Arya

Der Duft von warmem Brot, der aus den Läden an der Mehlgasse herüberzog, war süßer als alles Parfüm, das Arya je gerochen hatte. Sie holte tief Luft und trat näher an die Taube heran. Es war eine Dicke, braungescheckt, und sie pickte an einem Knust herum, der zwischen zwei Steine im Kopfsteinpflaster gefallen war, doch als Aryas Schatten sie berührte, erhob sie sich in die Lüfte.

Ihr Stockschwert pfiff heran und traf sie zwei Fuß über dem Boden, und das Tier stürzte in einer Wolke aus braunen Federn ab. Kaum einen Augenblick später hatte sie sich darüber hergemacht, packte einen Flügel, während die Taube zappelte und flatterte. Das Tier hackte auf ihre Hand ein. Arya nahm es beim Genick und drehte daran, bis sie fühlte, daß der Knochen brach.

Verglichen mit dem Katzenfangen waren Tauben einfach.

Ein spazierender Septon betrachtete sie mißtrauisch.»Das hier ist die beste Stelle, wenn man Tauben fangen will«, erklärte ihm Arya, während sie ihr Stockschwert aufhob.»Sie kommen wegen der Brotkrumen. «Er eilte von dannen.

Sie band die Taube an ihren Gürtel und machte sich auf den Weg. Ein Mann schob auf einem zweirädrigen Karren eine Ladung Kuchen vor sich her. Die Düfte sangen von Blaubeeren und Zitronen und Aprikosen. Ihr Magen gab ein hohles Rumpeln von sich.»Könnte ich einen davon haben?«hörte sie sich selbst sagen.»Zitrone oder… oder irgendeinen.«

Der Mann mit dem Karren musterte sie von oben bis unten. Offenbar gefiel ihm nicht, was er sah.»Drei Kupferstücke.«

Arya schlug sich mit ihrem Holzschwert seitlich an den Stiefel.»Ich tausche den Kuchen gegen eine fette Taube«, schlug sie vor.

«Sollen die anderen deine Taube holen«, sagte der Karrenmann.

Die Kuchen waren noch ofenwarm. Bei dem Duft, den sie verbreiteten, lief ihr das Wasser im Mund zusammen, aber sie hatte keine drei Kupferstücke… nicht einmal eines. Sie musterte den Karrenmann kurz, dachte daran, was Syrio sie über das Sehen gelehrt hatte. Er war untersetzt, mit einem kleinen, runden Bauch, und wenn er sich bewegte, schien er sein linkes Bein ein wenig zu bevorzugen. Eben dachte sie, wenn sie sich einen Kuchen schnappen und laufen würde, wäre er nie in der Lage, sie zu fangen, als er sagte:»Laß lieber deine schmutzigen Finger davon. Die Goldröcke wissen, wie man mit diebischen, kleinen Kanalratten wie dir umgeht, ja, das wissen sie ganz bestimmt.«

Argwöhnisch sah sich Arya um. Zwei Mann der Stadtwache standen am Eingang einer Gasse. Ihre Umhänge reichten bis fast auf den Boden, die dicke Wolle mit sattem Gold gefärbt. Ketten und Stiefel und Handschuhe waren schwarz. Einer trug ein Langschwert an seiner Hüfte, der andere einen Eisenknüppel. Mit einem letzten, sehnsüchtigen Blick auf die Kuchen wich Arya ein Stück weit vom Karren zurück und hastete davon. Die Goldröcke hatten ihr keine weitere Beachtung geschenkt, doch allein wegen ihrer Anwesenheit zog sich Arya der Magen zusammen. Sie hatte sich so weit wie möglich von der Burg ferngehalten, aber selbst noch aus der Ferne konnte sie die Köpfe sehen, die oben auf den hohen, roten Mauern moderten. Schwärme von Krähen stritten lautstark um jeden einzelnen wie die Fliegen. In Flea Bottom hieß es, die Goldröcke hätten sich mit den Lannisters zusammengetan, ihren Kommandanten zum Lord gemacht, mit Landbesitz am Trident und einem Sitz im Königsrat.

Sie hatte noch anderes gehört, Erschreckendes, das in ihren Ohren keinen Sinn ergab. Manche behaupteten, ihr Vater habe König Robert ermordet und sei im Gegenzug von Lord Renly erschlagen worden. Andere beharrten darauf, daß Renly den König in trunkenem Bruderzwist umgebracht habe. Warum sonst sollte er in der Nacht wie ein gemeiner Dieb geflohen sein? Einer Geschichte zufolge war der König auf der Jagd von einem Keiler getötet worden, nach einer anderen war er gestorben, als er einen Keiler aß und sich dabei derart vollgestopft habe, daß er bei Tisch platzte. Nein, der König sei bei Tisch gestorben, sagten wieder andere, aber nur weil Varys, die Spinne, ihn vergiftet habe. Nein, es sei die Königin, die ihn vergiftet habe. Nein, er sei an den Pocken gestorben. Nein, er sei an einer Gräte erstickt.

