Flügel überschatteten ihre Fieberträume.
«Du willst doch nicht den Drachen wecken, oder?«Sie lief einen langen Gang unter hohen Steinbögen entlang. Sie konnte sich nicht umsehen, durfte sich nicht umsehen. Vor ihr befand sich eine Tür, aus der Ferne winzig, aber selbst von weitem sah sie, daß sie rot gestrichen war. Sie ging schneller, und ihre nackten Füße ließen blutige Abdrücke auf dem Stein zurück.»Dw willst doch nicht den Drachen wecken, oder?«Sie sah das Licht der Sonne auf dem Dothrakischen Meer, dieser lebenden Ebene voller Gerüche von Erde und Tod. Wind verwehte die Gräser, und sie wogten wie Wasser. Drogo hielt sie in starken Armen, und seine Hand streichelte ihr Geschlecht und öffnete sie und weckte diese süße Feuchte, die ihm allein gehörte, und die Sterne lächelten auf sie herab, Sterne am Himmel voller Tageslicht.»Heimat«, flüsterte sie, als er in sie eindrang und ihr seinen Samen gab, doch plötzlich waren die Sterne verschwunden, große Schwingen zogen über den blauen Himmel, und die Welt stand in Flammen.
«… willst doch nicht den Drachen wecken, oder?«Ser Jorahs Miene war ausgezehrt und voller Trauer.»Rhaegar war der letzte Drache«, erklärte er ihr. Er wärmte durchscheinende Hände über einer glühenden Kohlenpfanne, in der steinerne Eier, rot wie Kohlen, glühten. Im einen Augenblick war er noch da, im nächsten verblaßte er schon, seine Haut farblos, weniger ein Körper noch als der Wind.»Der letzte Drache«, flüsterte er und war schon nicht mehr da. Sie spürte die Finsternis in ihrem Rücken, und die rote Tür schien weiter fort als je zuvor.»… willst doch nicht den Drachen wecken, oder?«
Viserys stand schreiend vor ihr.»Der Drache bittet nicht, Hure. Man gibt dem Drachen keine Befehle. Ich bin der
Drache, und ich werde gekrönt. «Das geschmolzene Gold tropfte wie Wachs an seinem Gesicht herab, brannte tiefe Furchen in seine Haut.»Ich bin der Drache, und ich werde gekrönt!«kreischte er, und seine Finger schnappten wie Schlangen, bissen nach ihren Brustwarzen, kniffen, drehten, während seine Augen platzten und wie Gelee über schwarze, versengte Wangen liefen.
«… willst den Drachen doch nicht wecken…«
Die rote Tür lag so weit vor ihr, und sie konnte spüren, wie der eisige Atem hinter ihr sie einholte. Wenn er sie fing, würde sie eines Todes sterben, der mehr war als der Tod, und auf ewig in der Finsternis heulen. Sie fing an zu rennen.
«… willst den Drachen doch nicht wecken…«
Sie konnte die Hitze in sich spüren, ein schreckliches Brennen in ihrem Schoß. Ihr Sohn war groß und stolz, besaß Drogos Kupferhaut und ihr weißgoldenes Haar, die veilchenblauen Augen waren wie Mandeln geformt. Und er lächelte sie an und hob die Hand der ihren entgegen, doch als er den Mund öffnete, schoß Feuer hervor. Sie sah, wie ihm das Herz durch seine Brust brannte, und einen Augenblick später war er verschwunden, versengt wie eine Motte im Kerzenlicht, zu Asche verbrannt. Sie weinte um ihr Kind, um das Versprechen eines süßen Mundes an ihrer Brust, doch ihre Tränen wurden zu Dampf, wenn sie ihre Haut berührten.
