Vier Tage nach Weihnachten, am 29. Dezember, mußte Dr. Volkmar wieder operieren. Keiner zwang ihn dazu, aber der Zustand Basil Hodschas ließ ihm keine andere Wahl mehr. Wenn er gerettet werden konnte, dann nur jetzt, solange der Körper noch widerstandsfähig genug war, die Operation zu überstehen. - In der Klinik hatte Dr. Nardo wieder alles mit gewohnter Perfektion vorbereitet. Der zweite Isolierzimmer-Trakt war steril gemacht. Auch das neue Herz lag schon bereit. Dr. Nardo hatte sich für den Elektriker aus Caserta entschieden. Seine Eiweißwerte lagen am dichtesten im Verträglichkeitstest.
Unter den dreiunddreißig >Fremdenlegionären< war Ruhe eingetreten. Am 1. Weihnachtstag hatte man sie mit einem besonderen Geschenk überrascht. In drei Zimmern wartete je ein Mädchen auf sie, aus einem Hafenbordell Palermos herbeigeschafft. Benjamino Tartazzi, der die Rolle des toten Gallezzo übernommen hatte, war nicht kleinlich gewesen, als er sie engagierte.»Es sind dreiunddreißig junge Burschen«, sagte er.»Kräftig wie Bullen. Selbst ihr werdet Freude daran haben. Und für jeden 25.000 Lire. Na, ist das ein Preis?! Für jede von euch elf Mann, das schafft ihr doch spielend.«
Es war ein herrliches Geschenk.
Als die ersten drei zurückkehrten, während die nächste Gruppe sich zur Tür drängte, schnalzten sie mit der Zunge.»Das sind Weiber!«sagte einer und verdrehte die Augen. Auch der Elektriker aus Caserta hatte sein Erlebnis gehabt: zwanzig Minuten mit der kleinen, üppigen Julia, und vergessen war alles, was vorher gewesen war. Nun wurde er sogar als erster weggeholt zur Legion!
Er verabschiedete sich von allen und drückte die Hände, die sich ihm entgegenstreckten.
«Auf Wiedersehen in Korsika!«sagte er glücklich.»Ihr kommt bestimmt bald nach! Das braucht eben alles seine Zeit. Einer muß ja der erste sein! Bis später, Kameraden! Auf Wiedersehen! Auf Wiedersehen!«
Im Lift, der nach unten in den Keller fuhr, nahm ihn ein Arzt in Empfang.
«Noch eine Untersuchung?«fragte der Elektriker aus Caserta.
«Nur eine Injektion gegen die Pocken!«Der junge Arzt lächelte freundlich.»Und dann.«
«Dann ab in die Ferne!«
«So ist es! Ab in die Ferne.«
Sie lachten beide laut, während der Lift nach unten sauste, in den Keller, aus dem es für ein junges, gesundes Herz nur eine Wiederkehr gab: in einem anderen Körper.
Kurz vor Beginn der Operation gab es noch eine unangenehme Verzögerung: Dr. Volkmar wollte plötzlich die Einverständnis-Erklärung der Angehörigen des Unfallopfers sehen.
Es gab nichts, was Dr. Soriano aus der Ruhe hätte bringen können oder was er, zum logischen Denken erzogen, nicht schon vorausgeahnt hätte. Auch Volkmars Einsichtnahme in die Hinterbliebenenerklärung war einkalkuliert worden. Es lagen, seit die furchtbare >Herzbank< bestand, immer ein paar Bescheinigungen blanko vor, in die man nur die Namen einzusetzen brauchte. Die zittrigen Unterschriften gramgebeugter Väter und Mütter nachzumachen, war eine Kleinigkeit, die Soriano zum Teil selbst besorgte.
«Da ist noch etwas anderes, Dr. Soriano«, sagte Dr. Nardo am Telefon. Basil Hodscha war auf die Operation bereits vorbereitet, der Elektriker aus Caserta hatte seine Injektion bekommen, war umgefallen und wurde jetzt für die Herzentnahme präpariert.»Dr. Volkmar will die Eltern selbst sprechen.«
«Sprechen? Genügt ihm nicht das Dokument?«
«Nein. Und ganz kritisch wird es, wenn er den Herzspender selbst untersuchen will. Dann sind wir gezwungen, einen Unfall zu konstruieren.«
«Hat Dr. Volkmar diesen Wunsch schon angedeutet?«
«Gott sei Dank noch nicht! Er verläßt sich auf das UntersuchungsTeam II. Aber es könnte noch kommen.«
«Ich liefere ihm die Eltern!«sagte Dr. Soriano kalt.»Wann will er sie sehen?«
«In einer Stunde.«
«Hat er das so ultimativ gesagt?«
«Nein. >Vor der Operation< — das waren seine Worte. Aber wir werden in etwa einer Stunde anfangen.«
«Es wird zu machen sein!«
Soriano legte auf. Dr. Nardo starrte den Hörer an, ehe er ihn langsam zurück auf die Gabel legte. Es wird zu machen sein. Bei Don Eugenio war alles möglich: ein neues Herz, ein Elternpaar, das das Herz des Sohnes verkaufte, ein Dokument, das auch rechtlich das Grauenhafte, was hier im Keller geschah, abdeckte.
Dr. Nardo setzte sich, in den Knien plötzlich weich geworden, und wischte sich mit dem Handrücken den kalten Schweiß von der Stirn. Er hatte es sich in den Jahren der Zusammenarbeit mit Soriano abgewöhnt, Skrupel zu haben. Mit Skrupeln ein Rädchen im großen Getriebe der Mafia zu sein — da ergeht es einem wie zu weichem Material, das nach kurzer Zeit Abrieberscheinungen aufweist. Mit Skrupel Geld verdienen zu wollen, viel Geld, dabei kommen nur wenige auf ihre Kosten.»Der Moralist wird sich immer in die eigene Tasche pinkeln, um andere nicht zu beschmutzen«, hatte Soriano einmal gesagt.
