Es ist herrlich, einmal im Jahr, über vier Wochen hinweg, nichts _zu tun. Im Sand zu liegen, eingewickelt in die Wärme der Sonne, das Meer rauschen zu hören, den Wind wie ein zärtliches Streicheln auf der Haut zu spüren, sich hinzugeben dem beglückenden Gefühl, dem Alltag entronnen zu sein und sich ganz auf sich selbst besinnen zu können.
Nachts glitt der Strahlfinger des Leuchtturms von Capo San Marco über das meist nur schwach gekräuselte Meer, weit draußen glitzerten die Lichter der Schiffe, und gegen Morgen tuckerten die Fischer von San Giovanni di Sims vorbei, auf der Heimkehr vom nächtlichen Fang.
Vom >Aktivurlaub<, der in unseren Tagen so eindringlich empfohlen wird, hielt Dr. Heinz Volkmar nicht viel, obwohl sich Großstadtmenschen auf diese Art sicher am besten erholen können. Er suchte sich lieber einsame Küsten aus, baute sein großes Hauszelt auf, azurblau mit leuchtendgelbem Vordach und einer Veranda mit Kunststoffscheiben, und dort verlebte er dann glückliche Wochen in dem Bewußtsein, sich dieses absolute Faulenzen ehrlich verdient zu haben.
Seine große Ferienliebe galt Sardinien. Und wer einmal in einer der zahllosen Buchten ein Stück dieser grandiosen Natur geworden ist, dem wächst die Sehnsucht ins Herz fest, zurückzukommen auf diese Insel, auf der es anscheinend nur glückliche Menschen gibt.
Natürlich ist das eine Täuschung. Aber Dr. Volkmar ließ sich gerne täuschen — nicht anders als alle Touristen, die nur Palmen und Meer, Tavernen und weißgekalkte Häuser sehen und nicht die Not, die sich hinter diesen in der Sonne blendenden Mauern eingenistet hat. Man muß das verstehen. Sein Arbeitstag betrug selten weniger als zehn Stunden, er war schon sehr zufrieden, wenn es nur zwölf Stunden waren. Die morgendliche Konferenz mit dem Chef und allen anderen Klinikärzten, die Durchsprache der neu eingeliefer-ten Patienten, der Operationsplan, die Morgenvisite, sofern nicht schon die Arbeit im OP begann, die langen Stunden am OP-Tisch, über die aufgeschnittenen Leiber gebeugt, auf dem Kopf und im Nacken die Hitze der riesigen Operationsscheinwerfer, der Blutdunst, der keine Sekunde unterbrochene Kampf gegen Komplikationen, oft genug um Leben und Tod gegen die Uhr, dann drei Tassen starker Kaffee im Ärztekasino, ein paar Bissen hinuntergewürgt, Kontrolle der Wachstation, und später — wenn in der Klinik nichts Dramatisches mehr zu erwarten war, die Fahrt zum Institut für Transplantationsforschung, wo Hunde, Affen, Schafe und drei Schweine eingesperrt waren, um eines baldigen Tages für den Fortschritt der Menschheit zu sterben. Endlich die späten Abende: Eintragungen in das private Forschungstagebuch, Zeitungslektüre, Studium einiger medizinischer Schriften, ab und zu auch ein Telefonanruf:»Wol-len wir heute ausgehen? Ja, es ist schon spät. Ich weiß. Aber wir könnten bei Yan Yüng essen…«Dann aß man chinesisch mit Dr. Angela Blüthgen, Assistentin der Inneren Abteilung, 1. Medizinische Klinik, hellblond, lange, leicht gewellte Haare bis auf die Schultern, und manchmal fielen sie ihr über die schönen Brüste, die niemand übersehen konnte. Dreißig Jahre alt, bereits geschieden, war eine dumme Studentenehe damals, hervorgegangen aus einer Trotzaktion gegen die Eltern, die kein Verständnis dafür hatten, daß ein junges Mädchen mit Abitur und ein junger Mann, stud. jur. unbedingt in einem Zimmer und in einem Bett zusammen leben wollten. Aber schon nach wenigen Jahren nahm sich alles anders aus, und keinem gelang es mehr, die Fehler des anderen zu übersehen. Flucht in die Freiheit also, bald darauf die erste Begegnung mit Dr. Heinz Volkmar, auf einem Medizinerkongreß in Bad Reichenhall. Man fand einander sympathisch, aber Liebe im romantischen Sinne war es nicht; ab und zu schlief man zusammen, weil es Spaß machte und eine gewisse Ordnung darin lag, nur mit einem Partner ins Bett zu gehen und nicht mehr auf der Suche sein zu müssen. Doch nie fiel ein Wort wie:»Wollen wir zusammenbleiben?«oder:»Heinz, ich liebe dich!«Es genügten die Anrufe:»Gehen wir heute abend aus?«, es genügte das Ritual des Essens, ein guter Wein, ein wenig Fröhlichkeit und Sehnsucht im Herzen und in den Lenden, die paar Stunden der Vereinigung und die fast nüchterne Feststellung:»Es war schön mit dir…«Und dann der neue Tag, Klinik, Chefbesprechung, Operationen…
Einmal im Jahr, vier Wochen lang, fiel das alles ab. Da stopfte man sein Auto voll mit Zeltausrüstung, Schlauchboot, Taucherausrüstung und viel Vorfreude, rieb sich die Hände, als habe man alles Glück dieser Welt erobert, und dann fuhr man los, durch die Alpen, den ganzen italienischen Stiefel hinunter bis nach Neapel, um sich dort einzuschiffen nach Cagliari.
Sardinien! Im Wind drehten sich die Flügel der Mühlen, Maultiere kletterten die Bergpfade hinauf, und ständen nicht die Autos auf dem Parkplatz, könnte man glauben, in den Ruinen auf der Bergkuppe von Barumini habe sich seit über zweitausend Jahren nichts verändert.
Angela Blüthgen war nie mit in Urlaub gefahren. Als Dr. Volkmar diese Möglichkeit einmal sehr umschrieben andeutete, hatte sie gelächelt.»Heinz, das tötet!«hatte sie gesagt.»Wir zwei — vier Wochen allein in einem Zelt, in völliger Einsamkeit am Meer, der eine auf den anderen angewiesen, und keiner kann dem anderen mal davonlaufen!? Heinz, das wäre Selbstzerfleischung, aber kein Urlaub. Wir sind zwei Individualisten. Wenn wir zusammen schlafen, ist das eine Freude, die wir uns gönnen — aber dann gehen wir auseinander, und jeder wird wieder er selbst. Das ist gut so. Wir, über eine längere Zeit zusammen — das gäbe Mord und Totschlag!«
Zum ersten Mal hatte er damals gefragt:»Weißt du überhaupt nicht, was Liebe ist, Angi?«
«Ich flüchte vor ihr, ich verstecke mich vor ihr, und wenn sie beginnt, sich doch festzusetzen, prügele ich mich selbst. Ich bin keine Frau, die einem Mann gehorsam ist. Und das wollt ihr Männer doch zuallererst!«
«Könntest du mich lieben?«hatte er sehr beeindruckt gefragt.
«Ja!«hatte sie ganz nüchtern erwidert.»Das ist ja das Furchtbare. Und deshalb gehe ich jetzt. Ruf mich bitte in den nächsten drei Wochen nicht an! Ich muß mich erst wieder beruhigen.«
Man muß das wissen, um zu verstehen, warum auch in diesem Jahr 1967 Dr. Heinz Volkmar wieder allein an der Bucht am Capo San Marco im Sand lag und seine Faulheit pflegte. Ein Mann von zweiundvierzig Jahren, Dozent und 1. Oberarzt, etwas mehr als mittelgroß, genau 1,79 Meter, dank seinem 12- bis 14-Stunden-Tag und einem dadurch bedingten nervösen Magen notgedrungen schlank, aber nicht knochig, breit in den Schultern, schmal in den Hüften, aber durchaus kein Modellmann; das dichte braune Haar zeigte an den Schläfen und den Koteletten schon einen weißlichen Schimmer. Er kleidete sich elegant-salopp und war sich seiner Wirkung auf Frauen bewußt.
«Eigentlich können wir uns auf der Intensivstation alle Herzschrittmacher und Defibrillatoren sparen«, hatte einmal sein Chef, Professor Dr. Hatzport, gesagt.»Wenn Volkmar die Stationen unserer weiblichen Patienten betritt, kommt es zur natürlichen Kreislauf Stabilität! Das älteste Herz fängt wieder an zu trommeln!«
Dr. Volkmar nahm das gelassen hin. Die Körpersprache der jungen Ärztinnen, Krankenschwestern, die ihm aufzulauern schienen, unverhüllte Blicke, die ihn trafen, auch auf Sardinien, wenn er nach Cabras fuhr oder nach Oristano, um in den Supermärkten einzukaufen — er registrierte es nicht viel anders, als ginge es um eine Eintragung in sein Forschungstagebuch. Es sah so aus, als wolle er Dr. Angela Blüthgen die Treue halten.
