchteten die höchsten Gipfel der Pyrenäen im Schein der letzten Lichtstrahlen des Tages.

Petrus bat mich, ein kleines Stück Erdboden zu säubern und darauf niederzuknien.

«Die erste Praktik der R.A.M. besteht darin, wiedergeboren zu werden. Du mußt sie sieben Tage hintereinander durchführen und dabei versuchen, auf eine andere Art und Weise deinen ersten Kontakt mit der Welt wiederzuerleben. Du weißt, wie schwer es gewesen ist, alles aufzugeben und zu beschließen, auf die Suche nach deinem Schwert zu gehen und den Jakobsweg zu beschreiten. Es war schwierig, weil du Gefangener deiner Vergangenheit warst. Du hast eine Schlappe erlebt und fürchtest eine weitere Niederlage. Du hast etwas erreicht und fürchtest, es zu verlieren. Dennoch hat ein starkes Gefühl die Oberhand gewonnen: der Wunsch, dein Schwert wiederzufinden. Und du hast beschlossen, das Risiko einzugehen.«

Ich gab zu bedenken, daß ich mich von den Sorgen, auf die er angespielt hatte, noch nicht befreit hätte.

«Das ist unwichtig. Die Übung wird dich ganz allmählich von den Bürden befreien, die du dir in deinem Leben selbst aufgeladen hast.«

Und dann lehrte mich Petrus die erste Übung der R.A.M.: Das Samenkorn.

«Und nun mach die Übung zum ersten Mal«, sagte er.

Ich steckte meinen Kopf zwischen die Knie, atmete tief und begann mich zu entspannen. Mein Körper gehorchte widerspruchslos, vielleicht weil wir den ganzen Tag über gewandert waren und ich nun erschöpft war. Ich lauschte dem Klang der Erde, einem dumpfen, heiseren Klang, und wurde ganz allmählich zu einem Samenkorn. Ich dachte nicht mehr.

Alles war dunkel, und ich schlief tief unten in der Erde. Plötzlich bewegte sich etwas. Ein Teil von mir, ein winziger Teil von mir, wollte mich wecken, mir sagen, daß ich von dort unten herauskommen solle, da es >dort oben< etwas anderes gab.

Ich wollte weiterschlafen, doch dieser Teil ließ nicht locker. Er begann meine Finger zu bewegen, und meine Finger bewegten dann meine Arme. Doch es waren weder die Finger noch die Arme, es war ein Samenkorn, das darum kämpfte, die Erde zu durchbrechen und dort mach oben< zu kommen. Ich spürte, wie mein Körper begann, der Bewegung meiner Arme zu folgen.

Jede Sekunde war wie eine Ewigkeit, doch das Samenkorn wollte wachsen, wollte wissen, was >dort oben< war. Unter großen Schwierigkeiten richteten sich zuerst mein Kopf und dann mein Körper auf. Alles vollzog sich für mich viel zu langsam, und ich mußte gegen die Kraft ankämpfen, die mich ins Innere der Erde zog, wo ich bislang ruhig in nicht endendem Schlaf gelegen hatte. Doch es gelang mir, und ich bezwang diese Kraft und erhob mich. Ich hatte die Erde durchbrochen und war von diesem >dort oben< umgeben.

Es war die Natur. Ich spürte die Wärme der Sonne, hörte das Summen der Insekten, das Murmeln des Baches in der Ferne.

