«Geht es dir gut, Snow?«fragte Lord Mormont finsteren Blickes.
«Naja«, krächzte sein Rabe.»Naja.«
«Ja, Mylord«, log Jon… laut, als könne er es dadurch zur Wahrheit machen.»Und Euch?«
Mormont legte die Stirn in Falten.»Ein Toter hat versucht, mich zu ermorden. Wie gut kann es einem da gehen?«Er kratzte sich unterm Kinn. Sein zottig grauer Bart war im Feuer versengt, und er hatte ihn abgeschnitten. Die blassen Stoppel seines neuen Backenbartes ließen ihn alt wirken, verrufen und verdrießlich.»Du siehst nicht gut aus. Was macht deine Hand?«
«Heilt. «Jon spannte die bandagierten Finger, um es ihm zu zeigen. Er hatte sich übler verbrannt, als ihm bewußt war, beim Löschen mit den brennenden Vorhängen, und seine rechte Hand war bis zum Ellbogen mit Seide verbunden. Während des Feuers hatte er nichts gespürt, der Schmerz war erst viel später gekommen. Aus seiner aufgeplatzten, roten Haut sickerte Wundflüssigkeit, und gräßliche Blutblasen wuchsen, groß wie Kakerlaken, zwischen den Fingern.»Der Maester sagt, ich werde Narben zurückbehalten, aber ansonsten müßte die Hand wieder so werden, wie sie war.«
«Eine vernarbte Hand ist nicht schlimm. Auf der Mauer trägst du ohnehin meist Handschuhe.«
«Wenn Ihr es sagt, Mylord. «Doch nicht der Gedanke an Narben bereitete Jon Sorgen. Maester Aemon hatte ihm Mohnblumensaft gegeben, trotzdem waren die Schmerzen grauenvoll gewesen. Anfangs hatte es sich angefühlt, als stünde seine Hand noch in Flammen und brannte Tag und Nacht. Nur wenn er sie in ein Becken voller Schnee oder gekratztem Eis steckte, gab es für ihn Linderung. Jon dankte den Göttern, daß nur Ghost ihn sah, wie er sich auf dem Bett wälzte und vor Schmerzen wimmerte. Und wenn er dann doch schlief, träumte er, und das war noch schlimmer. Im Traum hatte die Leiche, mit welcher er gerungen hatte, blaue Augen, schwarze Hände und das Gesicht seines Vaters, doch wagte er nicht, Lord Mormont davon zu erzählen.
«Dywen und Hake sind gestern abend heimgekehrt«, sagte der Alte Bär.»Sie haben keine Spur von deinem Onkel gefunden, ebensowenig wie die anderen.«
«Ich weiß. «Jon hatte sich in den Gemeinschaftssaal geschleppt, um mit seinen Freunden zu speisen, und die ergebnislose Suche der Grenzwachen war das einzige gewesen, worüber sich die Männer unterhalten hatten.
«Du weißt es«, grummelte Mormont.»Wie kommt es, daß hier immer jeder alles weiß?«Er schien keine Antwort zu erwarten.»Offensichtlich waren nur zwei dieser… dieser Kreaturen hier, was immer sie gewesen sein mögen, ich will sie nicht als Menschen bezeichnen. Und den Göttern sei Dank dafür! Noch mehr davon und… nun, es wäre gar nicht auszudenken. Aber es werden noch mehr von ihnen kommen. Ich kann es in meinen alten Knochen spüren, und Maester Aemon gibt mir recht. Kalter Wind kommt auf. Der Sommer geht zu Ende, und ein Winter steht bevor, wie ihn die Welt noch nicht gesehen hat.«
Der Winter naht. Nie zuvor hatten die Worte der Starks in Jons Ohren so bitter und unheilvoll geklungen wie jetzt.»Mylord«, fragte er zögerlich,»es heißt, gestern abend sei ein Vogel eingetroffen… «
«Das stimmt. Was ist damit?«
«Ich hatte gehofft, er hätte Nachricht von meinem Vater gebracht.«
«Vater«, höhnte der alte Rabe und nickte mit dem Kopf, während er auf Mormonts Rücken von einer Schulter zur anderen lief.»Vater.«
Der Lord Commander langte nach oben, um dem Vogel den Schnabel zu schließen, doch der Rabe hüpfte ihm auf den Kopf, flatterte mit den Flügeln, flog durch die Kammer und landete über einem Fenster.»Kummer und Lärm«, murmelte Mormont.»Das ist alles, wozu sie gut sind, Raben. Was gebe ich mich mit diesem abscheulichen Vogel ab… wenn es Nachricht von Lord Eddard gäbe, glaubst du nicht, ich hätte dich rufen lassen? Bastard oder nicht, schließlich bist du sein Fleisch und Blut. Die Nachricht betraf Ser Barristan Selmy. Anscheinend hat man ihn aus der Königsgarde entlassen. Seinen Posten haben sie diesem schwarzen Hund Clegane gegeben, und nun wird Selmy wegen Hochverrats gesucht. Die Narren haben ein paar Wachleute geschickt, ihn zu ergreifen, aber er hat zwei von ihnen erschlagen und ist entkommen. «Mormont schnaubte, ließ keinen Zweifel an seiner Meinung zu Leuten, die Goldröcke gegen einen so berühmten Ritter wie Barristan den Kühnen aussandten.»Wir haben weiße Schatten in den Wäldern, rastlose Tote schleichen durch unsere Hallen, und ein kleines Kind sitzt auf dem Eisernen Thron«, sagte er angewidert.