In einem waren sich alle Geschichten einig: König Robert war tot. Die Glocken in den sieben Türmen der Großen Septe von Baelor hatten einen Tag und eine Nacht geläutet, und der Donner ihrer Trauer war wie eine bronzene Woge über die Stadt gerollt. So läuteten sie die Glocken nur beim Tod eines Königs, hatte ein Gerbersohn Arya erklärt.

Sie wollte nur nach Hause, King's Landing zu verlassen war hingegen nicht so einfach, wie sie gehofft hatte. Das Wort vom Krieg war in aller Munde, und die Goldröcke hockten dicht an dicht auf den Stadtmauern, wie die Fliegen auf… na, auf ihr zum Beispiel. Sie hatte in Flea Bottom geschlafen, auf Dächern und in Ställen, überall, wo sie Platz fand, sich hinzulegen, und sie hatte nicht lang gebraucht, um festzustellen, daß dieses Viertel seinen Namen zu Recht trug.

Jeden Tag seit ihrer Flucht aus dem Red Keep hatte Arya allen sieben Stadttoren einen Besuch abgestattet. Das Drachentor, das Löwentor und das Alte Tor waren verriegelt und verrammelt. Das Schlammtor und das Tor der Götter standen offen, doch nur für jene, die in die Stadt wollten. Die Wachen ließen niemanden hinaus. Wer Erlaubnis hatte, die Stadt zu verlassen, ging durchs Königstor oder durchs Eisentor, wo Soldaten der Lannisters mit roten Umhängen und löwenbesetzten Helmen die Wachtposten stellten. Als sie vom

Dach einer Taverne beim Königstor herunterspähte, sah Arya, daß sie Wagen und Kutschen durchsuchten, Reiter zwangen, ihre Satteltaschen zu öffnen, und jeden befragten, der versuchte, zu Fuß hinauszukommen.

Manchmal dachte sie daran, durch den Fluß zu schwimmen, doch der Blackwater Rush war breit und tief, und alle waren sich darin einig, daß seine Strömung böse und trügerisch war. Geld, um einen Fährmann oder eine Schiffspassage zu bezahlen, hatte sie nicht.

Ihr Hoher Vater hatte sie gelehrt, niemals zu stehlen, allerdings fiel es ihr immer schwerer, sich daran zu erinnern, wieso. Wenn sie nicht bald einen Weg hinausfände, würde sie womöglich von den Goldröcken entdeckt. Sie hatte nicht viel hungern müssen, seit sie wußte, wie man Vögel mit dem Stockschwert erlegt, nur fürchtete sie, von soviel Taubenfleisch würde ihr noch übel werden. Zwei davon hatte sie roh gegessen, bevor sie nach Flea Bottom gekommen war.

Im Bottom gab es Topfküchen entlang der Gassen, in denen Wannen voller Eintopf jahrelang schon köchelten, und man konnte einen halben Vogel gegen einen Kanten Brot vom gestrigen Tag und eine» Schale Braunes «tauschen, zudem schoben sie die andere Hälfte des Tiers sogar noch ins Feuer und grillten sie, solange man die Federn selbst rupfte. Arya hätte alles für einen Becher Milch und einen Zitronenkuchen gegeben, auch wenn das Braune gar nicht so übel war. Gewöhnlich war Gerste darin, dazu Karottenstücke und Zwiebeln und Rüben, und manchmal sogar ein Apfel, und obenauf schwamm ein Fettfilm. Meist versuchte sie, nicht über das Fleisch nachzudenken. Einmal hatte sie ein Stück Fisch bekommen.

Ein Problem war nur, daß bei den Topfküchen immer viel Betrieb herrschte, und selbst noch während sie ihr Essen verschlang, bemerkte Arya, wie man sie beobachtete. Manche starrten ihre Stiefel an, oder ihren Umhang, und sie wußte, was sie dachten. Bei anderen spürte sie fast, wie deren Blicke unter ihr Leder krochen. Sie wußte nicht, was sie dachten, und das machte ihr nur noch mehr angst. Ein paarmal folgte man ihr in die Gassen hinaus und jagte sie, doch bisher hatte noch niemand sie erwischen können.

