Man muß es den sardinischen Behörden mit Anerkennung bescheinigen: Sie ließen Dr. Angela Blüthgen, nachdem man ihr gesagt hatte, daß für ein Wiederauftauchen Dr. Volkmars gar keine Hoffnung bestand, nicht einfach allein in ihrem kleinen Hotelzimmer in Cagliari, sondern der für den Fall zuständige Polizeikommissar kümmerte sich voll Mitgefühl um sie. Obwohl Angela weder den Anspruch einer Witwe hatte noch ihr sporadisches Liebesleben mit Volkmar sie zu ergreifender Trauer berechtigte, geschah mit ihr eine innere Wandlung.
Waren es zuerst Schuldgefühle — der Vorwurf, Heinz nicht so geliebt zu haben, wie er es verdient hatte —, so gab sie sich jetzt voll der Reue hin, Volkmar und sich um die schönsten Stunden betrogen zu haben, und das nur, um ihren selbstzerstörerischen Emanzipationsideen zu huldigen. Eine Frau ordnet sich nicht unter, auch nicht im Bett. Sie soll auch dort überlegen sein. So wie man sagt:»Schönen Dank für den Drink!«, so kann man auch sagen:»Im Bett warst du ganz nett. Tschüß!«Man zeigt dann, daß der Mann für eine Frau durchaus nicht so lebensnotwendig ist, wie er immer annimmt.
Diese verschenkten Stunden allzu wohlwollender Zärtlichkeit, allzu gebändigter Seelenfreude und nur bedingter körperlicher Hingabe konnte sie jetzt nicht korrigieren. Hinzu kam, daß sie sich eingestand, Heinz wahrhaftig geliebt zu haben. Es würde schwierig sein, mit ihren nun dreißig Jahren noch einmal einen Mann zu finden, dem sie innerlich so verbunden sein konnte wie Volkmar.
Das alles war natürlich dem Polizeikommissar von Cagliari nicht geläufig und ging ihn auch nichts an, aber als Angela Blüthgen den Wunsch äußerte, ganz in der Nähe des Unglücksortes ein paar Wochen zu wohnen, telefonierte man herum und fand auf dem Capo San Marco eine Fischerhütte, die man eigentlich einer Madame aus Deutschland kaum anbieten konnte. Der Fischer Giovanni Re-sponatore — sein klangvoller Name war das einzig Eindrucksvolle an ihm — hauste hier mit seinen Netzen, einem alten Boot, zwei Schafen, einem Schwein, einem Esel und seiner Frau, wobei sich aus der Reihenfolge die Wertmaßstäbe Giovannis ableiten lassen. Als ein Carabiniere ihm verkündete, daß eine deutsche Signorina bei ihm wohnen werde — Befehl aus Cagliari —, nahm Giovanni das hin wie ein Unwetter auf See. Er trieb seine Frau Recha mit lauter Stimme zu vermehrter Arbeit an, ließ das baufällige Haus putzen, fuhr aufs Meer, holte aus einer Reuse eine dicke Languste und opferte Reis für einen dicken Risotto.
«Sie wird dir genug Lire bringen!«sagte der Carabiniere, nachdem Giovanni eine Stunde lang gejammert hatte.»Außerdem ist sie ein wenig verrückt. Sie wartet auf einen Toten, der nie kommen wird.«
«Aha!«sagte Giovanni.»So eine ist das! Und warum gerade bei mir?«
«Weil der Mann in der Nähe ertrunken ist.«
«Der Deutsche mit seinem Zelt?«
«Genau der.«
«Sie ist seine Witwe?«
«Anzunehmen. Säße sie sonst herum und wartete auf die Leiche? Wird sich wundern, wie er aussieht, wenn er wirklich an Land kommt.«
Es war nicht zu verhindern. Angela Blüthgen zog bei Giovanni Responatore ein, aß den Risotto und die wirklich guten Langustenstücke, trank auch einen halben Liter roten Landwein und ging dann am Ufer des Meeres spazieren.
