Der festliche Abend auf dem Dachgarten klang natürlich nicht damit aus, daß Loretta — wie es Volkmar angedroht hatte — bei ihrem heimlich Geliebten blieb. Dafür sorgte schon Dr. Soriano, der gegen ein Uhr morgens sich aus seinem Sessel erhob, den letzten Champagnerschluck noch einmal dem chirurgischen Genie Volkmars widmete und dann ziemlich bestimmt zu seiner Tochter sagte:»Enrico ist müde. Kein Wunder nach diesem Tag. Wir sollten nicht warten, bis er vom Stuhl fällt. Dottore, dieses Datum wird man einmal in Gold meißeln.«
«In Ihrer Halle, Don Eugenio. Das glaube ich wohl. Ich schlage die Längswand rechts vom Eingang vor. Lassen Sie es wie ein Menetekel hinschreiben. «Auch Dr. Volkmar stand auf. Loretta lehnte sich an ihn, sie tat es ostentativ, um ihrem Vater zu zeigen, was sie für Volkmar fühlte. Der Aufstand einer braven Tochter. Die Revolution gegen das Patriarchat. Der Bruch mit der Tradition, wonach eine italienische Frau zu gehorchen hat.
Dr. Soriano übersah die Herausforderung. Er lächelte still. Ein Kind klammert sich an sein Spielzeug — so mochte er denken. In den Plänen, die er mit Dr. Volkmar auszuführen gedachte, hatten Liebe und Loretta keinen Platz. Und wenn es wirklich keinen Ausweg gab, dann war auch das hinzunehmen. Denn ein Schwiegersohn wird niemals seinen Schwiegervater vernichten, wenn er damit auch die angebetete Tochter zerstört. So oder so: Die noch im Bau befindliche >Kin-derklinik< in den Bergen von Camporeale, in der gesunden Luft von 430 Metern Höhe, wo sich die Kinder prächtig erholen konnten, hatte ihren Chefarzt! Ein halbes Jahr konnte Volkmar noch forschen. Dann würde das heimliche Herzzentrum eröffnet werden mit einer Transplantation nach der Methode Volkmar.
Die vollkommene Volkmarsche Homoioplastik.
Sie würde ein neuer Begriff in der medizinischen Welt werden — und keiner würde sie kennen — nur das kleine Team einer feudalen >Kinderklinik< in den Bergen von Camporeale.
«Es war schön«, sagte Loretta, als sie, bei Volkmar untergehakt, vom Dachgarten ins Haus ging und durch die Halle schritt. Worth-low eilte voraus, Dr. Soriano hinter ihnen, um alle im Auge zu behalten.»Wir sollten jeden Abend so essen?«
«Ein guter Gedanke, aber eben nur ein Gedanke. «Dr. Soriano schob sich zwischen Volkmar und seine Tochter, so daß sie ihre Hand aus
Volkmars Armbeuge nehmen mußte.»Ich bin gar nicht dazu gekommen, Ihnen unseren Terminkalender zu erklären, Dottore. Wir sind — wie man so schön sagt — für siebzehn Tage ausgebucht. Das heißt: Mit dem Dinner. Jeden Abend Gäste, denen Sie vorgestellt werden sollen.«
Volkmar blieb verwirrt stehen.»Ihrer Gesellschaft etwa? Ich denke, meine Anwesenheit ist so etwas wie >top secret«
«Man kann Genies nicht geheimhalten, Enrico. Freilich ist Ihr so deutscher Name Heinz Volkmar für uns Italiener ein Zungenbrecher. Sie heißen in Ihrer neuen Existenz Dr. Ettore Monteleone. Ist das nicht ein schöner Name, den ich Ihnen ausgesucht habe? Dr. Monteleone! Klingt wie eine Figur aus Verdis >Macht des Schick-sals
Volkmar lächelte verzerrt.»Ich werde mich anstrengen müssen, mit Ihrem Sarkasmus mitzuhalten. «Er wandte sich an Loretta, die über ihr wundervolles Haar einen pfirsichfarbenen Seidenschleier gelegt hatte.»Es ist also Schluß mit Enrico.«
«Auch Ettore ist ein schöner Name.«
«Sie wußten das schon?«
«Ich höre es, wie Sie, zum erstenmal. «Das Lächeln ihrer blutroten Lippen war so unergründlich wie ihr Blick, der Volkmar streichelte. Sie waren jetzt nicht nur Liebende, sie waren Verschwörer, Komplizen.»Mein Vater liebt solche Scherze. Ein Löwe, zum Beispiel, heißt Jimmy, ein anderer Al Sacco. Nennt man so Löwen?! Aber Papa tut es! Warum sollen Sie in unserem Haus nicht Ettore Monteleone heißen? Sie bleiben doch der gleiche Mensch, nicht wahr?«
«Bestimmt!«
In dieser Frage lag viel, alles, was man sich sonst nicht sagen konnte, nicht jetzt vor den anderen. Sie beide verstanden es; Dr. Soriano jedoch überhörte es. Für ihn war es undenkbar, daß seine einzige Tochter, sein Himmel auf Erden, sich von ihm distanzierte.