Das silberne Armband, das sie hatte verkaufen wollen, war ihr an ihrem ersten Abend außerhalb der Burg gestohlen worden, nebst ihrem Bündel mit sauberen Kleidern, entwendet, als sie in einem ausgebrannten Haus abseits der Pig Alley schlief. Man hatte ihr nur den Umhang gelassen, in den sie sich eingerollt hatte, das Leder an ihrem Rücken, ihr hölzernes Übungsschwert.. und Needle. Sie hatte auf Needle gelegen, sonst wäre es ebenso weg gewesen. Es war mehr wert als alles andere zusammen. Seither hatte sich Arya angewöhnt, die Klinge mit ihrem Umhang an der Hüfte zu verbergen. Das Holzschwert trug sie in der linken Hand, wo jedermann es sehen konnte, um Räuber abzuschrecken, dennoch gab es Männer in den Topfküchen, die sich vermutlich nicht einmal von einer Streitaxt abschrecken ließen. Das genügte, ihr den Geschmack an Tauben und schalem Brot zu verleiden. Oft genug ging sie lieber hungrig ins Bett, als deren Blicke zu riskieren.

Wenn sie erst draußen vor der Stadt wäre, würde sie Beeren sammeln oder Obstgärten suchen, aus denen sie Äpfel und Kirschen stehlen konnte. Arya erinnerte sich, von der Kingsroad aus, auf dem Weg gen Süden, einige gesehen zu haben. Und sie konnte im Wald Wurzeln ausgraben, sogar Kaninchen jagen. In der Stadt konnte man nur Ratten und Katzen und dürre Hunde jagen. Die Topfkuchen gaben einem eine Faustvoll Kupferstücke für einen ganzen Welpenwurf, das hatte sie gehört, aber der Gedanke daran behagte ihr nicht.

Unterhalb der Mehlgasse breitete sich ein Labyrinth von verschlungenen Gassen und Querstraßen aus. Arya kämpfte sich durch die Menge und versuchte, Abstand zwischen sich und die Goldröcke zu bringen. Sie hatte gelernt, sich auf der Straßenmitte zu halten. Manchmal mußte sie Wagen oder Pferden ausweichen, aber wenigstens konnte man sie kommen sehen. Wenn man zu nah bei den Häusern blieb, hielten die Leute einen fest. In manchen Gassen blieb einem nichts anderes übrig, als an den Mauern entlang zu streichen. Die Häuser beugten sich derart weit vor, daß sie einander fast berührten.

Ein juchzende Bande kleiner Kinder kam vorbeigelaufen, jagte einen rollenden Reif. Grollend starrte Arya sie an, erinnerte sich an die Zeiten, in denen sie mit Bran und Jon und ihrem kleinen Bruder Rickon Reifen nachgejagt war. Sie fragte sich, wie groß Rickon geworden und ob Bran wohl traurig war. Sie hätte alles gegeben, wenn Jon hier gewesen wäre und sie» kleine Schwester «gerufen und ihr das Haar zerzaust hätte. Nicht, daß es hätte zerzaust werden müssen. Sie hatte ihr Spiegelbild in Pfützen gesehen, und zerzauster konnte man kaum sein. Sie hatte versucht, mit den Kindern zu sprechen, die sie auf der Straße traf, in der Hoffnung, daß sie Freunde finden würde, bei denen sie schlafen konnte, doch mußte sie wohl etwas Falsches gesagt haben. Die Kleinen sahen sie nur mit schnellen, argwöhnischen Blicken an und liefen davon, wenn sie zu nahe kam. Ihre großen Brüder und Schwestern stellten Fragen, die Arya nicht beantworten konnte, beschimpften sie und wollten sie bestehlen Gestern erst hatte ein mageres Mädchen, das barfuß lief und doppelt so alt wie sie war, sie niedergeschlagen, um ihr die Stiefel von den Füßen zu zerren, doch Arya hatte ihr mit dem Holzschwert eins ans Ohr gegeben.

Eine Möwe kreiste über ihr, als sie sich einen Weg bergab nach Flea Bottom bahnte. Nachdenklich blickte Arya auf, doch war das Tier für ihren Stock zu weit entfernt. Die Möwe erinnerte sie ans Meer. Vielleicht war das der Ausweg. Old Nan hatte oft Geschichten von Jungen erzählt, die sich auf

Handelsgaleeren versteckten und in die Welt der Abenteuer hinaussegelten. Vielleicht konnte Arya es ihnen nachtun. Sie beschloß, dem Hafen einen Besuch abzustatten. Dieser lag ohnehin auf dem Weg zum Schlammtor, und dort war sie heute noch nicht gewesen.

