Kapitel 11

Auf der Rückfahrt fiel es Volkmar erst nach einer Weile auf, daß sie nicht nach Palermo fuhren, sondern weiter ins Land hinein. Über holprige Straßen ging es, zum Teil über Feldwege, und immer bergauf. Staub umwirbelte sie, das Land sah wie verbrannt aus, die Dörfer, durch die sie fuhren, waren wie ausgestorben. In dem großen amerikanischen Wagen Sorianos war es angenehm kühl, die Klimaanlage arbeitete vorzüglich.

«Was haben Sie vor?«fragte Volkmar.»Wohin fahren wir?«

«Lassen Sie sich überraschen, Dottore.«»Zu Loretta?«

«Bestimmt nicht. Ich will Ihnen etwas zeigen.«

«Hier? In dieser Wildnis?«

«Wir kommen gleich in zivilisiertere Gebiete. Das hier ist nur eine Abkürzung des Weges. «Er klappte aus der Rückenlehne des Fahrers ein Tablett heraus. Dahinter standen zwei Gläser und eine Flasche mit Rotwein.»Einen Schluck, Enrico?«

«Danke, Don Eugenio.«

«Ich habe Ihnen doch von dem Kindererholungsheim erzählt, das ich gestiftet habe und das im Bau ist?«

«Ja. Beiläufig. Ein Kardinal wird es segnen und auch gleich den päpstlichen Segen mitbringen.«

«Richtig!«Soriano lächelte breit.»Und ich habe Ihnen erzählt, daß ich dort für Sie die modernste Herzklinik der Welt baue.«

«Das habe ich für einen Ihrer zynischen Scherze gehalten.«

«Das Kinderheim ist nur die Fassade, das Alibi. Natürlich werden sich dort dreihundert Kinder das ganze Jahr über, jedes vier Wochen lang, erholen können. Es wird ein Kinderparadies werden mit Schwimmbecken und Turnhalle, Sportplätzen und Spielzentren, Liegewiesen und Liegeterrassen, verglast für den Winter. Die neuesten Erkenntnisse über die Aktiverholung werden hier verwertet. Aber.«

«Auf dieses Aber habe ich gewartet«, sagte Volkmar mit belegter Stimme.

«Parallel dazu entsteht auch eine ebenso moderne chirurgische Klinik, die völlig anonym ist. Auf drei Kellerebenen verteilt sich ein Herzzentrum, wie es die Welt noch nicht gesehen hat. Bei der Einweihung des Kinderheimes wird man da nicht hinuntersteigen, weil die Eingänge noch zugemauert sind. Aber sofort nach den Feierlichkeiten beginnt auch in diesem unbekannten Teil des Hauses die Arbeit. Für die Patienten, bei denen die akute Gefahr vorbei ist, haben wir in einem Nebentrakt zehn sonnige Zimmer mit Balkon und dem Service eines Luxushotels.«

«Die Mafia-Klinik?«

«Sie sollten solche Worte nicht gebrauchen, Dottore. «Soriano goß

Rotwein in die Gläser. Der schwere Wagen hatte die holprigen Wege verlassen und rollte jetzt lautlos über eine asphaltierte Straße. Sie befanden sich auf einer Hochebene mit Olivengärten und Pinienhainen. Hier schien es Wasser genug zu geben. Auf einer Anhöhe vor ihnen erhob sich ein bereits verputzter, grellweiß leuchtender siebenstöckiger Bau, in verschiedene Flügel gegliedert, die wie Strahlen eines Sternes von einem runden Mittelteil ausgingen. Riesenkräne reckten ihre Stahlgerippe in den heißen Himmel, Planierraupen und ein kleines Heer von Lastwagen arbeiteten an einer Umgestaltung der Landschaft.

Soriano tippte dem Fahrer auf die Schulter. Der Wagen hielt.

«Ihre Klinik, Dottore!«sagte er und machte eine umfassende Handbewegung.»Ist sie nicht herrlich?«

«Der ganze Baukomplex erinnert mich an ein Zuchthaus«, sagte Volkmar dumpf.»Ein runder Mittelteil, davon abgehend die Zellentrakte. Hat da Ihr Trauma mitgebaut, Don Eugenio?«

«Sie haben Phantasie, tatsächlich. «Dr. Soriano lachte etwas gezwungen. Erst jetzt, wo es Volkmar sagte, fiel ihm die Ähnlichkeit mit traditionellen Zuchthausbauten auf. Er hatte es bisher immer anders gesehen: als einen Stern, als ein Symbol dafür, daß hier eine andere, schönere Welt war. In diesem Sinne hatte er auch seine Eröffnungsrede halten wollen. Sie kam ihm plötzlich sehr dumm vor.»Ich werde das im Laufe der Zeit ändern«, sagte er.

«Sie können die Gebäude doch nicht hin und her schieben.«

«Ich werde sie durch Glasterrassen verbinden und auflockern. Schwebende Gärten wie die der Semiramis von Babylon.«

«Aber die Grundform bleibt: Ein Luxuszuchthaus! Ihr Unterbewußtsein hat bei der Wahl der Entwürfe fabelhaft gearbeitet, Don Eugenio.«

Sie erreichten die breite Zufahrtsstraße und hielten vor dem Haupteingang des Kinderheims. Der Bau war bereits verglast, die Innenarbeiten hatten begonnen. Einer der Bauleiter stürzte zu Sorianos Wagen und riß die Tür auf.

Soriano winkte ab, wartete, bis auch Volkmar ausgestiegen war, und ging dann um den Wagen herum zu ihm.

«Reizt es Sie nicht, Ihre Klinik zu besichtigen?«fragte er.

«Ich werde hier nie arbeiten!«Volkmar umfaßte mit seinen Blicken den Riesenbau. Er schätzte die Kosten und begann zu ahnen, was ein neues Herz bei Soriano kosten würde, und überlegte, wer es sich leisten könnte. Trotzdem war es eine Rechnung, die nie aufgehen würde: Allein die Baukosten würden nie hereinkommen. Soriano schien Volkmars Gedanken zu erraten.