«… willst doch den Drachen wecken…«
Geister säumten den Korridor, bekleidet mit verblaßten Gewändern von Königen. In ihren Händen hielten sie Schwerter von fahlem Feuer. Sie hatten silbernes Haar und goldenes Haar und platinweißes Haar, und ihre Augen waren Opal und Amethyst, Turmalin und Jade.»Schneller«, riefen sie,»schneller, schneller. «Sie rannte, und ihre Füße schmolzen den Stein, wo immer sie ihn betrat.»Schneller!«riefen die Geister wie aus einem Mund, und sie schrie und warf sich nach vorn. Ein mächtiges Messer aus Schmerz schnitt an ihrem Rücken herab, und sie fühlte, wie ihre
Haut aufriß, roch den Gestank von brennendem Blut und sah den Schatten von Flügeln. Und Daenerys Targaryen flog.
«… den Drachen wecken…«
Vor ihr ragte die Tür auf, die rote Tür, so nah, so nah, daß der Korridor um sie herum verschwamm und die Kälte in ihrem Rücken sich zurückzog. Und dann war der Stein fort, und sie flog über das Dothrakische Meer, hoch und immer höher, unter sich das grüne Wogen, und alles, was lebte und atmete, floh erschrocken vor dem Schatten ihrer Flügel. Sie konnte die Heimat riechen, sie konnte sie sehen, dort, gleich hinter dieser Tür, grüne Felder und große, steinerne Häuser und Arme, die sie wärmten, dort. Sie warf die Tür auf.
«… Drachen…«
Und sah ihren Bruder Rhaegar auf einem Hengst sitzen, der so schwarz wie seine Rüstung war. Feuer glimmte rot durch den schmalen Augenschlitz in seinem Helm.»Der letzte Drache«, flüsterte Ser Jorahs Stimme schwach.»Der letzte, der letzte. «Dany hob sein poliertes, schwarzes Visier nach oben. Das Gesicht dahinter war ihr eigenes.
Danach folgte lange Zeit nur noch der Schmerz, das Feuer in ihr und das Flüstern der Sterne.
Mit dem Geschmack von Asche im Mund erwachte sie.»Nein«, stöhnte sie,»bitte nicht.«»Khaleesi?«Jhiqui stand über sie gebeugt wie ein verschrecktes Reh.
Das Zelt war von Schatten durchtränkt, still und eng. Flocken von Asche trieben vom Kohlenrost auf, und Dany folgte ihnen mit den Augen durch das Rauchloch in der Decke. Geflogen, dachte sie. Ich hatte Flügel. Ich bin geflogen. Doch es war nur ein Traum.»Hilf mir«, flüsterte sie und rang darum, sich aufzurichten.»Bring mir…«Ihre Stimme war rauh wie eine Wunde, und ihr fiel nicht ein, was sie wollte. Warum hatte sie solche Schmerzen? Es war, als wäre ihr Körper in Stücke gerissen und aus den Fetzen wieder zusammengesetzt worden.»Ich möchte… «
«Ja, Khaleesi. «Augenblicklich war Jhiqui fort, stürmte aus dem Zelt und rief etwas. Dany brauchte… etwas… jemanden… was? Es war wichtig, das wußte sie. Es war das einzige auf der Welt, das zählte. Sie drehte sich auf die Seite und brachte einen Ellenbogen unter sich, trat die Decke fort, die sich um ihre Beine gewickelt hatte. Es fiel ihr so schwer, sich zu bewegen. Die Welt um sie verschwamm. Ich muß unbedingt…
Sie fanden sie auf dem Teppich, als sie zu ihren Dracheneiern kroch. Ser Jorah Mormont nahm sie in die Arme und trug sie auf ihre seidenen Laken zurück, während sie sich kraftlos dagegen wehrte. Über seine Schulter hinweg sah sie ihre drei Dienerinnen, und Jhogo mit seinem kleinen Büschel von einem Bart und das breite Gesicht von Mirri Maz Duur.»Ich muß«, versuchte sie, ihm zu sagen,»ich muß unbedingt… «
«… schlafen, Prinzessin«, sagte Ser Jorah.