An den Kaianlagen war es seltsam ruhig, als Arya dort ankam. Sie entdeckte ein weiteres Paar Goldröcke, die Seite an Seite über den Fischmarkt liefen, sie jedoch keines Blickes würdigten. Die Hälfte der Stände war leer, und ihr schienen weniger Schiffe dort zu liegen, als sie in Erinnerung hatte. Draußen auf dem Blackwater fuhren drei königliche Kriegsgaleeren in Formation, goldbemalte Rümpfe teilten das Wasser, während die Ruder sich hoben und senkten. Arya beobachtete sie eine Weile, dann machte sie sich auf den Weg am Wasser entlang.

Auf dem dritten Pier entdeckte sie Wachleute in grauen Wollumhängen, mit weißem Satin besetzt, und ihr blieb fast das Herz in der Brust stehen. Beim Anblick der Farben von Winterfell schössen ihr die Tränen in die Augen. Hinter ihnen schaukelte eine schlanke Handelsgaleere an ihrem Liegeplatz. Arya konnte den Namen am Rumpf nicht lesen. Die Worte waren seltsam, Myrisch, Bravoosi, vielleicht sogar Hochvalyrisch. Sie hielt einen vorbeigehenden Schauermann am Ärmel fest.»Bitte«, sagte sie,»was ist das für ein Schiff?«

«Das ist die Wind Witch aus Myr«, sagte der Mann.

«Sie ist noch immer hier«, platzte es aus Arya heraus. Der Schauermann warf ihr einen schiefen Blick zu, zuckte mit den Achseln und ging weiter. Arya rannte zum Pier. Die Wind Witch war das Schiff, das ihr Vater angeheuert hatte, damit es sie nach Hause brachte… und es wartete noch immer! Sie hatte gedacht, es wäre schon vor Ewigkeiten ausgelaufen.

Zwei der Wachleute würfelten, während der Dritte seine Runde machte, mit einer Hand am Knauf seines Schwertes. Da die Männer nicht sehen sollten, daß sie wie ein kleines Kind geweint hatte, blieb sie stehen und rieb sich die Augen. Ihre Augen ihre Augen ihre Augen, wieso nur…

Sieh mit deinen Augen, hörte sie Syrio flüstern.

Arya sah hin. Sie kannte alle Männer ihres Vaters. Die drei mit den grauen Umhängen waren Fremde.»Du«, rief der Mann, der seine Runden drehte.»Was willst du hier, Junge?«Die anderen beiden blickten von ihren Würfeln auf.

Arya konnte sich gerade noch beherrschen, wegzulaufen, denn sie wußte, täte sie das, wären sie ihr augenblicklich auf den Fersen. Sie zwang sich, näher heranzugehen. Sie suchten ein Mädchen, aber der hier hielt sie für einen Jungen. Dann wäre sie eben ein Junge.»Wollt Ihr eine Taube kaufen?«Sie zeigte ihm den toten Vogel.

«Verschwinde hier«, sagte der Wachmann.

Arya tat, wie ihr geheißen. Sie mußte ihre Angst nicht spielen. Hinter ihr machten sich die Männer wieder an ihre Würfel.

Sie hätte nicht sagen können, wie sie zurück nach Flea Bottom gekommen war, und sie atmete schwer, als sie die schmalen, gewundenen, ungepflasterten Straßen zwischen den Hügeln erreichte. Der Bottom hatte einen Gestank an sich, einen Gestank nach Schweinestall und Pferdestall und Gerberhütte, vermischt mit dem säuerlichen Geruch von Weinstuben und billigen Hurenhäusern. Benommen suchte sich Arya einen Weg durchs Labyrinth. Erst als ein Hauch von blubberndem Braunem sie umwehte, der aus einer Topfküchentür kam, fiel ihr auf, daß ihre Taube weg war. Sie mußte ihr wohl beim Laufen aus dem Gürtel gerutscht sein, oder jemand hatte sie gestohlen und sie hatte es nicht gemerkt. Einen Moment lang hätte sie wieder weinen können. Also würde sie den ganzen Weg zur Mehlgasse noch einmal gehen müssen, um so eine dicke zu finden.

Weit drüben, auf der anderen Seite der Stadt, fingen die Glocken an zu läuten.

Arya blickte auf, lauschte, überlegte, was das Läuten diesmal

bedeuten mochte.

«Was ist das jetzt?«rief ein dicker Mann aus der Topfküche.

«Die Glocken läuten schon wieder, die Götter stehn uns bei«, jammerte eine alte Frau.