«Das Kindererholungsheim ist eine Stiftung«, sagte er.»Aber für jede Belegung bekommen wir vom Staat einen Zuschuß. Außerdem wird ein Zeichnungs-Fonds aufgelegt: Förderer des Kinderheimes Camporeale. Es sind steuerabzugsfähige Zahlungen. Nach den ersten Berechnungen trägt sich so der ganze Betrieb selbst. Sollte es zu Überschüssen kommen, werden sie wieder im Heim angelegt.«

«Und die Einnahmen der heimlichen Herzklinik gehören ganz allein der Ehrenwerten Gesellschaft.«

«Sie sagen es, Enrico. Geben Sie zu: Das ist ein einmaliges Modell!«

«Wenn es funktioniert!«

«Es wird. Mit Ihnen als Chefarzt.«

«Warum sind Sie bloß so sicher?«

«Weil Sie nicht für mich, sondern für die Kranken arbeiten, Dottore. Vor Ihnen werden Todgeweihte stehen, die um Ihre Hilfe flehen. Ich möchte den Arzt sehen, der dann ein kaltes Nein sagt! Sie können es nie!«

«Ich weiß, daß Sie ein Satan sind!«sagte Volkmar dumpf.

«Denken Sie nur als Arzt! Denken Sie an die Kranken! Alles andere ist nicht Ihre Welt! Wie lange pflegen Sie schon Ihren Hungerstreik?«

«Es ist der dritte Tag.«

«Brechen Sie ab, Enrico! Öffnen Sie Ihrer Vernunft das Tor! Nur weil der Besitzer der Klinik ein >Kuratorium Palermo< ist und kein Schwesternorden >Vom himmlischen Blut Mariä< oder eine städtische oder staatliche Verwaltungsstelle, wollen Sie Schwerkranke zum

Tode verurteilen? Das kann Ihr Gewissen nicht verkraften. Das weiß ich!«

Volkmar antwortete nicht, aber er machte den ersten Schritt auf den Eingang zu. Dr. Soriano blies die Luft hörbar durch die Nase. Gewonnen, dachte er. Er betritt das Gebäude. Er wird sich alles ansehen. Gewonnen… gewonnen.

Als er wieder sein goldenes Gefängnis betrat, fand Volkmar auf dem Schreibtisch seiner Bibliothek den Stapel von Prospekten der Einrichtungsfirmen für Klinikbedarf.

Worthlow erwartete ihn bereits mit einer großen Salatschüssel. Eine wahre Köstlichkeit, mit Kräutersoße angemacht. Er versuchte es immer wieder, den dritten Tag nun schon, Volkmar zum Essen zu verleiten.

«Danke«, sagte Volkmar und warf einen Blick auf die Prospekte.»Was soll das, Worthlow?«

«Ist die neue Klinik nicht ein imponierender Bau, Sir? Sie sollen Sie nach Ihrem Willen einrichten.«

«Du lieber Himmel, davon habe ich doch gar keine Ahnung!«Volkmar ging hinaus auf den Dachgarten. Worthlow folgte ihm mit der Salatschüssel.»Ich bin Chirurg. Ich habe mich um Technik nie gekümmert, sie nur benutzt! Ich weiß, was ich im OP brauche, ich weiß, was im Labor vorhanden sein muß. Aber eine Klinik einrichten?! Dafür gibt es doch Fachfirmen.«

«Die Angebote dieser Firmen liegen auf Ihrem Schreibtisch, Sir. Aus den USA erwarten wir noch einige Sendungen. Eine Reihe von Firmenvertretern haben sich schon angesagt. Bei Millionenaufträgen werden alle munter. - Salat, Sir?«

«Nein!«

«Entspricht die Klinik Ihren Vorstellungen, Sir?«

«Dr. Soriano hat alles eingebaut, was man bisher, rein theoretisch, für eine Herzverpflanzung braucht. Wer hat ihm eigentlich die Idee mit den Sterilzellen vermittelt?«

«Sie, Sir! Vor fünf Monaten schrieben Sie darüber in der Zeitschrift >Herzchirurgie heute<. Jede Ihrer irgendwo niedergelegten Ideen, auch die kleinste, wird von Dr. Soriano verwirklicht. Was kann sich ein Arzt noch mehr wünschen?«

Am Abend ließ man Volkmar allein. Selbst Worthlow zog sich zurück und bat, ihn zu rufen, wenn man ihn brauchen sollte. Volkmar saß in seiner Bibliothek hinter dem Schreibtisch und starrte auf den Haufen Prospekte. Das ist doch Irrsinn, dachte er. So stellt sich der kleine Moritz die Einrichtung eines Krankenhauses vor. Der gute, große Onkel Doktor weiß alles, tut alles, kann alles. Der Gott im weißen Kittel! Daß ein so kluger Mann wie Soriano eine so simple Einstellung zeigte, enttäuschte Volkmar sogar ein wenig.

Er blätterte in den Prospekten, betrachtete die Abbildung der Neukonstruktion eines Oszillographen und warf die Prospekte zurück auf den Schreibtisch.

Gegen elf Uhr abends besuchte ihn Dr. Soriano. Er trug einen Anzug mit weiter Jacke. Als er sich in den tiefen Gartensessel auf der Dachterrasse setzte, klaffte sie etwas auf. Volkmar sah deutlich die Lederträger und das Schulterhalfter mit der langläufigen Pistole. Soriano gab sich keine Mühe, das zu verbergen.

«Ich komme von Loretta. Es geht ihr gut«, sagte er.»Grüße soll ich auch bestellen. Und einen Kuß. Sie küssen meine Tochter?«

«Bisher nur auf die Wangen, Don Eugenio.«

«Warum lügen Sie, Enrico?! Jeder, auch der Kurzsichtigste, erkennt, was mit Ihnen los ist, wenn Sie mit meiner Tochter zusammen sind. Vor einer Stunde hat mir Loretta selbst gesagt: >Ich liebe ihn!< — Sie wollte unbedingt wieder nach Hause. Zu Ihnen.«

«Und was haben Sie geantwortet?«

«Zunächst nein, was die Rückkehr betrifft. Und dann: >Wenn du Enrico wirklich liebst, mußt du einen Dr. Ettore Monteleone lieben! Und ob das möglich ist, müssen wir Dr. Monteleone fragen!< — Ich frage Sie also, Enrico: Wollen Sie für immer Monteleone sein?«

«Wollen? Sie haben einen bitteren Humor, Don Eugenio. Ich muß ja wohl!«

«Überlegen Sie, was Sie jetzt sagen, Dottore. «Dr. Soriano war sehr ernst. Auch seine Stimme hatte nicht mehr den väterlichen Klang. Jetzt sprach er im Ton des Anwalts, der ein Plädoyer hält.»Es geht um Loretta! Und was mir meine Tochter bedeutet, das wissen Sie genau! Sie haben einmal gesagt: >Über Ihre Tochter werde ich Sie vernichten!< Und ich habe Ihnen geantwortet: >Das gelingt Ihnen nie! Ich würde Sie und mein ganzes Vermögen opfern, um Loretta glücklich zu machen!< Erinnern Sie sich des Gesprächs?«