Giovanni beobachtete sie hinter seinen aufgespannten Netzen, an denen immer etwas zu flicken war. Eine arme Frau, dachte er. So jung, so schön, was könnte die mit ihrem Leben alles noch anstellen! Und was macht sie? Sie wandert am Meer entlang und beschwört es, einen toten Mann wieder herzugeben.
In dieser Nacht, in der Angela auf der mit einem Strohsack belegten Holzpritsche schlief und zu sich selbst vor dem Einschlafen sagte:»Wenn du hier länger als zwei Wochen bleibst, bestreust du dein Haupt mit Asche und verlierst völlig den Verstand!«, fuhr von Cagliari ein schnelles Motorboot der Frucht-Compagnie Adriano Oreto um die Südspitze Sardiniens herum und näherte sich mit abgeblendeten Lichtern dem Capo San Marco. Der kreisende Lichtfinger des Leuchtturms zuckte über das Schiff hinweg, man stellte die Motoren ab und studierte noch einmal auf den Seekarten die dort eingezeichneten Meeresströmungen.
«Noch zwei Meilen nach Norden!«sagte der Schiffsführer.»Aber sicher ist das nicht!«
«Wir haben den Wunsch Don Eugenios ausgeführt, was will er mehr?«Oreto, von Natur aus kein Mensch, der mit dem eigenen Gewissen rang, kam sich unbehaglich wie selten vor. In einem Verschlag neben dem Ruderhaus lag der nur mit Volkmars Badehose bekleidete Tote, dem der alte Zahnarzt bescheinigt hatte, er besitze jetzt bis auf das letzte Bohrloch genau das gleiche Gebiß wie der richtige Dr. Volkmar. Was nicht ganz stimmte, war der Winkel der Zähne zum Kiefer, der bei den Menschen sehr unterschiedlich ausfällt, aber man hoffte darauf, daß niemand sich um diese Kleinigkeit kümmern würde. Der Zustand des Toten erlaubte es wohl auch nicht. Man hatte ihm, bevor man ihn an Bord nahm, erst einmal durch die Flügel einer Schiffsschraube treiben lassen. Sein Anblick hinterher war etwas für starke Nerven. Oreto hatte sie, aber das Frühstück kam ihm trotzdem hoch.
Südwestlich von Putzu Idu warfen sie den Leichnam ins Meer und sahen ihm nach, wie er ein paar Meter dahintrieb und dann versank. Sie wendeten das Boot, nahmen wieder Kurs nach Süden und waren sich einig, daß man diese Nachtstunden mit Wein herunterspülen mußte.
«Er muß ein großer Mann gewesen sein«, philosophierte Oreto später in der Kajüte.»Nicht der, den wir weggeworfen haben, aber der, der tot sein soll! Vergessen wir alles, Amigo… Ich möchte auch weiterhin von Don Eugenio als meinen Freund sprechen.«
Der Tote trieb mit der Strömung träge auf den Capo Manu zu, so wie man es in Palermo berechnet hatte. Ebbe und Flut berücksichtigt, mußte er in spätestens zwei Tagen angeschwemmt werden.
Der Tod Dr. Volkmars war dann mit Sicherheit feststellbar und endgültig.
Anna kam im Morgengrauen in Neapel an.
Sie spülte noch das Frühstücksgeschirr der Passagiere, hängte dann Kittelkleid und Schürze in den Eisenspind im Vorraum der Küche, verzichtete auf die Löhnung dieses Tages und verließ, unter Bruch des unterschriebenen Arbeitsvertrages, das Schiff. Im Gewühl des Ausladens von Gepäck und Waren, Passagieren und Autos fiel sie nicht auf, hängte ihre Segeltuchtasche über die Schulter und fragte sich zu den Büros der Schiffahrtsgesellschaften durch, die Liniendienste nach Sizilien fuhren.