Eine rothaarige Hure in einem Fetzen aus bemalter Seide stieß im ersten Stockwerk einen Fensterladen auf.»Ist der Kindskönig jetzt gestorben?«rief sie herab, beugte sich über die Straße hinaus.»Ach, so ist das mit den Jungen, die bleiben nie lang. «Indem sie lachte, schlang ein nackter Mann von hinten seine Arme um sie, biß ihr in den Nacken und knetete ihre schweren Brüste.

«Dämliche Schlampe«, rief der dicke Mann hinauf.»Der König ist nicht tot, die Glocken läuten, damit wir uns versammeln. Ein Turm läutet. Wenn der König stirbt, läuten sie alle Glocken in der Stadt.«

«Hier, hör auf zu beißen, sonst läute ich deine Glocken«, sagte die Frau im Fenster zu dem Mann hinter sich und stieß ihn mit dem Ellenbogen.»Und wer ist dann gestorben, wenn nicht der König?«

«Das gilt uns allen«, rief der dicke Mann.

Zwei Jungen in Aryas Alter hasteten vorüber, platschten durch eine Pfütze. Die alte Frau verfluchte sie, doch rannten sie weiter. Auch andere Leute setzten sich in Bewegung und liefen den Hügel hinauf, um zu sehen, was es mit dem Lärm auf sich hatte. Arya schloß sich dem langsameren Jungen an.»Wohin willst du?«rief sie, als sie direkt hinter ihm war.»Was ist los?«

Er sah sich um, ohne langsamer zu werden.»Die Goldröcke bringen ihn zur Septe.«

«Wen?«schrie sie im Laufen.

«Die Hand! Sie wollen ihm den Kopf abschlagen, sagt Buu.«

Ein Wagen hatte eine tiefe Furche in der Straße hinterlassen. Der Junge sprang darüber, Arya übersah sie. Sie stolperte und fiel, mit dem Gesicht voran, schlug sich das Knie an einem Stein auf und dann die Finger, als ihre Hände über den festgetretenen Boden schrammten. Needle verfing sich zwischen ihren Beinen. Schluchzend kam sie wieder auf die Beine. Der Daumen ihrer linken Hand war voller Blut. Als sie daran leckte, sah sie, daß der halbe Daumennagel fort war, im Sturz herausgerissen. Ihre Hände schmerzten, und auch ihr Knie war blutig.

«Macht Platz!«rief jemand aus der Querstraße.»Macht Platz für die Lords von Redwyne!«Arya konnte gerade eben noch zur Seite springen, bevor vier Gardisten auf riesigen Pferden im Galopp vorüberstürmten. Sie trugen karierte Umhänge, blau und rot. Hinter ihnen ritten zwei junge Lords Seite an Seite auf kastanienbraunen Stuten, die einander glichen wie ein Ei dem anderen. Hundertmal schon hatte Arya sie bei Hofe gesehen. Die Redwyne-Zwillinge, Ser Horas und Ser Hobber, unscheinbare Jungen mit hellrotem Haar und eckigen Gesichtern voller Sommersprossen. Sansa und Jeyne Poole hatten sie stets Ser Horror und Ser Slobber genannt und jedesmal gekichert, wenn sie ihnen begegneten. Jetzt sahen sie keineswegs komisch aus.

Alles drängte in dieselbe Richtung, alle in Eile, sich anzusehen, was es mit dem Läuten auf sich hatte. Inzwischen schienen die Glocken lauter geworden zu sein, schallend, rufend. Arya schloß sich dem Strom der Menschen an. Ihr Daumen schmerzte dort, wo der Nagel gebrochen war, so sehr, daß sie fast weinen mußte. Sie biß sich auf die Lippen, während sie humpelte und den aufgeregten Stimmen um sich lauschte.

«… die Rechte Hand des Königs, Lord Stark. Sie bringen ihn hinauf zur Septe von Baelor.«»Ich dachte, er wäre tot.«

«Bald schon, bald schon. Hier habe ich einen Silberhirschen, auf dem steht, daß sie ihm den Schädel abschlagen.«

«Wird auch Zeit, der Hochverräter. «Der Mann spuckte aus. Arya versuchte, sich Gehör zu verschaffen.»Er hat niemals…«, setzte sie an, doch war sie nur ein Kind, und sie fahren ihr glatt über den Mund.