«Genau, Dr. Soriano.«

«Und nun? Sie haben es fertiggebracht, Lorettas Herz zu öffnen. Sie liebt Sie! Sind Sie wirklich so ein Schwein, diese Liebe als Rache mir gegenüber zu benutzen?«

«Es ist eine merkwürdige Situation. «Dr. Volkmar lehnte sich gegen die schlanke Säule, die den Baldachin des Dachgartens trug. Er blickte auf Sorianos Schulterhalfter und war überwältigt von der Verrücktheit seines Schicksals.»Da sitzen Sie, der Vater des Mädchens, das ich ehrlich liebe, tragen eine Pistole unter der linken Achsel, sind der größte und gefährlichste Gangster im ganzen europäischen Raum, wie ich annehmen muß, nennen mich ein Schwein, halten mich als Ihren Gefangenen, haben mich zu einem Toten gemacht, der auf dem Münchener Waldfriedhof begraben liegt, wollen mich zwingen, in Ihrer heimlichen Klinik Herzen zu transplantieren — pro Herz eine Million Dollar, liege ich da richtig? — Sie sind das größte Untier, das man sich nur erdenken kann — und doch der Vater der schönsten Frau, die ich je gesehen habe. Und diese Frau liebe ich! Wie soll ich das diesem Vater sagen und wie soll ich diesen Vater hinnehmen? Ist das nicht ein auswegloses Problem?!«

«Sie haben alles gesagt, was nötig ist, Enrico. Nun sage ich Ihnen etwas: Wenn ich zulasse — als Vater —, daß sich meine Tochter mit Ihnen verbindet, dann kann ich erwarten, daß Sie in meiner Klinik operieren.«

«Loretta als Tauschobjekt! Man sollte es ihr sagen!«

«Das können Sie! Sie wartet in der Halle.«

Dr. Volkmar wollte ins Haus laufen, aber Soriano war schneller und riß ihn an den Schultern zurück, bevor er die Tür erreicht hatte.

«Enrico — «, sagte er gedämpft.»Ich lasse alles zusammenbrechen, mich eingeschlossen, wenn Sie Loretta unglücklich machen. Begreifen Sie, was das heißt?«

«Wenn Sie mich für so ein Rindvieh halten, warum machen Sie mich dann zum Chef Ihrer verdammten Klinik?!«

Soriano nickte und gab den Weg frei. Volkmar rannte durch seine Wohnung und stürzte in die große Eingangshalle. Hier stand Loretta in einem einfachen Reisekostüm, sie hatte in einer Ecke den Tisch gedeckt. Worthlows große Salatschüssel, neu dazu eine Platte mit kaltem Braten und ausgelöstem Geflügel. In den Gläsern leuchtete tiefroter Wein.

«Loretta!«sagte Volkmar heiser. Er umarmte sie, zog sie an sich, und als sie den Kopf gegen seine Schulter preßte und seinen Hals küßte, als er den Druck ihrer Brüste spürte und das Hindrängen ihres Körpers zu ihm, wußte er, daß man ihn besiegt hatte.

Sie hörten nicht, wie Soriano leise an ihnen vorbeischlich und das Gästehaus verließ. Sie hatten sich so fest umschlungen, als habe die Hitze ihrer Körper sie miteinander verschweißt.

In dieser Nacht blieb Loretta bei ihm. Keiner bat den anderen darum, es war wie selbstverständlich, daß sie zusammen ins Schlafzimmer gingen. Sie schenkte ihm ihre Jungfräulichkeit, und er nahm sie mit einer vorsichtigen Zärtlichkeit an, bis sie später von selbst den Vulkan in sich entdeckte und ihn mit ihrer Leidenschaft beglückte.

Danach weinte sie ein wenig, kroch wie ein Kind an seine Seite und drückte sich ganz fest an ihn. Ihr Schoß brannte, aber es war ein seliger Schmerz, und als sie über seinen Körper streichelte, gruben sich ihre Fingernägel, ohne ihm weh zu tun, in sein Fleisch.

«Sind wir noch auf der Erde?«sagte sie leise.»Oder schon im Paradies, Enrico?«

«Ettore — «, antwortete Volkmar. Seine Kehle verkrampfte sich.»Wir müssen uns daran gewöhnen, daß ich Ettore Monteleone bin.«

Dr. Ettore Monteleone. Der Chef der Mafia-Klinik!

Er zog Loretta auf sich, küßte sie und nahm sie dann so, wie ein starker Mann eine leidenschaftliche Frau zu nehmen hat.

Am übernächsten Tag nahm Dr. Volkmar seine Forschungen zur Transplantation von Herzen wieder auf.

Die Klinik im Altersheim, die bisher Dr. Nardo geleitet hatte, war besser eingerichtet als die Forschungsstellen in München. Vor allem gab es keinen Chef wie Professor Hatzport, der wöchentlich zweimal zu Volkmar sagte:»Mein Lieber, Sie rennen gegen meterdicke Mauern! Natürlich ist eine Herztransplantation rein theoretisch kein Problem. Aber die Immunschranke überspringen auch Sie nicht! Hier spielt die Natur nicht mehr mit, und sie wird es nie tun! Das ist die Tragik in der Medizin. Vor einem simplen Hindernis müssen wir kapitulieren! Hier ist es das Eiweiß! Lächerlich, aber wahr!«

Das Immunbiologische Labor war vollkommen. Ein Sereologe und ein Biochemiker mit zehn Laborantinnen steckten mitten in einer Versuchsreihe von Immunblockern. Ihre Forschungen konzentrierten sich vor allem auf die Corticosteroide, die eine Unterdrückung der Immunreaktion des Körpers gegen das Transplanat versprachen. Auch Ganzkörperröntgenbestrahlungen waren bei Affen angewandt worden, aber hierbei trat schon nach drei Tagen die erste Abwehrreaktion auf, die dann nicht mehr unter Kontrolle zu bringen war.

Dr. Volkmar kümmerte sich in den nächsten Tagen nur um eine Vervollkommnung der Operationstechniken. Die in der chirurgischen Welt herumgeisternde Ansicht, eine partielle Herzverpflanzung könne unter Umständen möglich sein, hatte er nach vielen Versuchen schon in München aufgegeben. Für ihn war eine Ganztransplantation das Ziel. Ein neues Herz gegen ein altes Herz — nicht nur ein Teil von ihnen.