«Nein«, widersprach Dany.»Bitte. Bitte.«
«Ja. «Er deckte sie mit Seide zu, obwohl sie glühte.»Schlaft und werdet groß und stark, Khaleesi. Kommt zu uns zurück. «Und dann war Mirri Maz Duur da, die maegi, und sie hielt ihr einen Becher an die Lippen. Sie schmeckte saure Milch und etwas anderes, etwas Dickes, Bitteres. Warme Flüssigkeit lief an ihrem Kinn herab. Irgendwie schluckte sie. Das Zelt wurde unscharf, und wieder umfing sie der Schlaf. Diesmal träumte sie nicht. Heiter und friedlich trieb sie auf einem schwarzen Meer, das keine Küste kannte.
Nach einer Weile — einer Nacht, einem Tag, sie konnte es nicht sagen — wachte sie abermals auf. Das Zelt war dunkel, die Seidenwände flatterten wie Flügel, wenn draußen Wind aufkam. Diesmal versuchte Dany aufzustehen.»Irri«, rief sie,»Jhiqui. Doreah. «Sogleich waren sie da.»Meine Kehle ist trocken«, rief sie,»so trocken«, und sie brachten ihr Wasser. Es war warm und schal, trotzdem trank Dany es gierig und schickte Jhiqui, mehr davon zu holen. Irri tränkte ein weiches Tuch und tupfte ihre Stirn.
«Ich war krank«, stellte Dany fest. Das dothrakische Mädchen nickte.»Wie lange?«Das Tuch war lindernd, doch wirkte Irri so traurig, daß es sie ängstigte.
«Lange«, flüsterte sie. Als Jhiqui mit mehr Wasser kam, trat Mirri Maz Duur zu ihr, die Lider schwer vorn Schlaf.»Trinkt«, sagte sie und hob Danys Kopf wieder zum Becher, nur diesmal war es Wein. Süßer, süßer Wein. Dany schluckte, lehnte sich zurück und lauschte dem sanften Klang ihres eigenen Atems. Sie spürte die Schwere in ihren Gliedern, als der Schlaf herankroch, um sie erneut zu umfangen.»Bringt mir…«, flüsterte sie benommen.»Bringt… ich möchte es halten…«»Ja?«fragte die maegi.»Was wünscht Ihr, Khaleesi?«»Bringt mir… Ei… Drachenei… bitte…«Ihre Lider wurden zu Blei, und sie war zu erschöpft, sie offenzuhalten.
Als sie zum dritten Mal erwachte, fiel ein Stab von goldenem Sonnenlicht durchs Rauchloch im Zelt, und ihre Arme waren um ein Drachenei geschlungen. Es war das helle, die Schuppen wie Buttercreme gefärbt, von goldenen und bronzenen Adern durchzogen, und Dany konnte seine Hitze spüren. Unter dem Seidenlaken war die nackte Haut von einem feinen Schweißfilm überzogen. Drachentau, dachte sie. Ihre Finger fuhren sanft über die Oberfläche der Schale, folgten den goldenen Adern, und sie spürte, wie sich tief im Stein etwas wie zur Antwort wand und streckte. Sie fürchtete sich nicht. Alle Furcht war vergangen, verbrannt.
Dany berührte ihre Stirn. Unter dem Schweißfilm war ihre Haut ganz kalt, das Fieber abgeklungen. Sie setzte sich auf. Einen Moment lang war sie benommen, spürte einen tiefen Schmerz zwischen ihren Schenkeln. Und dennoch fühlte sie sich stark. Ihre Mädchen kamen gelaufen, sobald sie ihre Stimme hörten.»Wasser«, erklärte sie ihnen,»eine Flasche Wasser, so kalt wie möglich. Und Früchte, glaube ich. Datteln.«
«Ganz nach Eurem Wunsch, Khaleesi.«
«Holt mir Ser Jorah«, sagte sie und stand auf. Jhiqui brachte einen Mantel aus roher Seide und legte ihn um ihre Schultern.»Und ein warmes Bad, und Mirri Maz Duur, und…«Da fiel ihr alles mit einem Mal wieder ein, und sie taumelte.»Khal Drogo«, brachte sie hervor und blickte voller Furcht in ihre Gesichter.»Ist er…?«
«Der khal lebt«, antwortete Irri leise… doch sah Dany die Finsternis in ihren Augen, als sie die Worte sagte, und kaum hatte sie diese ausgesprochen, eilte sie schon davon, um Wasser zu holen.