In dieser Stunde erlebte der Bauer Pier-Luigi Alvio etwas sehr Verwunderliches, was er sich nicht erklären konnte, weil es eben zu ungewöhnlich war: Ein großes, sehr teures Auto hielt vor seinem aus Felssteinen gebauten, armseligen, abseits am Rand der Berge gelegenen Haus, und ein Mann in einem pelzgefütterten langen Mantel, eine Pelzkappe auf dem Kopf, stieg aus und schritt auf das Haus zu. Es war kalt an diesem Januartag, von den Bergen pfiff ein eisiger Wind, jeder war froh, wenn er am warmen Ofen hocken und in die prasselnden Holzscheite blicken konnte. Pier-Luigis Frau, die fromme Emma, saß am Fenster, sie hatte das Auto zuerst gesehen.»Besuch!«rief sie.
Pier-Luigi tippte sich an die Stirn. Die Alte wird auch immer wunderlicher, dachte er, schlurfte durch das Zimmer und blickte hinaus. Besuch! Bei uns! Aber dann sah er, daß tatsächlich ein Auto zwischen Schuppen und Haus gehalten hatte.
Der Mann im Pelz klopfte an die Tür und lächelte freundlich, als Pier-Luigi ihm öffnete. Benjamino Tartazzi lächelte immer — das war sein Trick, er gab sich immer offen und freundlich, im Gegensatz zu seinem Vorgänger Gallezzo, der stets zurückhaltend, ja sogar etwas geckenhaft aufgetreten war. War man Gallezzo stets mit einer gewissen Ehrfurcht begegnet, so schenkte man Tartazzi volles Vertrauen, denn wer so entwaffnend lächeln kann, ist kein schlechter Mensch.
Auch Pier-Luigi und seine treue Frau Emma waren sofort von dem Besucher eingenommen, als dieser mit einem sonnigen Lächeln sagte:»Ich nehme an, dieses Jahr wird ein hartes Jahr für die Landwirtschaft. Solch ein extremes Wetter, verrückt! Schnee bis in die Täler, Glatteis auf den Straßen — und das auf Sizilien! Viele Bäume werden erfrieren, von den Menschen ganz zu schweigen. Da wäre es doch schön, wenn man 250.000 Lire nebenbei verdienen könnte.«
Tartazzi setzte sich, holte aus dem Pelzmantel eine einfache Papiertüte und schüttete einen Haufen Lire-Scheine auf den Tisch. PierLuigi Alvio betrachtete das Geld voller Ehrfurcht. Emma fragte diplomatisch:»Signore, wir sind arme Bauern, aber wir haben noch ein Faß mit gutem Wein. Darf ich Ihnen ein Glas bringen?«
Tartazzi sagte nicht nein, lächelte die braven Alten herzig an und wirbelte mit seinen Fingerspitzen die Geldscheine auf. Sie schwebten über den Tisch wie Federn.
Pier-Luigi nickte mehrmals.»Was kann ich für Sie tun?«fragte er mit belegter Stimme.»Signore, ich habe nichts zu verkaufen.«
«Können Sie schreiben?«Tartazzi rieb die Hände freudig aneinander, als Emma mit dem Wein kam. Er nahm einen Schluck, das Getränk war sauer und kratzte im Hals, aber er verdrehte die Augen und sagte begeistert.»Oh!«, was das Vertrauen der Alvios zu dem Gast noch erhöhte.
«Schreiben?«Pier-Luigi kratzte sich über den Nasenrücken.»Das geht. «Ist lange her, dachte er. Wann schreibt unsereiner schon? Und wozu? Seine Olivenbäume hatten noch nie gefragt:»Kannst du schreiben: >Ich bin eine Olive! Oder: >Du bist ein armer Hund, Pier-Lui-gi
Tarzatti nahm noch einen Schluck von dem fürchterlichen Wein und schnalzte mit der Zunge.»O Madonna!«rief er.»Das ist ein Tropfen! Wie steht's mit dem Lesen?«
«Es geht beides«, antwortete Pier-Luigi zurückhaltend.»Warum?«
«Die 250.000 Lire bleiben hier auf dem Tisch, wenn ihr mitkommt und unterschreibt, daß euer Sohn Giulmielmo verunglückt ist.«
«Wir haben aber keinen Sohn«, unterbrach ihn Emma.»Leider, Signore.«»Für 250.000 Lire stellt euch einen Sohn vor!«Tartazzi lächelte die beiden alten Leute sonnig an.»Dieser arme Giulmielmo ist überfahren worden. Keine Hoffnung! Aber er kann noch etwas Großes tun: Er kann in einem Hospital anderen Menschen das Leben retten!«
«Giulmielmo?«
«Ja.«
«Obwohl er tot ist?«
«Ja.«
«Das verstehe ich nicht.«
«Es ist auch etwas kompliziert. Aber für 250.000 Lire sollte man nicht zu intensiv denken. «Tartazzi schichtete die Geldscheine aufeinander: ein kleiner, sehr verlockender Hügel auf einem wackeligen Holztisch.»Die Sache ist ganz einfach, wenn man sie einfach betrachtet: Ihr kommt mit in ein Krankenhaus, lernt dort einen berühmten Arzt kennen, fangt an zu weinen und zu klagen: >Unser armer, armer Giulmielmo! Unser einziger Sohn! O diese verfluchten Autos! Die Hölle verschlinge sie! Aber wir sind einverstanden, daß Giulmielmo noch im Tode Gutes tut — er hat immer Gutes getan, der gute Junge!< Und so weiter, versteht ihr?! Und dann unterschreibt ihr beide ein Stück Papier, auf dem steht, daß Giulmielmo nun dem Krankenhaus gehört.«
«Unser Sohn!«sagte Emma ehrfürchtig.
«Ja.«
«Für 250.000 Lire?«
«Da liegen sie!«
«Mein Sohn ist aber mehr wert!«sagte Emma, die treue. In diesem Augenblick bewunderte Pier-Luigi seine Alte. Sie hatte die Situation begriffen.
