Und hier vereinigen sich alle Jakobswege zu einem einzigen.«
Es war noch früh am Morgen, als wir in Puente la Reina ankamen. Der Satz stand auf dem Sockel der Statue eines Pilgers in mittelalterlichem Gewand, mit einem Dreispitz, einem Umhang, den Kammuscheln, dem Stab und der Kalebasse in der Hand, und er erinnerte die Vorübergehenden an die Tradition eines Weges, die Petrus und ich wieder aufleben ließen.
Wir hatten die vorangegangene Nacht in einem der vielen Kloster verbracht, die entlang des Weges liegen. Der Bruder Pförtner hatte uns gleich zum Empfang darauf aufmerksam gemacht, daß innerhalb der Mauern dieser Abtei kein Wort gesprochen werden durfte. Ein junger Mönch führte jeden in seine Zelle, in der es nur das Notwendigste gab: ein hartes Bett, alte, aber saubere Bettücher, einen Wasserkrug und eine Schüssel für die persönliche Hygiene. Es gab kein fließendes Wasser, schon gar kein heißes, und die Essenszeiten waren innen an der Tür angeschlagen.
Zur angegebenen Stunde stiegen wir hinunter zum Refektorium. Wegen des Schweigegelübdes verständigten sich die Mönche nur mit Blicken, und ich hatte das Gefühl, daß ihre Augen strahlender waren als die gewöhnlicher Menschen. Das Abendessen wurde früh an langen Tischen serviert, an denen wir mit den Mönchen in ihren braunen Kutten saßen. Von seinem Platz aus machte mir Petrus ein Zeichen, das ich sehr wohl verstand: Er konnte es kaum erwarten, sich eine Zigarette anzuzünden, doch es sah so aus, als sollte er die ganze Nacht seinen Wunsch nicht befriedigen können. Mir ging es genauso, und ich grub den Fingernagel in die Nagelwurzel des Daumens, fast bis ins Fleisch. Der Augenblick war zu schön, um irgendwelche schmerzlichen Gefühle bei mir zuzulassen.
Das Abendessen wurde aufgetragen: Gemüsesuppe, Brot, Fisch und Wein. Alle beteten, und wir stimmten in ihr Gebet ein.
Während wir aßen, las der Bruder Vorleser mit monotoner Stimme Passagen aus dem I. Korintherbrief des heiligen Paulus.
«Sondern was töricht ist vor der Welt, das hat Gott erwählt, daß er die Weisen zuschanden mache; und was schwach ist vor der Welt, das hat Gott erwählt, daß er zuschanden mache, was stark ist«, sprach der Mönch mit leiser, gleichförmiger Stimme.
«Wir sind Narren um Christi willen. Wir sind stets wie ein Fluch der Welt und ein Fegopfer aller Leute. Aber das Reich Gottes steht nicht in Worten, sondern in Kraft.«
Paulus' Mahnungen an die Korinther hallten während der ganzen Mahlzeit an den nackten Wänden des Refektoriums wider.
Als wir in Puente la Reina anlangten, sprachen wir gerade über die Mönche der vergangenen Nacht. Ich gestand Petrus, daß ich heimlich, halbtot vor Angst, jemand könnte den Zigarettenrauch riechen, in meiner Zelle geraucht habe. Er lachte, und mir war klar, daß er das gleiche getan hatte.
«Johannes der Täufer ging in die Wüste, doch Jesus schloß sich den Sündern an und reiste sein ganzes Leben lang«, sagte er.»Mir ist das lieber. In der Tat hatte Jesus, die Zeit in der Wüste einmal ausgenommen, sein ganzes Leben unter Menschen verbracht. Zudem bestand sein erstes Wunder nicht darin, die Seele eines Menschen zu retten oder eine Krankheit zu heilen oder einen Dämon auszutreiben. Es bestand darin, bei einer Hochzeit, weil dem Hausherrn der Wein ausgegangen war, Wasser in einen ausgezeichneten Wein zu verwandeln.«
Kaum hatte er dies gesagt, da blieb Petrus so plötzlich stehen, daß ich ebenfalls erschreckt innehielt. Wir standen an der Brücke, die der kleinen Stadt ihren Namen gab. Petrus schaute jedoch nicht auf den Weg, sondern auf zwei Jungen, die am Ufer des Flusses mit einem Ball spielten. Sie mochten acht oder neun Jahre alt sein und schienen uns nicht bemerkt zu haben.