Es gab einfachere, schnellere Wege nach Palermo, etwa mit dem Flugzeug, aber das verschlang die Mehrzahl der Lire, die Ernesto und sie für Luigis Tod bekommen hatten. Anna konnte rechnen, sie hatte in ihrem zwanzigjährigen Leben gelernt, mit einem Minimum an Aufwand zu existieren. Die fünfhunderttausend Lire, die sie bei sich trug, wollte sie nur anrühren, wenn es ihr nicht aus eigener Kraft gelingen würde, weiterzukommen. Sie hatte zwei geschickte Hände, sie hatte auch Kraft, für zwei zu arbeiten, sie war es gewöhnt, im kalten Bergklima und in heißer stickiger Stalluft zwölf und mehr Stunden klaglos zu schuften, und so würde sie es auch bis Palermo schaffen, ohne das Geld anzurühren. Manchmal sprach sie mit den Scheinen, nannte sie» Luigi, mein Bruder. «Sie waren für sie so etwas wie eine Verheißung geworden, daß sie den Mann wiederfinden würde, der Luigi so zugerichtet hatte.
Dann aber — das hatte sie bei ihrem Weggang aus den Bergen von Gennargentu am Wegkreuz der Heiligen Mutter von Atzara geschworen — wollte sie das Geld einem Waisenhaus stiften. Es war dann sauberes Geld, denn Blut wäscht man mit Blut ab. So denkt man in den Bergen von Sardinien.
Bis zum Mittag saß Anna am Hafen von Neapel herum, spuckte Männer an, die sich mit eindeutigen Anträgen vor ihr aufbauten, und entschied sich dann nach einem Rundgang durch die Heuerbüros, eine Arbeit als Putzfrau auf einem Luxusliner anzunehmen, der Rundfahrten machte und auch in Palermo landete. Es war das nächste Schiff, das von Neapel in diese Richtung ablegte. In zwei
Tagen sollte es in Palermo eintreffen, nach einem Umweg über die Inseln Stromboli und Lipari, wo die Amerikaner und Deutschen ihre Fotoapparate noch mehr strapazierten als ihre Begleiterinnen.
Palermo! Don Eugenio! Und der Mann, der Luigi abgeschlachtet hatte. Wie hatte er geheißen? Ganazzo oder so ähnlich. Man würde ihn finden. Wer Wölfe in den Bergen gejagt hat, wird auch einen Menschen aufspüren können.
Und dann Enrico. Wie wird er staunen, wenn Anna vor ihm steht und sagt:»Hier bin ich! So groß kann diese Welt nicht sein, daß ich dich nicht finden würde. Ich liebe dich. Ich weiß, du bist ein großer, berühmter Mann, aber was tut das, wenn ich dich liebe? Ich bin hübsch, ich weiß es. Ich habe schöne, feste Brüste, einen schlanken Leib, lange, gute Beine und einen Schoß voller schwarzer Locken. Und wenn du auch so berühmt bist, daß du mich nirgendwo zeigen willst… was macht es? Ich werde unsichtbar sein, in einer dunklen Ecke warten, bis du mich rufst. Ich werde bei dir sein, ohne daß mich jemand sieht — aber ich bin bei dir, und das wird mein ganzes Leben sein. Mehr Glück will ich gar nicht, Enrico. Nur bei dir sein, wenn du sagst: Anna, komm her! Laß mich bei dir sein, Enrico!«
Sie bezog auf dem Luxusliner eine winzige Kabine knapp über der Wasserlinie; sie war sauberer als auf dem Fährschiff, auch das Personal war vornehmer und dementsprechend erfolgsgewohnter. Hier konnte man nicht einem Kellner gegen das Schienbein oder in den Unterleib treten — der Erste Steward, der Anna anhielt und sie fragte, ob man das, was sie in der Bluse habe, nicht näher betrachten könnte, bekam die Antwort:
«Ich komme aus Sardinien, du Schafsbock! Geh zu deinen schwedischen Touristinnen!«
«Damit kannst du Geld verdienen!«sagte der Steward unbeirrt.»Wir haben mindestens siebzig alte Knacker an Bord, die dafür hundert Dollar bezahlen und mehr. Wenn wir uns zusammentun, können wir uns nach sechs Rundreisen ein Haus kaufen.«
«Ich habe anderes vor!«sagte Anna.»Größeres.«
«Ein Puff in Messina oder Palermo? Anna, du verdienst auf unserem Schiff mehr und leichter. Überleg es dir!«
Sie überlegte es sich nicht — sie dachte nur an ihre Rache und an Enrico Volkmar. Als das Schiff, unter Sirenengeheul und während die Bordkapelle einen Marsch intonierte, den Hafen von Neapel verließ, stand Anna auf einem abgetrennten Teil des Unterdecks, bei Kabelrollen und festgezurrten Containern, an der Reling und blickte über das Meer. Richtung Sizilien.