Nun war er schon acht Tage, längst tiefbraun gebrannt, auf Sardinien, hatte bereits dreimal selbst fürs Abendessen gesorgt, indem er ein paar Fische harpuniert und in der Pfanne über dem Campinggaskocher gebraten hatte, und auch an diesem Abend freute er sich darüber, daß seine kleine Bucht noch immer nicht von anderen Urlaubern entdeckt worden war. An Angela hatte er geschrieben:»Zum Paradies fehlt nur noch eine Eva. «Als er die Karte in Oristano in den Briefkasten steckte, wußte er, daß Angela darüber lachen würde.»Du hast ein falsches Bild von mir.«, würde sie sa-gen, wenn sie jetzt vor ihm stände.»Im Paradies wäre ich die Schlange.«
In dieser neunten Nacht im großen Hauszelt geschah es, daß es draußen auf der Veranda schepperte, als stoße jemand an den Tisch und die Gartenstühle.
Dr. Volkmar hatte sich eine kleine Ballonflasche Rotwein gegönnt. Das Abendrot war von unfaßlicher Schönheit gewesen. Die Sonne versank im Meer wie eine riesige Feuerkugel, und das Wasser begann von innen heraus golden zu leuchten, bis die Farbe in ein Violett überwechselte und mit dem Abendhimmel verschmolz. Das war Anlaß genug, eine Flasche zu leeren und sich glücklich zu fühlen.
Vom Scheppern auf der Veranda erwachte Dr. Volkmar. Noch schlaftrunken fuhr er hoch und starrte auf den Zelteingang, der durch eine Plane mit breitem Reißverschluß geschlossen war.
«Ist da jemand?«fragte er auf italienisch.»Es lohnt sich nicht zu stehlen.«
«Signore — «Eine kleine, klägliche Mädchenstimme antwortete ihm.»Können Sie mir helfen. Bitte.«
Ein Mädchen bat um Hilfe. Das genügte, um Dr. Volkmar sofort aus dem Bett springen zu lassen. Er schlüpfte in seine Trainingshose und riß den Reißverschluß auf. Mit der Taschenlampe leuchtete er unter den Vorbau des Zeltes. Auf einem der Klappstühle saß ein junges, zierliches Mädchen. Als der Lichtstrahl sie traf, leuchteten ihre Augen grün wie Katzenaugen. Ihr schwarzes Haar war zerwühlt, ihre Bluse an der Schulter aufgerissen, am linken Fuß fehlte der Schuh. Sie legte die Arme kreuzweise vor ihre Brüste und starrte Dr. Volkmar mit einem Blick an, in dem sich seltsame, kreatür-liche Angst und kindliche Zutraulichkeit verrieten.
«Was hat man mit Ihnen angestellt?«fragte Dr. Volkmar. Er drehte die Lampe etwas zur Seite, weil das Licht sie blendete. Sie begann zu zittern, senkte den Kopf und krallte die Finger in ihre Oberarme.
«Es — es waren zwei«, sagte sie leise.
Volkmar sparte sich die Frage, was die zwei wohl von ihr gewollt hatten. Die aufgerissene Bluse erklärte genug. Er war betroffen, daß hier in >seinem< Paradies so etwas geschehen konnte. Er legte die Stablampe auf den Tisch, ging ins Zelt zurück und kam mit der Weinflasche wieder.
Sie nickte ihm dankbar zu, nahm die Flasche mit ihren kleinen Händen und setzte sie an die Lippen. Gierig trank sie den Rest des Rotweins und stellte die Flasche auf den Tisch zurück. Dabei verschob sich die Taschenlampe; der Schein fiel jetzt voll auf ihren Unterkörper, auf die Wölbung ihres Leibes, die Oberschenkel, die sich durch das dünne Kleid drückten, die schlanken Beine mit dem nackten linken Fuß. Volkmar umfaßte das alles mit einem Blick und stellte fest: Sie hat nichts als das Kleid auf ihrem Körper.
«Was machen Sie denn hier in der Gegend?«fragte er.
«Wir waren tanzen.«
«Hier? Wo denn? Um den Leuchtturm herum?«
«In San Giovanni.«
«Da kann man tanzen? Ich denke, da gibt es nur Fischerhütten.«
«Und die Taverne von Giulmielmo.«
«Und Sie sind von San Giovanni bis hierher gelaufen?«
Sie blickte ihn mit großen Rehaugen an. Jetzt, wo sie die Arme hängen ließ, bemerkte er, daß sie schöne, volle Brüste hatte.»Sie wollten mich nach Hause bringen, nach Cabras. Aber sie fuhren zur Küste. Ich konnte doch nicht aus dem fahrenden Auto springen. Erst als sie hielten und mich aus dem Wagen zerrten, erst als sie. «Sie schluckte und senkte wieder den Kopf.»Ich habe mich losgerissen und bin gelaufen, gelaufen, immer geradeaus am Meer entlang… und dann sah ich Ihr Zelt, Signore.«
«Enrico Volkmar!«sagte er. Er wählte die italienische Form von Heinrich. Heinz war für romanische Zungen ein zu barbarisches Wort.
«Ich heiße Anna. «Ihre dunklen Augen leuchteten wieder grünlich im Widerschein des Lichtes, als sie ihn anblickte und ihre zerwühlten Haare nach hinten strich. Eine schöne hohe Stirn, dachte Volkmar. Aber irgend etwas ist hier faul! Normalerweise ist es nicht üblich, daß ein so junges, hübsches Mädchen allein zum Tanzen geht und dann noch nackt unter dem Kleid. Nicht einmal einen Slip hatte sie an.
«Helfen Sie mir?«fragte Anna. Ihre Stimme konnte erstaunlich wechseln, vom Kindlichen zum Lauernden. Jetzt war sie wieder kindhaft klein. Ein Stimmchen, das zum beruhigenden Streicheln animierte.
«Ist Ihnen nichts geschehen, Anna?«fragte Volkmar.
«Sie haben es nicht geschafft, Enrico. Ich habe gebissen und getreten, bis ich weglaufen konnte.«
«Und was kann ich für Sie tun?«Volkmar wies zum Zelt.»Wenn Sie wollen, trete ich Ihnen mein Klappbett ab. Ruhen Sie sich aus, schlafen Sie sich den Schrecken weg. Ich gebe Ihnen ein Medikament; Sie werden von blühenden Bäumen träumen. Ich lege mich mit einer Decke in mein Schlauchboot, es ist ja warm genug.«
«Ich möchte nach Hause. wenn das möglich ist«, sagte Anna kläglich.
«Nach Cabras?«
«Ja.«
«Jetzt?«Volkmar sah auf seine Armbanduhr.»Wir haben gleich ein Uhr nachts.«
«Sie haben doch ein Auto, Enrico.«
«Ich halte es für besser, wenn Sie hier übernachten. Und dann fahren wir am frühen Morgen, bei Licht, nach Cabras.«
«Unmöglich! Jeder wird denken, ich hätte bei Ihnen geschlafen!«Sie legte die kleinen Hände aneinander und hob sie ihm flehend entgegen. Es sah rührend aus, sogar für einen hartgesottenen Chirurgen wie Volkmar.»Sie werden mich verachten und prügeln, und Sie wird man wegjagen, Enrico. Man wird uns nie glauben, daß wir nicht.«
Sie schwieg, biß in den Ballen ihrer rechten Hand und schien sehr verzweifelt.
Auch wenn es übertrieben ist, sie hat recht, dachte Volkmar. Der Ehrenkodex der Sarden war bekannt. Ein unbescholtenes junges Mädchen, das am frühen Morgen mit einem Mann nach Hause kommt, ist verdächtig. Vor allem, wenn dieses Mädchen nackt unter seinen Kleidern ist. Es wäre denkbar, daß man dann nicht mehr zu langen Erklärungen kommt.
«Wir fahren!«sagte er.»Ich ziehe mir nur etwas anderes an. «Er blieb am Zelteingang stehen und blickte über das Mädchen hinweg zu dem schwarzgewellten Meer. Der Sternenhimmel war phantastisch.»Was ist, wenn die beiden Burschen uns auflauern?«
«Sie sind weggefahren. Ich habe ihren Motor gehört.«
«Und warum sind sie Ihnen nicht nachgefahren?«
«Ich habe gebissen und gekratzt.«
Er sah Anna an und blickte ihr genau in den Schoß. Sie merkte es und legte die Hände wie schützend über ihren Unterleib.