Sie wandte sie Doreah zu.»Sag es mir.«»Ich… ich hole Euch Ser Jorah«, erwiderte das Mädchen aus Lys, verneigte sich und lief aus dem Zelt.
Auch Jhiqui wäre fortgerannt, nur hielt Dany sie beim Handgelenk, daß sie ihr nicht entkommen konnte.»Was ist los? Ich muß es wissen. Drogo… und mein Kind. «Warum hatte sie noch gar nicht an ihr Kind gedacht?» Mein Sohn… Rhaego… wo ist er? Bring ihn mir.«
Ihre Dienerin blickte zu Boden.»Der Junge… er hat nicht überlebt, Khaleesi. «Ihre Stimme war ein ängstliches Flüstern.
Dany ließ ihr Handgelenk los. Mein Sohn ist tot, dachte sie. Jhiqui verließ das Zelt. Irgendwie hatte sie es gewußt. Sie hatte es schon gewußt, als sie das erste Mal aufwachte und Jhiqui weinen sah. Nein, sie hatte es gewußt, bevor sie erwacht war. Der Traum fiel ihr wieder ein, plötzlich und lebhaft, und sie erinnerte sich an den großen Mann mit Kupferhaut und langem, silbergoldenem Zopf, der dort in Flammen stand.
Sie hätte weinen sollen, das wußte sie, doch waren ihre
Augen trocken wie Asche. Im Traum hatte sie geweint, und die Tränen waren auf den Wangen zu Dampf geworden. Alle Trauer in mir ist ausgebrannt, sagte sie sich. Zwar war sie traurig, ja, und doch… sie spürte, wie Rhaego von ihr wich, als hätte es ihn nie gegeben.
Einen Moment später traten Ser Jorah und Mirri Maz Duur ein und fanden Dany über die Dracheneier gebeugt, zwei davon noch in ihrem Kasten. Sie schienen sich ebenso heiß anzufühlen wie das eine, mit dem sie geschlafen hatte, was höchst seltsam war.
«Ser Jorah, kommt her«, sagte sie. Sie nahm seine Hand und legte sie auf das schwarze Ei mit der roten Maserung.»Was fühlt ihr?«
«Schale, hart wie Stein. «Der Ritter war vorsichtig.
«Hitze?«
«Nein. Kalter Stein. «Er zog die Hand zurück.»Prinzessin, geht es Euch gut? Solltet Ihr auf den Beinen sein, schwach, wie Ihr seid?«
«Schwach? Ich bin stark, Jorah. «Ihm zuliebe zog sie sich auf ein paar Kissen zurück.»Sagt mir, wie mein Kind gestorben ist.«
«Es hat gar nicht gelebt, meine Prinzessin. Die Frauen sagen…«Er zögerte, und Dany sah, daß die Haut lose an ihm hing und er hinkte, wenn er sich bewegte.
«Sagt es mir. Sagt mir, was die Frauen gesagt haben.«
Er wandte sich ab. Seine Augen waren voller Qual.»Sie sagen, das Kind war…«
Sie wartete, doch Ser Jorah brachte es nicht heraus. Seine Miene verfinsterte sich vor Scham. Er sah selbst halbwegs aus wie eine Leiche.