Zwei Tage noch! Zwei kurze Tage und Nächte. Dann würde sie sich in Palermo ein mittellanges, beidseitig geschliffenes Messer kaufen und ein zweites mit einem genau ausgewogenen Griff, das, wenn man es warf, immer mit der Spitze sein Ziel traf. Luigi hatte ihr das beigebracht. Man mußte das Gefühl in der Handfläche haben, man mußte Griff und Messer in der Hand wiegen, und mit der Zeit spürte man mit jedem Nerv, ob es das richtige Messer für einen geraden Wurf war.
Im großen Tanzsaal des Luxusliners trafen die ersten Gäste ein. In Smoking und langen Abendkleidern. Schmuck glitzerte an Armen, Fingern, Ohren und Hälsen. Die Kapelle spielte einen Blues. Der Kapitänstisch wurde mit großen Blumenarrangements geschmückt. Der Chefsteward, goldbetreßt, lief herum und entschied, daß alles in Ordnung sei.
Unsichtbar, ein Schatten nur, glitt Anna von der Reling und stieg die schmale Eisentreppe in den stählernen Leib des Schiffes hinab. Die da oben haben Geld, viel Geld. Ich aber habe meine Rache und Enrico Volkmar.
Das haben die da droben nicht. Ich bin glücklicher als sie.
Das Abendessen im Palermo Palace war exquisit, wie es Soriano versprochen hatte. Der österreichische Koch kam selbst an den Tisch und erkundigte sich, ob die Leberknödelsuppe und die Schweinshaxe dem Gast gemundet hatten. Aber es war, trotz aller Vollkommenheit, ein sehr stilles Essen. Dr. Soriano stand ab und zu auf, um zu telefonieren —»Wohltätigkeit muß erarbeitet werden!«sagte er —, und Loretta vermied es, über die Operation zu sprechen.
«Ich werde morgen auf das Festland fliegen«, sagte sie, als Soriano wieder einmal ans Telefon gerufen wurde.»Nach Salerno. Eine Tante ist krank geworden.«
«Dann zeigen Sie mir also Palermo nicht?«
«Später, Enrico.«
«Wenn ich dann noch hier bin.«
«Bestimmt!«Sie sah ihn mit ihren strahlenden Augen an, die ihn wie willenlos machten.»Wenn ich Sie darum bitte? Müssen Sie so schnell zurück nach Deutschland?«
Er schwieg. Wie könnte man ihr jetzt sagen: Ich kann überhaupt nicht mehr zurück? Ich bin tot! Mein Leichnam wird morgen oder übermorgen angeschwemmt und anhand des Gebisses identifiziert werden. Ihr Vater, liebste Loretta, arbeitet perfekt! Wenn ich Palermo verlasse, dann wird es eine Flucht sein, ein Rennen um das nackte Leben, denn Dr. Soriano wird mich jagen, wie man noch kein Wild gehetzt hat. Mein Wiederauftauchen würde sein Ende bedeuten, das wissen wir alle. Nur du nicht, engelsgleiche Loretta.