Der Rabe lachte schrill.»Kind, Kind, Kind, Kind.«
Ser Barristan war die große Hoffnung des Alten Bären gewesen, wie sich Jon erinnerte. Wenn er gestürzt war, welche Hoffnung gab es noch, daß man Mormonts Brief Beachtung schenken würde? Jon ballte die Hand zur Faust. Schmerz fuhr durch seine verbrannten Finger.»Was ist mit meinen Schwestern?«
«In der Nachricht wurden weder Lord Eddard noch die Mädchen erwähnt. «Verärgert zuckte er mit den Schultern.»Vielleicht haben sie meinen Brief niemals bekommen. Aemon hat zwei Abschriften geschickt mit seinen besten Vögeln, aber wer kann es schon sagen? Wahrscheinlicher ist, daß Pycelle sich nicht dazu herabgelassen hat zu antworten. Es wäre nicht das erste Mal, und es wird auch nicht das letzte Mal gewesen sein. Ich fürchte, in King's Landing sind wir weniger als nichts wert. Sie teilen uns mit, was sie uns wissen lassen wollen, und das ist wenig genug.«
Und Ihr sagt mir, was Ihr mich wissen lassen wollt, und das ist noch weniger, dachte Jon ärgerlich. Sein Bruder Robb hatte zu den Fahnen gerufen und war nach Süden in den Krieg geritten, doch hatte man ihm kein Wort davon gesagt… nur Samwell Tarly, der Maester Aemon den Brief vorgelesen hatte, hatte Jon dessen Inhalt noch am selben Abend heimlich zugeraunt, wobei er die ganze Zeit über beteuerte, er sollte das eigentlich nicht tun. Zweifellos meinten sie, seines Bruders Krieg sei nicht seine Sache. Es besorgte ihn mehr, als er zu sagen vermochte. Robb marschierte und er nicht. Sooft sich Jon auch einredete, sein Platz sei jetzt hier bei seinen neuen Brüdern auf der Mauer, fühlte er sich dennoch wie ein Feigling.
«Korn«, schrie der Rabe.»Korn, Korn.«
«Ach, sei still«, erwiderte der Alte Bär.»Snow, was sagt Maester Aemon, wann du deine Hand wieder benutzen kannst?«»Bald«, gab Jon zurück.
«Gut. «Auf den Tisch zwischen ihnen legte Lord Mormont ein großes Schwert in einer schwarzen silbereingefaßten Scheide aus Metall.»Hier. Dann wirst du dafür bald bereit sein.«
Der Rabe flatterte herab und landete auf dem Tisch, stakste zu dem Schwert, den Kopf neugierig geneigt. Jon zögerte. Er hatte keine Ahnung, was das bedeuten sollte.»Mylord?«
«Die Flammen haben das Silber vom Knauf geschmolzen und Handschutz und Griff versengt. Na ja, trockenes Leder und altes Holz, was kann man da erwarten? Die Klinge, nun… man brauchte ein Feuer, das hundertmal so heiß wäre, damit es der
Klinge etwas anhaben könnte. «Mormont schob die Scheide über die groben Eichenplanken.»Den Rest habe ich erneuern lassen. Nimm es.«
«Nimm es«, tönte sein Rabe und putzte sich.»Nimm es, nimm es.«
Unbeholfen ergriff Jon das Schwert. Mit der Linken. Seine bandagierte Hand war noch zu wund. Vorsichtig zog er das Schwert aus seiner Scheide und hob es auf Augenhöhe.
Der Knauf war ein großes Stück von hellem Stein, mit Blei beschwert, um die lange Klinge auszubalancieren. Ein knurrender Wolf war hineingeschnitzt, Granatsplitter bildeten die Augen. Der Griff war mit unberührtem Leder bezogen, weich und schwarz und noch unbefleckt von Schweiß oder Blut. Die Klinge selbst war einen guten halben Fuß länger als jene, mit denen Jon vertraut war, so zugespitzt, daß man stoßen wie auch schlagen konnte. Wenn Ice ein wahres, beidhändiges Großschwert war, dann war dieses ein Anderthalbhänder, was man manchmal als» Bastardschwert «bezeichnete. Trotzdem wirkte es leichter als alle Klingen, die er je geschwungen hatte. Jon wendete sie seitlich und konnte die Wellen im dunklen Stahl erkennen, wo das Metall wieder und wieder mit sich selbst gefaltet worden war.»Es ist valyrischer Stahl, Mylord«, sagte er verwundert. Oft genug hatte sein Vater ihn Ice halten lassen. Er wußte, wie es aussah, wie es sich anfühlte.