Anstatt über die Brücke zu gehen, stieg Petrus den Abhang zu den Jungen hinunter, und ich folgte ihm wie immer, ohne eine Frage zu stellen. Die Jungen hatten uns noch immer nicht bemerkt. Petrus setzte sich und schaute ihrem Spiel zu, bis der Ball ganz in seiner Nähe landete. Mit einer schnellen Bewegung nahm er den Ball und warf ihn mir zu. Ich hielt den Ball in der Luft und wartete auf das, was geschehen würde. Der ältere der beiden Jungen näherte sich mir. Meine erste Regung war, ihm dem Ball zurückzugeben, doch Petrus' Verhalten war so ungewöhnlich gewesen, daß ich beschloß abzuwarten, was nun geschehen würde.
«Geben Sie mir den Ball«, sagte der Junge.
Ich blickte auf die kleine Gestalt, die zwei Meter von mir entfernt stand. Irgend etwas kam mir an dem Jungen bekannt vor, so wie damals an dem Zigeuner.
Der Junge ließ nicht locker, doch als er merkte, daß ich ihm keine Antwort gab, bückte er sich und nahm einen Stein.
«Geben Sie mir den Ball, oder ich werfe diesen Stein«, sagte er.
Petrus und der Junge beobachteten mich schweigend. Die Aggressivität des Jungen ärgerte mich.
«Nun wirf ihn schon«, antwortete ich.»Wenn er mich trifft, kriegst du eine gelangt.«
Ich spürte, wie Petrus erleichtert aufatmete. Irgend etwas drängte aus den tiefsten Tiefen meines Geistes ins Bewußtsein.
Mir war so, als hätte ich diese Szene schon einmal erlebt.
Der Junge erschrak über meine Antwort, ließ den Stein fallen und versuchte es auf anderem Weg.
«Hier in Puente la Reina gibt es einen Reliquienschrein, der einem steinreichen Pilger gehört hat. An der Muschel sehe ich, daß Sie beide auch Pilger sind. Wenn Sie mir den Ball wiedergeben, gebe ich Ihnen den Reliquienschrein. Er ist hier am Ufer des Flusses im Sand versteckt.«
«Ich will den Ball haben«, sagte ich. Aber ganz überzeugt war ich nicht, denn im Grunde wollte ich durchaus den Reliquienschrein haben. Der Junge schien die Wahrheit zu sagen. Doch vielleicht brauchte Petrus den Ball für irgend etwas, und ich konnte ihn unmöglich enttäuschen. Schließlich war er mein Führer.
«Sie brauchen diesen Ball nicht«, sagte der Junge, fast mit Tränen in den Augen.»Sie sind stark und weitgereist. Sie kennen die Welt. Ich kenne nur das Ufer dieses Flusses, und mein einziges Spielzeug ist dieser Ball. Geben Sie mir bitte diesen Ball zurück.«
Die Worte des Jungen gingen mir ans Herz. Doch diese merkwürdige Vertrautheit, dieses Gefühl, alles schon einmal erlebt zu haben, ließ mich ein weiteres Mal widerstehen.
«Nein. Ich brauche den Ball. Ich werde dir Geld geben, damit du dir einen neuen, schöneren als den hier kaufen kannst. Aber dieser Ball gehört mir.«
Als ich dies gesagt hatte, schien die Zeit stillzustehen. Die Landschaft um mich herum veränderte sich, ohne daß Petrus seinen Daumen in meinen Nacken preßte. Es war so, als wären wir in eine ferne, graue Wüste versetzt worden. Weder Petrus noch der andere Junge war dort. Nur ich und der Junge vor mir, der jetzt älter war, sympathisch aussah, in dessen Augen jedoch etwas blitzte, das mir angst machte.
Diese Vision dauerte nicht länger als eine Sekunde. Im Augenblick darauf war ich wieder in Puente la Reina, wo sich viele Wege nach Santiago aus den verschiedensten Richtungen Europas zu einem Weg bündelten. Vor mir stand ein Junge, der mich um einen Ball bat und sanfte, traurige Augen hatte.
Petrus stand auf, nahm mir den Ball ab und gab ihn dem Jungen zurück.