«Narr! Die werden ihn nicht köpfen. Seit wann werden Verräter auf den Stufen der Großen Septe hingerichtet?«

«Na, die wollen ihn sicher nicht zum Ritter ölen. Ich habe gehört, Stark hätte den alten König Robert ermordet. Hat ihm im Wald die Kehle aufgeschlitzt, und als sie ihn fanden, stand er da, als könne er kein Wässerchen trüben, und sagte, irgendein alter Keiler hätte Seine Majestät auf dem Gewissen.«

«Ach, das ist nicht wahr, sein eigener Bruder hat ihn umgebracht, dieser Renly, der mit seinem goldenen Geweih.«

«Halt du dein verlogenes Maul, Weib. Du weißt nicht, was du redest, Seine Lordschaft ist ein wahrlich feiner Mann.«

Als sie zur Straße der Schwestern kamen, standen sie Schulter an Schulter. Arya ließ sich vom Menschenstrom mitreißen, bis auf den Visenyashügel. Der weiße, marmorne Platz war eine feste Menschenmenge, und die Leute schrien einander vor Aufregung an und versuchten, näher an die Große Septe von Baelor zu gelangen. Hier tönten die Glocken noch lauter.

Arya wand sich durch die Menge, duckte sich zwischen den Beinen von Pferden hindurch und hielt ihr Holzschwert ganz fest. Aus der Mitte der Menge konnte sie nur Arme und Beine und Bäuche sehen, und die sieben schlanken Türme der Septe ragten über allem auf. Sie fand einen Holzwagen und wollte hinaufklettern, damit sie etwas sehen konnte, andere hatten jedoch schon dieselbe Idee gehabt. Der Fuhrmann verfluchte sie alle und trieb sie mit knallender Peitsche fort.

Panik kam über Arya. Als sie sich durch die Menge nach vorn drängte, wurde sie gegen den Stein eines Säulensockels gedrückt. Sie blickte zu Baelor, dem Seligen, dem Septonkönig auf. Arya schob ihr Holzschwert durch den Gürtel und fing an zu klettern. Ihr gebrochener Daumennagel verschmierte Blut auf dem bemalten Marmor, doch schaffte sie es nach oben und klemmte sich zwischen die Füße des Königs.

Da entdeckte sie ihren Vater.

Lord Eddard stand auf der Kanzel des Hohen Septons vor den Toren der Septe, von zwei Goldröcken gestützt. Er trug einen prächtigen Wams aus grauem Samt, auf dem vorn mit Perlen ein weißer Wolf gestickt war, dazu einen grauen Wollumhang, mit weißem Fell besetzt, und trotzdem war er dünner, als Arya ihn je gesehen hatte, sein langes Gesicht von Schmerz gezeichnet. Er wurde eher aufrecht gehalten, als daß er stand. Der Gips an seinem gebrochenen Bein war grau und verfault.

Der Hohe Septon selbst stand hinter ihm, ein untersetzter Mann, grau vom Alter und dick und fett, trug ein langes weißes Gewand und eine mächtige Krone aus Goldgespinst und Kristall, die seinen Kopf mit Regenbögen umgaben, wenn er sich bewegte.

Um die Tore der Septe, vor der erhabenen Marmorkanzel, drängten sich Ritter und hohe Lords. Joffrey fiel unter ihnen auf, sein Gewand ganz rot, Seide und Satin, mit stolzierenden Hirschen und brüllenden Löwen gemustert, eine goldene Krone auf dem Kopf. Seine Königinmutter stand in schwarzen Trauerkleidern, von Rot durchwirkt, gleich neben ihm mit einem Schleier aus schwarzen Diamanten im Haar. Arya erkannte den Bluthund, der einen schneeweißen Umhang über seiner dunkelgrauen Rüstung trug und den vier Männer der Königsgarde umgaben. Sie sah, daß Varys, der Eunuch, in weichen Pantoffeln und gemusterter Robe aus Damast zwischen den Lords herumlief, und sie meinte, der kleine Mann mit dem silbernen Umhang und seinem spitzen Bart mochte wohl der Mann sein, der sich einst um seine Mutter duelliert hatte.

Und dort in ihrer Mitte war Sansa, in himmelblaue Seide gewandet, das lange, kastanienbraune Haar gewaschen und gelockt, und silberne Armreifen trug sie an den Handgelenken. Arya zog eine finstere Miene, fragte sich, was ihre Schwester dort trieb, warum sie derart glücklich schien.

Unter dem Kommando eines beleibten Mannes in verzierter Rüstung, ganz schwarzer Lack und goldenes Filigranwerk, hielt eine lange Reihe goldbesockter Lanzenträger die Menge zurück. Als das Glockenläuten ausklang, breitete sich langsam Stille auf dem Platz aus, und ihr Vater hob den Kopf und begann zu sprechen, mit so dünner und schwacher Stimme, daß sie ihn kaum verstehen konnte. Leute hinter ihr fingen an zu rufen:»Was?«und» Lauter!«Der Mann mit der schwarzgoldenen Rüstung trat hinter ihren Vater und trieb ihn scharf an. Laßt ihn in Ruhe! wollte Arya schreien, doch wußte sie, daß niemand auf sie hören würde. Sie nagte an ihrer Lippe.