Als Loretta und Soriano gegangen waren, kam Worthlow zurück, um aufzuräumen. Volkmar saß am Swimming-pool, trank noch einen Kognak und starrte in das von den Unterwasserscheinwerfern erleuchtete Becken. Es wurde jeden Tag mit Meerwasser gefüllt, das man über einen Filter ins Haus pumpte, mit Ozon bestrahlte und gleichzeitig auf 28 Grad erwärmte.
«Wissen Sie, Sir, wer Jimmy war?«fragte Worthlow und leerte die Aschenbecher in einen kleinen silbernen Kübel.
«Der Löwe?«
«Jimmy Delaggio aus Boston. Er kam nach Sizilien, um Don Eugenio im Auftrag der Familie von Boston zu liquidieren. Es schlug fehl, aber der Löwe, der ihn später fraß, heißt jetzt Jimmy.«
Volkmar zog den Kopf zwischen die Schultern. Von weitem, aus einem der verschachtelten Innenhöfe der Riesenvilla, hörte er das Grummeln der schläfrigen Löwen. In einer so stillen Nacht wie heute, wo selbst das Meer flüstert, vernahm man jedes Geräusch doppelt laut.
«Dann war Al Sacco auch ein — Futtermittel?«fragte Volkmar heiser.
«Al Sacco stammte aus der Gegend, wo Don Eugenio geboren wurde. Aus einem Nachbardorf. In den USA kam er nie nach oben und dachte, er könnte seine Kenntnisse gut verkaufen. Es ist Irrsinn, Sir, anzunehmen, jemand könne Don Eugenio aus der Ruhe bringen oder zu irgend etwas zwingen. Seitdem heißt der Löwe Al Sacco.«
«Wann wird es einen Löwen Ettore Monteleone oder Heinz Volkmar geben?«
«Nie, Sir. «Worthlow nahm Volkmar das leere Glas aus der Hand, so wie man ein zerbrechliches Spielzeug entfernt.»Don Eugenio stuft Lebensberechtigungen nach der Wichtigkeit der Personen ein. Sie stehen auf einsamer Höhe!«
«Um so tiefer ist der Sturz. «Volkmar holte das Kognakglas aus Worthlows Hand zurück und schenkte aus der vor ihm stehenden Flasche noch einmal ein.»Und von all dem soll Loretta nichts wissen?! Wirklich nichts?«
«Als die Dinge mit Jimmy, Al Sacco und andere Bereinigungen — nennen wir es so — stattfanden, lebte sie bei den frommen Schwe-stern im Klosterpensionat. Kam sie in den Ferien nach Hause, geschah nichts, was man vor ihr hätte verbergen müssen.«
«Aber jetzt, Worthlow — ich weiß, daß ich Ihnen vertrauen kann, sie hat es mir gesagt —, jetzt hört sich manches ganz anders an. Sie spielt das Goldpüppchen nur noch! Sie weiß genau, wo sie lebt! Und da sie alles begreift, friert sie in der Sonne — wie ich!«Er trank seinen Kognak mit einem Kippzug aus.»Können Sie sich vorstellen, Worthlow, was passiert, wenn Dr. Soriano erkennt, daß seine Tochter ihn durchschaut?«
«Nein, Sir. Das ist nicht ausdenkbar.«
«Wie kann ein Mann von solchem Intelligenzgrad wie Dr. Soriano so engstirnig sein zu glauben, seine Tochter werde immer das in Watte gepackte Hätschelkind bleiben! Das ist doch psychologisch gar nicht zu begreifen!«