«Das stimmt«, erklärte der Alte Bär.»Es war das Schwert meines Vaters und dessen Vaters vor ihm. Die Mormonts tragen es seit fünf Jahrhunderten. Ich habe es zu meiner Zeit geschwungen und an meinen Sohn weitergereicht, als ich das Schwarz anlegte.«
Er gibt mir das Schwert seines Sohnes. Jon konnte es kaum fassen. Die Klinge war wunderbar ausgewogen. Die Schneiden glitzerten leicht, als das Licht sie küßte.»Euer Sohn…«
«Mein Sohn hat dem Hause Mormont Schande gemacht, aber zumindest hatte er Anstand genug, das Schwert zurückzulassen, als er geflohen ist. Meine Schwester hat es in meine Obhut zurückgegeben, aber der bloße Anblick hat mich stets an Jorahs Schande erinnert, also habe ich es beiseite gelegt und nicht mehr daran gedacht, bis wir es in der Asche meiner Schlafkammer fanden. Ursprünglich war der Knauf ein Bärenkopf aus Silber, wenn auch so abgewetzt, daß seine Züge kaum noch zu erkennen waren. Für dich fand ich einen weißen Wolf weit passender. Einer unserer Baumeister ist ein ganz guter Steinschnitzer.«
Als Jon in Brans Alter gewesen war, hatte er — wie alle Jungen — davon geträumt, große Taten zu vollbringen. Die Einzelheiten seiner Heldentaten wechselten mit jedem Traum, doch oft genug stellte er sich vor, er würde seinem Vater das Leben retten. Danach würde Lord Eddard erklären, daß sich Jon als wahrer Stark erwiesen habe, und Ice in seine Hände legen. Selbst damals schon hatte er gewußt, daß es kindisch war. Kein Bastard konnte je erhoffen, das Schwert seines Vaters zu schwingen. Der bloße Gedanke daran beschämte ihn. Was war das für ein Mann, der seinem eigenen Bruder das Geburtsrecht nahm? Ich habe kein Recht darauf, dachte er, ebensowenig wie auf Ice, Er zuckte mit seinen verbrannten Fingern, spürte den Schmerz tief unter seiner Haut pulsieren.»Mylord, Ihr ehrt mich, aber…«
«Erspare mir dein aber, Junge«, unterbrach ihn Lord Mormont.»Wenn du und dieses Vieh, das du dein eigen nennst, nicht wären, würde ich hier nicht mehr sitzen. Du hast tapfer gekämpft… und was noch wichtiger ist: Du hast schnell und mit Verstand gehandelt. Feuer! Ja, verdammt. Wir hätten es wissen sollen. Wir hätten uns erinnern sollen. Schon früher hat es eine Lange Nacht gegeben. Oh, achttausend Jahre sind eine ganze Weile, sicher… nur wenn sich die Nachtwache nicht erinnert, wer dann?«
«Wer dann«, stimmte der redselige Rabe mit ein.»Wer dann. «Wahrlich, die Götter hatten Jons Gebet in jener Nacht erhört. Das Feuer hatte die Kleider des Mannes ergriffen und ihn verzehrt, als wäre sein Fleisch aus Kerzenwachs und seine Knochen wären altes, trockenes Holz. Jon mußte nur die Augen schließen, wenn er sehen wollte, wie dieses Ding durch das Solar taumelte, gegen die Möbel stieß und nach den Flammen schlug. Es war das Gesicht, das ihm am meisten zusetzte. Umrahmt von einem Lichterkranz aus Feuer, das Haar flackernd wie Stroh, das tote Fleisch, es schmolz dahin, löste sich vom Schädel und legte den schimmernden Knochen darunter frei.
Welch dämonische Macht Othor angespornt haben mochte, sie war vom Feuer ausgetrieben worden. Das verdrehte Ding, das sie in der Asche gefunden hatten, war nicht mehr als gekochtes Fleisch und verkohlte Knochen gewesen. Doch in seinem Alptraum sah er sich dem Wesen wieder gegenüber… und diesmal trug die brennende Leiche Lord Eddards Züge. Es war die Haut seines Vaters, die platzte und schwarz wurde, es waren die Augen seines Vaters, flüssig wie gallertartige Tränen. Jon verstand nicht, wieso es so sein sollte oder was es vielleicht zu bedeuten hatte, aber es ängstigte ihn mehr, als er ausdrücken konnte.