Dr. Nardo und das Ärzteteam, das Volkmar zur Verfügung stand, erlebten zum erstenmal, was es heißt, wenn ein Mann von seiner Idee besessen ist. Es gab keine geregelte Arbeitszeit mehr, keine Stunden, keine Uhr. An Affen, Hunden, Katzen, Schweinen und Scha-fen wurde operiert, und zum erstenmal probierte Volkmar auch den Demichowschen Gefäßklammerapparat aus, an einer der Leichen, die im Kühlraum aufbewahrt wurden und die, wie Soriano erzählt hatte, von den Hinterbliebenen abgekauft worden waren. Es zeigte sich dabei, daß die Neukonstruktion kühn und gut, aber noch nicht vollkommen war. Genau das, was Volkmar schon vorhergesagt hatte und weshalb er sich entschlossen hatte, eine eigene Gefäßnahtmaschine zu konstruieren.

«Was fehlt?«fragte Dr. Soriano, als Volkmar sich nach sechs Tagen an ihn wandte.

«Ich benötige einen Ingenieur für Feinmechanik. Ich weiß, wie die Maschine funktionieren soll und kann, aber ich bin kein Techniker, ich kann so ein Ding nicht bauen.«

«Ich werde den besten Feinmechaniker auftreiben, den Italien zu bieten hat«, sagte Dr. Soriano. Sie saßen zu dritt aufVolkmars Dachgarten: Don Eugenio, Volkmar und Loretta. Und sie ahnten nicht, was gerade zu dieser Stunde in Palermo geschah.

Anna hatte ihren freien Tag genommen, den ersten freien Tag, seit sie Lorettas Zofe war. Und sie hätte ihn auch nie genommen, wenn Loretta nicht in der entscheidenden Nacht bei Volkmar geblieben wäre.

In dieser Nacht hockte Anna weinend in ihrem Bett, hieb in die Kissen, zerriß das Bettuch, sprang auf und rannte in dem kleinen Zimmer hin und her, von der Tür zum Fenster, von Wand zu Wand, riß sich an den eigenen Haaren und lief dann hinunter in Lorettas Wohnung, bettelte die Madonnen im Salon an, saß bis zum Morgengrauen herum und wartete, und vor ihrem inneren Bild vollzog sich das Geschehen, diese herrliche Verschmelzung zweier Körper, von der sie immer geträumt hatte. Und diesen Traum hatte Loretta ihr jetzt geraubt.

Am nächsten Morgen merkte niemand ihr an, wie sehr sie in der Nacht gelitten hatte. Doch das Glück, das Loretta ausstrahlte, verbrannte ihre Sehnsucht zu Haß. Enrico war für sie verloren, das wußte sie jetzt. Aber sie wußte auch, daß Dr. Enrico Volkmar nicht freiwillig in diesem Hause lebte, auch wenn sich vieles nach dieser Nacht ändern würde. Er war als Gefangener hergekommen, er war für die Welt jenseits der Mauern von Solunto tot — und das würde er bleiben, auch wenn Loretta in seinem Bett lag.

An diesem Abend kaufte sich Anna in Palermo ein kleines Tonbandgerät und drei kleine Tonbänder. Sie konnte nicht gut schreiben, ihre Schrift war ungelenk und kindlich und hätte sie verraten können. Aber sprechen konnte sie. Sie ließ sich das Tonbandgerät erklären, wanderte dann in den Orto Botanico und setzte sich abseits der Wege in ein dichtes Bambusgestrüpp. Dort besprach sie die drei Tonbänder, hielt sich beim Sprechen das Taschentuch vor den Mund und senkte ihre Stimme, so tief sie konnte, um einen Mann zu imitieren.

Sie spielte ein Band zur Kontrolle ab, war zufrieden mit dem Ergebnis und lief in die Stadt zurück. Dort steckte sie je ein Tonband bei den drei Zeitungen Palermos in den Briefkasten, aß dann zufrieden in einem kleinen Ristorante eine Portion Lasagne und trank einen Viertelliter Wein.

Ein junger Mann, der sie die ganze Zeit beobachtete, lächelte sie an, und sie lächelte zurück. Das Herz tat ihr weh, als der Junge an ihren Tisch kam und sich neben sie setzte.

«Du bist ein bezauberndes Mädchen!«sagte er geradeaus.»Wollen wir zusammen schlafen? Ich bin Maler. Kunstmaler. Ich verstehe was von Körpern! Du wärest ein herrliches Modell! Gehen wir? Ich habe ein kleines Zimmer unterm Dach. Ich fange erst an, weißt du. Aber ich spüre, du kannst mir Glück bringen. Willst du mit mir schlafen?«

Sie nickte und ging mit. Und während sie Arm in Arm durch die nächtlichen Straßen von Palermo gingen, dachte sie an Dr. Volkmar und nahm Abschied von ihm und ihrer heimlichen Liebe. Was sie jetzt tat, war ein Wegwerfen ihres Körpers, und sie tat es bewußt, um alles in sich abzutöten, was noch an Dr. Volkmar dachte oder für ihn fühlte.

In den Redaktionen der Zeitungen aber standen die Spätredakteure kopf. Sie hörten die Tonbänder immer wieder ab und waren sich darüber im klaren, daß dieses Tonband mit einer Bombe zu vergleichen war.

Eine, wie leicht zu hören war, verstellte Männerstimme sagte:

«Dr. Heinz Volkmar, der angeblich bei Sardinien ertrunken sein soll, lebt. Er ist entführt worden. Wenn Sie alles wissen wollen, fragen Sie Dr. Eugenio Soriano. Der Tote, den man in Deutschland begraben hat, ist ein fremder, unbekannter Mann. Fragen Sie Dr. Soriano.«

Manchmal ist es von Nutzen, an Türen und hinter Mauerecken versteckt zu lauschen, vor allem, wenn man nur so mühsam Zeitung lesen kann wie Anna Talana.

Die Verbindung der Namen Dr. Volkmar und Dr. Soriano war so heiß, daß man bei allen drei Zeitungen die Chefredakteure alarmierte. Nur einer fand sich dazu bereit, bei Soriano anzurufen. Er war ein Freund von Staatsanwalt Dr. Brocca, der — das war allgemein bekannt — wiederum ein Freund von Dr. Soriano war.

Don Eugenio nahm den Anruf mit eiserner Miene hin. Nur seine Mundwinkel zuckten etwas.»Blödsinn!«sagte er, als der Chefredakteur den Text des Tonbandes verlesen hatte.»Ein Irrer! Glauben Sie das? Das war ein Verrückter, der Ihnen das Band geschickt hat.«

Er legte auf und blickte einen Augenblick gegen die seidenbespannte Wand.