«Daß sie das gehindert haben soll.«, sagte Volkmar zweifelnd.»Also gut. In zehn Minuten fahren wir.«
Er nahm die Stablampe vom Tisch, hüllte Anna wieder in Dunkelheit und ging ins Zelt, um sich anzuziehen. Er überzeugte sich, daß er seine Autopapiere bei sich hatte; die grüne Versicherungskarte lag im Autoatlas. Unschlüssig blieb er stehen und zog die Unterlippe durch die Zähne.
Nehmen wir an, die beiden Burschen liegen noch irgendwo auf der Lauer. Sie ahnen, daß Anna in meinem Wagen sitzt — denn wer sonst sollte um diese Zeit von der Küste ins Innere des Landes fahren? — Sie halten mich an und verlangen die Herausgabe Annas. Natürlich lehne ich das ab! Und dann? Ich habe als Student geboxt, aber ich bin nicht das, was man einen durchtrainierten Sportsmann nennen könnte. Meine Hände sind so feinfühlig, daß sie imstande sind, Gefäßnähte zu setzen, aber sie sind nicht geschaffen, auf Schädel einzuschlagen. Es wäre ein ungleicher Kampf, der schon verloren wäre, bevor er überhaupt angefangen hat.
Er kämmte sich mit zwei Strichen das Haar und trat wieder hinaus auf die Veranda. Anna hockte noch immer auf dem Klappstuhl. Sie lächelte, als er ihr ins Gesicht leuchtete.
«Sie haben bestimmt Messer bei sich«, sagte er.
«Ich?«
«Die beiden Kerle.«
«Hier hat jeder Bauer ein Messer bei sich.«
«Sage ich doch!«Volkmar sah keine Möglichkeit mehr, die Dinge noch zu ändern. Anna war ins Freie getreten. Die Silhouette ihres schönen Körpers hob sich wie ein Scherenschnitt gegen den Sternenhimmel ab. So rutscht man ungewollt und hilflos in Abenteuer, dachte Volkmar. Man flüchtet in die urwüchsige Natur, und plötzlich erwacht man im Krankenhaus mit zerbrochenem Kiefer. Wie schön muß die Welt ohne Menschen gewesen sein.
Wenn er später in München dem Dr. Herbert Steinhaus, dem 1. Oberarzt der Unfallklinik, dieses Erlebnis erzählen würde, so wäre dessen Reaktion vorauszusehen.»So ein Rindvieh!«würde Dr. Steinhaus rufen.»Schneit ihm da kurz nach Mitternacht ein Mädchen halb nackt ins Zelt, und was macht er? Er bringt sie nach Hause! Junge, du hast doch eine Riesenmacke! Nichts wie 'rauf auf die Matratze! — das hätte Anna imponiert! Ich schwöre dir: Das ist das letzte Mal, daß wir dich allein in Urlaub lassen!«
«Kommen Sie, Anna!«sagte Volkmar und trat neben sie vor das Zelt. Er legte seinen Arm um ihre Hüfte, und sie schüttelte ihn nicht ab, was ihn beruhigte und leichtsinniger werden ließ.
Volkmars Wagen stand etwa vierzig Meter landeinwärts auf festem Boden. Dort, wo er sein Zelt aufgeschlagen hatte, im unmittelbaren Kontakt mit dem Meer und dem Wind, konnte kein Auto hinfahren. Es wäre im Sand versunken bis zu den Achsen. Jenseits des Sandes aber begann guter, fester Felsboden, hier standen Gruppen von verkrüppelten Palmen und Ölbäumen, breitkronigen Pinien und bizarren Zedern, alle vom Wind im Laufe der Jahrzehnte gebogen und mit Büschen verfilzt. Natur im Urzustand, bis eine Baugesellschaft entdecken würde, daß man an dieser Bucht ein Hotel oder ein Bungalowdorf hinsetzen könnte.
«Leben Ihre Eltern noch, Anna?«fragte Volkmar. Sie gingen durch den weichen Sand wie über einen schwingenden Teppich und taten das, was fast alle tun, wenn sie durch Seesand gehen: Sie staub-ten mit den Zehen den Sand vor sich her. Sein Arm lag noch um Annas Hüfte. Er spürte, wie ihre schmalen Muskeln beim Gehen spielten, wie ihr Gesäß hin und her schwang, und dämlicherweise fielen ihm alle lateinischen Namen dieser Muskeln ein, als würde er in Anatomie abgehört.
«Vater ist Fleischer«, sagte Anna und lehnte den Kopf gegen seine Schulter. Der Wind blies ihr Haar über sein Gesicht, es kitzelte, roch nach Salz und Kamillenblüten.
«Wir sind sieben Kinder, der Vater, die Mutter, die Nonna, ein blinder Onkel und ein blöder Vetter. Aber wir sind glücklich, Enrico. Papa wird dich umarmen, wenn ich ihm erzähle, was du für mich getan hast. Du kannst dir bestimmt soviel Fleisch aussuchen, wie du willst!«
Sie hatten den festen Boden erreicht, gingen zu der in völliger Dunkelheit liegenden Piniengruppe und blickten zum Meer zurück, weil Anna stehenblieb und leise, wie in kindlicher Einfalt, sagte:»Enrico, ist das schön.«
Als Volkmar sich wieder umdrehte, um weiterzugehen, war es zu spät. Es war unmöglich, so schnell zu reagieren, und es hätte ihm auch nichts mehr genützt.
Zwei junge Männer hoben sich als Schatten gegen die fahle Nacht ab. Sie hatten keine Messer in der Hand, sondern, unverkennbar, Maschinenpistolen. Die Läufe der Waffen waren aufVolkmar gerichtet. Eine harte Stimme sagte:»Hands up!«Unter den Pinien entdeckte Volkmar jetzt auch einen Jeep mit geschlossenem Segeltuchverdeck.
Anna, die hinter ihm stand, schob sich vor ihn und lachte leise.
«Er heißt Enrico, und er spricht gut italienisch. Er ist allein. «Dann drehte sie sich zu Volkmar um, streichelte ihm fast zärtlich über das Gesicht und spitzte die Lippen zu einem Flugkuß.»Das sind meine Brüder Luigi und Ernesto«, sagte sie.»Es sind gute Jungen, Enrico. Wenn du machst, was sie sagen, tun sie dir nichts. Aber wenn du dich wehrst, müssen sie schießen. Das siehst du doch ein?«
«Wer sieht das nicht ein?«Volkmar kam näher. Kurz vor den Läu-fen der Maschinenpistolen, die auf seinen Leib zeigten, blieb er stehen. Er konnte jetzt Luigi und Ernesto erkennen. Sie waren eine männliche Ausgabe von Anna. Nur der Ausdruck ihrer Augen war nicht so sanft. Sie musterten Volkmar kritisch und abwartend. Ihre Zeigefinger lagen am Abzug der MPi.
«Was bist du?«fragte der ältere der beiden. Es war Luigi.»Amerikaner, Engländer, Schweizer, Deutscher.«
«Deutscher. Wenn ihr euch das Nummernschild meines Wagens angesehen hättet. Überhaupt, ist das jetzt so wichtig?«
«Ja! Deutscher, das ist gut!«sagte Ernesto.
«Wie man's nimmt. Es gibt viele Deutsche, die etwas dafür gäben, nicht Deutscher zu sein. «Er nickte zu Anna hinüber, die zum Jeep gegangen war, um die zerrissene Bluse zu wechseln. Einen Moment sah er im fahlen Licht des Sternenhimmels ihre schönen nackten Brüste, bis eine Jeansjacke sie verdeckte.»Euer Lockvogel ist wirklich unwiderstehlich. Aber was nun?«
«Sie wehren sich nicht?!«
«Hat es Sinn? Also!«
«Sie kommen mit uns in die Berge, und dann sehen wir weiter.«
«Ein ausgereiftes Kidnapping!«Volkmar lächelte breit. Er gestand sich ein, vor ein paar Sekunden noch Angst gehabt zu haben, irre Angst sogar, denn auch ein Held blickt selten gelassen in zwei Maschinenpistolenläufe. Jetzt aber, nachdem er den ersten Schreck überstanden hatte, setzte bei Volkmar wieder das klare Denken ein. Er bewunderte sich selbst: Er fand die Situation komisch.»Wenn ihr nicht eure dummen Knaller in den Händen hieltet, würde ich euch mein Bedauern aussprechen. Ihr habt das untauglichste Objekt eingefangen, das ihr an Sardiniens Küste finden konntet. Annas Sex war eine Fehlinvestition bei mir! Ich kann euch das erklären.«
«Mitkommen!«sagte Luigi und winkte mit der MPi zu dem Jeep.»Gehst du freiwillig, oder müssen wir nachhelfen?«
«Ich habe mich nie gewehrt, wenn es sinnlos war. «Dr. Volkmar ging zu dem Jeep und kletterte hinein. Auf der hinteren Sitzbank hockte bereits Anna und zog ihn an ihre Seite. Ihre Oberschenkel berührten sich, sein Ellbogen stieß gegen ihre Brüste, als er sich setzte. Obgleich er nun wußte, in welch simple Falle er getappt war, empfand er diese neuerliche Begegnung als angenehm.