«Ein Schwert ist nur ein geringer Gegenwert für ein Leben«, schloß Mormont.»Nimm es, und ich will nichts mehr davon hören, hast du mich verstanden?«
«Ja, Mylord. «Der weiche Ledergriff fühlte sich unter Jons Fingern an, als formte sich das Schwert bereits nach seiner Hand. Er wußte, daß er sich geehrt fühlen sollte, und das tat er auch, und doch…
Er ist nicht mein Vater. Der Gedanke sprang Jon ungebeten in den Sinn. Lord Eddard Stark ist mein Vater. Ich werde ihn nicht vergessen, so viele Schwerter man mir auch schenken mag. Dennoch konnte er Lord Mormont kaum erzählen, daß er vom Schwert eines anderen träumte…
«Ich will auch keine Höflichkeiten«, sagte Mormont,»also spar mir deinen Dank. Ehre den Stahl mit Taten, nicht mit Worten.«
Jon nickte.»Hat es einen Namen, Mylord?«
«Früher einmal. Longclaw wurde es genannt.«
«Claw«, schrie der Rabe.»Claw.«
«Longclaw ist ein passender Name. «Jon versuchte einen Hieb. Er war unbeholfen und fühlte sich nicht wohl mit seiner linken Hand, und dennoch schien der Stahl durch die Luft zu gleiten, als folgte er seinem eigenen Willen.»Wölfe haben Klauen, ebenso wie Bären.«
Dieser Gedanke schien dem Alten Bären zu gefallen.»Das haben sie wohl. Ich denke, du wirst es um deine Schulter tragen wollen. Für die Hüfte ist es zu lang, zumindest bis du ein paar Daumenbreit zugelegt hast. Und du wirst auch an deinen beidhändigen Hieben arbeiten müssen. Ser Endrew kann dir ein paar Schritte zeigen, wenn deine Verbrennungen geheilt sind.«
«Ser Endrew?«Jon kannte den Namen nicht.
«Ser Endrew Tarth, ein guter Mann. Er ist auf dem Weg vom Shadow Tower hierher, um bei uns als Waffenmeister Dienst zu tun. Ser Alliser Thorne hat sich gestern morgen auf den Weg nach Eastwatch-by-the-Sea gemacht.«
Jon ließ das Schwert sinken.»Warum?«sagte er stumpfsinnig. Mormont schnaubte.»Weil ich ihn geschickt habe, was glaubst denn du? Er hat die Hand bei sich, die dein Ghost von Jafer Flowers' Handgelenk gerissen hat. Ich habe ihm befohlen, ein Schiff nach King's Landing zu nehmen und sie diesem Kindskönig vorzulegen. Das sollte die Aufmerksamkeit des jungen Joffrey erregen, denke ich… und Ser Alliser ist ein Ritter von hoher Geburt, gesalbt und hat alte Freunde bei Hofe; er ist insgesamt schwerer zu ignorieren als eine bessere Krähe.«
«Krähe. «Jon meinte, der Rabe klänge ein wenig empört.»Darüber hinaus«, fuhr der Lord Commander fort, überhörte dabei den Protest des Vogels,»bringt diese Reise eintausend Wegstunden zwischen dich und ihn, ohne daß es wie eine Rüge erscheinen muß. «Er zeigte mit einem Finger auf Jons Gesicht.»Und glaub nicht, dies bedeute, daß ich den Unsinn im Gemeinschaftssaal gutheiße. Tapferkeit gleicht eine ganze Menge Torheit aus, aber du bist kein Kind mehr, egal wie wenig Jahre du erst auf dem Buckel hast. Nun besitzt du ein Männerschwert, und ein ganzer Mann wird nötig sein, es auch zu schwingen. Ich erwarte von dir, daß du dich von jetzt an entsprechend verhältst.«
«Ja, Mylord. «Jon schob das Schwert in die silbern eingefaßte Scheide zurück. Wenn es auch nicht die Klinge war, die er selbst gewählt hätte, war es dennoch ein nobles Geschenk, und ihn von Alliser Thornes Boshaftigkeit zu befreien, war noch weit nobler. Der Alte Bär kratzte sich am Kinn.»Ich hatte vergessen, wie sehr ein neuer Bart juckt«, sagte er.»Nun, daran läßt sich nichts ändern. Ist deine Hand so weit wieder verheilt, daß du deinen Pflichten nachgehen kannst?«
«Ja, Mylord.«
«Gut. Die Nacht wird kalt werden, ich werde einen Glühwein wollen. Schaff mir eine Flasche Roten heran, nicht zu sauer, und spare nicht mit den Gewürzen. Und sag Hobb, wenn er mir wieder gekochtes Hammelfleisch schickt, werde ich ihn selbst kochen. Das letzte Lendenstück war grau. Das hätten selbst die Vögel nicht mehr angerührt. «Er strich dem Raben mit dem Daumen über den Kopf, und der Vogel gab ein zufriedenes Gurren von sich.»Fort mit dir. Ich habe noch zu tun.«
Die Wachen lächelten ihn aus ihren Nischen an, als er die Treppe des Turmes hinunterging und dabei das Schwert in der linken Hand hielt.»Schöner Stahl«, sagte ein Mann.»Den hast du dir verdient, Snow«, erklärte ihm ein anderer. Jon zwang sich dazu, ihr Lächeln zu erwidern, doch war er nicht mit dem Herzen bei der Sache. Er wußte, daß er sich freuen sollte, nur war ihm nicht danach. Seine Hand schmerzte, und er hatte den Geschmack von Wut im Mund, obwohl er nicht sagen konnte, auf wen er wütend war oder warum.
