«Und mögest du im heiligen Angesicht der R.A.M. das Wort des Lebens mit deinen Händen berühren und so viel Kraft daraus gewinnen, daß du bis ans Ende der Welt Zeugnis dafür ablegst.«
Der Meister hielt mein neues Schwert erhoben, ohne es aus der Scheide zu ziehen. Die Flammen knisterten in der Feuerstelle.
Dies war ein gutes Vorzeichen, denn es bedeutete, daß mit dem Ritual fortgefahren werden sollte. Da kniete ich nieder und begann mit nackten Händen in die Erde vor mir eine Vertiefung zu graben.
Es war in der Nacht des 2. Februar 1986, und wir befanden uns auf dem Gipfel des Gebirges Serra do Mar in der Nähe einer Felsformation mit dem Namen Agulhas Negras/Schwarze Nadeln. Außer meinem Meister und mir waren noch meine Frau, einer meiner Schüler, ein Bergführer aus dem Ort und ein Vertreter der großen, unter dem Namen >Tradition< bekannten Bruderschaft anwesend. Alle fünf, auch der Bergführer, der zuvor von dem in Kenntnis gesetzt worden war, was hier geschehen sollte, nahmen an meiner Ordination als Meister des R.A.M.-Ordens teil, einer alten christlichen, im Jahre 1492 gegründeten Bruderschaft.
Ich hatte eine lange, flache Kuhle in die Erde gegraben.
Während ich die Worte des Rituals sprach, schlug ich feierlich mit den Händen auf die Erde. Dann trat meine Frau zu mir. Sie überreichte mir das Schwert, dessen ich mich über zehn Jahre lang bedient hatte und das in dieser Zeit mein Helfer gewesen war. Ich legte das Schwert in die Kuhle, bedeckte es mit Erde und klopfte sie fest. Dabei stieg die Erinnerung an die Prüfungen, die ich durchlaufen hatte, an die Dinge, die ich gelernt hatte, und an die Phänomene in mir auf, die ich hervorzurufen imstande war, denn damals hatte ich stets dieses uralte Schwert, meinen großen Freund, bei mir gehabt. Nun würde die Erde es verschlingen, das Eisen seiner Klinge und das Holz seines Griffes würden den Ort wieder nähren, aus dem es soviel Macht geschöpft hatte.
Der Meister trat auf mich zu und legte mein neues Schwert vor mich auf die Stelle, an der ich das alte vergraben hatte. Da breiteten alle ihre Arme aus, und der Meister ließ um uns ein seltsames Licht entstehen, das zwar keine Helligkeit spendete, jedoch unsere Umrisse in eine andere Farbe als den gelben Schein tauchte, der vom Feuer ausging. Dann zog der Meister sein eigenes Schwert aus der Scheide und berührte damit meine Schultern und meinen Kopf und sagte:
«Aus der Macht und der Liebe der R.A.M. heraus ernenne ich dich zum Meister und Ritter des Ordens, heute und für alle Tage bis an dein Lebensende. R steht für Rigor, die Strenge, A steht für Amor, die Liebe, M steht für Misericordia, die Barmherzigkeit, R steht für Regnum, das Reich, A steht für Agnus, das Lamm, M steht für Mundus, die Welt. Wenn das Schwert dein ist, laß es nie lange in seiner Scheide, denn es könnte rosten. Doch wenn es seine Scheide verläßt, soll es niemals dorthin zurückkehren, ohne zuvor Gutes getan oder einen Weg gebahnt zu haben.«
Mit der Spitze seines Schwertes hatte er mich am Kopf leicht verletzt. Nun mußte ich nicht mehr schweigen. Ich mußte nunmehr weder verstecken, wozu ich fähig war, noch die Wunder verbergen, die ich auf dem Weg der >Tradition< zu vollbringen gelernt hatte. Von diesem Augenblick an war ich ein Mitbruder.