«Mißgestaltet«, beendete Mirri Maz Duur für ihn den Satz. Der Ritter war ein kräftiger Mann, in diesem Augenblick jedoch erkannte Dany, daß die maegi stärker war und grausamer und unendlich viel gefährlicher.»Verdreht. Ich habe ihn selbst herausgeholt. Er war geschuppt wie eine Echse, blind, mit einem Stummelschwanz und kleinen, ledernen Flügeln wie von einer Fledermaus. Als ich ihn berührte, fiel das Fleisch von seinen Knochen, und innerlich war er voller Grabeswürmer und dem Gestank von Verwesung. Er war seit Jahren schon tot.«
Finsternis, dachte Dany. Schreckliche Finsternis tat sich hinter ihr auf, um sie zu verschlingen. Wenn sie zurückblickte, wäre sie verloren.»Mein Sohn hat gelebt und war kräftig, als Ser Jorah mich ins Zelt getragen hat«, sagte sie.»Ich konnte fühlen, wie er getreten hat, daß er geboren werden wollte.«
«Mag es sein, wie es will«, antwortete Mirri Maz Duur,»doch die Kreatur, die aus Eurem Schoß kam, war so, wie ich sagte. Der Tod war in diesem Zelt, Khaleesi.«
«Nur Schatten«, sagte Ser Jorah heiser, und Dany konnte den
Zweifel in seiner Stimme hören.»Ich habe es gesehen, maegi. Ich habe Euch gesehen, allein, und Ihr habt mit den Schatten getanzt.«
«Das Grab wirft lange Schatten, Eisenlord«, sagte Mirri.»Lang und finster, und am Ende kann kein Licht sie aufhalten.«
Ser Jorah hatte ihren Sohn getötet, Dany wußte es. Was er getan hatte, war aus Liebe und Treue geschehen, dennoch hatte er sie an einen Ort gebracht, an dem kein Lebender sich aufhalten sollte, und dann ihr Kind an die Finsternis verfüttert. Er wußte es selbst, das graue Gesicht, die ausgehöhlten Augen, das Hinken.
«Auch Euch haben die Schatten berührt, Ser Jorah«, sagte sie. Der Ritter gab keine Antwort. Dany wandte sich dem Götterweib zu.»Du hast mich gewarnt, daß nur der Tod für das Leben bezahlen könnte. Ich dachte, du meintest das Pferd.«
«Nein«, sagte Mirri Maz Duur.»Damit habt Ihr Euch selbst
belogen. Ihr kanntet den Preis.«
War es so? War es so gewesen? Wenn ich mich umsehe, bin ich verloren.»Ich habe den Preis gezahlt«, sagte Dany.»Das Pferd, mein Kind, Quaro und Qotho, Haggo und Cohollo. Ich habe den Preis gezahlt und gezahlt und gezahlt. «Sie erhob sich von ihren Kissen.»Wo ist Khal Drogo? Zeig ihn mir, Götterweib, maegi, Blutzauberin, was immer du bist. Zeig mir Khal Drogo. Zeig mir, was ich mir mit dem Leben meines Sohnes erkauft habe.«
«Wie Ihr befehlt, Khaleesi«, sagte die alte Frau.»Kommt, ich werde Euch zu ihm bringen.«
Dany war schwächer, als sie gedacht hatte. Ser Jorah legte einen Arm um sie und stützte sie.»Dafür ist später noch Zeit genug, meine Prinzessin«, sagte er leise.
«Ich möchte ihn jetzt sehen, Ser Jorah. «Nach dem trüben Licht im Zelt war die Welt draußen blendend hell. Die Sonne brannte wie geschmolzenes Gold, und das Land war leer und versengt. Ihre Dienerinnen warteten mit Obst und Wein und Wasser, und Jhogo kam heran, um Ser Jorah dabei zu helfen, sie zu stützen. Aggo und Rakharo traten zurück. Das grelle Licht der Sonne auf dem Sand machte es ihr schwer, mehr zu erkennen, bis Dany eine Hand hob, um ihre Augen zu beschatten. Sie sah die Asche eines Feuers, ein paar Pferde, die herumirrten auf der Suche nach einem Büschel Gras, einige verstreute Zelte und Schlafstellen. Ein paar Kinder hatten sich versammelt, um sie zu betrachten, und hinter ihnen sah sie Frauen, die ihrer Arbeit nachgingen, und faltige, alte Männer, die mit müden Augen in den leeren, blauen Himmel starrten und matt nach Blutfliegen schlugen. Sie zählten nicht mehr als hundert Leute, nicht mehr. Wo die anderen vierzigtausend ihr Lager gehabt hatten, lebten jetzt nur noch Wind und Staub.»Drogos khalasar ist fort«, sagte sie.