Ein halbes Dutzend seiner Freunde lungerte draußen herum, als er aus dem King's Tower trat, wo Lord Mormont inzwischen residierte. Sie hatten eine Zielscheibe an die Türen der Kornkammer gehängt, womit sie sich den Anschein gaben, sie wollten an ihrem Können als Bogenschützen feilen, doch Jon erkannte Tunichtgute, wenn er welche sah. Kaum war er im Freien, da rief Pyp auch schon:»Na, komm, laß mal sehen.«
«Was denn?«fragte Jon.
Toad schlich heran.»Deine rosigen Arschbacken, was denn sonst?«
«Das Schwert«, erklärte Grenn.»Wir wollen das Schwert sehen.«
Jon warf einen vorwurfsvollen Blick in die Runde.»Ihr wußtet es.«
Pyp grinste.»Wir sind nicht alle so dumm wie Grenn.«
«Bist du wohl«, beharrte Grenn.»Du bist noch dümmer.«
Halder zuckte entschuldigend mit den Achseln.»Ich habe Pate geholfen, den Stein für den Knauf zu schnitzen«, sagte der Baumeister,»und dein Freund Sam hat die Granatsplitter in Mole's Town erstanden.«
«Aber wir wußten es schon vorher«, sagte Grenn.»Rudge hat Donal Noye in der Schmiede geholfen. Er war dabei, als der Alte Bär ihm die verbrannte Klinge brachte.«
«Das Schwert «rief Matt. Die anderen fielen in den Chor mit ein.»Das Schwert, das Schwert, das Schwert.«
Jon zog Longclaw aus der Scheide und zeigte es ihnen, drehte es hier herum und da herum, damit sie es bewundern konnten. Die Bastardklinge glitzerte im fahlen Sonnenlicht, dunkel und tödlich.»Valyrischer Stahl«, erklärte er feierlich und gab sich Mühe, so zufrieden und stolz zu klingen, wie er sich hätte fühlen sollen.
«Ich habe von einem Mann gehört, der sich ein Rasiermesser aus valyrischem Stahl hat machen lassen«, erklärte Toad.»Er hat sich den Kopf abgeschnitten, als er sich rasieren wollte.«
Pyp grinste.»Die Nachtwache ist Tausende von Jahren alt«, sagte er,»aber ich wette, Lord Snow ist der erste Bruder, den man dafür ehrt, daß er den Turm des Lord Commanders niederbrennt.«
Die anderen lachten, und selbst Jon mußte lächeln. Das Feuer, das er hatte legen müssen, hatte diesen eindrucksvollen, steinernen Turm nicht niedergebrannt, doch hatte es das Innere der beiden obersten Stockwerke, in denen sich die Gemächer des Alten Bären befanden, völlig zerstört. Niemanden schien das sonderlich zu stören, da die Flammen außerdem auch Othors mörderische Leiche vernichtet hatten.
Die andere Kreatur, das einarmige Ding, das einmal ein Grenzer namens Jafer Flowers gewesen war, war ebenfalls vernichtet, von einem Dutzend Schwertern fast in Stücke gehauen… doch erst, nachdem es Ser Jaremy Rykker und vier weitere Männer getötet hatte. Ser Jaremy hatte der Kreatur am Ende den Kopf abgehackt und war dennoch gestorben, als die kopflose Leiche seinen eigenen Dolch aus der Scheide gezogen und ihm in die Magengrube gestoßen hatte. Kraft und Mut nützten nichts gegen Widersacher, die nicht fallen wollten, weil sie längst tot waren. Selbst Waffen und Rüstung boten nur geringen Schutz.