Tartazzi behielt sein nettes Lächeln. Was bedeutet Geld?»350.000 Lire!«
«Diese krummen Zahlen! 400.000!«
«Abgemacht. Mein letztes Wort, oder ich gehe!«Tartazzi erhob sich.»Können wir sofort fahren?«»Sofort?«
«Ja.«
«So wie wir sind? Ohne Trauerkleidung? Giulmielmo hat es verdient, daß man um ihn trauert, wenn er ein so guter Junge war. «Pier-Luigi sah seine Emma an. Sie nickte und faltete sogar die Hände.»Wir ziehen uns schnell um. Wir sind gleich fertig.«
Tartazzi nickte, packte die Geldscheine wieder in seinen Pelzmantel und verließ das Haus. Pier-Luigi löste den Gürtel an seiner Hose und ließ sie auf seine Schuhe rutschen. Die gute Emma knöpfte ihr Kleid auf und ging zu einem alten Schrank.
«Nun hast du doch einen Sohn«, sagte Alvio und stieg aus seiner Hose.
«Aber tot!«
«Und 400.000 Lire!«
«Ich glaub' das noch nicht. «Sie holte die Trauerkleider aus dem Schrank und warf sie über eine Holzbank. Pier-Luigi betrachtete seine Emma, als sie jetzt aus dem Kleid schlüpfte und in der Unterwäsche herumlief. Sie ist alt und dick geworden, dachte er. Vor Jahren war sie ein schlankes, junges Mädchen mit langen schwarzen Locken und dünnen Beinchen gewesen, hatte gepiepst wie eine Maus, wenn er es mit ihr trieb, manchmal dreimal am Tag, so ein Kerl war er damals! Aber Kinder kamen nie dabei heraus, der Himmel weiß, warum nicht! Man hatte doch getan, was man nur konnte.
Früher. Jetzt ist sie siebenundsechzig, die gute Emma, dachte PierLuigi. Klein, dick, etwas wabbelig, mit Birnenbrüsten.
Was macht man mit 400.000 Lire?
Man sollte zuerst eine Kerze opfern für den toten Giulmielmo. Das ist man ihm schuldig.
Später, im Wagen, kam Pier-Luigi ein Gedanke.»Signore«, fragte er,»gibt es denn wirklich einen Überfahrenen?«
«Ja.«
«Warum holen Sie nicht seine Eltern?«
«Er hat keine mehr.«
«Dann ist es doch gleichgültig, ob er begraben wird oder nicht.«
«Der Chefarzt will aber Eltern sehen! Da fängt es an, kompliziert zu werden, und da solltet ihr für 400.000 Lire nicht mehr fragen. Weint und jammert und unterschreibt, mehr braucht ihr nicht zu tun.«
Und so geschah es eine Stunde später im Sekretariat des Kinderheimes von Camporeale. In Gegenwart von Dr. Soriano — diesmal in seiner vollen Würde als Notar — brachen die Alvios in herzzerreißendes Klagen aus, lagen sich weinend in den Armen, konnten sich kaum beruhigen. Dann unterzeichneten sie die Abtretungsurkunde. Giulmielmo gehörte der Klinik. Sein junges, gesundes Herz konnte in Basil Hodscha eingepflanzt werden.
Dr. Volkmar, der nur ein paar Fragen an die armen Leutchen hatte, schien zufriedengestellt zu sein und verließ das Sekretariat. Er glaubte ihnen die Trauer. Was hinter seinem Rücken geschah, wäre für ihn unfaßbar gewesen.
«Können wir unseren Giulmielmo einmal sehen?«fragte Emma, als sie nach dem notariellen Akt wieder in der großen Halle aus Marmor und Glas standen. Auf den eingerahmten Brief des Papstes schien die kalte Wintersonne.
Tartazzi zuckte zusammen, als habe man ihn getreten.
«Nein!«sagte er ziemlich grob und ohne sein berühmtes Lächeln.»Er wird schon operiert.«
«Schade. «Pier-Luigi hob die alten Schultern.»Wäre schön gewesen. Hätte gern gesehen, was 400.000 Lire wert ist.«
Das brave Ehepaar Alvio aus der Nähe des Dorfes San Cipirello blieb von diesem Tag an verschwunden. Auch die besten Detektive hätten sie nicht mehr gefunden, denn wer käme auf den Gedanken, zwei kleine Bäuerlein mit Dr. Sorianos Löwen und Krokodilen in Verbindung zu bringen?
Die Transplantation des Herzens nach der neuen Methode Dr. Volkmar gelang auch bei Basil Hodscha technisch einwandfrei. Aber als man den Thorax eröffnet hatte und die Teflonprothesen zwischen die großen Gefäße einnähte, bewahrheitete sich, was Volkmar gesagt hatte: Basils Adersystem war durch jahrzehntelanges Wohlleben stark geschädigt, durch Ablagerungen verengt, und der Blutstrom konnte nur noch gehemmt fließen.
«Da ist nun nichts zu machen!«sagte Volkmar am Ende der Operation.»Eine neue Pumpe hat er jetzt, und wenn er weiter so frißt und säuft, wird auch die bald im Eimer sein! Im wahren Sinne des Wortes.«
Diesmal saß Dr. Soriano nicht im Ärztezimmer am Fernsehschirm, um begeistert zu klatschen, wenn Dr. Volkmar aus dem OP zurückkam. Er war in Palermo, wo in dem großen Besprechungszimmer seiner Anwaltspraxis eine Sondersitzung des >Großen Rates< stattfand. Die erste Bilanz der neuen Klinik hörte sich bereits vorzüglich an, und das kaum vier Wochen nach Aufnahme der Arbeit. Zwei vollendete Herztransplantationen zu zwei Millionen und drei Millionen Dollar, acht Herzempfänger auf der Warteliste, bereits in Camporeale eingetroffen mit je zwei Millionen Dollar. Das war ein Kapital von einundzwanzig Millionen Dollar. Die Unkosten dagegen waren gering. Das Gehalt der Ärzte und Pfleger, der technische Aufwand: Zahlenkolonnen, die in der Addition geradezu lächerlich waren gegenüber den Einnahmen. Dr. Volkmar arbeitete sogar umsonst.