Vor ihm schwangen sich Luigi und Ernesto auf die Sitze, der Motor knatterte, der Jeep begann zu hüpfen und machte einen ohrenbetäubenden Lärm.
«Ihr solltet euch einen neuen Auspuff leisten«, sagte Volkmar und lehnte sich zurück. Dann, als der Jeep zu fahren begann und bedrohlich wankte, hielt er sich an Annas Schenkel fest. Das bot sich so an.»Und der Motor ist eine Katastrophe! Da hackt ja jeder Zylinder.«
«Aber die Berge hinauf fährt er noch!«Ernesto lachte laut.»Du wirst uns einen neuen, schönen Wagen kaufen, Enrico.«
«Das wird ein Wunschtraum bleiben.«
«Abwarten, camerata!«
«Ich muß dir jetzt die Augen verbinden«, sagte Anna wenig später, als sie die Straße nach Cabras erreicht hatten.»Wenn du die Binde abreißt.«
«Ich weiß, ich weiß, dann schießen deine Brüder. Bitte!«
Er hielt den Kopf hin, sie verknotete hinter seinem Schädel eine breite, schwere Wollbinde und drückte ihn dann in den Sitz zurück. Sicherlich war es nur Zufall, daß irgend etwas seine Lippen berührte. Es war warm und weich.
«Anna«, sagte Volkmar und tastete mit der rechten Hand ins Leere. Sie ergriff seine Hand, und an der Wärme, die seine sensiblen Chirurgenfinger plötzlich umfing, erkannte er, daß sie in Annas Schoß lagen.»Du bist eine — wie sagt man das italienisch — eine carogna! Ein Luder!«
«Wir haben ein schönes Haus in den Bergen. «Sie streichelte seine Hand.»Es wird dir sicherlich bei uns gefallen. Hoffentlich müssen Luigi und Ernesto dich nicht erschießen.«
Die Fahrt dauerte drei Stunden.
Man fuhr durch Ortschaften, das hörte Volkmar am Klang der Reifen auf den Pflastern, dann wurden die Straßen enger und holpriger, man befand sich jetzt wohl in der Bergregion, wo es nur einen steinigen Pfad gab. Der Jeep keuchte und jammerte, die Zylinder stöhnten und stampften, der verrostete Auspuff dröhnte, als entlüfte er eine Flugzeugdüse.
Ein paarmal hatte Volkmar versucht, mit Ernesto und Luigi ein Gespräch zu beginnen. Er wollte ihnen erklären, daß sie ihr Benzin verschwendeten; er sei keine kapitalkräftige Geisel. Aber die Brüder gaben keine Antwort. Volkmar mußte sich an Anna halten.
«Einen Fehler macht jeder. Hör zu, Anna, und laß dir das erklären…«
Sie legte ihm einen Zeigefinger auf die Lippen, und als er ihn küßte, drückte sie seine Hand fester in ihren Schoß.
«Sei still!«sagte sie leise.»Versuch, etwas zu schlafen.«
«Bei dem Lärm und dem Gehüpfe? Anna, es ist zu blöd, was ihr da macht!«
Endlich hielt der Jeep. Das Verdeck wurde zurückgeklappt, Anna zog Volkmar vom Sitz und nahm ihm die Binde ab. Um ihn herum war eine Felslandschaft, und in die bizarr zerklüfteten, von Erosionen zerfressenen Felsen hatte man ein Haus gebaut, aus Urgestein, auf ein Plateau geklebt wie ein Adlerhorst. Ein kleiner Garten war da entstanden, wo bearbeitbarer Boden vorhanden war, eine offene Rinne aus Holz führte zu einem dumpf rauschenden Wasserfall, der aus einer Steilwand stürzte.
Luigi und Ernesto kümmerten sich nicht um Volkmar. Sie stemmten die Motorhaube des Jeeps hoch und betrachteten stumm den dampfenden Motor.
«Hier wohnen wir«, sagte Anna.
«Sieben Kinder, Vater, Mutter, Nonna«, ergänzte Volkmar wie ein aufmerksamer Schüler.
«Das war gelogen. Wir wohnen hier allein. Mama ist gestorben, Papa wurde bei einer Vendetta erschossen. Und noch zwei Brüder. Wir sind geflüchtet, nachdem Luigi und Ernesto die andere Fami-lie ausgelöscht haben. Aber die Polizei, die verdammte Polizei!«
Volkmar sah sich um. Am Tage mußte es hier wunderbar sein. Sicher ging der Blick in die Weite und schenkte dies Gefühl von absoluter Freiheit, das trunken machte. Aber Anna und ihre Brüder lebten hier als Banditen. Für sie war die Natur nur eine Festung.
Luigi und Ernesto schienen sich einig zu sein, daß der Jeep weitere solcher Einsätze nicht mehr durchstehen würde. Sie hieben die Motorhaube zu und blickten Volkmar böse an, als sei er schuld. Ernesto entzündete eine Petroleumlampe, die auf einem Mäuerchen stand, und ging voraus zu dem wuchtigen Steinhaus mit dem Dach aus übereinandergeschichteten Felsplatten. Sie wußten, wie auch Volkmar selber, daß ihr Gefangener hier nicht weglaufen konnte. Sie legten die Maschinenpistolen ab und überließen es Anna, sich um den >Gast< zu kümmern.
«Hast du Hunger?«fragte sie. Sie nahm ihn bei der Hand und führte ihn wie einen Blinden zur Haustür. Luigi hatte drei Lampen angesteckt. Sie erhellten einen Raum mit geweißten Wänden, selbstgezimmerten Möbeln und einem riesigen gemauerten Ofen mit eiserner Herdplatte. Auch ein Grill fehlte nicht. Lammfelle lagen überall herum, auf den Stühlen, auf der gemauerten langen Bank am Ofen, auf den rohen Dielen. Im Herd glomm noch ein schwaches Feuer, das Ernesto mit einigen Holzstücken anfachte.»Ich kann dir eine Pizza machen, Enrico«, sagte Anna.
«Eine Pizza ist gut!«rief Luigi. Er saß in einem Holzsessel, hatte die Beine auf den Tisch gelegt und erholte sich von der Fahrt.»Oder hast du keinen Hunger, Enrico?!«
«Gar keinen. «Volkmar setzte sich auf die mit einem Lammfell belegte Bank und sah Anna zu, wie sie aus einem Schrank in einer Mauernische einen Klumpen fertigen Pizzateiges auf ein Holztablett warf. Ernesto, der hinausgegangen war, kam zurück mit einer Zweiliterflasche und brachte auch gleich vier scheußlich bemalte Blechbecher mit, wie sie in den Souvenirläden den Fremden als sar-disches Handwerk angeboten werden.
«Vielleicht will er schlafen?«sagte Ernesto.»Bist du müde?«»Nicht besonders.«
Volkmar beobachtete, wie Anna den Backraum des großen Steinherdes kontrollierte. Anscheinend war sie mit der gespeicherten Hitze zufrieden.
«Wir haben nur Tomaten und Käse«, sagte sie.»Aber ich würze gut. Es wird dir schmecken, Enrico.«
«Bestimmt.«
Es schmeckte in der Tat vorzüglich. Volkmar aß zwei Pizza und trank so viel Wein, daß er sein Gehirn leicht vernebelte.»Wo kann ich schlafen?«fragte er, als er sah, daß die Brüder noch lange nicht mit ihrer Mahlzeit fertig waren. Anna buk mit einer Geduld ohne Beispiel eine Pizza nach der anderen. Die Haare hingen ihr verschwitzt, nach Käsedunst duftend, ins Gesicht.
«Auf der Bank!«rief Luigi und prostete Volkmar zu.»Trinken wir auf den Erfolg, camerata! Du bist mein erster Gefangener!«
«Das habe ich befürchtet«, sagte Volkmar und streckte sich auf die Lammfelle aus.»So dämlich sind nur Amateure in eurem Fach!«
Er sollte sich irren.