Ich hielt meine Hand ausgestreckt, um mein neues Schwert mit seinem schwarzroten Griff und seiner schwarzen Scheide zu ergreifen, das aus dem unzerstörbaren Stahl und aus dem Holz gemacht war, von denen die Erde sich nicht genährt hatte.
Doch als ich das Schwert an mich nehmen wollte und ich die Scheide berührte, machte der Meister einen Schritt nach vorn und trat mir so heftig auf die Finger, daß ich vor Schmerz aufschrie und meine Hände zurückzog.
Ich sah ihn an und wußte nicht, was ich davon halten sollte. Das seltsame Licht war verschwunden, und die Flammen ließen sein Gesicht wie eine Geistererscheinung wirken.
Er warf mir einen kalten Blick zu, rief meine Frau zu sich heran und übergab ihr das neue Schwert. Dann wandte er sich mit den folgenden Worten an mich:
«Zieh deine Hand zurück, denn sie klagt dich an! Der Weg der
>Tradition< ist nicht der Weg weniger Erwählter, sondern der Weg aller Menschen! Und die Macht, die du zu besitzen glaubst, wird wertlos, wenn du sie nicht mit anderen Menschen teilst! Du hättest das neue Sc hwert verweigern sollen. Wäre dein Herz rein gewesen, hättest du es erhalten. Doch wie ich schon befürchtet hatte, bist du im entscheidenden Augenblick gestrauchelt und gefallen. Wegen deiner Begehrlichkeit mußt du dich nun erneut auf die Suche nach deinem Schwert begeben. Wegen deines Hochmuts mußt du es nun unter den einfachen Menschen suchen. Und wegen deiner Verblendung durch die Wunder wirst du jetzt hart kämpfen müssen, um das wiederzuerlangen, was dir großzügig gegeben worden wäre.«
Mir war, als würde mir der Boden unter den Füßen weggezogen. Ich kniete noch immer da, sprachlos. Jetzt, wo ich mein altes Schwert der Erde übergeben hatte, konnte ich es nicht mehr zurückbekommen. Und da mir das neue verweigert worden war, stand ich nun wieder da wie am Anfang, macht-und schutzlos. Der Tag meiner himmlischen Weihe, die Gewalttätigkeit meines Meisters, der mir die Finger zertreten hatte, schickte mich zurück in die Welt des Hasses und der Erde.
Der Bergführer löschte das Feuer, und meine Frau kam zu mir, um mir beim Aufstehen zu helfen. Sie trug nun mein neues Schwert; nach den Regeln der >Tradition< durfte ich es ohne Erlaubnis meines Meisters nicht berühren. Wir gingen hinter der Laterne unseres Bergführers schweigend durch den Wald hinunter und gelangten schließlich zu dem Trampelpfad, an dem die Wagen geparkt waren.
Niemand hat sich von mir verabschiedet. Meine Frau legte das Schwert in den Kofferraum und warf den Motor an. Wir schwiegen eine geraume Weile, während sie langsam fuhr, um den Schlaglöchern und Buckeln auf dem Weg auszuweichen.
«Mach dir keine Sorgen«, sagte sie, um mir ein wenig Mut zu machen.»Ich bin sicher, daß du es wiederfinden wirst.«
Ich fragte sie, was der Meister zu ihr gesagt habe.
«Drei Dinge. Erstens, daß er etwas Warmes zum Anziehen hätte mitnehmen sollen, da es dort oben kälter war als vorgesehen. Zweitens, daß ihn dies alles nicht überrascht habe, weil es auch anderen schon passiert sei, die genausoweit gekommen waren wie du. Und drittens, daß dein Schwert dich an einer Stelle des Weges, den du gehen mußt, erwarten werde. Ich weiß weder das Datum noch die Stunde. Er hat mir nur den Ort genannt, an dem ich es verstecken soll, damit du es findest.«
«Und welcher Weg ist das?«fragte ich gereizt.
«Ach, das hat er nicht so genau gesagt. Er hat nur gesagt, daß du auf der Landkarte von Spanien einen Weg aus dem Mittelalter suchen sollst mit dem merkwürdigen Namen Jakobsweg.«