«Umsonst ist übertrieben«, sagte Dr. Soriano sarkastisch, als dieser Punkt abgehakt wurde.»Er kostet mich meine Tochter! Gut, ich habe mich jetzt daran gewöhnt, einen deutschen Schwiegersohn zu bekommen. Er ist mir nicht unsympathisch, im Gegenteil, ich mochte ihn von Anfang an. Aber ich hatte andere Pläne mit Loretta. Immerhin — wenn Enrico jede Woche ein Herz transplantiert, bringt er mehr Kapital herein, als es die beste Partie vermöchte. Ihr seht — «, er blickte in die Runde des >Großen Rates<, diese ihm seit Jahren bekannten Gesichter der Chefs der einzelnen >Familien< —»ich bin kein Phantast, wie ihr immer gesagt habt! Das größte und sonderbarste geheime Unternehmen steht auf festen Füßen! Es dürfte wenige Institutionen geben, mit denen man jeden Monat mindestens acht Millionen Dollar verdient! Ich glaube, wir dürfen zufrieden sein,
liebe Freunde.«
Zufrieden war auch Dr. Volkmar mit seinem ersten Patienten Achmed ibn Thaleb. Der Libanese lief seit drei Tagen fröhlich herum, war aus dem Keller und seinen Sterilschleusen verlegt worden in die vorbereiteten schönen Krankenzimmer und genoß seine Gesundung wie ein geschenktes neues Leben. Er saß viel auf der völlig verglasten und keimfrei gemachten Veranda, sonnte sich in der Wintersonne, die durch das dicke Glas geradezu sommerlich wärmte, saß vor dem Fernseher, oder hörte Schallplatten, die selbstverständlich auch steril gemacht worden waren, und aß mit gutem Appetit die vor dem Servieren bestrahlten Speisen.
Ständige Kontrollen bewiesen: Die Abstoßerscheinungen waren eingestellt worden. Thaleb war fieberfrei, die Medikamente unterdrückten jede Immunreaktion.
«Das ist ein Balanceakt, Mr. Thaleb!«sagte Dr. Volkmar einmal zu ihm.»Mit ihm werden Sie nun zeitlebens zu tun haben: Die Unterdrückung der körpereigenen Abwehr und der Kampf gegen Infektionen, die von außen kommen und gegen die sich Ihr Körper nicht mehr abschirmen kann.«
«Ich werde es schaffen, Doktor. «Thaleb war von einem fast kindhaften Vertrauen.»Dr. Nardo sagt, einmal — früher oder später — wird sich der Körper an das neue Herz gewöhnt haben und nicht mehr reagieren.«
«Das sind Wunschträume. Bis jetzt noch. Sie sind jedenfalls der erste Mensch, der ein vollkommen neues Herz hat und noch lebt! Sie werden zum Modell einer neuen Herzchirurgie werden. Nur wird es leider nie einer erfahren. Ich kann Sie nie zum Beweis vorzeigen.«
«Aber Sie werden trotzdem vielen Menschen das Leben retten können, Doktor. Das muß Sie doch stolz machen.«
«Stolz?«Dr. Volkmar lächelte bitter.»Wie ein Falschmünzer arbeite ich in einem Keller, zwei Etagen unter der Erde.«
«Denken Sie nur an die Patienten, für die Sie zu einem Gott werden!«
«Und die zwei Millionen Dollar dafür bezahlen.«»Wir haben es! Was stört Sie an dem Geld?«
«Daß ich es verdienen soll mit einer tödlichen Fließbandarbeit. Aber ich glaube, das verstehen Sie nicht.«
«Nein.«
«Ich dachte es mir.«
«Sie heilen Todkranke und machen sich Gewissensbisse?!«
«Ich operiere nach einer Methode, die, medizinisch gesehen, ein Hasardeurstück ist! Ein schreckliches Vabanque-Spiel mit dem Leben der Menschen.«
«Ist das nicht jede große Operation?«
«Ja und nein! Aber ein Herzaustausch stößt über die Grenzen dessen hinaus, was dem Menschen bisher möglich war.«
«Bisher möglich — das haben Sie richtig gesagt, Doktor. «Thaleb sah Dr. Volkmar in seiner kindlichen Gläubigkeit strahlend an.»Sie haben es geschafft. Sie allein auf der ganzen Welt! Nur daran sollten Sie denken! Nur daran!«
Volkmar verließ bald darauf das Zimmer und streifte im Vorraum seinen sterilen grünen Kittel ab. Er wird sich wundern, dachte er. Noch lebt er unter einer Glasglocke, völlig abgeschirmt von der Welt. Die Probleme fangen an, wenn er wieder unter die Menschen darf, in diese sogenannte freie Luft<, die dick wie eine Suppe ist durch Bakterien und Viren. Es fängt an, wenn er wieder mit einer Frau im Bett liegt. Von ihren zärtlichen Lippen werden Millionen Erreger auf ihn überfließen, und mit dem Schweiß aus ihren Poren wird Thaleb in einem Meer von Bakterien baden. Alles, was er anfassen wird, ist im medizinischen Sinne verseucht. Sein Körper wird in einem ständigen Abwehrkampf stehen.
Ist das ein Leben, das man sich wünschen kann?
Die ständige Angst, ein normaler Husten könnte schon den Tod bedeuten?! Ein Schnupfen? Keine Taschentücher einstecken, sondern den Sarg bestellen! Eine Bronchitis? Holt keinen Arzt, holt einen Priester!
Ein Leben voller Angst. Lohnt sich das?
Aus Kapstadt meldeten Sorianos Beobachter höchst vertrauliche
Informationen. Professor Barnard hatte einen neuen Patienten auf seine Liste gesetzt. Einen Zahnarzt, Dr. Blaiberg. Wann er operiert werden sollte, wußte allerdings niemand. Barnard, durch Waskan-skys Tod gewarnt, ließ die vorgesehene Krankenstation umgestalten. Wie Dr. Volkmar richtete er Sterilschleusen zwischen dem Krankenzimmer und der Außenwelt ein. Die immunbiologische Forschungsgruppe steckte in Großversuchen. Für den zweiten Anlauf in eine neue chirurgische Welt unter den Augen der Weltöffentlichkeit hatte der Countdown begonnen. Ärzte in allen Erdteilen blickten gespannt nach Kapstadt, die meisten mit ablehnenden, ja fast schon hämischen Kommentaren.