«Ein khal, der nicht reiten kann, ist kein khal«, erwiderte
Jhogo.»Die Dothraki folgen nur den Starken«, sagte Ser Jorah.»Es tut mir leid, meine Prinzessin. Sie waren nicht zu halten. Ko Pono ging zuerst, nannte sich Khal Pono, und viele folgten ihm. Es dauerte nicht lange, bis Jhaqo es ihm nachmachte. Der Rest schlich sich Nacht für Nacht davon, in großen Gruppen und in kleinen. Es gibt ein Dutzend neue khalasars auf dem Dothrakischen Meer, wo einst nur Drogos war.«
«Die Alten sind geblieben«, sagte Aggo.»Die Ängstlichen, die Schwachen und die Kranken. Und wir, die wir es geschworen haben. Wir bleiben.«
«Sie haben Khal Drogos Herden mitgenommen«, sagte Rakharo.»Wir waren zu wenige, als daß wir sie daran hätten hindern können. Es ist das Recht des Starken, von den Schwachen zu nehmen. Sie haben auch viele Sklaven mitgenommen, vom khal und auch von Euren, nur wenige haben sie zurückgelassen.«
«Eroeh?«fragte Dany, als sie an das verängstigte Kind dachte, das sie draußen vor der Stadt der Lämmermenschen gerettet hatte.
«Mago hat sie sich geholt, der jetzt Khal Jhaqos Blutreiter ist«, berichtete Jhogo.»Er hat sie von allen Seiten bestiegen und dann seinem khal geschenkt, und Jhaqo hat sie an seine anderen Blutreiter weitergereicht. Sie waren zu sechst. Als sie mit ihr fertig waren, haben sie ihr die Kehle durchgeschnitten.«
«Es war ihr Schicksal, Khaleesi«, sagte Aggo.
Wenn ich mich umsehe, bin ich verloren.»Es war ein grausames Schicksal«, sagte Dany,»und doch nicht so grausam, wie Magos werden wird. Das verspreche ich Euch, bei den alten Göttern und den neuen, beim Lämmergott und Pferdegott und allen Göttern, die es gibt. Ich schwöre es bei der Mutter aller Berge und beim Schoß der Welt. Wenn ich mit ihnen fertig bin, werden Mago und Ko Jhaqo um die Gnade winseln, die sie Eroeh haben angedeihen lassen.«
Die Dothraki tauschten unsichere Blicke.»Khaleesi«, erklärte die Dienerin Irri, als spräche sie mit einem Kind,»Jhaqo ist jetzt khal, mit zwanzigtausend Mann in seinem Rücken.«
Sie hob den Kopf.»Und ich bin Daenerys Stormborn, Daenerys aus dem Hause Targaryen, vom Blute Aegons, des Eroberers, und Maegors, des Grausamen, und des alten Valyria vor ihnen. Ich bin die Tochter des Drachen, und ich schwöre Euch: Diese Männer werden sterben. Jetzt bringt mich zu Khal Drogo.«
Er lag auf der nackten, roten Erde und starrte zur Sonne hoch.
Ein Dutzend Blutfliegen hatten sich auf ihm niedergelassen, er schien sie nicht zu spüren. Dany verscheuchte sie und kniete neben ihm. Seine Augen standen weit offen, doch sahen sie nichts, und sie wußte, daß er blind war. Als sie seinen Namen flüsterte, hörte er sie nicht. Die Wunde an seiner Brust war so gut verheilt, wie sie jemals verheilen würde, die Narbe grau und rot und abscheulich.
«Warum ist er allein hier draußen in der Sonne?«fragte sie die anderen.