Ein sonnendurchfluteter Tag kündigte sich an, als Volkmar am nächsten Morgen vor das Haus trat. Er reckte sich, atmete tief durch, und dann entdeckte er Anna, die aus der Holzrinne Wasser in einen Eimer schöpfte. Auch Luigi und Ernesto waren schon auf den Beinen, lachten Volkmar wie einem guten alten Freund zu und zeigten auf den Tisch, der auf einer Art Terrasse stand. Hinter dem doppelten Geländer fiel der Felsen senkrecht ab. Wer hier Kaffee trinken wollte, mußte schwindelfrei sein.
«Brot, Käse, Wein… zufrieden?«rief Luigi.»Wir haben mit dem Frühstück auf dich gewartet, Enrico.«
«Sehr zuvorkommend. «Volkmar stieg die Stufen zur Terrasse hinunter.»Eure Gastfreundschaft rührt mich.«
«Anna wollte es so.«
Ernesto drückte Volkmar die Hand, dann kam Luigi, klopfte ihm auf die Schulter, und alle setzten sich. Anna stellte den Wassereimer ab und goß die Blechbecher voll. Sie setzte sich an Volkmars Seite.
Luigi grinste.»Fangen wir an, über uns zu reden«, sagte er und stach mit dem Messer in einen Klumpen Schafskäse.»Wieviel, glaubst du, bist du wert?«
«Gar nichts.«
«Kann man für dich eine Million verlangen?«
«Lire?«
«Deutsche Mark.«
«Das ist es, was ich euch die ganze Zeit sagen wollte: Wenn es euch gelingt, für mich auch nur zehntausend Mark herauszuholen, verspreche ich euch, wieder an Wunder zu glauben. Bei mir ist nichts zu holen.«
«Du bist ein reicher Deutscher!«
«Nicht jeder Deutsche ist reich. Verrückt, wie sich diese Ansicht hält bei den anderen Völkern!«
«Was bist du?«
«Arzt!«
«Ernesto, er ist Arzt!«rief Anna.»Wir haben einen Dottore!«
Luigi schien weniger begeistert zu sein. Ihm wäre jeder andere Beruf lieber gewesen. Ein reicher Kaufmann, ein Fabrikbesitzer, ein Juwelier, ein hoher Staatsbeamter oder ein Bankdirektor — warum nicht? Aber ein Arzt? Nun ja, da gibt es Unterschiede. Wenn man an den alten Dottore Francesco Mammola in Fanni, der nächsten größeren Stadt von hier, dachte, konnte man nur mitleidig lächeln.
«Ärzte sind reich!«sagte Luigi laut.
«Ich bin Klinikarzt, mein Lieber.«
«Im Hospital?«Luigi stieß sein Messer in den Schafskäse.»Scheiße!«
«Ich sage es ja, aber niemand wollte es hören. Wir hätten uns schon am Strand trennen können.«
«Irgendeinem Menschen mußt du doch was wert sein!«rief Ernesto.
«Wem?«Angela Blüthgen, dachte Volkmar. Sie würde ihr Sparbuch hergeben, aber über solche Beträge reden Entführer nicht. Mein Chef, Professor Hatzport? Der ist Millionär. Ist aber kaum anzunehmen, daß er meinetwegen seine Villa in Grünwald und sein Haus bei Beaulieu an der Riviera verkauft und den Erlös nach Sardinien überweist. Das Land Bayern, mein Arbeitgeber? Da gäbe es unüberwindliche Zuständigkeitsfragen.
«Ich habe keinen, der für mich bezahlt«, sagte Dr. Volkmar.
«Deine Familie!«
«Ich habe keine mehr. Ihr rottet euch mit der Vendetta aus, bei uns hat das der Krieg besorgt. Mein Vater war der einzige Überlebende. Er wurde neunundachtzig Jahre alt. Er starb vor drei Jahren.«
«Das Hospital!«schrie Luigi. Er sah langsam ein, daß er nur einen Mitesser gefangen hatte, aber keinen, der ihm den Tisch über Jahre hinaus deckte. Eine solche Erkenntnis kann deprimieren.
«Versuch es! Es wäre ein Wunder, ich sagte es schon. «Volkmar zerbröselte das Brot in seinen Fingern. Er spürte, daß sich bei den Brüdern die Stimmung gewandelt hatte. Es ist wie die Krisis nach einer Operation, dachte er. Der Körper wehrt sich — und die beiden wehren sich gegen die Erkenntnis ihrer Niederlage. So etwas kann zu Katastrophen führen, vor allem, wenn man so unmittelbar am Abgrund sitzt wie ich.
«Ich will euch aufzählen, was ich besitze«, sagte Dr. Volkmar.»Eine Dreizimmerwohnung in Harlaching, gemietet, kein Eigentum. Das Auto, das ihr kennt, die Zeltausrüstung, sechs Anzüge, einen schwarzen, einen weißen Smoking — ich gehe gern, wenn es die Zeit zuläßt, ins Opernhaus — ein Bankkonto mit, glaube ich, rund siebentausend Mark, eine Lebensversicherung auf Rentenbasis, wo ich ab 65 Jahre eintausendzweihundert D-Mark Monatsrente bekomme, die übliche Wohnungseinrichtung. Schluß. Wo wollt ihr da eine Million D-Mark herauskitzeln?«
«Du hast keine reiche Freundin?«fragte Anna leichthin. Aber aus den Augenwinkeln beobachtete sie ihn genau.
«Nein.«»Warum nicht?«
«Warum hast du keinen reichen Freund? Bei dir wäre es kein Problem.«
«Und bei dir?«
«Ich bin mit meinem Krankenhaus verheiratet. Das klingt abgedroschen, ich weiß, aber es ist nun mal so. Es muß auch Typen wie mich geben.«
«Wir werden es versuchen!«schrie Luigi und sprang auf.»Wer sagt mir, daß du nicht bluffst? Wir werden abwarten, was die Zeitungen schreiben, wenn dein Verschwinden bekannt wird. Dann wissen wir genau, wer du bist! Und was du wert bist!«
«Darauf bin ich selbst gespannt«, sagte Dr. Volkmar ehrlich.»Es kann sein, daß wir dann alle hier am Tisch sitzen und uns anweinen, weil keiner von uns das wert ist, was er erhofft hat. Wißt ihr, wie es sein wird? Folgende Meldung wird in allen Zeitungen stehen: >Auf Sardinien ist der deutsche Arzt Dr. Heinz Volkmar spurlos verschwunden. Sein Zelt am Strand von Capo San Marco war leer. Man nimmt einen Badeunfall an. Dr. Volkmar hinterläßt keine Familie.< Aus! Und schon am nächsten Tag wird keiner mehr wissen, wer dieser Dr. Volkmar gewesen ist. Journalistisch ein Vierzeilen-Mensch! Und so etwas habt ihr geklaut!«
Er lachte laut, trat an den Rand des Adlernestes und blickte über das weite Land. Nun können sie mich hinunterstoßen, dachte er. Ich bin ihnen jetzt lästiger als eine Fliege.
Er spannte seine Muskeln an. Jemand berührte ihn von hinten. Es war Anna, die ihm die Arme über die Schulter legte und ihren Kopf gegen seinen Rücken drückte.
«Das ist schön«, sagte sie,»daß du fast so arm bist wie wir.«
«Sieh dir die dämliche Kuh an!«schrie Luigi in heller Wut seinem Bruder Ernesto zu.»Oh, wenn er sie bloß anfaßte! Dann könnte ich ihn mit einem Gebet auf den Lippen erschießen!«
Es dauerte vier Tage, bis man am Capo San Marco merkte, daß das schöne blaue Hauszelt mit dem gelben Vordach leer war. Und auch das entdeckte man nur durch Zufall: Eine Streife der Carabinieri sah das Zelt am Strand und stieg hinunter, um sich den einsamen Gast einmal anzusehen. Immerhin kommt es im Zeitalter des Massentourismus nicht gar so häufig vor, daß einer Robinson auf Zeit spielt. So einen muß man begrüßen und ein paar freundliche Worte mit ihm reden.
Zunächst ahnten die beiden noch nicht, daß sie einen ganz dicken Fall entdeckt hatten. Erst als nach einer Stunde der Besitzer des Zeltes noch nicht aufgetaucht war, betrat einer der Polizisten das innere Zelt, sah das zerwühlte Lager, den Trainingsanzug, die auf dem Gummiboden liegende Stablampe und die offene Kleiderkiste, aus der man anscheinend in großer Eile etwas zum Anziehen herausgesucht hatte.