«Wo ist der Reliquienschrein, den du mir versprochen hast?«
fragte Petrus den Jungen.
«Was für ein Reliquienschrein?«entgegnete der Junge, während er seinen Freund bei der Hand nahm, von uns weglief und ins Wasser sprang.
Wir stiegen den Steilhang wieder hinauf und gingen nun über die Brücke. Ich begann Petrus Fragen zu dem zu stellen, was eben geschehen war, erzählte ihm von der Wüste, doch Petrus wechselte das Thema und sagte, wir könnten darüber reden, wenn wir etwas weiter weg wären.
Eine halbe Stunde später gelangten wir an einen Teil des Weges, auf dem noch Reste des alten römischen Pflasters vorhanden waren. Dort gab es eine weitere, verfallene Brücke.
Wir setzten uns, um das Frühstück zu uns zu nehmen, das uns die Mönche mitgegeben hatten: Roggenbrot, Joghurt und Ziegenkäse.
«Weshalb wolltest du unbedingt den Ball des Jungen haben?«
fragte Petrus.
Ich entgegnete, daß ich den Ball gar nicht hätte haben wollen.
Daß ich so gehandelt hätte, weil er, Petrus, sich so merkwürdig verhalten habe. Als wäre der Ball für ihn etwas sehr Wichtiges.
«Und das war er in der Tat. Er hat ermöglicht, daß du siegreich aus dem Kampf mit deinem persönlichen Dämon hervorgehen konntest.«
Mein persönlicher Dämon? So etwas Absurdes hatte ich auf der ganzen Wanderung noch nicht gehört. Sechs Tage lang war ich kreuz und quer durch die Pyrenäen gelaufen, hatte einen Pater kennengelernt, der zwar Hexer war, aber nicht gehext hatte, und mein Finger war völlig wund, weil ich immer, wenn ich etwas für mich Schmerzliches dachte — Hypochondrisches, Schuldgefühle, Minderwertigkeitskomplexe — , den Fingernagel in meine Wunde hatte graben müssen. Was das betraf, da hatte Petrus recht: Meine negativen Gedanken waren entschieden weniger geworden. Doch diese Geschichte von meinem persönlichen Dämon schien mir doch etwas merkwürdig. Und ich würde das auch so schnell nicht glauben.
«Heute, bevor wir über die Brücke gingen, fühlte ich die Gegenwart von jemandem, der uns warnen wollte. Doch die Warnung galt eher dir denn mir. Ein Kampf würde sich schon bald ereignen, und es war an dir, den guten Kampf zu führen.
Kennt man seinen persönlichen Dämon nicht, offenbart er sich für gewöhnlich in der nächstbesten Person. Ich schaute um mich und sah unten die Jungen spielen. Und ich folgerte daraus, daß er dir dort eine Warnung geben würde. Doch es war nur eine Ahnung. Gewißheit, daß es dein persönlicher Dämon war, hatte ich erst in dem Augenblick, als du dich geweigert hast, den Ball zurückzugeben.«
Ich sagte ihm, ich hätte das nur getan, weil ich dachte, er wolle es so.
«Wieso ich? Ich habe zu keinem Zeitpunkt auch nur ein Wort gesagt.«
Mir wurde leicht schwindelig. Vielleicht lag es am Essen, das ich zu schnell in mich hineingestopft hatte, nachdem wir fast eine Stunde mit nüchternem Magen gewandert waren.
Gleichzeitig wurde ich dieses Gefühl nicht los, daß ich den Jungen irgendwie kannte.
«Dein persönlicher Dämon hat es auf die drei klassischen Methoden versucht: Er hat dir gedroht, er hat dir etwas versprochen, und er hat deine empfindliche Seite getroffen.
Meinen Glückwunsch, du hast mit Bravour widerstanden.«
Jetzt erinnerte ich mich daran, daß Petrus den Jungen nach dem Reliquienschrein gefragt hatte. Damals hatte ich gedacht, daß der Junge versucht hatte, mich zu betrügen. Doch es mußte tatsächlich dort einen verborgenen Reliquienschrein geben, denn ein Dämon macht niemals falsche Versprechungen.