Erst Gallezzo, jetzt diese Schweinerei! Wo sitzt der Feind? Wer will mich vernichten? Die anderen Familien auf Sizilien? Warum bloß? Warum? Sie sind reich geworden durch mich. Sie leben ja nur durch mich! Keiner dreht sich das Wasser ab, von dem er lebt.

Wer sind meine Feinde?

Er ging hinüber zum Gästehaus II und klingelte an Volkmars Tür. Es dauerte ziemlich lange, bis Volkmar endlich öffnete. Er wirkte etwas verlegen. Dr. Soriano winkte ab und setzte sich in der Hal-le in einen der Sessel.

«Ich weiß, daß meine Tochter bei Ihnen ist«, sagte er.»Sie brauchen nicht rot zu werden. Ich möchte meine Tochter auch nicht abholen oder einen Skandal machen. Ich muß Ihnen nur sagen, daß Sie noch diese Nacht das Haus verlassen müssen. Sie ziehen in mein Altersheim. «Soriano wischte sich mit beiden Händen über das Gesicht. Er sah plötzlich sehr erschöpft aus.»Die Presse ist informiert worden, daß ich Sie gefangenhalte. Jetzt muß ich mein Haus öffnen, um das Gegenteil zu beweisen. Begreifen Sie das? Jemand hat Tonbänder herumgeschickt. Wer weiß denn, daß Sie hier sind und noch leben?«Er stand auf und blickte zu der geschlossenen Schlafzimmertür.»Worthlow wird Ihnen beim Packen helfen. Und sagen Sie Loretta, sie soll vor ihrem Vater keine Angst haben. Trotzdem möchte ich Sie in die Fresse schlagen, Dottore, daß Sie meine Tochter so weit gebracht haben, heimlich mit einem Mann im Bett zu liegen.«

Eine Stunde später raste ein kleiner Sportwagen, mit Loretta am Steuer, zum Altersheim. Dr. Volkmar neben ihr blickte sich ein paarmal um und sah dann die Lichter des sie begleitenden Wagens. In ihm saßen sechs Männer mit Maschinenpistolen, die Leibgarde Dr. Sorianos.

In der Nacht noch begann man Listen aufzustellen von den Personen, die als unsicher, labil, käuflich oder rachsüchtig galten. Personen, die im Blickfeld Dr. Sorianos lebten und mit besonderen Geheimnissen konfrontiert worden waren.

Eine der unsicheren Personen, die auf dieser Liste standen, war auch Dr. Pietro Nardo.

Der nächste Tag wurde für Palermo sehr ereignisreich.

Für die Einwohner, aber auch für die Fremden und Touristen, die sorglos die Sommersonne genossen, mit Bussen durch die herrliche Stadt kutschiert wurden oder an den Meerstränden lagen, war das, was die Zeitungen schrieben, der Rundfunk verkündete und was von Mund zu Mund lief, nur wiederum eine Bestätigung, daß man in einem Land voller Abenteuer lebte. Für die Eingeweihten jedoch galt dieser Tag als Warnung und als Bestätigung, daß Don Eugenio mehr war als nur ein geachteter Anwalt und Vorsitzender der Ehrenwerten Gesellschaft: In Abständen von einer Stunde starben durch Autounfall, Selbstmord, Erschießen, Erhängen, Ertränken oder Absturz von einer Klippe ins Meer neunzehn mehr oder weniger angesehene Männer. Da niemand wußte, ob er auf der Liste stand, war es auch schwer, sich zu schützen. Flucht war völlig sinnlos. Daß Sizilien eine Insel war, auch wenn das Festland sichtbar vor ihm lag, wirkte sich jetzt aus. Bevor man einen Flugplatz oder einen Hafen erreichen konnte, hatte Dr. Soriano diesen schon unter die Kontrolle seiner Leute gebracht. Ein Versteck im Inneren des Landes war ebenso nutzlos, denn niemand kann ungesehen verschwinden, es gibt immer Augen, die einen sehen, und diese Augen kaufte Don Eugenio mit Summen, die ein armer Landarbeiter in seinem ganzen Leben nicht verdienen konnte.

Der erste, der bei Soriano anrief, als gegen sieben Uhr morgens der erste Tote gemeldet wurde, war natürlich Staatsanwalt Dr. Broc-ca. Noch war das Ausmaß der angelaufenen >Aktion< nicht zu ahnen oder gar zu übersehen, aber die Art, wie dieser eine Mann, ein reicher Exporteur, zu Tode gekommen war, war so typisch, daß Broc-ca gleich bei der richtigen Stelle anklingelte: Vincente Lamotta, der Exporteur, wurde in seinem Bett mit einer Drahtschlinge erdrosselt. Da er nicht allein schlief, hatte man seine Geliebte, ein junges Fotomodell, der Einfachheit halber gleich mit liquidiert. Man hatte sie unter dem Kopfkissen erstickt.

«Was ist los?«fragte Staatsanwalt Dr. Brocca heiser.»Du hättest mir vorher einen Wink geben können, Eugenio.«

«Ein guter Rat: Fahr in Urlaub. Für zwei Wochen. «Dr. Soriano räusperte sich. Aus dem Altersheim war die Meldung eingetroffen, daß alles in Ordnung sei. Dr. Volkmar bewohnte drei Zimmer der geschlossenen Abteilung<, dem Teil des Altersheimes, in dem man die psychisch Kranken, die Cerebralsklerotiker, die Altersirren un-terbrachte. Die Wände waren dick, die Fenster vergittert, die Türen hatten innen keine Klinken. Ein Käfig für die letzten Wochen.»Es ist besser, wenn du nicht da bist, Antonio.«

«Jetzt? Unmöglich! Was kommt denn noch?«

«Eine Menge. Melde dich einfach krank!«

«Dann übernimmt der Oberstaatsanwalt die Untersuchung. Du kennst Casarto… er hat den Ehrgeiz, Generalstaatsanwalt zu werden. Es ist besser, ich werde nicht krank.«

«Wie du willst«, antwortete Soriano kühl.»Du wirst Arbeit bekommen, Antonio, die dir keinen Ruhm einbringen wird.«

Und so war es. Nach dem neunten gemeldeten Todesfall — nur drei wurden als Morde angesehen, die anderen galten als Unglücksfälle, allerdings unter sehr dubiosen Umständen — stöhnte Dr. Brocca auf und ergab sich in sein Schicksal. Er bildete eine Sonderkommission, berief eine Pressekonferenz ein und gab, mit Sorianos Erlaubnis natürlich, die folgende Erklärung ab:»Meine Damen und Herren, die Ereignisse der letzten Stunden deuten darauf hin, daß zwei rivalisierende Gruppen sich einen Vernichtungskampf liefern. Wer die Akteure sind, das wird die Polizei noch herausfinden. Wir haben große Hoffnung in dieser Hinsicht. Mehr kann ich Ihnen mit Rücksicht auf die Ermittlungen nicht sagen.«

Dabei blieb es. Man hatte auch gar nichts anderes erwartet. Die Jagd nach den >Vollstreckern< versandete in Routineüberprüfangen. Um so mehr aber kümmerte man sich um die drei Tonbänder, die von den Zeitungsredaktionen der Staatsanwaltschaft übergeben worden waren. Dr. Brocca ließ sie immer wieder abspielen. Experten und auch Dr. Soriano, als unmittelbar Betroffener, saßen um das Tonbandgerät herum und lauschten der Stimme.