Langsam stand ich auf, hielt die Augen geschlossen DAS EXERZITIUM VOM SAMENKORN

Knie nieder. Dann setze dich auf deine Fersen und beuge dich so weit nach vorn, bis deine Stirn die Knie berührt. Strecke die Arme zurück. Du befindest dich jetzt in Fötushaltung. Schließe die Augen. Nun entspanne dich vollkommen. Atme ruhig und tief. Ganz allmählich glaubst du, ein winziges, wohlig von der Erde umschlossenes Samenkorn zu sein. Du bist von Wärme und Wohlgefühl umgeben. Du schläfst ruhig. Plötzlich erzittert ein Finger. Das Korn will nicht mehr Samenkorn sein, es will wachsen. Du beginnst ganz langsam die Arme zu bewegen, dann richtet sich dein Körper auf, bis du wieder auf den Fersen sitzt. Nun erhebst du dich etwas und verschiebst dein Gewicht ganz langsam nach vorn, bis du wieder kniest. Während du das tust, stell dir vor, du wärst ein Samenkorn, das keimt und allmählich die Erde durchbricht. Jetzt ist der Augenblick gekommen, die Erde ganz zu durchstoßen. Du erhebst dich langsam, setzt erst einen Fuß, dann den anderen auf, versuchst das Gleichgewicht zu halten, wie ein Schößling, der um seinen Raum kämpft. Wenn du ganz aufgerichtet stehst, stelle dir das Feld um dich herum vor, die Sonne, das Wasser, den Wind und die Vögel: Du bist ein Samenkorn, das wächst. Du hebst langsam die Arme zum Himmel. Dann streckst du dich immer weiter, als wolltest du die Sonne packen, die über dir leuchtet und dir Kraft spendet und dich anzieht. Dein Körper spannt sich an, die Muskeln kontrahieren, und dabei fühlst du, daß du immer größer wirst, bis du schließlich riesig bist. Die Anspannung wird immer stärker, wird schmerzhaft, unerträglich.

Wenn du es nicht mehr aushältst, stoße einen Schrei aus und öffne die Augen. und glaubte das Gleichgewicht zu verlieren und zur Erde zurückzukehren. Dennoch wuchs ich immer weiter. Meine Arme lösten sich vom Körper, der sich immer weiter streckte. Und ich wurde wiedergeboren, wünschte mir, daß diese unendlich große, leuchtende Sonne mich durchflutete. Ich reckte meine Arme, so weit ich konnte. Alle meine Muskeln begannen zu schmerzen, und mir war so, als ragte ich tausend Meter hoch hinauf, als könnte ich die Berge umarmen. Mein Körper weitete und weitete sich, bis die Schmerzen in den Muskeln so intensiv geworden waren, daß ich es nicht mehr aushalten konnte. Da stieß ich einen Schrei aus.

Ich öffnete die Augen und sah Petrus, der vor mir stand, eine Zigarette rauchte und mich anlächelte. Das Tageslicht war noch nicht ganz verschwunden, doch zu meiner Überraschung gab es weniger Sonne, als ich vermutet hatte. Ich fragte ihn, ob er wollte, daß ich ihm meine Gefühle beschriebe. Er verneinte es.

«Das sind sehr persönliche Dinge, die solltest du für dich behalten. Wie soll ich mir ein Urteil über sie erlauben. Sie gehören dir ganz allein.«

Dann meinte er, wir sollten hier schlafen. Wir machten ein kleines Feuer, tranken den Rest Wein und aßen das Brot, das ich mit der Leberpastete bestochen hatte, die ich, noch bevor ich nach Saint-Jean gekommen war, gekauft hatte. Petrus war zum Bach gegangen, der in der Nähe floß, und hatte dort Fische gefangen, die er dann auf dem Feuer grillte.

Anschließend streckten wir uns jeder in seinem Schlafsack aus.

Diese erste Nacht auf dem Jakobsweg gehört zu den Dingen in meinem Leben, die ich nie wieder vergessen werde. Es war kalt, obwohl Sommer war. Ich hatte noch den Geschmack des Weins, den Petrus mitgebracht hatte, im Mund. Ich blickte in den Himmel und die Milchstraße, die den unendlichen Weg zeigte, den wir noch gehen mußten. Unter anderen Umständen hätte mir diese unendliche Weite Angst eingeflößt, und ich hätte gefürchtet, es nicht zu schaffen, dem nicht gewachsen zu sein.

Doch heute war ich ein Samenkorn und war neugeboren. Ich hatte herausgefunden, daß trotz des Behagens in der Erde und des Schlafes, den ich dort schlief, das Leben >dort oben< viel schöner war. Ich konnte, sooft ich wollte, wiedergeboren werden, bis meine Arme so groß waren, daß sie die ganze Welt umarmen konnten.

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