Nun sprach ihr Vater mit lauterer Stimme und begann von neuem.»Ich bin Eddard Stark, Lord von Winterfell und Rechte Hand des Königs«, sagte er lauter, und seine Stimme drang über den Platz,»und ich trete vor Euch, um meinen Verrat im Angesicht der Götter und Menschen einzugestehen.«

«Nein«, jammerte Arya. Unter ihr fing die Menge an zu schreien und zu toben. Flüche und Obszönitäten erfüllten die Luft. Sansa verbarg ihr Gesicht mit den Händen.

Ihr Vater sprach mit immer fester werdender Stimme, gab sich Mühe, daß man ihn hören konnte.»Ich habe den Treueeid vor meinem König gebrochen und das Vertrauen meines Freundes Robert mißbraucht«, rief er.»Ich habe geschworen, seine Kinder zu schützen und zu verteidigen, doch bevor sein Blut noch kalt war, hatte ich den Plan geschmiedet, seinen Sohn abzusetzen und zu ermorden und den Thron selbst zu besteigen. Laßt den Hohen Septon und Baelor, den Geliebten, und die Sieben Zeugen der Wahrheit dessen werden, was ich hier sagen will: Joffrey Baratheon ist der einzig wahre Erbe des Eisernen Thrones und durch die Gnade aller Götter Lord der Sieben Königslande und Protektor des Reiches.«

Ein Stein flog aus der Menge. Arya schrie auf, als sie sah, daß ihr Vater davon getroffen wurde. Die Goldröcke hielten ihn aufrecht. Blut lief aus einer tiefen Wunde an der Stirn über sein Gesicht. Weitere Steine folgten. Einer traf den Gardisten, der rechts von ihrem Vater stand. Ein weiterer prallte vom Brustpanzer des Ritters in der schwarzgoldenen Rüstung ab. Zwei aus der Königsgarde traten vor Joffrey und die Königin, schützten sie mit ihren Schilden.

Ihre Hand glitt unter ihren Umhang und fand Needle. Mit fester Hand hielt sie den Griff, drückte ihn so fest, wie sie noch nie im Leben etwas gedrückt hatte. Bitte, Ihr Götter, wacht über ihn, betete sie. Laßt nicht zu, daß sie meinem Vater etwas antun.

Der Hohe Septon kniete vor Joffrey und seiner Mutter.»Wie wir sündigen, so leiden wir«, sang er mit tiefer Stimme, viel lauter als die ihres Vaters.»Dieser Mann hat seine Untaten im Angesicht der Götter und der Menschen gestanden, hier an diesem heiligen Ort. «Regenbögen umtanzten seinen Kopf, als er flehentlich die Hände hob.»Die Götter sind gerecht, doch hat uns Baelor der Selige auch gelehrt, daß sie ebenso gnädig sind. Was soll mit diesem Verräter geschehen, Majestät?«

Tausend Stimmen brüllten, aber Arya hörte sie nicht. Prinz Joffrey… nein, König Joffrey… trat hinter den Schilden seiner Königsgarde hervor.»Meine Mutter bittet mich, Lord Stark das Schwarz anlegen zu lassen, und Lady Sansa hat mich um Gnade für ihren Vater angefleht. «Offen sah er Sansa an und lächelte, und einen Augenblick lang dachte Arya, die Götter hätten ihr Gebet erhört, bis Joffrey sich wieder der Menge zuwandte und sagte:»Doch haben sie alle das weiche Herz der

Frauen. Solange ich euer König bin, soll Verrat nie ungestraft bleiben. Ser Ilyn, bringt mir seinen Kopf!«

Die Menge tobte, und Arya spürte, wie die Statue des Baelor wankte, als man dagegen drängte. Der Hohe Septon griff nach des Königs Umhang, Varys kam armwedelnd herübergelaufen, und selbst die Königin sagte etwas zu ihm, Joffrey hingegen schüttelte den Kopf. Lords und Ritter traten beiseite, als er kam, groß und fleischlos, ein Skelett im Kettenpanzer, des Königs Henker. Schwach, wie aus weiter Ferne, hörte Arya ihre Schwester schreien. Sansa war auf die Knie gefallen und schluchzte hysterisch. Ser Ilyn Payne erklomm die Stufen der Kanzel.