Der gleiche Text, der gleiche Tonfall, ganz offensichtlich hinter einem vor den Mund gehaltenen Taschentuch gesprochen. Dr. Broc-ca wischte sich über das schwitzende Gesicht.

«Haben Sie irgendeine Ahnung, wer sich dahinter verbergen könnte, Dr. Soriano?«fragte er.

«Nein! Ich weiß nur, daß ich nichts zu verbergen habe. «Soriano erhob sich abrupt. Die Stimme auf den Tonbändern irritierte ihn mehr, als er zeigen wollte.»Ich lade die Staatsanwaltschaft und die Presse ein, mein Haus vom Keller bis unters Dach zu besichtigen. Sie können jeden meiner Angestellten unter vier Augen befragen. Sie haben freie Hand. Tun Sie, was Sie für nötig halten!«

«Aber Dr. Soriano!«Dr. Brocca lächelte schief.»Wir sind uns doch darüber im klaren, daß diese Bänder nur ein Verrückter verschickt haben kann. Kennen Sie überhaupt diesen Deutschen Dr. Volkmar?«

«Nein! Ich erinnere mich nur dunkel, von ihm in den Zeitungen gelesen zu haben. Was sollte ich mit einem Arzt zu tun haben? Ich bin Jurist.«

«Ist das nicht die Erklärung eines Ehrenmannes?!«sagte Dr. Broc-ca schnell.»Meine Herren, vergessen wir diese Tonbänder. Sie werden von der Staatsanwaltschaft unter Verschluß genommen.«

Aber später, als Brocca und Soriano allein waren, hielt der Staatsanwalt nicht mit seiner Sorge zurück.»Wer will dir ans Leder?«fragte er.»Erst Gallezzo, jetzt unmittelbar du selbst! Wie sind deine Kontakte zu den USA?«

«Normal. Zwischen uns liegt der große Teich. Der Markt ist genau aufgeteilt. Es gibt keine Schwierigkeiten.«

«Und wenn sich einer der Großen absetzen muß und Sizilien als neue Heimat aufbauen will? Dann stehst allein du ihm im Weg!«

«Das war ein Gedanke, den ich bereits einkalkuliert habe. «Soriano blickte nachdenklich gegen die holzgetäfelte Wand des reichlich prunkvoll ausgestatteten Dienstzimmers.»Betrachten wir die Ereignisse des heutigen Tages auch unter diesem Aspekt: Man muß warnen können! Und das ist eine Warnung an alle, die sich über Sizilien Illusionen machen sollten.«

Am Nachmittag — Soriano hatte trotz aller Freundschaftsbeteuerungen darauf bestanden — besichtigten alle maßgebenden Männer Palermos die Villa bei Solunto. Worthlow hatte ein riesiges kaltes Buffet aufgebaut, eine große Gartenbar und einen ebenso großen Grill. Über dem Holzkohlenfeuer drehte sich am Spieß ein ganzes Ferkel.

Die Löwen und die Krokodile waren vorher mit der doppelten Ration gefüttert worden. Träge und schläfrig lagen die Raubkatzen in ihren Käfigen; die hornigen Reptilien sonnten sich auf ihrer Schlamminsel mitten im künstlichen See. Das friedliche Bild eines kleinen Privatzoos, Spielereien eines tierliebenden Reichen, der nicht mehr weiß, wie er sein Geld ausgeben soll.

Einige der Herren sahen zum erstenmal hinter die Mauern der Villa und waren wie geblendet von der Schönheit dieses Besitzes. Sie durchwanderten die orientalischen Räume, bestaunten den Park, neckten die satten Löwen durch Pfeifen und Rufen, ließen sich die Lebensgewohnheiten der Krokodile erklären und bestätigten nach der Besichtigung, daß die Tonbänder ein Witz seien, allerdings ein schlechter. Dann trank und aß man und fuhr nach Palermo zurück, in der Gewißheit, einen selten schönen Nachmittag erlebt zu haben.

Das Ansehen Dr. Sorianos hatte noch gewonnen. Nur einer der Chefredakteure sagte zu Staatsanwalt Dr. Brocca:»Bringt eine Anwaltspraxis so viel ein?«

«Man kann mit Geld allerlei anfangen«, antwortete Dr. Brocca kühl.»Aktienspekulationen, zinsgünstige Anlagen, Börsengeschäfte. Das wissen Sie doch! Dr. Soriano hat eben eine glückliche Hand!«

Die hatte er, ganz gewiß. Am späten Nachmittag, als die letzten Gäste die Villa bei Solunto verließen, >verunglückte< der neunzehnte Mann auf Sorianos Liste. Der D-Zug Palermo-Messina trennte ihm den Kopf vom Rumpf. Wie der Mann auf die Schienen geraten war, fragte keiner, vor allem Dr. Brocca nicht. Man muß auf Sizilien mit Merkwürdigkeiten leben, dazu gehört eben auch, daß ein Fabrikant wie Fabricio Frosolone sich auf Eisenbahnschienen schlafen legt.

Worthlow, in seiner weißen Prunkuniform, begann mit dem Abbau der Buffets, nachdem der letzte Gast gefahren war. Sechs Diener in Dinnerjacketts halfen ihm. Soriano stand sinnend am Rand des großen Swimming-pools und fragte sich zum wiederholten Male, wieso die Ruhe Siziliens so plötzlich gestört werden konnte. Bis zum Mittag hatte er die Anrufe der anderen Familien empfangen: Ob Messina oder Catania, Siracusa oder Ragusa, Trapani oder Calta-nisetta — jeder Familienchef beteuerte seine Treue, hatte nichts gehört von amerikanischen Infiltrationen, versprach, nach allen Seiten wachsam und mißtrauisch zu sein. Mehr konnte man nicht tun. Der gesamte Sizilien-Clan war in Alarmbereitschaft.