«Der Junge konnte sich nicht an den Reliquienschrein erinnern, weil dein persönlicher Dämon bereits verschwunden war.«
Und ohne zu zögern, sagte er:
«Du mußt ihn jetzt bitten wiederzukommen. Du wirst ihn brauchen.«
Wir saßen auf der alten verfallenen Brücke. Petrus sammelte sorgfältig die Speisereste zusammen und steckte sie in die Papiertüte, die uns die Mönche gegeben hatten. Auf dem Feld vor uns begannen die Bauern von der Arbeit zurückzukommen, doch sie waren noch so weit von uns entfernt, daß man nicht hören konnte, was sie sagten. Das Gelände war hügelig, und die bestellten Äcker bildeten in der Landschaft geheimnisvolle Muster. Der von der Dürre fast ausgetrocknete Bach unter uns floß beinahe lautlos dahin.
«Bevor er in die Welt ging, sprach Jesus in der Wüste mit seinem persönlichen Dämon«, begann Petrus.»Er lernte von ihm, was er über den Menschen wissen mußte, doch er ließ nicht zu, daß der Dämon die Spielregeln aufstellte, und so besiegte er ihn.
Ein Dichter hat irgendwann einmal gesagt, daß kein Mensch eine Insel sei. Um den guten Kampf zu führen, brauchen wir Hilfe. Wir brauchen Freunde, und wenn gerade keine Freunde bei uns sind, müssen wir die Einsamkeit zu unserer wichtigsten Waffe machen. Alles, was uns umgibt, muß uns helfen, die notwendigen Schritte auf unser Ziel hin zu tun. Alles muß eine persönliche Manifestation unseres Willens sein, den guten Kampf zu gewinnen, andernfalls werden wir zu hochmütigen Kriegern. Und unser Hochmut wird uns am Ende besiegen, weil wir unserer selbst so sicher sind, daß wir den Hinterhalt auf dem Schlachtfeld nicht bemerken werden.«
Die Geschichte mit den Kriegern und den Kämpfen erinnerte mich erneut an Don Juan von Carlos Castaneda. Ich fragte mich, ob der alte indianische Hexer seine Lektionen morgens erteilte, bevor sein Schüler sein erstes Frühstück verdaut hatte.
Doch Petrus fuhr fort.
«Neben den physischen Kräften, die uns umgeben und helfen, gibt es zwei bedeutende spirituelle Kräfte an unserer Seite: einen Engel und einen Dämon. Der Engel beschützt uns immer, und er ist ein Geschenk Gottes. Man braucht ihn nicht zu rufen.
Das Antlitz deines Engels wird immer sichtbar sein, wenn du die Welt mit offenem Blick betrachtest. Es ist dieser Bach, die Bauern auf dem Feld, dieser blaue Himmel. Diese alte Brücke, die uns hilft, das Wasser zu überqueren, und die hier von den Händen namenloser römischer Legionäre errichtet wurde, auch diese Brücke ist das Antlitz deines Engels. Unsere Großeltern nannten ihn Schutzengel.
Auch der Dämon ist ein Engel, doch er ist eine freie, rebellische Kraft. Ich nenne ihn lieber den Boten, denn er ist die Hauptverbindung zwischen uns und der Welt. In der Antike wurde er durch Merkur dargestellt, durch Hermes Trismegistos, den Götterboten. Er agiert nur auf der materiellen Ebene. Er ist im Gold der Kirche, weil das Gold aus der Erde, seinem Herrschaftsbereich, stammt. Er ist in unserer Arbeit und in unserer Beziehung zum Geld. Wenn er frei und ungebunden ist, hat er die Tendenz, sich zu zersplittern. Treiben wir ihn aus, verlieren wir all das Gute, was wir von ihm lernen können, denn er kennt die Welt und die Menschen. Sind wir von seiner Macht zu sehr angezogen, ergreift er Besitz von uns und hält uns vom guten Kampf ab.
Daher ist die einzig richtige Art, mit unserem Boten umzugehen, ihn zu unserem Freund zu machen, seinen Rat anzuhören und um seine Hilfe zu bitten, wenn wir sie brauchen. Doch wir dürfen nie zulassen, daß er uns seine Regeln aufzwingt. So wie du es mit dem Jungen getan hast. Dazu mußt du allerdings genau wissen, was du willst. Dann erst wirst du sein Antlitz sehen und seinen Namen erfahren.«
«Und wie erfahre ich den?«fragte ich.