Dieser grimmige Gedanke lastete auf Jon.»Ich muß zu Hobb, um mit ihm das Abendessen des Alten Bären zu besprechen«, verkündete er brüsk, während er Longclaw wieder in die Scheide schob. Seine Freunde meinten es gut, doch verstanden sie ihn nicht. Es war nicht ihre Schuld, wahrlich nicht. Sie hatten Othor nicht gegenübertreten müssen, sie hatten das fahle Leuchten in diesen toten, blauen Augen nicht gesehen, hatten die Kälte dieser toten, schwarzen Finger nicht gefühlt. Und ebenso wußten sie nichts von den Kämpfen im Flußland. Wie konnten sie glauben, ihn zu verstehen? Abrupt wandte er sich von ihnen ab und marschierte niedergeschlagen davon. Pyp rief ihm etwas nach, doch Jon schenkte dem keine Beachtung.
Sie hatten ihn nach dem Brand wieder in seine alte Zelle im baufälligen Hardin's Tower gebracht, und dorthin kehrte er zurück. Ghost schlief zusammengerollt neben der Tür, doch hob er den Kopf, als er Jons Stiefel hörte. Die roten Augen des Schattenwolfes waren dunkler als Granat und weiser als Menschen, Jon kniete nieder, kraulte sein Ohr und zeigte ihm den Knauf seines Schwertes.»Sieh her. Das bist du.«
Ghost schnüffelte an seinem geschnitzten Ebenbild aus Stein und versuchte, daran zu lecken. Jon lächelte.»Du bist es, dem die Ehre gebührt«, erklärte er dem Wolf… und plötzlich erinnerte er sich deutlich, wie er ihn gefunden hatte, an jenem Tag im späten Sommerschnee. Sie waren mit den anderen Welpen losgeritten, doch hatte Jon ein Geräusch gehört und war zurückgekehrt, und da lag er, das weiße Fell im Schnee fast nicht zu sehen. Er war ganz allein, dachte er, von den anderen im Wurf getrennt. Er war anders, also haben sie ihn vertrieben.
«Jon? «Er blickte auf. Samwell Tarly wippte unruhig auf seinen Fersen. Seine Wangen waren rot, und er war in einen schweren Pelzmantel gewickelt, daß er aussah, als machte er sich für den Winterschlaf bereit.
«Sam. «Jon stand auf.»Was ist? Willst du das Schwert sehen?«Wenn die anderen es wußten, dann sicher auch Sam.
Der dicke Junge schüttelte den Kopf.»Ich war einmal der Erbe von meines Vaters Schwert«, sagte er traurig.»Heartsbane. Lord Randyll hat es mich ein paarmal halten lassen, aber es hat mir immer nur angst gemacht. Es war valyrischer Stahl, wunderschön, aber so scharf, daß ich fürchtete, ich könne eine meiner Schwestern damit verletzen. Dickon wird es inzwischen haben. «Er wischte seine verschwitzte Hand am Umhang ab.»Ich… ahm… Maester Aemon möchte dich sehen.«
Es war nicht die Zeit, seine Bandagen zu wechseln. Mißtrauisch blickte Jon ihn an.»Warum?«wollte er wissen. Sam schien bedrückt zu sein. Das war Antwort genug.»Du hast es ihm erzählt, nicht?«sagte Jon böse.»Du hast ihm erzählt, daß du es mir erzählt hast.«
«Ich… er… Jon, ich wollte es nicht… er hat gefragt… ich meine… ich glaube, er wußte es, er sieht Dinge, die niemand sonst sieht…«
«Er ist blind«, erinnerte Jon ihn wütend, voller Abscheu.»Ich finde den Weg allein. «Er ließ Sam dort stehen, mit offenem Mund und bebend.
Maester Aemon fand er oben im Krähenhorst beim Füttern der Raben. Clydas war bei ihm und trug einen Eimer mit geschnetzeltem Fleisch, während sie von Käfig zu Käfig gingen.»Sam sagt, Ihr wolltet mich sprechen?«
Der Maester nickte.»Das will ich allerdings. Clydas, gib Jon den Eimer. Vielleicht wird er so freundlich sein und mir zur Hand gehen. «Der bucklige Bruder mit den rosafarbenen Augen reichte Jon den Eimer und hastete die Leiter hinab.»Wirf das Fleisch in die Käfige«, wies Aemon ihn an.»Die Vögel machen den Rest.«
Jon hob den Eimer mit der rechten Hand und griff mit der linken zwischen die blutigen Brocken. Die Raben fingen lauthals an zu schreien und flogen an die Gitter, schlugen mit nachtschwarzen Flügeln ans Metall. Das Fleisch war in Stücke gehackt, die nicht größer als Fingergelenke waren. Er nahm eine Faustvoll und warf die rohen, roten Leckerbissen in den Käfig, und das Kreischen und Zanken steigerte sich noch. Federn flogen, als zwei der größeren Vögel um ein ausgesuchtes Stück stritten. Eilig nahm Jon eine zweite Handvoll und warf sie der ersten hinterher.»Lord Mormonts Rabe mag Obst und Getreide.«
«Er ist ein außergewöhnlicher Vogel«, sagte der Maester.»Die meisten Raben fressen auch Korn, aber sie bevorzugen Fleisch. Es macht sie stark, und ich fürchte, sie finden Geschmack am Blut. Darin sind sie wie die Menschen… und wie die Menschen sind nicht alle Raben gleich.«
Dazu konnte Jon nichts weiter sagen. Er verteilte das Fleisch und fragte sich, wieso man ihn gerufen hatte. Zweifelsohne würde der alte Mann es ihm erzählen, sobald er den Zeitpunkt für angemessen hielt. Maester Aemon war kein Mensch, der sich hetzen ließ.