Worthlow hatte an diesem Abend eine kurze Unterredung mit Anna, der hübschen Zofe von Loretta.

Nach ihrem freien Tag war sie pünktlich nach Solunto zurückgekommen, müde, mit stumpfen Augen, irgendwie gestört. Sie duschte sich wieder heiß und kalt, aber was gewesen war, konnte sie nun nicht mehr abspülen. Sie spürte noch die Hände des fremden Mannes an ihrem Körper, seine Lippen, die über ihren nackten Leib gewandert waren bis zu den intimsten Stellen, und der Schmerz zwischen ihren Schenkeln brannte wie unauslöschbar. Sie hatte auf-geschrien, hatte gegen die Zimmerdecke gestarrt und nur noch» Enrico! Enrico!«gedacht, während der junge Maler irre Worte stammelnd und ihre Brüste küssend in sie eindrang.

Später saß sie nackt in dem kleinen Dachzimmer, trank billigen roten Wein und knabberte an ein paar Keksen. Jetzt müssen sie die Tonbänder gefunden haben, dachte sie und lächelte schwach, während der junge Maler mit ihren vollen Brüsten spielte. Er deutete ihr Lächeln als Bereitschaft, kniete sich vor sie und legte sein Gesicht in ihren warmen, feuchten Schoß.

Morgen bist du frei, Enrico, dachte sie. Aber ich werde weg sein. Ich bin zu spät gekommen, um mich dir zu schenken. Jetzt bin ich nichts mehr wert. Nie werde ich das blutbefleckte Bettuch aus dem Fenster hängen können, damit sie es alle sehen und sich über unser Glück freuen. Leb wohl, Enrico.

Jetzt stand sie vor Worthlow, noch in der Zofenkleidung, und sah ihn aus trüben Augen an.»Ich kann es der Signorina nicht sagen, weil sie plötzlich weg ist«, sagte sie mit ganz kleiner Stimme.»Aber ich muß kündigen, ich muß zurück in mein Dorf. Die Nonna ist sehr krank und braucht mich. Vielleicht wird sie bald sterben, aber ich muß bei ihr sein. Ich war so gerne hier, es war eine schöne Arbeit. Aber wenn die Nonna.«

Worthlow war lange genug in Italien, um zu wissen, daß es für einen Italiener drei heilige Wesen gibt: Die Mutter Gottes, die Nonna und die Bambini. Ist eines in Gefahr, gibt es kein Halten mehr.

«Wann willst du gehen?«fragte er kurz. Er hatte jetzt andere Sorgen als Annas Großmutter.

«Wenn ich darf, heute noch. «Anna schluchzte, aber es war keine Trauer um die Nonna, sondern der Abschied von Enrico. Er war weg, fortgefahren mit Loretta, in Sicherheit gebracht. Alles, was sie getan hatte, an was sie geglaubt hatte, daß es ihm zur Freiheit helfen konnte, war falsch gewesen. Dr. Soriano war stärker als die kleine Anna Talana. Mit einem Tonband konnte man ihn nicht vernichten. Sie hatte es eingesehen, als den ganzen Tag über die Gäste durch das riesige Haus liefen und Sorianos Diener ihnen alles zeigten. Vom Keller bis zum Dach, auch das Gästehaus II, in dem Dr. Volkmar gewohnt hatte. Die wertvollen Möbel und Sessel waren mit weißen Nesselbezügen abgedeckt, das Schwimmbecken auf dem Dachgarten entleert, die Bar ausgeräumt. Ein Gästehaus, das lange nicht benutzt worden war.

«Ich werde es Signorina Loretta mitteilen«, sagte Worthlow und nickte.»Die Nonna! Das ist natürlich ein Schicksalsschlag. Geh zum Verwalter und laß dir drei Monate Lohn auszahlen. Kommst du wieder, wenn die Nonna.«

«Ich weiß nicht, Signore. «Anna blickte auf den glänzenden Marmorboden. Ich werde in dem Steinhaus auf den Bergen wohnen, dachte sie. Und wenn das Geld verbraucht ist, wird Ernesto wieder die Touristen bestehlen, und ich werde vielleicht meinen Körper an sie verkaufen. Das bringt Lire, viele Lire. Wie mächtig man mit Geld ist, das habe ich hier gelernt.

«Es ist gut«, sagte Worthlow zerstreut.»Gute Fahrt, Anna.«

«Danke, Signore Worthlow. «Sie machte einen Knicks und faltete die Hände vor der Brust.»Es tut mir so leid.«

Dann rannte sie weg, und Worthlow hörte, wie sie laut vor sich hin weinte.

Bei Dr. Soriano zu arbeiten, ist wirklich ein Glück, dachte er bit-ter — wenn man so einfältig denkt wie ein Bauernmädchen.

Bei Einbruch der Dunkelheit fuhr Worthlow mit Dr. Soriano hinaus zum Altersheim. Dr. Volkmar empfing sie wütend und in bester Kampfstimmung. Loretta saß auf einem Stuhl an dem vergitterten Fenster und blickte hinaus in die Nacht. Sie drehte sich nicht um, sie begrüßte ihren Vater nicht. Sie ignorierte ihn. Dr. Nardo hatte schon unten beim Empfang gesagt, daß die Idee mit den Isolierzimmern keine gute gewesen sei.

«Ich weiß, was Sie sagen wollen, Dottore«, rief Dr. Soriano schon an der Tür.»Gitter, keine Klinken, notdürftig eingerichtete Isolierzimmer! Aber ich mußte schnell handeln, und das war das beste und sicherste. «Er blickte auf den Rücken seiner Tochter und ging langsam auf sie zu.»Loretta.«

Wie eine geschlagene Katze schnellte sie herum und fauchte ihn an. Ihre Augen waren geweitet vor Zorn.»Was ist hier los, Papa?«schrie sie.»Warum behandelst du Enrico wie einen Gefangenen?«

Soriano sah zu Volkmar hinüber.»Sie haben ihr noch nichts gesagt?«fragte er sichtlich erstaunt.