Die Möglichkeit, der Fremde könne in Cabras zum Einkaufen sein, schied aus, als man im Pinienhain das abgestellte Auto mit der deutschen Nummer fand. Es war sogar unverschlossen, ein Autoatlas lag auf dem rechten Vordersitz, und aus dem Atlas fiel den Carabinieri die grüne Versicherungskarte in die Hände.
Dr. Heinz Volkmar. München-Harlaching.
Über ihr an den schweren Motorrädern montiertes Sprechfunkgerät gaben die Polizisten die Meldung an die Polizeizentrale in Ori-stano durch. Nur informell.
«Bleiben Sie beim Zelt!«kam der Befehl aus dem Präsidium.»Wir schicken eine Kommission.«
Von diesem Augenblick an veränderte sich das Leben Dr. Volkmars gründlich. Wenn jemand bereit gewesen wäre, für ihn eine Million zu bezahlen, wäre alles nicht geschehen, was später schreckliche Wahrheit wurde.
Zunächst lief der Behördenapparat träge an.
Das Zelt wurde gründlich untersucht und eine Bestandsaufnahme seines Inhalts vorgenommen. Für drei Tage und drei Nächte wurde ein junger Polizist abkommandiert, der in dem Zelt wartete und schlief, denn es war immerhin denkbar, daß dieser Dr. Volkmar im
Wagen eines Bekannten einen Ausflug ins Innere der Insel gemacht hatte. Nach drei Tagen aber setzte sich bei den Behörden die Überzeugung durch, daß ein Unglück geschehen war. Über einen Fernschreiber waren nähere Auskünfte von der Polizeidirektion München eingetroffen, die sich beim Einwohnermeldeamt, in der Klinik und in dem Haus, in dem Dr. Volkmar wohnte, umgehört hatte.
«So etwas kommt immer mal vor!«sagte am Abend des dritten Tages der diensttuende Inspektor der Carabinieri in Oristano zu den wartenden Journalisten.»Das Meer ist blau und sanft, und das verlockt die Fremden dazu, leichtsinnig zu werden. Was wissen die schon von den gefährlichen Unterströmungen? Auch dieser Dr. Heinz Volkmar — «, der Inspektor mußte den Namen mühsam ablesen, weil er für einen Italiener so unmelodiös klang,»ist ein Opfer seines Leichtsinns geworden. Vielleicht wird er eines Tages angeschwemmt, dann haben wir die Gewißheit. Also, Jungs, dann schreibt erst mal, daß ein mysteriöser Unglücksfall den deutschen Dottore mit größter Wahrscheinlichkeit getötet hat. Mysteriös ist immer gut; das hält uns den Rücken frei! Taucht er wieder auf. na gut! Was kann man gegen Mysterien machen, bitte?!«
Luigi kam am vierten Tag aus Aritzo, einem Bergdorf im Massiv der Monti del Gennargentu, zurück und knallte die Zeitung auf den Tisch. Sein Gesicht war unheilvoll dunkel, er tippte mit dem Zeigefinger auf den Artikel und setzte sich dann neben seinen Bruder Ernesto auf die Holzbank. Anna und Volkmar saßen um eine große Holzschüssel und zupften Salatköpfe auseinander.
«Es steht drin!«knurrte Luigi und pochte mit der Faust auf die Zeitung.»Ernesto, lies vor. Du kannst am besten lesen. O maledetto! Wären wir doch lieber beim Ausplündern von Geschäften geblieben! Lies!«
Ernesto zog die Zeitung an sich, überflog stumm den Artikel und grinste Volkmar breit an.»Schön schreiben sie über dich«, sagte er.
«Bist ein berühmter Mann, aber arm. Kein guter Geschäftsmann, Enrico.«
«Lies!«brüllte Luigi.
Ernesto setzte sich zurück, als wolle er ein Gedicht vortragen, und hob die Zeitung näher an seine Augen:
«In einer abseits vom Fremdenverkehr gelegenen Bucht am Capo San Marco ist der deutsche Tourist Dr. Heinz Volkmar seit einigen Tagen spurlos verschwunden. Sein Zelt und sein Auto wurden unversehrt gefunden, von Volkmar fehlt dagegen jede Spur. Die Polizei nimmt an, daß Dr. Volkmar beim Baden im Meer ertrunken ist. Das ist um so mysteriöser, als Dr. Volkmar ein vorzüglicher Schwimmer war und schon zum zehnten Mal auf Sardinien weilt. Alle Suchaktionen blieben bisher ohne Erfolg.
Dr. Volkmar galt als einer der besten Herzchirurgen Deutschlands. Seit Jahren beschäftigt er sich mit dem Problem der Herztransplantation und der Implantation der großen Gefäße. Seine Forschungen brachten das bisher utopische Problem des >Zweiten Her-zens< nahe an die Möglichkeit einer Verwirklichung.«
Ernesto ließ die Zeitung sinken und starrte Volkmar entgeistert an.»Das bist du?«sagte er gedehnt.
Dr. Volkmar winkte ab.»Die übliche journalistische Übertreibung. «Sieh an, dachte er. Sie haben meine Arbeiten doch zur Kenntnis genommen. Bisher galt ich als der große Spinner, als ein Phantast am Skalpell. Erst nach dem Tode ist man bereit, anzuerkennen, daß der Weg zum >Zweiten Herzen< beschritten worden ist und weitergegangen werden muß. Und Professor Hatzport? Er war zweimal im Forschungs-OP und hat sich die beiden Affen angesehen, denen ich ein zusätzliches Herz eingepflanzt hatte.»Technisch glänzend gelöst, mein lieber Volkmar!«hatte er gesagt.»Aber die Natur läßt sich nicht übertölpeln! Sie hat stärkere Waffen als Sie. Die Immunschranke, die biologische Individualität jedes Wesens, der Genetische Block — das bekommen wir nie in den Griff! Mit dem Messer können wir alles machen, aber besiegen werden uns immer, gerade bei Transplantationen, die Proteine! Das wissen Sie so gut wie ich. Volkmar, verschwenden Sie Ihre Energie doch für andere, realisierbarere Probleme.«
Die Affen lebten zwei Tage. Später brachten es drei Hunde auf eine Überlebenszeit von neun, zwölf und vierzehn Tagen. Nach vierzehn Tagen zeigte Professor Hatzport deutliche Zeichen von Unruhe. Aber als auch der Tod dieses Hundes gemeldet wurde, war seine Welt wieder in Ordnung.
Und nun das in der Zeitung! Dr. Volkmar hat neue Wege aufgezeichnet. Eine kleine Verbeugung. Über Tote soll man nichts Böses reden.
«Du kannst wirklich Herzen verpflanzen?«fragte Anna leise.»Du kannst uns allen ein neues Herz machen?«
«Nein! Ich versuche es erst.«
«Du nimmst ein altes Herz heraus und setzt ein junges dafür ein?«fragte Luigi mit schief geneigtem Kopf.
«So ähnlich.«
«Blödsinn!«Ernesto tippte an die Stirn.»So etwas gibt es nicht.«
«Noch nicht! Aber in vielen großen Kliniken, in Amerika, in Frankreich, in England, sogar in Südafrika, arbeiten Chirurgen an diesem Problem. In Rußland ist es gelungen, einem Schäferhund einen zweiten Kopf aufzusetzen. Professor Demichow hat den doppelköpfigen Hund wochenlang am Leben erhalten können.«
«Und so 'was haben wir hier!«sagte Luigi verzweifelt.»Einen Kerl, der Köpfe abschneidet und Herzen herausnimmt! Was sind wir doch für anständige Banditen, Ernesto! Anna, geh von ihm weg! Vielleicht hast du morgen schon 'ne dritte Brust aufm Rücken!«Er lachte hart und fixierte, plötzlich sehr ernst geworden, seinen Gefangenen. Der hatte die Zeitung vom Tisch genommen und las den Artikel über sich noch einmal selbst.»Du bist jetzt tot, he!«sagte Luigi laut.»Du liest es! Was machen wir jetzt mit dir?«
«Rühr ihn nicht an!«rief Anna und stieß die Holzschüssel mit dem gewaschenen Salat von sich.»Er ist unser Gast!«
«Bis in alle Ewigkeit?«schrie Luigi.»Wollt ihr die Carabinieri auf dem Hals haben? Sie jagen uns jetzt schon wie Wölfe! Er muß verschwinden!«
«Er bleibt hier!«schrie Anna zurück.