Da lehrte Petrus mich das Ritual des Boten.
«Mache es am besten abends, weil es dann einfacher ist.
Heute, bei seiner ersten Begegnung mit dir, wird er dir seinen Namen enthüllen. Dieser Name ist ein Geheimnis, und niemand darf ihn erfahren, nicht einmal ich. Wer den Namen deines Boten kennt, kann ihn zerstören.«
Petrus erhob sich, und wir machten uns wieder auf den Weg.
Es dauerte nicht lange, da waren wir an dem Feld angelangt, das die Bauern bestellten. Wir wechselten einige» Buenos dias «mit ihnen und gingen weiter.
«Wenn ich es bildlich darstellen wollte, würde ich sagen, daß der Engel deine Rüstung und der Bote dein Schwert ist. Eine Rüstung schützt jederzeit, doch ein Schwert kann inmitten der Schlacht zu Boden fallen, einen Freund töten oder sich gegen seinen Besitzer wenden. Im übrigen dient ein Schwert für fast alles, nur darauf setzen kann man sich nicht«, sagte er und fing laut an zu lachen. Wir machten zum Mittagessen in einem Dorf halt. Der junge Mann, der uns bediente, hatte sichtlich schlechte Laune. Er antwortete nicht auf unsere Fragen, knallte uns das Essen auf den Tisch, und am Ende schaffte er es sogar noch, etwas Kaffee auf Petrus' Bermudas zu schütten. Ich erlebte dann staunend, wie mein Führer sich veränderte: Wütend rief er den Wirt und beschwerte sich laut über die Ungehörigkeit des jungen Mannes. Schließlich ging er in den Waschraum, um sein zweites Paar Bermudas anzuziehen, wahrend der Wirt den Kaffeefleck auswusch und die alte Hose zum Trocknen aufhängte.
Während wir darauf warteten, daß die Mittagssonne ihre Pflicht tat und Petrus' Bermudas trocknete, dachte ich über alles nach, was wir am Vormittag geredet hatten. In der Tat machte alles, was Petrus über den Jungen gesagt hatte, Sinn. Zudem hatte ich die Vision einer Wüste und eines Gesichtes gehabt. Doch diese Geschichte vom Boten erschien mir nun doch etwas archaisch. Wir befanden uns mitten im 20. Jahrhundert, und Begriffe wie Hölle, Sünde und Dämon waren für jeden halbwegs intelligenten Menschen sinnentleert. Innerhalb der
>Tradition<, deren Lehren ich sehr viel länger gefolgt war als dem Jakobsweg, war der Bote, der hier (völlig wertfrei) Dämon genannt wurde, ein Geist, der die Kräfte der Erde beherrschte und immer auf seiten des Menschen stand. Man bedient sich seiner häufig bei magischen DAS RITUAL DES BOTEN
1. Setze dich nieder und entspanne dich vollkommen. Lasse deine Gedanken schweifen, wohin sie wollen. Nach einer Weile beginne dir selbst immer wieder zu sagen:»Ich hin jetzt ganz entspannt, und meine Augen schlafen den Schlaf der Welt.«
2. Wenn du spürst, daß dein Geist sich mit nichts mehr beschäftigt, stelle dir eine Feuersäule zu deiner Rechten vor.
Lasse die Flammen lodern und strahlen. Dann sage leise:»Ich befehle meinem Unterbewußtsein, sich zu manifestieren. Es möge sich mir öffnen und seine magischen Geheimnisse preisgeben.» Warte ein bißchen und konzentriere dich dabei nur auf die Feuersäule. Taucht irgendein Bild auf, dann ist es eine Manifestation deines Unterbewußtseins. Versuche es zu behalten.
3. Lasse die Feuersäule zu deiner Rechten weiter bestehen und fange dann an, dir eine weitere Feuersäule zu deiner Linken vorzustellen. Wenn die Flammen lodern, sage leise folgende Worte:»Möge die Kraft des Lammes, die sich in allen und in allem manifestiert, sich auch in mir manifestieren, während ich meinen Boten rufe. [Name des Boten] erscheine mir jetzt.«
4. Rede mit deinem Boten, der sich zwischen beiden Säulen zeigen wird. Besprich mit ihm ein bestimmtes Problem, bitte ihn um Rat, und gib ihm die notwendigen Anweisungen.