In diesen Tagen verpflanzte Dr. Volkmar sein drittes und viertes Herz mit Erfolg. Die Welt ahnte davon nichts. Denn aus Sorianos schrecklicher >Herzbank< verschwanden wieder zwei junge, kräftige Männer — um ihren Dienst in der Fremdenlegion anzutreten!
Der 29. März war ein herrlicher Frühlingstag.
Die Mimosen, die nach dem strengen Winter spät zur Blüte gekommen waren, vermischten sich mit den Kamelien. Sizilien lag unter einem hellblauen, seidigen Himmel. In den Ferienzentren tummelten sich wieder viele tausend Touristen. Ein neuer Reiseboom — die Flugtouristik — überschwemmte die südlichen Länder. Vor allem die Küsten Spaniens und die Balearen meldeten: Alle Betten belegt. Auch Sizilien wurde >neu entdeckt<, wie die Zeitungen schrieben. Auf den Flugplätzen von Catania und Palermo landeten die Maschinen aus den nördlichen Ländern, vor allem aus Deutschland und England. Charterflüge, Pauschalreisen, alles inbegriffen. Auch die Papagalli.
Achmed ibn Thaleb war entlassen worden. Gesund, mit einem kräftig schlagenden Herzen. Er hatte ein paarmal aus Beirut geschrieben, wie gut es ihm gehe. Von Infektionen keine Spur. Seine dritte Frau war in gute Hoffnung gekommen. Das allein war schon zwei Millionen wert. Vor der Herztransplantation hätte Thaleb eine Lie-besnacht nicht überlebt. Jetzt — das schrieb er in aller Offenheit — war es fast wie in seinen jungen Jahren: Er hielt allen Anforderungen seiner heißblütigen Frauen stand (als Mohammedaner besaß er vier) und überbot sie sogar manchmal an Ausdauer.
«Ein Beweis, daß die Teflonzwischenstücke eingeheilt sind!«sagte Dr. Volkmar.»Ich glaube, wir haben es geschafft.«
Auch Basil Hodscha war zurück nach Paris gegangen, nicht ganz so springlebendig wie Thaleb, aber im Verhältnis zu früher auch wesentlich verbessert. Die dritte Million Dollar, das Erfolgshonorar, hatte er bezahlt.»Und wenn ich nur noch ein Jahr lebe«, hatte er zum Abschied zu Soriano und Volkmar gesagt,»das lohnt sich. In einem Jahr kann ich vieles regeln. Ich weiß, ich weiß: Ruhe! Keine Anstrengungen. Doktor — was soll's?! Ich habe nicht mehr mit einem Jahr gerechnet — nun hat man mir's geschenkt! Und dieses Geschenk koste ich aus! Ich weiß, daß mein neues Herz kein Motor von Dauer ist. Das Rohrsystem ist verstopft. Gott segne Sie, Doktor!«
In der Klinik von Camporeale lebten jetzt isoliert elf Patienten mit neuen Herzen und im Flügel III, oberste Etage, vierunddreißig junge, kräftige Männer, vorzüglich ernährt, wöchentlich zweimal beruhigt durch den Besuch von sieben wirklich hübschen Huren aus Palermo. Wurden sie ab und zu aufsässig, weil sie einfach keine Erklärung dafür wußten, weshalb man sie hier festhielt, statt sie nach Korsika in die Kaserne der Fremdenlegion weiterzuschleusen, >dämpf-te< man sie, wie es Dr. Nardo keck ausdrückte, mit einem neuen Mittel: Man blies über die Klimaanlage ein geruchloses Gas in die Zimmer, das ohne schädliche Folgen auf das Zentralnervensystem wirkte. Dann hockten die Herzspender apathisch auf ihren Betten, für Stunden oder Tage paralysiert, aßen und schliefen wie Automaten und blieben auch hinterher noch ein paar Tage lang friedlich, zumal nach solchen >Dämpfungen< meistens der Besuch der Damen aus Palermo folgte.
Tröstlich war nur, daß hin und wieder einer von ihnen zur Fremdenlegion geholt wurde! Man sah, es ging weiter, wenn auch lang-sam. Dr. Nardo hatte eine neue Erklärung dafür:»Die französischen Behörden!«sagte er.»Ein Berg von Bürokratie! Bei uns ist es schon schlimm mit den Beamten — aber bei den Franzosen erst! Sogar bei der Fremdenlegion! Ihr glaubt nicht, wieviel dicke Fragebogen wir für jeden von euch ausfüllen müssen!«
An diesem 29. März rief Loretta in der Klinik an. Es war kurz nach der Vormittagsvisite. Volkmar saß in seinem Chefzimmer und betrachtete die neuesten Röntgenbilder der letzten Herztransplantation. Es handelte sich um einen italienischen Großindustriellen, der sein Herz mit Schweizer Franken von einem Schwarzkonto in Genf bezahlte. Er war — aber das wußte Volkmar nicht — ein Problemfall gewesen, denn alle damals vorhandenen vierundzwanzig Herzspender eigneten sich nicht für ihn. Die Eiweißtests waren katastrophal. Erst der dreiundvierzigste >Fremdenlegionär<, den man aus Neapel herüberschickte, harmonisierte mit dem Patienten.
Volkmar betrachtete das klingelnde Telefon, bevor er abhob. Seit seiner zehnten Herzverpflanzung empfand er eine gewisse Scheu davor, den Hörer abzunehmen. Hundertmal waren es Nichtigkeiten, klinikinterne Dinge, aber fünfmal hatte er auch Sorianos ruhige, väterliche, ein wenig zu glatte Stimme gehört mit Mitteilungen wie dieser:»Enrico, soeben erfahre ich, daß am Hafen ein junger Arbeiter von einer herunterfallenden Kiste erschlagen wurde. Er lebt noch und wird künstlich beatmet. Wir könnten ihn gebrauchen.«
Er sagte tatsächlich gebrauchen. Und das stimmte. Denn diese Anrufe trafen immer bei Volkmar ein, wenn Dr. Nardos Team eine Eiweißverträglichkeit zwischen einem wartenden Herzkranken und einem >Spender< aus der Herzbank festgestellt hatte.