«Ich kann noch etwas bleiben«, sagte er endlich, als sie ihre Hand über die seine legte und mit einem leichten Druck um Antwort bat.»Wie lange werden Sie in Salerno sein?«
«Eine Woche vielleicht.«
Das wird die Woche des Entscheidungskampfes werden, dachte Volkmar. Soriano entfernt seine Tochter, um mit mir ungesehen in den Ring zu steigen. Bisher hat er immer gewonnen: Ich habe operiert, ich habe die Transplantationsexperimente angesehen, ich habe mich wie ein Gigolo einkleiden lassen, man hat mich in seinen Haushalt integriert — und ich habe mich in Loretta verliebt, was von allem das schlimmste, weil ausweglos, ist. Durch Lorettas Liebe werde ich Mittäter.
«Eine Woche wird möglich sein«, sagte er mit belegter Stimme.
«Danke, Enrico. «Sie drückte wieder seine Hand. Er wagte nicht, sie anzusehen.»Ich werde die Tage zählen.«
«Ich auch!«
Er meinte es anders als Loretta, aber ehe sie weitersprechen konnten, kam Soriano zurück, heiter, beschwingt und, während er Loretta über das schwarze Haar strich, voll väterlichem Stolz.
Paolo Gallezzo hatte gemeldet, daß man in der Gegend von Ca-lascibetta einen jungen Bauernburschen aufgelesen habe, der auf dem Wege nach Catania war, um dort in einer Fischfabrik eine Stellung anzunehmen. Er hieß Leone Bisenti und war fünfundzwanzig Jahre alt, kräftig und gesund. Auf der Straße von Racalmuto nach Ca-nicatti war ein Autofahrer mit einem uralten Fiat gegen einen Steinhaufen gefahren, der vor einer Viertelstunde noch nicht auf der Straße gelegen hatte. Der Verunglückte, Arrigo Melata, 54 Jahre alt und von Beruf Mechaniker, war nicht verletzt, hatte nur einen Schock bekommen, war aber dessenungeachtet doch von Gallezzos Leuten mit unbekanntem Ziel abtransportiert worden. Bevor die Untersuchungen der Polizei anliefen und man versuchte, Spuren von Bi-senti und Melata aufzudecken, waren längst alle Spuren verweht. Von Arrigo gab es nur den Überrest eines alten Autos, von Leone überhaupt nichts mehr. Er war per Anhalter nach Catania gefahren. Wo soll man da nachprüfen?
«Es ist alles bereit, Don Eugenio!«hatte Gallezzo am Telefon gesagt.»Es kann losgehen.«
«In ein paar Tagen!«hatte Dr. Soriano geantwortet.»Jede Pflanze, die anwachsen soll, muß begossen werden. Das Wurzelschlagen ist das wichtigste, das Blühen kommt dann von allein.«
Am vierten Tag nach Lorettas Abflug von Salerno schwamm Volkmar wieder in dem großen Pool der Villa bei Solunto, als Soriano an das Becken trat und sich hinhockte. Man hatte sich die vergangenen Tage mit Tennisspielen und Schwimmen vertrieben, zweimal hatte Volkmar auch auf der Intensivstation sein >Panzerherz< besucht. Der alten Frau ging es verhältnismäßig gut, sie war zäh und trank schon wieder Rotwein mit einem verquirlten Ei.
«Ein Anruf aus der Klinik!«sagte Soriano, als Volkmar an den Bek-kenrand schwamm und sich an der Überlaufrinne festhielt.»Zwei
Neueinlieferungen.«
«Dr. Nardo!«sagte Volkmar abweisend.»Ich nicht mehr.«
«Zwei Fälle, die typisch sind, Dottore! Der eine hat einen Stich mitten durchs Herz, es ist nicht mehr zu retten. der andere hat einen Kopfschuß und wird auch nicht überleben. Aber sein Herz ist kerngesund. Fünfundzwanzig Jahre! Beides Vendetta-Opfer. Theoretisch könnte man ein Menschenleben retten. Wenn man das zerstochene Herz gegen das frische gesunde.«
Dr. Volkmar stieß sich vom Poolrand ab und schwamm in die Mitte des Beckens.