5. Ist euer Gespräch zu Ende, verabschiede den Boten mit folgenden Worten: «Ich danke dem Lamm für das Wunder, das ich getan habe. Möge [Name des Boten] immer wiederkehren, wenn ich ihn rufe, und wenn er fern ist, möge er mir helfen, mein Werk zu vollbringen.«
Anmerkung: Bei der ersten Anrufung beziehungsweise den ersten Anrufungen — und das richtet sich nach der Konzentrationsfähigkeit dessen, der das Ritual vollführt — soll der Name des Boten nicht genannt werden. Sage nur» er«.
Wird das Ritual richtig durchgeführt, sollte der Bote seinen Namen sofort durch Telepathie enthüllen. Falls dies nicht geschieht, gib nicht auf, bis du seinen Namen erfährst. Erst dann beginnt das Gespräch. Je häufiger das Ritual wiederholt wird, desto stärker wird die Anwesenheit des Boten sein, und desto schneller wird er handeln. Handlungen, doch nie als eines Verbündeten oder Ratgebers in Alltagsdingen.
Petrus hatte mir zu verstehen gegeben, daß ich die Freundschaft des Boten benutzen könnte, um in meiner Arbeit und in der Welt voranzukommen. Ganz abgesehen davon, daß diese Vorstellung profan war, erschien sie mir zudem noch kindlich.
Doch ich hatte bei Madame Savin vollkommenen Gehorsam geschworen. Und wieder einmal mußte ich den Fingernagel in den Daumen graben, der inzwischen eine offene Wunde war.
«Ich hätte mich nicht aufregen dürfen«, sagte Petrus, kaum daß wir hinausgegangen waren.»Schließlich hatte er den Kaffee nicht auf mich, sondern auf die Welt gekippt, die er haßt. Er weiß, daß es jenseits der Grenzen seiner Vorstellung eine riesige Welt gibt, und seine Teilhabe an dieser Welt besteht darin, daß er früh aufsteht, zum Bäcker geht, den bedient, der gerade kommt, und nachts onaniert und dabei von Frauen träumt, die er nie kennenlernen wird.«
Es war Zeit, für eine Siesta haltzumachen, doch Petrus beschloß weiterzugehen. Er meinte, dies sei eine Art Buße für seine Intoleranz. Ich, der nichts getan hatte, mußte ihn unter der sengenden Sonne begleiten. Ich dachte an den guten Kampf und an die Millionen Menschen, die in diesem Augenblick überall auf dem Planeten Dinge taten, die ihnen nicht gefielen. Die Übung des Schmerzes tat mir, obwohl mein Finger inzwischen eine einzige Wunde war, sehr gut. Sie hatte mich begreifen lassen, wie verräterisch mein Geist sein konnte, der mich dazu brachte, Dinge zu tun, die ich nicht mochte, und Gefühle zu haben, die mir nicht halfen.
Und in diesem Augenblick wünschte ich mir, daß Petrus recht haben möge und es wirklich einen Boten gab, mit dem ich über ganz praktische Dinge reden und den ich bei Angelegenheiten, die mein weltliches Leben betrafen, um Hilfe bitten konnte.
Ungeduldig erwartete ich den Abend.
Petrus hingegen hörte nicht auf, über den jungen Mann zu reden. Am Ende war er jedoch davon überzeugt, daß er richtig gehandelt hatte, und führte dafür wieder einmal ein christliches Argument ins Feld.
«Christus vergab der Ehebrecherin, doch er verfluchte den Feigenbaum, der keine Feigen geben wollte. Ich kann auch nicht immer nett sein.«
Schluß, aus. Für ihn war die Sache erledigt. Wieder einmal hatte ihn die Bibel gerettet.