Und ahnungslos hatte Volkmar die >Gelegenheit< wahrgenommen und hatte operiert!
Er nahm den Hörer auf und hörte Lorettas Stimme. Sie war schnell, leise, wie gehetzt.»Mein Liebling — «, sagte er.»Was ist los?«
Loretta und er lebten jetzt wie ein Ehepaar. Sie war zu ihm in das Gästehaus gezogen, und Dr. Soriano hatte auch das geschluckt. Mehr noch: Soriano hatte auf Worthlow verzichtet und ihn für das junge Paar ausgeliehen. Als ständig anwesender Diener und damit als drittes Auge von Don Eugenio. Der Sender in Worthlows Armbanduhr funktionierte ausgezeichnet. Daß Worthlow ihn abstellen könnte, wenn er mit Volkmar und Loretta privat sprach — an diese Möglichkeit dachte Soriano nicht. Schwieg der Sender und zeichnete das Tonband nichts auf, so hieß das, daß Worthlow allein war.
«Ich bin in Palermo, Enrico«, sagte Loretta schnell.»In einer Telefonzelle. Es ist soweit. Wir können heute abend um 19 Uhr von Catania nach Frankfurt fliegen. Ich habe die Tickets. Giuseppe sitzt in einer Bar und trinkt einen Aperitif. Ich bin auf die Toilette gegangen und habe von hier aus in Catania angerufen. Die Flugkarten liegen bereit! Ich hole dich in zwei Stunden ab. Giuseppe wird unser einziger Begleiter sein.«
Dr. Volkmar starrte gegen die Wand. Giuseppe, dachte er. Mittelgroß, gut trainiert, aber bei einem Überraschungsangriff kein Problem. Nur an die Pistole im Schulterhalfter durfte er nicht herankommen — dann allerdings wäre er unschlagbar. Volkmar hatte noch nie einen Menschen gesehen, der so schnell und so präzise schießen konnte wie Giuseppe. Er hatte es einmal bei der Rückfahrt nach Solunto bewiesen. Ein Hase flitzte vor dem Auto quer über die Straße, und während der Fahrt riß Giuseppe eine Pistole heraus und feuerte. Der Hase wurde in die Luft geschleudert, überschlug sich und blieb am Straßenrand liegen. Eine Sache von vier Sekunden.
«Das ist noch lang!«hatte Giuseppe sich damals gerühmt.»Manchmal bleiben uns keine vier Sekunden Zeit.«
«Hörst du, Enrico?«rief Loretta wie gehetzt.»Warum sagst du nichts? Ich muß einhängen, sonst fällt es auf.Ich habe die Flugkarten!«
«Frankfurt. Sehr schön. Aber ich habe keinen Paß! Ohne Paß kommen wir nicht durch die Kontrolle.«
«Mein Gott, daran habe ich nicht gedacht. Was soll ich tun?«
«Bestell die Karten um. Ein Flug nach Rom! In Rom nehmen wir uns einen Leihwagen und versuchen, irgendwo illegal über die Grenze zu kommen. «An der Tür klopfte es. Volkmar hielt die Hand über die Muschel.»Es kommt jemand«, flüsterte er.»Ende.«
«Liebling.«
Er legte schnell auf und rief:»Herein!«Es war ein neuer, noch junger Arzt, der in ziemlicher Verwirrung ins Zimmer trat. Volkmar kannte ihn erst seit gestern. Dr. Nardo, für die Personalpolitik der Klinik zuständig, hatte ihn für das Immunbiologische Team angestellt. Der junge Mann hatte die beste Qualifikation: Sein Vater war einer der maßgebenden Männer der >Familie< von Siracus.
«Dr. Nardo ist nicht da — «, sagte der junge Arzt etwas hilflos.»Ich habe Wachdienst, aber ich kenne mich noch nicht aus. Plötzlich sind sie unruhig geworden und benehmen sich wie Irre.«
«Das ist doch unmöglich!«Volkmar sprang auf. Er drückte auf die Knöpfe der Fernsehüberwachung und sah den jungen Arzt ratlos an, als aus dem ersten Zimmer das Bild auf der Mattscheibe erschien: Der Patient lag, noch an Meßgeräten und Schläuchen angeschlossen, ruhig im Bett. Ein Pfleger im weißen Kittel wechselte gerade eine Infasionsflasche aus.
Volkmar drückte weitere Knöpfe und rief alle Krankenzimmer ab. Überall das gleiche Bild: Ruhe. Die drei Patienten, die vor der Entlassung standen, bekamen gerade das zweite Frühstück serviert.
«Was haben Sie denn gesehen?«fragte Volkmar.
«Doch nicht die Patienten!«Der junge Arzt winkte ab. Er hatte großen Respekt vor seinem Chef und nicht gewagt, ihn zu unterbrechen.»Die anderen.«
«Welche anderen?«
«Die Herzspender.«
«Wer, bitte?«
«Die Männer von Block III. «Der junge Arzt starrte seinen Chef verwirrt an.»Ich habe auch Dr. Crichi alarmiert. Er sagt, es gebe da eine Art Gas, aber genau kenne er sich auch nicht aus. Er ist schon vorausgelaufen. Da habe ich mir gedacht, daß Sie, Herr Chefarzt. Schon wegen des Gases.«
Dr. Volkmar kam es vor, als vereise sein ganzer Körper. Sogar das Sprechen machte ihm Mühe.
«Was für ein Gas?«sagte er langsam.
«Zur Ruhigstellung. Aber ich weiß nicht. «Der junge Arzt schwieg. Die Veränderung, die mit seinem Chef vorgegangen war, erschreckte ihn sichtlich. Volkmar war bleich geworden.