Arya wand sich zwischen Baelors Füßen und warf sich in die Menge, zückte Needle. Sie landete auf einem Mann in Schlachterschürze, stieß ihn zu Boden. Augenblicklich rammte jemand sie von hinten, und beinah ging sie selbst zu Boden. Leiber schlossen sich um sie, schiebend und stolpernd, trampelten auf dem armen Schlachter herum. Arya hieb mit Needle auf sie ein.

Hoch oben auf der Kanzel machte Ser Ilyn Payne eine Geste, und der Ritter in Schwarzgold gab ein Kommando. Die Goldröcke stießen Lord Eddard auf den Marmor.

«Hier, du!«schrie eine zornige Stimme Arya an, doch stürmte sie voran, stieß Leute beiseite, drängte sich zwischen sie, rammte jeden, der ihr im Weg stand. Eine Hand fummelte an ihrem Bein herum, und sie hackte darauf ein, trat nach Schienbeinen. Eine Frau stolperte, und Arya lief über ihren Rücken, hieb in beide Richtungen, doch nützte es nichts, es nützte nichts, es waren zu viele Menschen, und kaum hatte sie eine Lücke gefunden, da schloß sie sich schon wieder. Jemand schlug sie beiseite. Noch immer hörte sie Sansa schreien.

Ser Ilyn zog einbeidhändiges Großschwert aus der Scheide auf seinem Rücken. Als er die Klinge über seinen Kopf hob, schien Sonnenlicht auf dem dunklen Metall zu spielen und zu tanzen, glitzerte an einer Schneide, die schärfer als jedes Rasiermesser war. Ice, dachte sie, er hat Ice! Tränen liefen über ihr Gesicht, machten sie blind.

Und dann schoß eine Hand aus der Menge hervor und schloß sich wie eine Wolfsfalle um ihren Arm, so fest, daß ihr Needle aus der Hand fiel. Arya wurde in die Luft gehoben. Sie wäre gefallen, wenn er sie nicht gehalten hätte, so leicht, als wäre sie eine Puppe.

Ein Gesicht kam nah an ihres, langes, schwarzes Haar, verfilzter Bart und schlechte Zähne.»Sieh nicht hin!«knurrte eine rauhe Stimme sie an.

«Ich… ich… ich…«, schluchzte Arya.

Der alte Mann schüttelte sie so heftig, daß ihre Zähne klapperten.»Halt den Mund, mach die Augen zu, Junge. «Dumpf, wie aus weiter Ferne, hörte sie ein… ein Geräusch… ein leises Seufzen, als hätten eine Million Menschen gleichzeitig ausgeatmet. Die Finger des alten Mannes gruben sich in ihren Arm, hart wie Eisen.»Sieh mich an. Ja, so ist es recht, mich. «Sein Atem roch nach saurem Wein.»Erinnerst du dich, Junge?«

Es war der Gestank. Arya sah das verfilzte, schmierige Haar, den geflickten, staubigen, schwarzen Umhang, der um seine verdrehten Schultern lag, die harten Augen, die sie anblinzelten. Und sie erinnerte sich an den schwarzen Bruder, der bei ihrem Vater zu Besuch gewesen war.

«Erkennst mich jetzt, oder? Du bist ein kluger Junge. «Er spuckte aus.»Hier sind sie fertig. Du kommst mit mir, und du wirst schön den Mund halten. «Als sie etwas antworten wollte, schüttelte er sie wieder, fester noch.»Still, habe ich gesagt!«

Langsam leerte sich der Platz. Die Menge um sie zerstreute sich, als die Leute wieder zu ihrem Leben zurückkehrten. Doch Arya war das Leben genommen. Benebelt lief sie neben…

Yoren, ja, sein Name ist Yoren. Sie erinnerte sich nicht daran, daß er Needle gefunden hatte, erst als er ihr das Schwert zurückgab.»Hoffe, du kannst es benutzen, Junge.«

«Ich bin kein…«, wollte sie sagen.

Er stieß sie in einen Hauseingang, packte sie mit schmutzigen Fingern beim Haar, drehte es und riß ihren Kopf zurück.»… kein kluger Junge, das wolltest du wohl sagen?«

Er hielt ein Messer in der anderen Hand. Als die Klinge vor ihrem Gesicht aufblitzte, warf sich Arya zurück, trat wild um sich, warf den Kopf hin und her, doch hatte er sie bei den Haaren, sie fühlte, wie ihre Kopfhaut riß, und auf ihren Lippen war der salzige Geschmack von Tränen.

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