Wir kamen erst gegen neun in Estella an. Ich nahm ein Bad, und anschließend gingen wir hinunter zum Abendessen. Der Autor des ersten Führers der Rota Jacobea, Aymeric Picaud, hatte Estella als einen» fruchtbaren Ort mit gutem Brot, vorzüglichem Wein, Fleisch und Fisch «beschrieben.»Sein Rio Ega führt süßes, gesundes und sehr gutes Wasser. «Das Wasser habe ich zwar nicht getrunken, doch was die Speisen betraf, so hatte Picaud auch heute, nach acht Jahrhunderten, noch recht. Uns wurden eine im Ofen gebackene Lammschulter, Artischockenherzen und ein ausgezeichneter Riojawein serviert. Wir saßen lange bei Tisch, unterhielten uns über Belangloses und genossen den Wein. Schließlich sagte Petrus, für mich sei jetzt der rechte Augenblick gekommen, ein erstes Mal in Kontakt mit dem Boten zu treten.
Wir standen vom Tisch auf und begannen durch die Straßen der Stadt zu gehen. Einige Gassen führten geradewegs zum Fluß, und am Ende einer dieser Gassen beschloß ich, mich niederzusetzen. Petrus wußte, daß ich von nun an das Ritual allein vollziehen würde, und blieb etwas zurück.
Ich schaute lange auf den Fluß. Sein Fließen und Rauschen begannen, mich von der Welt zu lösen, und flößten mir eine tiefe Ruhe ein. Ich schloß die Augen und stellte mir die erste Feuersäule vor. Zunächst war es etwas schwierig, doch dann erschien sie.
Ich sprach die rituellen Worte, und eine weitere Säule erschien zu meiner Linken. Der vom Feuer erleuchtete Raum zwischen beiden Säulen war leer. Ich starrte eine geraume Weile auf diesen Raum, versuchte, an nichts zu denken, damit sich der Bote manifestierte. Doch nichts dergleichen geschah. Im Gegenteil, es tauchten exotische Szenarien auf: der Eingang einer Pyramide, eine in pures Gold gekleidete Frau, einige schwarzhäutige Männer, die um ein Feuer tanzten. Die Bilder wechselten schnell, und ich ließ sie einfach fließen. Es erschienen auch viele Abschnitte des Jakobsweges, die ich mit Petrus zurückgelegt hatte. Landschaften, Restaurants, Wälder.
Bis sich unvermittelt die graue Wüste, die ich bereits am Morgen gesehen hatte, zwischen den beiden Feuersäulen erstreckte. Und dort stand der sympathische Mann und blickte mich mit einem verräterischen Blitzen in den Augen an.
Er lächelte, und ich lächelte in meiner Trance zurück. Er zeigte mir eine geschlossene Tasche, öffnete sie dann und sah hinein.
Doch von da, wo ich saß, konnte ich nichts sehen. Dann fiel mir ein Name ein: Astrain. Ich prägte mir diesen Namen ein und ließ ihn zwischen den beiden Feuersäulen vibrieren, und der Bote nickte mit dem Kopf. Ich hatte herausgefunden, wie er hieß.
Der Augenblick war gekommen, das Ritual zu beenden. Ich sprach die rituellen Worte und löschte die Feuersäulen, erst die linke, dann die rechte. Ich öffnete die Augen, und vor mir lag der Rio Ega.
«Es war sehr viel einfacher, als ich mir vorgestellt hatte«, sagte ich zu Petrus, und dann erzählte ich ihm alles, was ich zwischen den Säulen gesehen hatte.
«Dies war deine erste Begegnung. Eine Begegnung des gegenseitigen Erkennens und gegenseitiger Freundschaft. Das Gespräch mit dem Boten wird fruchtbar sein, wenn du ihn täglich rufst und deine Probleme mit ihm besprichst und immer genau zu unterscheiden weißt zwischen dem, was eine wirkliche Hilfe, und dem, was eine Falle ist. Halte immer dein Schwert gezückt, wenn du ihn triffst.«
«Aber ich habe mein Schwert doch noch gar nicht«, wandte ich ein.
«Daher kann er dir nicht viel Böses antun. Dennoch solltest du auf der Hut sein. «Das Ritual war zu Ende, ich verabschiedete mich von Petrus und ging zum Hotel zurück. Als ich im Bett lag, dachte ich an den armen Kerl, der uns das Mittagessen serviert hatte. Ich wäre am liebsten wieder zurückgegangen und hätte ihm das Ritual des Boten beigebracht und ihm gesagt, daß er alles ändern könne, wenn er nur wolle. Doch es war nutzlos zu versuchen, die ganze Welt zu retten. Hatte ich doch noch nicht einmal geschafft, mich selbst zu retten.