«Möwen und Tauben lassen sich ebenfalls darauf abrichten, Botschaften zu überbringen«, fuhr der Maester fort,»obwohl der Rabe ein kräftigerer Flieger ist, größer, kühner, erheblich schlauer, besser in der Lage, sich der Falken zu erwehren… doch sind Raben schwarz, und sie fressen die Toten, und daher verabscheut sie manch Gottesmann. Baelor der Gesegnete versuchte, alle Raben durch Möwen zu ersetzen, wußtest du das?«Der Maester wandte seine weißen Augen Jon zu und lächelte.»Die Nachtwache bevorzugt Raben.«
Jons Finger waren in dem Eimer, das Blut ging bis zum Handgelenk.»Dywen sagt, die Wildlinge nennen uns >Krähen<«sagte er unsicher.
«Die Krähe ist der arme Vetter des Raben. Beide sind sie schwarze Bertler, verhaßt und unverstanden.«
Jon wünschte, er hätte gewußt, worüber sie redeten und wozu. Was interessierten ihn Raben und Möwen? Wenn ihm der alte Mann etwas zu sagen hatte, wieso konnte er es nicht unverblümt ausdrücken?
«Jon, hast du dich je gefragt, wieso die Männer der Nachtwache keine Frauen haben und keine Kinder zeugen dürfen?«fragte Maester Aemon.
Jon zuckte mit den Achseln.»Nein. «Er verteilte weiter das Fleisch. Die Finger seiner linken Hand waren glitschig vom Blut, und seine Rechte schmerzte vom Gewicht des Eimers.
«Damit sie nicht lieben«, antwortete der alte Mann,»denn Liebe ist der Fluch der Ehre, der Tod der Pflichten.«
Das klang in Jons Ohren nicht rechtens, doch sagte er nichts. Der Maester war hundert Jahre alt und ein hoher Offizier der Nachtwache. Es stand ihm nicht zu, dem Mann zu widersprechen.
Der alte Mann schien seine Zweifel zu ahnen.»Sag mir, Jon, wenn der Tag je kommen sollte, daß dein Hoher Vater zwischen der Ehre auf der einen Seite und denen, die er liebt, auf der anderen, wählen müßte, was würde er tun?«
Jon zögerte. Er wollte sagen, daß Lord Eddard sich niemals Schande machen würde, nicht einmal für die Liebe, doch irgendwo in seinem Inneren flüsterte eine leise, kluge Stimme: Er hat einen Bastard gezeugt, wo lag darin Ehre? Und deine Mutter, was ist mit seiner Pflicht ihr gegenüber, er will nicht einmal ihren Namen nennen.»Er würde tun, was richtig ist«, sagte er… laut heraus, um sein Zögern wettzumachen.»Um jeden Preis.«
«Dann ist Lord Eddard einer von zehntausend. Die meisten von uns sind nicht so stark. Was ist Ehre gegen die Liebe einer Frau? Was ist Pflicht gegen das Gefühl, einen neugeborenen Sohn in seinen Armen zu halten… oder die Erinnerung an das Lächeln eines Bruders? Wind und Worte. Wind und Worte. Wir sind nur Menschen, und die Götter haben uns für die Liebe gemacht. Das ist unser großer Ruhm und unsere große Tragödie.
Die Männer, welche die Nachtwache einst bildeten, wußten, daß nur ihr Mut das Reich vor der Finsternis des Nordens schützte. Sie wußten, daß sie ihre Treuepflicht nicht teilen durften, weil es ihre Entschlossenheit schwächte. Daher schworen sie, weder Frauen noch Kinder haben zu wollen.
Doch hatten sie Brüder und Schwestern. Mütter, die sie zur Welt brachten, Väter, die ihnen Namen gaben. Sie kamen aus einhundert zerstrittenen Königreichen, und sie wußten, daß sich die Zeiten ändern mochten, die Menschen hingegen nie. Also schworen sie außerdem, daß die Nachtwache nicht an den Schlachten jenes Reiches teilnehmen sollte, das sie schützten.