«Ich. ich werde mich darum kümmern!«Er kam um den großen Schreibtisch herum mit staksigen Schritten, wie eine aufgezogene Puppe. Aber plötzlich stürzte er vor und riß den völlig verwirrten jungen Mann an den Aufschlägen seines Arztkittels zu sich heran.»Wo ist das?«schrie Volkmar.»Wo und wer?!«
«Die Männer von Block III«, stotterte der Arzt.»Unsere Herzbank.«
«Führen Sie mich sofort hin! Sofort!«brüllte Volkmar. Er drehte den Arzt herum und stieß ihn vor sich her. Willenlos rannte der ahnungslose Neuling durch den langen Flur, bog in die Zentralhalle ein und schloß eine Tür auf, die Volkmar nie beachtet hatte, weil auf dem Türschild lediglich Magazin stand. Darunter hing eine lustige bunte Zeichnung; eine Kinderschar mit Bällen und Puppen.
Der junge Arzt schloß die Tür auf. Dahinter war ein kleiner Raum, kein Magazin, eher Warteraum vor einem breiten Lift mit Stahltüren. Auf Knopfdruck kam die Kabine sehr schnell hinunter und fuhr ebenso schnell wieder nach oben.
Der abgesperrte Teil der oberen Etage von Block III war durch zwei dicke, doppelwandige, sandgefüllte Stahltüren gesichert: Türen mit großen Hebelverschlüssen, wie man sie von Luftschutzschleusen kennt. Mit einem Spezialschlüssel entsicherte der Arzt die Türen, drückte sie auf und warf sie hinter sich wieder zu. Sie standen in dem langen, kahlen Flur.
Vollkommene Stille umgab sie. Der junge Arzt blickte seinen Chef an und zuckte mit den Schultern.»Als ich wegging, war hier die Hölle los«, sagte er, wie um Entschuldigung bittend.»Vielleicht hat Dr. Crichi schon.«
Volkmar spürte, wie ein Zittern seinen Körper durchlief.»Crichi!«brüllte er in die unheimliche Stille hinein.»Crichi! Wo sind Sie?!«
«Sicherlich ganz hinten im Maschinenraum!«sagte der junge Arzt.
«Ihr Saukerle!«stammelte Volkmar.»Ihr Teufel. Mörder!«
Der Arzt verstand das falsch. Er wischte sich über das jungenhafte Gesicht.»Bisher hat immer Dr. Nardo selbst. Auch Dr. Crichi kennt die Dosierung nicht. Aber ich glaube nicht, daß etwas passiert ist. Bei der Instruktion hat uns Dr. Nardo gesagt.«
Volkmar stieß den Arzt zur Seite und stürzte auf die erste Tür zu. Auch sie war doppelwandig und hatte einen Hebelverschluß.
«Nicht öffnen!«schrie der junge Arzt. Er packte Volkmar an den Schultern und riß ihn zurück, bevor er den ersten Hebel herumlegen konnte.»Chef, Sie werden doch betäubt! Das Gas ist ja gerade erst reingeblasen worden!«
«Aufmachen!«sagte Volkmar dumpf.»Machen Sie sofort die Tür auf. Alle Türen. Sofort! Oder ich schlage Ihnen den Schädel ein!«Er ballte die Fäuste.
Der junge Arzt verstand seinen Chef nicht mehr. Er nickte, drehte sich auf der Stelle um und rannte den langen Flur hinunter.»Cri-chi!«schrie er dabei.»Blas das Gas ab! Entlüften! Der Chef will in die Zimmer!«
Ganz hinten, in der letzten Tür auf der anderen Flurseite, erschien Dr. Crichi und blickte ungläubig auf Volkmar. Dann verschwand er wieder im Maschinenraum. Der junge Arzt blieb stehen und hob lauschend den Kopf. Von der Decke her kam ein leises Rauschen. Ein Motor summte.
«Frischluft!«sagte der Arzt.»Gleich können Sie hinein, Chef.«
Es dauerte noch fünf Minuten — eine entsetzlich lange Zeit für Volkmar —, bis Dr. Crichi aus dem Maschinenraum kam: bleich, mit zuckendem Gesicht, den Kopf in die Schultern gezogen.
«Sie können, Chef!«sagte Dr. Crichi.
Der junge Arzt öffnete die am nächsten liegende Tür und ließ sie aufschwingen.
Ein großes fensterloses Zimmer, taghell angestrahlt aus in die Decke versenkten Leuchtstoffröhren. Sieben Betten, aus denen man die Matratzen gerissen und zerfetzt hatte. In diesem Durcheinander, zwischen zerschlagenen Nachttischen und Kleiderschränken, lagen oder saßen mit stumpfsinnigem Blick, bewegungslos, wie gelähmt, sie-ben junge Männer. Sie hoben die Köpfe nicht, als die Tür aufging, sie blickten Volkmar nicht an. Das Gas, das sie eingeatmet hatten, hatte jeden Kontakt mit der Umwelt zerstört.
«Sie leben noch«, sagte Dr. Crichi erlöst.»Hätte das einen Rummel gegeben! Aber so genau wußte ich die Dosierung auch nicht; ich habe bei Dr. Nardo nur einmal zugesehen.«
Volkmar antwortete nicht. Er drehte sich um und verließ wortlos die obere Etage von Block III. Mit dem geheimen Fahrstuhl fuhr er wieder hinunter in die Zentralhalle und ging in sein Zimmer. Erst dort kam es zum Zusammenbruch. Er sank auf die Ledercouch, bedeckte das Gesicht mit beiden Händen und begriff plötzlich, daß es im Leben eines Menschen Situationen geben kann, in denen er sich den Tod wünscht. Er hatte bisher nie Verständnis für Selbstmörder aufbringen können. Nichts kann so ausweglos, so unerträglich, so niederzwingend sein, daß man sein Leben wegwerfen müßte, hatte er immer gesagt, wenn er in München mit einem geretteten Selbstmörder sprach. Die meisten klagten:»Warum haben Sie mich bloß nicht sterben lassen, Doktor? Ich kann nicht mehr leben!«Und er hatte stets geantwortet:»Man kann! Für das Leben gibt es keinen Ersatz. Auch im Himmel nicht!«
Jetzt sah er ein, daß das nur dumme Sprüche gewesen waren. Sterben. Auf der Stelle umfallen und nicht mehr sein. Das wäre herrlich. Fort aus dieser Welt, die aus Mord und Betrug, Gemeinheit und Lüge zusammengeschweißt wurde. Wie hatte es Sartre ausgedrückt? Die Hölle, das sind wir! Welch ein mildes, versöhnliches Wort gegen das, was sich hier offenbarte!