«Nein.«

«Danke.«

«Damit kommen Sie von Loretta nicht mehr weg, Don Eugenio. Sie will Erklärungen. Sie sollten sie ihr jetzt wirklich geben!«

«Enrico wird der Chefarzt einer neuen Klinik bei Camporeale.«

«Das weiß ich!«fauchte Loretta.»Oder glaubst du vielleicht, du hättest ein hirnloses Püppchen gezeugt?!«

«Das ist Ihr Einfluß, Dottore!«

«Leider nicht, Dr. Soriano. Es ergeht Ihnen nur wie vielen Vätern: Sie haben ein völlig falsches Bild von Ihrer Tochter.«

«Habe ich das wirklich?«

«Ja!«sagte Loretta laut.»Ich weiß alles! Der falsche Tote an Stelle Enricos, der Plan, mit Herzen Geld zu verdienen, die wirkliche Quelle unseres Reichtums, die nicht in deinem Anwaltsbüro sprudelt! Don Eugenio, das Oberhaupt der.«

«Es genügt!«unterbrach sie Soriano hart. Er setzte sich auf das weiße Eisenbett und blickte seine Tochter in die wütenden Augen. Madonna, dachte er dabei, wie habe ich mich immer davor gefürchtet. Ich habe gebetet, daß ich es nie nötig haben würde, und habe doch gewußt, daß man nicht entrinnen kann. Ist das jetzt die Stunde der Rechenschaft? Deine Mutter, mein Kind, hat alles gewußt, und sie hat geschwiegen, war eine liebe Ehefrau, eine Mama, wie sie sein soll, gläubig und demütig, häuslich und voll Bewunderung für ihren Ehemann. Sie repräsentierte auf Partys und Empfängen, trug Schmuck in Millionenwerten, aber sie fragte nie, wie man das Geld verdient hat. Für sie war ich nur der Mann, den sie liebte und dem sie dich, Loretta, geboren hatte. Alles andere nahm sie nicht wahr. Warum mußt jetzt du fragen? Einmal gehört doch alles dir.

«Wir leben nach strengen Gesetzen«, sagte er. Seine Stimme klang etwas gepreßt. Als Dr. Volkmar sarkastisch lachte, blickte er ihn mißbilligend an.

«Das muß ein Gesetzloser sagen!«warf Volkmar ein.

«Die Gesetze der >Familie< sind hart. Das werden Sie hoffentlich nie zu spüren bekommen, Dottore! Man kann eine Frau lieben, seinen Vater, seine Mutter, seinen Sohn, seine Tochter, einen Freund. Wenn es sich aber als notwendig erweist, wird verlangt, das alles zu vergessen. - Ist das klar ausgedrückt?«

«Nein. «Dr. Volkmar starrte Dr. Soriano an. Das ist nicht möglich, durchfuhr es ihn. Dieser Vater, für den seine einzige Tochter ein Heiligtum ist, könnte dieses Heiligtum zerstören, wenn es die Mafia verlangt? Undenkbar so etwas. Unfaßbar!

«Sie gehören jetzt fest zur Familie, Dottore«, sagte Soriano.»Es gibt kein Entrinnen mehr, auch wenn Sie jemals die Gelegenheit finden würden auszubrechen. Sie brächten nur unermeßliches Leid über Loretta — und mich! Ich weiß, mir gönnen Sie es. Aber Loretta können wir nicht ausklammern. Das ist das Geheimnis unserer Disziplin: Das Wissen, daß wir alle eine große Familie sind und alles gemeinsam tragen müssen.«

«In Wirklichkeit ist es eine unmenschliche Drohung!«

«So sehen Sie es, Enrico. «Soriano erhob sich von dem Eisenbett und trat an Loretta heran. Sie zog die Schultern hoch, als wehe von ihrem Vater ein eisiger Hauch über sie hinweg. Ihre Augen verengten sich etwas.

«Ich liebe ihn!«sagte sie laut.»Alles, was mit ihm geschieht, tut man auch an mir!«

«So ist es!«Soriano ging an seiner Tochter vorbei und blickte aus dem vergitterten Fenster. Unter ihm lag dunkel der Garten des Altersheimes, nur durch ein paar Laternen schwach beleuchtet. Wege zwischen Blumenbeeten, Bänke an Hecken, eine Liegewiese, ein Musikpavillon, ein kleines Freilichttheater. Das schönste Altersheim Europas, hatte man Soriano bestätigt. Nirgendwo wurde für die Alten soviel getan wie hier bei Palermo. Das gleiche würde man bald von dem neuen Kinderheim bei Camporeale sagen. Ein Erholungsparadies. Was in den Kellern geschah, blieb das Geheimnis der >großen Familie<.»Ihr werdet morgen wieder nach Solunto zurückkommen«, sagte Soriano.»Sie werden sich frei bewegen können, Dottore.«

«Auf einmal?«

«Alles, was Sie tun, ist zum Nutzen oder zum Schaden von Lo-retta.«

«Und wenn ich ihm helfe, alles das zu tun, was er will?«rief sie mit heller Stimme.

«Das wäre dumm. «Soriano drehte sich um und blickte seine wütende Tochter lange an. Etwas unendlich Trauriges, ja Hoffnungsloses lag in seinem Blick.»Das wäre sehr dumm. Und fürchterlich.«

Am nächsten Morgen kehrten Loretta und Dr. Volkmar in die Villa am Meer zurück. Zwei Autos mit schwerbewaffneten Männern begleiteten sie. Eins fuhr voraus, das andere dicht dahinter. Eine Eskorte, die keiner Überraschung ausgesetzt war. Wer sich über Loretta an Dr. Soriano rächen wollte, hatte keine Chance.

Im Gästehaus II war alles wieder so, wie es vordem gewesen war. Worthlow erwartete die Rückkehrer mit einem speziell gemixten erfrischenden Drink. Die Wohnung glich einer Blumenhandlung, überall standen große Vasen mit den herrlichsten Sträußen. In einem schweren silbernen Bilderrahmen steckte die Vergrößerung eines Fotos. Volkmar konnte es nicht übersehen.

«Sie wird heute aufgebaut, Sir!«sagte Worthlow in seiner steifen englischen Art.

Volkmar starrte auf das Foto.»So etwas von Herz-LungenMaschine habe ich noch nicht gesehen!«

«Es ist das modernste Modell aus den USA, Sir. Für Sie eigens herübergeflogen. Auch die elektronischen Meßinstrumente und die nuklearmedizinischen Apparate kommen aus Amerika. Heute morgen fliegen sechs Ihrer Ärzte nach Texas, um sich mit den neuen Instrumenten vertraut zu machen und sich anlernen zu lassen. Am 1. Dezember — zur Eröffnung des Kinderheimes — sind sie wieder zurück.«

«Das Datum steht also endgültig fest?«

«Jetzt ja.«

«Uns bleiben noch drei Monate«, sagte Volkmar später zu Loretta.»Das ist eine verhältnismäßig lange Zeit, um alles vorzubereiten. Wir können nur einmal flüchten. Mißlingt das, werden wir nie mehr eine Chance haben!«

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