«Nein!«rief er und trat im Wasser auf der Stelle.»Nein! Nein! Die Chancen stehen 99 zu 1!«
«Gilt in der Medizin ein Prozent so wenig? Ich denke, gerade in der Medizin ist die winzigste Chance eine Verpflichtung für den Arzt?!«
«Es ist noch nie ein Herz von Mensch zu Mensch verpflanzt worden! Nur bei Tieren hat man das gemacht. Waren es Menschen, dann waren es operationstechnische Übungen an Toten!«
«Ich weiß, Enrico!«Dr. Soriano stand am Poolrand und winkte Volkmar, herauszukommen.»Sie werden der erste sein, der es am lebenden Menschen tut!«
«Ich werde der letzte sein, den Sie dazu überreden können!«Der Volkmar blieb in der Mitte des Pools und trat das Wasser unter sich weg. Ein fürchterlicher Verdacht hatte sich seiner bemächtigt. Er wagte nicht, ihn hinauszuschreien.»Don Eugenio, ich weiß genau, warum Loretta nach Salerno geschickt wurde. Kranke Tanten kann man erfinden. Es war eine Verbannung auf Zeit!«
«Das stimmt!«Dr. Soriano setzte sich auf den Betonklotz, auf den das Einmetersprungbrett montiert war.»Ich wollte für all das, was jetzt kommt, mit Ihnen allein sein, Enrico. Loretta hat schon das Panzerherz aus der Fassung gebracht — sie ist eben ein Engel, wie Sie selbst festgestellt haben. Und obwohl Loretta Sie bewundert hat und in kindlicher Schwärmerei.«
«Loretta — ein Kind? Wo haben Sie Ihre Augen, Don Eugenio?!
Oder bewahrheitet sich das auch bei Ihnen: Väter sind ihren Töchtern gegenüber die Blinden unter den Sehenden?«
«Kommen Sie heraus, Dr. Volkmar!«rief Dr. Soriano.
«Nein! Wenn ich schwimme, geht es nicht unter einer Stunde ab. Darum ist Ihr Plan, mich als Ertrunkenen an Land schwemmen zu lassen, auch reichlich dumm. Wer mich kennt.«
«Der Mann mit dem Herzstich und der mit dem Kopfschuß haben nur noch wenige Möglichkeiten. Dr. Nardo hält sie künstlich am Leben.«
«Den Kopfschuß, na ja. Ich kenne den Befund nicht. Den Herzstich kann man nähen. Das könnte sogar Ihr Dr. Nardo.«
«Er sagt nein.«
«Dann kann ich auch weiterschwimmen.«
«Und Sie sind Arzt?! Die große, noch geheime Hoffnung der Herzchirurgie? Der Besessene, wie man Sie in München nennt?! Der Chirurg mit den goldenen Händen? Da liegen zwei Todkranke, und Sie drehen hier gemächlich Ihre Runden? Das können Sie verantworten?«
«Soriano! Reden Sie nicht von Verantwortung!«Dr. Volkmar schwamm zum Poolrand zurück und hielt sich an dem wippenden Ende des Einmeterbrettes fest.»Wieso kommen die beiden Verletzten überhaupt in ein Altersheim und nicht in die chirurgische Klinik von Palermo?!«
«Bekannte haben sie eingeliefert, weil man weiß, daß wir eine Art Forschungsabteilung.«
«Da ist doch etwas faul, Don Eugenio! Oder laufen auch die Blutrachen von Sizilien in Ihrer Anwaltskanzlei zusammen?!«
«Allerdings. Einige, Enrico. «Dr. Soriano lächelte maliziös.»Ich bin sehr beliebt.«
«Das habe ich bereits gemerkt.«
«Und Sorgen bestimmter Familien sind auch meine Sorgen. Wir Italiener haben einen ausgeprägten Familiensinn. Sizilien ist dafür ein Musterbeispiel. Wir Sizilianer sind in aller Welt Brüder.«