«Die Wärme scheint ihm zu gefallen, Prinzessin«, sagte Ser Jorah.»Sein Blick folgt der Sonne, doch sieht er sie nicht. Er kann einigermaßen gehen. Er geht, wohin man ihn lenkt, aber nicht weiter. Er ißt, wenn man ihm etwas in den Mund schiebt, trinkt, wenn man ihm Wasser auf die Lippen träufelt.«
Dany küßte ihre Sonne, ihre Sterne sanft auf die Stirn, stand auf und sah Mirri Maz Duur an.»Dein Zauber ist teuer, maegi.«
«Er lebt«, sagte Mirri Maz Duur.»Ihr habt ums Leben gebeten. Ihr habt fürs Leben bezahlt.«
«Das ist kein Leben für jemanden, der wie Drogo war. Sein Leben war Lachen, ein Braten über dem Feuer und ein Pferd zwischen den Beinen. Sein Leben war ein arakh in der Hand und seine läutenden Glöckchen im Haar, wenn er einem Feind entgegenritt. Sein Leben waren seine Blutreiter und ich und der Sohn, den ich ihm schenken wollte.«
Mirri Maz Duur gab keine Antwort.
«Wann wird er wieder sein, wie er war?«forderte Dany zu wissen.
«Wenn die Sonne im Westen aufgeht und im Osten versinkt«, sagte Mirri Maz Duur.»Wenn das Meer austrocknet und die Berge wie Blätter im Wind verwehen. Wenn Euer Schoß wieder Früchte trägt und Ihr ein lebendes Kind bekommt. Dann wird er wiederkehren, vorher nicht.«
Dany deutete auf Ser Jorah und die anderen.»Geht. Ich möchte mit dieser maegi allein sprechen. «Mormont und die Dothraki zogen sich zurück.»Du hast es gewußt«, sagte Dany, als sie fort waren. Ihre Schmerzen waren groß, innerlich und äußerlich, doch ihr Zorn verlieh ihr Kraft.»Du wußtest, was ich mir erkaufen würde, du kanntest den Preis, und du hast mich bezahlen lassen.«»Es war nicht recht von ihnen, meinen Tempel niederzubrennen«, sagte die schwere, flachnasige Frau gelassen.»Es hat den Großen Hirten verärgert.«
«Das war keines Gottes Werk«, sagte Dany kalt. Wenn ich mich umsehe, bin ich verloren.»Du hast mich betrogen. Du hast das Kind in mir getötet.«
«Der Hengst, der die Welt besteigt, wird keine Städte niederbrennen. Sein khalasar wird kein Land mehr in den Staub treten.«»Ich habe für dich gesprochen«, sagte sie gequält.»Ich habe dich gerettet.«
«Mich gerettet?«Die Khazareen spuckte aus.»Drei Reiter haben mich genommen, nicht, wie ein Mann eine Frau nimmt, sondern von hinten, wie ein Hund eine Hündin besteigt. Der vierte war in mir, als Ihr geritten kamt. Wie habt Ihr mich gerettet? Ich habe gesehen, wie mein Gotteshaus brennt, in dem ich mehr gute Menschen geheilt habe, als sich zählen lassen. Auch mein Haus haben sie niedergebrannt, und auf der Straße habe ich ganze Berge von Schädeln gesehen. Ich habe den Kopf des Bäckers gesehen, der mein Brot gebacken hat. Ich habe den Kopf eines Jungen gesehen, den ich vom Fieber gerettet hatte, vor drei Monaten erst. Ich habe gehört, wie Kinder weinten, als die Reiter sie mit ihren Peitschen trieben. Sagt mir noch einmal, was Ihr mir gerettet habt.«
«Dein Leben.«
Mirri Maz Duur lachte häßlich.»Werft einen Blick auf Euren khal und seht, was dem Leben als Wert bleibt, wenn alles andere verloren ist.«
Dany rief die Männer ihres khas und hieß sie, Mirri Maz Duur zu nehmen und an Händen und Füßen zu fesseln, doch die maegi lächelte sie an, während man sie wegtrug, als teilten sie ein gemeinsames Geheimnis. Mit einem Wort hätte Dany sie köpfen lassen können… nur, was hätte sie dann? Einen Kopf? Wenn das Leben wertlos war, was war dann der Tod?