Sie hielten sich an ihren Schwur. Als Aegon Black Harren erschlug und sein Königreich forderte, war Harrens Bruder Lord Commander auf der Mauer, mit zehntausend Recken unter sich. Er zog nicht in die Schlacht. In jenen Tagen, als die Sieben Königslande noch sieben Königslande waren, verging die Spanne eines Menschenlebens nicht, ohne daß drei oder vier von ihnen miteinander im Streit lagen. Die Wache beteiligte sich nie daran. Als die Andalen die Meerenge überquerten und die Königreiche der Ersten Menschen auslöschten, hielten die Söhne der gestürzten Könige an ihren Schwüren fest und blieben an ihren Posten. So wurde es stets gehalten, seit unzähligen Jahren. Es ist der Preis der Ehre.
Ein Feigling kann so mutig wie jeder andere sein, wenn es nichts zu fürchten gibt. Und wir alle tun unsere Pflicht, wenn es uns nichts kostet. Wie leicht scheint es einem dann, den Weg der Ehre zu beschreiten. Doch früher oder später kommt im Leben eines jeden Mannes der Tag, an dem es nicht leicht ist, der Tag, an dem er sich entscheiden muß.«
Einige der Raben fraßen noch, und lange, sehnige Bissen hingen aus ihren Schnäbeln. Alle anderen schienen ihn zu beobachten. Jon fühlte die Last all jener winzigen, schwarzen Augen.»Und heute ist mein Tag gekommen… das wollt Ihr mir damit sagen?«
Maester Aemon wandte seinen Kopf und sah ihn mit seinen toten, weißen Augen an. Es war, als blickte er bis in sein Herz hinein. Jon fühlte sich nackt und bloß. Er nahm den Eimer in beide Hände und warf den Rest der Bissen durch das Gitter. Fleisch und Blut flog überallhin, zerstreute die Raben. Sie flogen auf, kreischten wild. Die schnelleren Vögel schnappten sich Brocken noch im Flug und schlangen sie gierig herunter. Jon ließ den leeren Eimer laut zu Boden fallen.
Der alte Mann legte ihm die welke, fleckige Hand auf die Schulter.»Es tut weh, Junge«, sagte er leise.»Oh, ja. Zu wählen schon immer hat es weh getan. Und so wird es immer sein. Ich weiß es.«
«Ich weiß es nicht«, sagte Jon bitter.»Niemand weiß es. Selbst wenn ich sein Bastard bin, ist er doch mein Vater…«
Maester Aemon seufzte.»Hast du mir denn nicht zugehört, Jon? Meinst du, du wärst der erste?«Er schüttelte den alten Kopf, eine Geste, die zu müde war, als daß Worte sie beschreiben konnten.»Dreimal hielten es die Götter für angebracht, meinen Eid zu prüfen. Einmal, als ich ein kleiner Junge war, einmal in der vollen Blüte meiner Manneskraft, einmal, als ich schon alt war. Inzwischen hatte mich meine Kraft verlassen, mein Augenlicht war trübe, doch diese letzte Wahl war so grausam wie die erste. Meine Raben brachten Neuigkeiten aus dem Süden, Worte, dunkler noch als ihre Flügel, vom Untergang meines Hauses, vom Tod meiner Sippe, von Schande und Elend. Was hätte ich tun können, alt, blind, gebrechlich? Ich war hilflos wie ein Säugling, und dennoch tat es weh, vergessen dazusitzen, während sie meines Bruders armen Enkelsohn niedermachten, und seinen Sohn und selbst dessen kleine Kinder…«
Jon erschrak, als er den Glanz von Tränen in den Augen des alten Mannes bemerkte.»Wer seid Ihr?«fragte er leise, fast ängstlich.
Ein zahnloses Lächeln bebte auf uralten Lippen.»Nur ein Maester der Citadel, in Diensten von Castle Black und der Nachtwache. In meinem Orden legen wir die Namen unserer Häuser ab, wenn wir den Eid sprechen und die Ordenskette nehmen. «Der alte Mann berührte seine Kette, die lose um den dünnen, fleischlosen Hals hing.»Mein Vater war Maekar, der Erste seines Namens, und mein Bruder Aegon regierte nach ihm an meiner Stelle. Mein Großvater nannte mich nach Prinz Aemon, dem Drachenritter, der sein Onkel war, oder sein Vater, je nachdem, welcher Legende man glauben will. Aemon hat er mich genannt… «
«Aemon… Targaryen?«Jon konnte es kaum glauben.
«Früher einmal«, sagte der alte Mann.»Früher einmal. Du siehst also, Jon, ich weiß es… und da ich es weiß, werde ich dir nicht sagen: Bleib oder geh. Diese Entscheidung mußt du für dich treffen und bis ans Ende deiner Tage damit leben. Genau wie ich. «Seine Stimme wurde zu einem Flüstern.»Genau wie ich… «