Sterben. Es gab nur diesen Ausweg. Mit diesem Wissen konnte man nicht mehr leben.
So traf ihn Loretta an, eine Stunde später. Er lag noch immer auf der Couch, die Hände vor dem Gesicht. Als die Tür zuklappte, spreizte er die Finger und streckte sie weit von sich.
«Komm nicht näher!«sagte er heiser.»Komm bloß nicht näher! Ich flehe dich an: Faß mich nicht an! Du weißt nicht, wen du berührst! Loretta, geh bitte!«
Sie blieb an seinem Schreibtisch stehen und lehnte sich gegen die Kante. Ihr Gesicht wurde weiß vor Angst.»Was ist passiert?«fragte sie und kam, obwohl er sie abwehrte, näher.»Enrico! Mein Gott, wie siehst du denn aus?«
«Ich kann gar nicht so aussehen, wie ich bin!«Er richtete sich auf und riß das Hemd bis zum Gürtel seiner Hose auf, als ersticke er.
«Ist — ist eine Operation mißlungen?«
«Operation?! Sprich das nie mehr aus! Nie mehr!«schrie er.»Du hast die Flugkarten nach Rom? Schön! Sehr schön! Flieg sofort nach Rom und dann weiter, in den äußersten Winkel der Welt, wo man den Namen Soriano nicht kennt! Du hast ja deinen Paß! Verkrieche dich irgendwo, nimm einen anderen Namen an und vergiß, vergiß ganz schnell, daß du Soriano heißt! Giuseppe — der Wächter? Kein Problem. Ich gehe hinaus und bringe ihn einfach um! Ein Toter mehr — was macht das jetzt noch aus? Vielleicht kann man sein Herz gebrauchen! Es warten ja noch vier Kranke auf ein neues Herz. Viermal zwei Millionen Dollar. Da lohnt es sich doch, einen umzubringen! Es sind schon viele für viel weniger Geld ermordet worden, für eine Flasche Kognak, für ein Kofferradio! Wo ist Giuseppe? Ich mache den Weg für dich frei!«Er wich vor ihr zurück, als sie auf ihn zutrat, und streckte die Arme wieder aus.»Nicht anfassen!«schrie er.»Wo ist dein Vater?«
«In — in Palermo«, sagte Loretta stockend. Sie starrte Volkmar entsetzt an.»Er verteidigt vor Gericht einen Taschendieb.«
«Er verteidigt!«schrie Volkmar und lachte wie ein Wahnsinniger.»Vor Gericht! Der gute Anwalt Soriano! Der Kinderfreund! Der Wohltäter der armen Alten! Küßt dem Kardinal den Ring, und der Papst segnet ihn! Und jeden Sonntag sitzt er in der vordersten Bank und empfängt die heilige Kommunion! Der gute, gute Dr. Soriano! Und kann zum Tode verurteilte Leben retten! Kann Herzen verkaufen! Neue Herzen! Gesunde Herzen! Kräftige Herzen! Junge Herzen! Keins älter als vierundzwanzig Jahre! Kommt her, ihr reichen Herzkranken, kommt alle nach Camporeale, für zwei Millionen Dollar bekommt ihr ein neues Leben! Ich habe einen Chirurgen gefangen, ein deutsches Rindvieh, das in seiner Ahnungslosigkeit glaubt, es verpflanze Herzen von Unfallopfern. Ein deutscher Trottel, der vierzehnmal — bis heute! — nicht gemerkt hat, daß neben ihm, auf dem anderen OP-Tisch, auf seinen Wink hin elegant gemordet wurde! Das neue Herz bitte! Und schon rupft man's einem aus der Brust, wie man eine Rübe aus der Erde zieht! Vierzehnmal Mord — Mord — Mord!«Er lehnte sich gegen die Wand und starrte Loretta an, in abgrundtiefer Verzweiflung.»Hast du das verstanden? Begreifst du, was du hörst? Weißt du endlich, wer ich bin?«
«Nein«, antwortete sie kaum hörbar.»Ich weiß nur, daß ich dich liebe.«
«Dein Vater ist ein Mörder, Loretta! Ein Massenmörder!«
Sie schloß die Augen und senkte den Kopf tief auf ihre Brust.»Komm«, sagte sie mit ganz kleiner Stimme.»Wir müssen gehen. Wir müssen pünktlich in Catania sein.«
«Und ich bin sein Gehilfe! Ich, Dr. Heinz Volkmar! Handlanger eines Massenmörders!«Er hieb mit den Fäusten nach hinten gegen die Wand.»Warum rennst du nicht weg?! Warum fliehst du nicht vor mir?«
«Ich liebe dich, Enrico.«
«Ich habe vierzehn Menschen umgebracht!«
«Du nicht!«
«Ob ich es gewußt habe oder nicht: Auf meinen Befehl hat man sie getötet, um ihre Herzen herauszuholen! — Loretta, nimm das nächste Flugzeug und flüchte so weit weg, wie es möglich ist. Ich habe hier noch etwas aufzuräumen!«
«Ich bleibe bei dir!«sagte sie plötzlich laut und stark.»Und du kommst mit mir.«
«Nein!«
«Enrico, du überlebst das nicht! Du bist allein! Allein gegen meinen Vater und die Organisation! Du hast nicht die geringste Chance! Hier nicht. Aber draußen, in Deutschland, kannst du die ganze Welt informieren!«
«Wer glaubt mir das denn? Wer? Sie werden mich für irre halten!