«Nur nicht in den USA, wo sich die Cosa-Nostra-Familien gegenseitig mit Maschinenpistolengarben begrüßen.«
«Wollen wir über Familienfehden diskutieren, Enrico?«Dr. Soriano beugte sich vor und klopfte auf das wippende Sprungbrett.»Helfen Sie nun?«
«Ich sehe mir die Verletzten nur an!«
«Maria sei Dank! Das ist wenigstens ein Schritt vorwärts!«
Volkmar kletterte aus dem Pool und warf sich den weißen Bademantel über die Schultern. Die Kapuze zog er über den Kopf — jetzt sah er wie ein Mönch aus.»Mein Gott, wie können Sie Maria anrufen?! Ausgerechnet Sie!«
«Was hat Glauben mit Geschäft zu tun?«sagte Soriano ungerührt.»Ich bin ein gläubiger Mensch.«
«Das ist eine Moral, die ich nie begreifen werde. «Dr. Volkmar trocknete sich mit einem Frotteetuch und dem Bademantel ab, stieg dann aus der Badehose und lief nackt zum Haus zurück. Worthlow erwartete ihn auf der Terrasse mit einem neuen Bademantel aus dickem Chenille. Dr. Soriano lief neben Volkmar her — es war erstaunlich, wie er noch mithalten konnte.
«Sie haben einen schönen Körper, Enrico«, sagte er.
«Wenn Sie als Mann das sagen. «Volkmar schlüpfte in den Mantel.
«Schade, daß man Sie in dieser herrlichen Manneskraft nicht über zweihundert Jahre erhalten kann!«
«Vielleicht schaffen das eines Tages meine Kollegen von der Biochemie. Noch ist die kleinste Körperzelle — und erst recht eine Hirnzelle — unserer Erfindungsgabe haushoch überlegen.«
«Der Wagen wartet, Sir!«sagte Worthlow steif.»Ihre Kleidung liegt im Salon, Sie können sich sofort umziehen.«
«Ich bewundere Ihre Organisation, Don Eugenio. «Volkmar ging in die Halle und zog sich an. Nicht nur Worthlow halfVolkmar beim Umkleiden, auch Dr. Soriano reichte ihm Socken und Krawatte; ein Südländer der gehobenen Klasse geht auch bei größter Hitze nie ohne Kragen und Schlips. An Shorts und am bis zum Nabel offenen Hemd erkennt man den Touristen oder einen Ungebildeten.
«Wann kommt Loretta zurück?«fragte Volkmar plötzlich.
«Sie wartet auf meinen Anruf.«
«Aha! Ohne Operation keine Loretta mehr?«Volkmar lächelte mühsam.»Und wenn ich Ihnen sage, Soriano, daß mich Ihre Tochter nicht interessiert?!«
«Dann müßte ich Ihnen sagen, daß Lügen nicht Ihre Stärke ist.«
«Aber sie soll ja einen reichen Italiener heiraten und eine brave italienische Mama werden.«
«Ja!«Die Antwort war knapp. Der Butler band Volkmar die Krawatte so locker- oder so fest, daß der Windsor-Knoten keine Falten warf und wie gemalt unter dem Kinn lag.»Sie lieben meine Tochter?«
«Das wäre sinnlos.«
«Wie gut wir uns doch verstehen, Enrico. «Dr. Soriano lächelte gütig.»Können wir fahren?«
«Ja. «Volkmar schlüpfte in eine weißblau gestreifte Jacke, wie man sie auf Yachten trägt. Er sah blendend aus.»Mein einziges Handikap ist, daß ich als Arzt geschworen habe, immer und überall zu helfen. Sogar, wenn ich von Ihnen gerufen werde, Don Eugenio.«