Sie führten Khal Drogo in ihr Zelt, und Dany befahl ihnen, eine Wanne mit Wasser zu füllen, und diesmal war kein Blut im Wasser. Sie badete ihn selbst, wusch den Schmutz und Staub von Armen und Brust, reinigte sein Gesicht mit einem weichen Tuch, seifte sein langes, schwarzes Haar und kämmte die Knoten heraus, bis es wieder so glänzte, wie sie es in Erinnerung hatte. Es war schon weit nach Einbruch der Dunkelheit, als sie fertig wurde, und Dany war erschöpft. Sie trank und aß etwas, konnte nur an einer Feige knabbern und einen Mundvoll Wasser bei sich behalten. Schlaf wäre eine Erlösung gewesen, aber sie hatte genug geschlafen… zu lange eigentlich. Diese Nacht schuldete sie Drogo, für alle Nächte, die gewesen waren und vielleicht noch kommen mochten.
Die Erinnerung an ihren ersten Ritt begleitete sie, derweil sie ihn in die Dunkelheit hinausführte, da die Dothraki glaubten, daß alle wichtigen Dinge im Leben eines Mannes unter freiem Himmel geschehen mußten. Sie sagte sich, es gäbe Mächte, die stärker als aller Haß waren, und Zaubersprüche, die älter und wahrer als alle waren, welche die maegi in Asshai gelernt hatte. Die Nacht war schwarz und mondlos, doch über ihnen leuchteten Millionen heller Sterne. Sie nahm es als Omen.
Dort hieß sie keine gräserne Decke willkommen, bloß harte, staubige Erde, nackt und mit Steinen übersät. Kein Baum rührte sich im Wind, und es gab keinen Bach, der ihre Ängste mit der sanften Musik des Wassers linderte. Dany sagte sich, die Sterne würden genügen.»Erinnere dich, Drogo«, flüsterte sie.»Erinnere dich an unseren ersten gemeinsamen Ritt am Tage unserer Hochzeit. Erinnere dich an die Nacht, in der wir Rhaego gezeugt haben, mit dem khalasar um uns herum, und wie du mich angesehen hast. Erinnere dich, wie kühl und klar das Wasser im Schoß der Welt war. Erinnere dich, meine Sonne, meine Sterne. Erinnere dich und komm zu mir zurück.«
Sie war von der Geburt zu wund und aufgerissen, als daß sie ihn in sich hätte aufnehmen können, wie sie es gewollt hätte, doch Doreah hatte sie andere Möglichkeiten gelehrt. Dany benutzte ihre Hände, ihren Mund, ihre Brüste. Sie kratzte ihn mit ihren Nägeln und übersäte ihn mit Küssen und flüsterte und betete und erzählte ihm Geschichten, und am Ende überschüttete sie ihn mit ihren Tränen. Drogo fühlte nichts, sagte nichts und richtete sich auch nicht auf.
Und als der öde Morgen über dem leeren Horizont dämmerte, wußte Dany, daß sie ihn wirklich und wahrhaftig verloren hatte.»Wenn die Sonne im Westen aufgeht und im Osten versinkt«, sagte sie traurig.»Wenn das Meer austrocknet und die Berge wie Blätter im Wind verwehen. Wenn mein Schoß wieder Früchte trägt und ich ein lebendes Kind bekomme. Dann kommst du wieder, meine Sonne, meine Sterne, vorher nicht. «Niemals, schrie die Finsternis, niemals, niemals, niemals. Im Zelt suchte Dany ein Kissen, weiche
Seide, mit Federn ausgestopft. Sie hielt es an die Brust, als sie hinaus zu Drogo ging, zu ihrer Sonne, ihren Sternen. Wenn ich mich umsehe, bin ich verloren. Selbst das Gehen schmerzte, und sie wollte nur noch schlafen, schlafen, ohne zu träumen.
Sie kniete nieder, küßte Drogo auf die Lippen und drückte das Kissen auf sein Gesicht.