«Weg kommt er!«
«Ich binde mich an ihm fest! Was wollt ihr dann tun, ha?!«Sie wirbelte herum und warf sich gegen Volkmar.»Luigi tötet Menschen wie Hasen!«rief sie.»Aber du brauchst keine Angst zu haben. Du nicht! Er tötet — «
«Die Vendetta!«sagte Luigi, als sei das eine annehmbare Entschuldigung.»Also gut. Warten wir ab. Aber die Verpflegung mußt du bezahlen. Wie in einem Hotel, camerata! Wieviel Geld hast du bei dir?«
Volkmar holte seine Brieftasche aus der Gesäßtasche und zählte sein Geld.»Genau zweihundertneunzigtausend Lire und siebenhundertzwanzig Deutsche Mark.«
«Das reicht für drei Monate«, sagte Ernesto.
«Denkt darüber nach, daß jeder Tag, den ich bei euch bleibe, eure Situation verschlechtert. Nach einem Monat bin ich für die Welt toter als tot und kann, wenn ich wieder auftauche, keine glaubwürdigen Erklärungen abgeben.«
«Das wissen wir!«Luigi nahm die Zeitung und warf sie zerknüllt in den Abgrund.»Du bist für uns ein Problem. Deine herausgeschnittenen Herzen sind nichts dagegen!«
Der Rechtsanwalt Dr. Eugenio Soriano war ein angesehener Mann. In seiner Anwaltskanzlei auf dem Corso Vittorio Emanue-le, der prachtvollen Hauptstraße Palermos, saßen die Klienten dicht an dicht, als sei er ein Modearzt, der verlängerte Jugend verspricht. In seinem zweiten Wartezimmer, das wie ein Salon aus dem 19. Jahrhundert eingerichtet war, mit allem Prunk und Plüsch jener Zeit, servierte ein Butler illustren Mandanten schweren öligen Marsalawein oder einen zehn Jahre alten Kognak. Diese Kunden empfing Dr. Soriano selbst. Die anderen Hilfesuchenden fertigten drei junge Anwälte ab, aber sie machten das so geschickt, daß jeder das Gefühl nach Hause trug, Dr. Soriano werde sich nach Vorlage der Akten höchstpersönlich um seinen Fall bemühen.
Einem so erfolgreichen Anwalt nimmt man's nicht übel, wenn er eine Stadtwohnung in einem alten Palast bewohnt, eine riesige weiße Villa am Meer, auf dem Capo Zafferano, in unmittelbarer Nähe der Ruinen von Solunto, besitzt und eine Motoryacht, die das Ausmaß eines kleinen Passagierdampfers hat, dazu einen zweistrahligen Privatjet und sechs Leibwächter, die immer um ihn herum sind, wenn er sich in der Öffentlichkeit zeigt.
«Gut!«hatte einmal der oberste Richter von Palermo gesagt,»So-riano hat die beste Anwaltspraxis im Lande. Aber dieser Aufwand! Soviel kann er als Rechtsanwalt gar nicht verdienen!«
«Wir sollten uns darüber keine Gedanken machen. «Dr. Antonio Brocca, der Staatsanwalt, dem man nachsagte, daß er Sekretärinnen nur dann diktierte, wenn sie mit offener Bluse vor ihm saßen, hatte abgewunken.»Soriano ist ein Ehrenmann! Wer könnte das besser wissen als ich? Präsident des Golfclubs — wird man das mit einem Fleck auf der Weste?! Einen Kindergarten und ein Altersheim hat er gestiftet, und seit zwei Jahren baut er ein Erholungsheim für Kinder in den Bergen von Camporeale. Da fragt man doch nicht mehr! Wohltätigkeit ist der beste Ausweis.«
Staatsanwalt Dr. Brocca war es auch, der an diesem Tag bei Dr. Soriano anrief und ihn selbst verlangte.»Es ist dringend!«sagte er.»Ganz gleich, wer jetzt bei ihm ist.«
Es war der Senator Alfredo Acate bei ihm, um sich seinen monatlichen Betrag abzuholen. Acate saß im Justizausschuß des römischen Senats. Dr. Soriano investierte eine verhältnismäßig geringe Summe für Informationen aus der Justizpolitik der Regierung.
«Haben Sie schon die Morgenzeitung gelesen, Dr. Soriano?«fragte Dr. Brocca.»Noch nicht? Dann tun Sie es bitte. Seite drei. Eine kurze Meldung aus Sardinien. >Deutscher Arzt auf mysteriöse Weise verschwunden.< Haben Sie?«Dr. Brocca wartete, bis Dr. Soriano die Meldung gelesen hatte.»Na?«fragte er weiter.»Was sagen Sie nun?«
«Was soll ich sagen? Ein Unglücksfall. Ertrunken.«
«Auf Sardinien sind im letzten Jahr drei reiche Ausländer entführt und erst gegen hohe Lösegeldzahlung freigelassen worden. Man hat die Banditen nie entdeckt. Ehrlich gesagt: Nachdem die Lösegelder bezahlt worden waren, hatte kaum einer noch ein Interesse daran. Man vermutet die Banden in den Bergen und hofft auf eine zufällige Konfrontation. Und jetzt dieses mysteriöse Verschwinden des deutschen Arztes.«
«Sie glauben.?«
«Wir werden sehen, ob sie sich mit Forderungen melden. Interessant für Sie aber ist etwas anderes, Dr. Soriano…«
Staatsanwalt Dr. Brocca schwieg. Er wußte, daß Soriano jetzt noch einmal den Zeitungsartikel las.
«Sie haben recht!«sagte Soriano plötzlich. Dr. Brocca, der sich gerade eine Zigarette ansteckte, zuckte vor der harten Stimme zusammen.»Brocca, Ihre Gedankensprünge sind artistisch!«
«Ein Herzspezialist, Dr. Soriano! Ein weltbekannter Fachmann für Transplantationen! Wenn das nicht ein geradezu wundersamer Glücksfall ist.«
«Ich werde mich darum kümmern, Brocca. Sie haben da an etwas gerührt, das ich erst einmal in aller Ruhe verkraften muß. Ich danke Ihnen sehr, Brocca.«
Dr. Soriano legte auf. Mit einem Knopfdruck auf das Telefonschaltbrett stellte er die Verbindung zu einem Mann her, der sich nach einigem Durchklingeln als» Dr. Nardo «meldete. Soriano wiederholte die Frage des Staatsanwaltes:»Haben Sie die Morgenzeitung gelesen?«
«Nein«, antwortete Dr. Nardo. Er saß hinter einem weißen Schreibtisch in einem großen Zimmer, das durch Sonnenrollos gegen den starken Lichteinfall geschützt war. Auch die Wände waren weiß, ebenso die Bücherregale, die Decke und der Arztkittel, den Dr. Nardo trug. Alles in diesem Haus war weiß und steril und sauber: Das Altersheim Santa Maria di Caltanissetta. In Caltanissetta war Dr. Soriano vor genau fünfzig Jahren geboren worden.
«Tun Sie's später!«sagte Soriano.»Nur eine kurze Frage: Kennen Sie Dr. Heinz Volkmar?«
«Den Transplantationsforscher?«
«Also Sie kennen ihn?«
«Nicht persönlich. Aber in der medizinischen Welt ist er.«
«Danke. Das genügt. «Soriano schnitt Dr. Nardo das Wort ab. Der fand nichts Beleidigendes daran. Wenn der Pate sprach, hatten die anderen zuzuhören. Es knackte in der Leitung. Dr. Nardo war froh, daß das Gespräch nur kurz gewesen war und Soriano nicht noch weiter spezielle Fragen gestellt hatte.
Bereits eine Stunde später schoß der Privatjet Dr. Sorianos in den wolkenlosen sizilianischen Himmel und nahm Kurs auf Sardinien. An Bord waren vier elegant gekleidete Männer, zwei dufteten nach süßlichem Parfüm. Sie flegelten sich auf den Sitzen, tranken Wein, den ihnen der Copilot servierte, und sprachen nur wenig miteinander.
Ihr Auftrag machte ihnen zu schaffen. Paolo Gallezzo war es, der immer wieder in die Zeitung starrte und die Unterlippe vor und zurück schob. Er war Uhrmacher und besaß einen schönen Laden in Palermo. In der >Familie< nannte man ihn nur den >Vollstrecker<.
Es war einfach, zu sagen:»Bringt ihn her!«
Wer das Hochland von Sardinien und den Stolz der Sarden kennt, kann verstehen, daß Gallezzo und seine Männer einige Sorgen hatten.
Bringt ihn her!
Wozu brauchte Dr. Soriano einen Herzspezialisten?
Ein großer Vorteil ist es, Verbindungen zu haben, einflußreiche Bekannte, >gute Adressen<, Empfehlungen, die einem verschlossene Türen öffnen. Man sollte auch gewisse Schwächen und peinlich versteckte Affären jener Personen kennen, dessen Dienste man benötigt.
So wunderte sich der Südfruchthändler Adriano Oreto in Cagliari nicht übermäßig, als vier modisch gekleidete Herren unter Ausschaltung seiner Sekretärin, die verstohlen den Alarmknopf drückte, in sein großes Büro traten und die Tür hinter sich schlossen.
Adriano hatte hinter seinem dicken Schreibtisch Deckung genommen und seine vornehmen Gäste begrüßt, indem er sie in den Lauf eines Schnellfeuergewehrs blicken ließ. Außerdem war durch den Alarm, den die schöne Lucia ausgelöst hatte, in den Lagerhallen der >Frucht-Compagnie Sardinien< ein Kommando zusammengerufen worden: zehn stämmige, schußerfahrene Burschen, die in wenigen Minuten zur Stelle sein mußten.
«Es wäre gut, sich ruhig zu verhalten!«sagte Oreto hinter seinem Schreibtisch, der wie eine Panzerplatte wirkte.»Reingekommen seid ihr, aber 'raus kommt ihr nicht mehr. Wer hat euch Idioten bloß zu mir geschickt?«
«Es wäre bedauerlich, Don Adriano, wenn hier Mißverständnisse aufträten. «Paolo Gallezzo nahm seinen weichen, weißen Hut ab und setzte sich in einen der Ledersessel, die dem Büro einen seriösen Anstrich verliehen. Die drei anderen stellten sich rechts und links von der Tür auf und steckten die Hände in die Hosentaschen. Ore-to wußte: sie taten das nicht etwa, weil sie kalte Hände hatten.»Ich soll Ihnen einen Gruß bestellen von Don Eugenio«, fuhr Paolo Gal-lezzo fort.
«Von wem?«fragte Oreto hinter seinem Tisch. Draußen hörte man das Geräusch vieler Füße, die über Marmorböden rannten. Es klappt, dachte Oreto zufrieden und stolz. Wir hatten es zwar noch nie nötig, aber wir haben es immer trainiert, so wie man auf jedem Schiff das Anlegen der Schwimmwesten und das Einbooten übt. Die Welt ist schlecht. Man muß auf alles gefaßt sein.
«Don Eugenio Soriano.«
«Palermo?«Oretos Kopf tauchte hinter dem Schreibtisch auf. Er konnte es wagen, auch wenn es eine Falle sein sollte. Draußen vor der Tür standen seine Männer. Er drückte auf eine Taste, die einen Lautsprecher im Sekretariat einschaltete, und sagte:»Wartet noch! Ich habe vier ehrenwerte Männer zu Besuch. Sie wollen Erklärun-gen abgeben. Wie sieht es aus, Alfredo?«
«Gut, Don Adriano. «Der Mann, der Alfredo hieß, schien noch etwas kurzatmig vom schnellen Laufen.»Türen sind besetzt, Fenster werden beobachtet. Wir sind zwanzig Mann.«
«Sehr gut, Alfredo. «Oreto schaltete den Lautsprecher aus und wuchs nun hinter seinem Schreibtisch zu ganzer Größe. Er war ein flotter Sechziger mit weißem, gepflegtem Haar. Er hätte beispielsweise einen sehr ansehnlichen Kardinal abgegeben. Doch seine Augen strahlten keineswegs klerikale Milde aus; scharf und unruhig blickten sie von einem Mann zum anderen.
«Haben Sie das nötig?«fragte Gallezzo und schlug die Beine übereinander.»Ist das hier eine so wilde, unzivilisierte Gegend?«
«Hat Don Eugenio keine — Freunde?«fragte Oreto zurück.»Was haben Sie mir zu sagen?«
«Es geht um eine Auskunft. «Gallezzo warf die Zeitung auf den Schreibtisch. Den Artikel über Dr. Volkmar hatte er rot umrandet. Adriano warf nur einen Blick darauf und schüttelte den Kopf.
«Ich habe es gelesen, Signori. Aber damit haben wir nichts, gar nichts zu tun. Unsere Interessen liegen auf wirtschaftlichem Gebiet und in der Unterhaltungsbranche. Was sollen wir mit einem deutschen Arzt?«
«Es war uns klar, daß Sie in solche Geschäfte nicht einsteigen«, sagte Gallezzo.»Don Eugenio ist aber der Ansicht, daß Sie uns trotzdem weiterhelfen könnten. Wer hat Dr. Volkmar entführt? Wer ist hier auf diese Art Handel spezialisiert? Nennen Sie uns Namen, die Ihnen einfallen. Jeder Name ist nützlich!«
«Ist dieser Dottore ein so wichtiger Mann?«fragte Oreto. Er las die rotumrandete Notiz noch einmal und hob die Schultern.»Madonna, habt ihr es in Palermo schon nötig, mit solchen Geschäften Geld hereinzubringen? Was ist los bei euch da drüben auf Sizilien?«
«Namen, Don Adriano!«sagte Gallezzo laut.»Wir haben wenig Zeit. Wir machen uns Sorgen.«
«Um den deutschen Arzt?«
«Er ist seit über vier Tagen verschwunden, und noch keiner hat Lösegeld gefordert.«
«Vielleicht ist er tatsächlich ertrunken?«
«Namen!«
Adriano Oreto setzte sich in seinen breiten Schreibtischsessel, legte das Schnellfeuergewehr wie einen riesigen Brieföffner auf die Schreibtischunterlage und blickte an die Decke. Wer käme da in Frage, überlegte er angestrengt. Man kennt sie ja alle, die lieben Brüder und Schwestern, die in der Sonne stehen, aber mit den Schatten arbeiten. Doch es kann auch Einzelgänger geben, Neulinge, Wirrköpfe, die den Segen einer guten Organisation noch nicht erkennen wollen. Da ist es fast unmöglich, einen Hinweis zu wagen.
Was Oreto im stillen befürchtet hatte, sprach Gallezzo aus:»Es waren keine Profis, Don Adriano. Sie haben zum Beispiel das Auto des Dottore stehenlassen. Ein solches Nebengeschäft läßt man sich doch nicht entgehen.«
«Dann ist es aussichtslos, Signori. «Oreto hob beide Hände, als verkünde er tieftraurig seinen Konkurs.»Wenn irgend jemand auf Sardinien einen Arzt klaut, wie soll ich das wissen?!«
«Ein paar Namen würden uns vielleicht doch weiterhelfen, Don Adriano.«
Oreto nickte. Und dann tat er etwas, was er später sehr bereuen sollte. Er nannte die Namen von zehn Leuten, denen er zutraute, daß sie mit Kidnapping ihr Geld verdienten.
«Aber keiner ist dabei, der ein so schönes Auto nicht in die nächste Lackierkabine fahren würde, um es umspritzen zu lassen«, sagte er noch.»Es sind kluge Jungs, alle.«
Gallezzo verließ nach einigen Höflichkeitsfloskeln das Büro Don Adrianos. Im Sekretariat warteten Alfredo und sechs Mann mit schußbereiten Maschinenpistolen, an allen Türen und vor dem Haus standen weitere gut ausgebildete Schützen.
«Keine Aufregung, Fratello!«sagte Gallezzo freundlich und drückte den Lauf der MPi in Richtung Boden.»War alles ein Irrtum! Wer sagt jetzt den anderen Bescheid, daß wir das Haus ver-lassen dürfen?«
«Wir gehen mit!«Alfredo starrte auf den Lautsprecher und wartete anscheinend auf einen Befehl des Don. Auch Oreto schien das zu spüren, denn es knackte, und seine ruhige Stimme füllte den Raum.
«Freie Fahrt für meine Freunde aus Sizilien!«sagte er.
«Verstanden, Don Adriano. «Alfredo winkte mit der MPi. Als seien sie Gefangene, die abgeführt werden, verließen sie alle das Bürogebäude und gingen hinüber zu dem großen Wagen, den sich Gal-lezzo geliehen hatte. In Türnischen und hinter anderen geparkten Autos sah er Köpfe auftauchen.
«Es klappt bei euch!«sagte Gallezzo anerkennend.»Wieviel seid ihr?«
«Genug, um den Carabinieri den Krieg erklären zu können. «Alfredo wartete, bis die vier ehrenwerten Männer im Wagen saßen. Dann hob er die Hand.»Viel Glück weiterhin!«
Mit einem Satz sprang der Wagen vorwärts und fuhr sehr schnell aus dem Fruchthof hinaus.
«Hat einer eine Zigarette?«fragte Alfredo. Er warf die MPi am Riemen hinter seinen Rücken.»Ich muß einen anderen Geruch haben. Dieses Parfüm ist ja zum Kotzen!«