«So geht es doch vielen Vätern, Sir. Sie als Arzt müßten das doch wissen. Warum schaffen dynamische Männer ganze Industrie-Imperien und sind doch blind für das, was in der eigenen Familie vor sich geht?«
«Weil sie irrtümlicherweise annehmen, daß sie der geheiligte Mittelpunkt der Familie sind, dem nur Verehrung und Bewunderung gebührt. Das berühmte Beispiel aus dem alten Rom!«
«Da haben Sie die Erklärung, Sir.«
«Aber Dr. Soriano ist Realist. Im wahrsten Sinne des Wortes: >Blu-tiger Realist
«Das schließt partielle Blindheit nicht aus, Sir.«
Worthlow griff nach einem Glas, schenkte sich ebenfalls Kognak ein, deutete eine Verbeugung an, sagte:»Gestatten Sie, Sir!«und trank das Glas aus. Damit war eine Vertraulichkeit erreicht, die Volkmar als wohltuend und stärkend empfand.
«Vor meinem Eintritt bei Don Eugenio war ich drei Jahre Butler in der Britischen Botschaft in Moskau!«sagte Worthlow mit seiner unbewegten Miene.»Dann kam der Krieg, und irgendwie wurde auch ich durch ihn entwurzelt. Aber in Rußland habe ich ein Sprichwort gelernt, das hier an diesem Platz wieder aktuell wird: >Töte einen
Vater durch seine Tochter.< Eine Kriegsweisheit, Sir.«
«Ich werde sie mir ins Herz schreiben, Worthlow. Was raten Sie mir?«
«Ruhe, Sir. Abwarten.«
«Und operieren für eine Mafia-Klinik! Forschen für einen der teuflischsten Pläne, die je ein Menschenhirn erdacht hat. Wieso hat Dr. Soriano eigentlich keine Angst, mich seinen vielen Freunden als Dr. Monteleone vorzustellen?«
«Weil sie alle Angst vor Don Eugenio haben.«
«Und wenn ich bei einem Festessen die Wahrheit herausschreie?«
«Wird man sie überhören. Man wird niemals darüber sprechen. Jeder von uns hängt verzweifelt am Leben, auch wenn er so tut, als mache es ihm nichts aus, es heldenhaft zu opfern. Es gibt keine dümmere Illusion, als sich einzureden, man habe vor dem Tod keine Angst. Das ganze Trachten der Menschheit ist es doch seit Jahrtausenden, das Leben zu verlängern. Mit Pulvern, Pillen, Säften, Spritzen, mit Diät, Hormonen und Frischzellen. Länger leben! Wenn es möglich wäre: unsterblich werden! Was bedeutet da der Aufschrei eines Mannes, der behauptet, er heiße nicht Monteleone, sondern Volkmar und sei ein Gefangener der Mafia, der Herzen transplantieren muß?! Man vergißt ihn sofort! Man hat so etwas nie gehört! Nein, Sir — uns muß da etwas anderes einfallen.«
«Uns, Worthlow?«Sie stießen mit den Kognakgläsern an.»Sie williger Schatten seines Herren?!«
«Ich habe mitgeholfen, Miß Loretta großzuziehen. «Worthlow trank sein Glas leer und räumte es dann auf einem Silbertablett formvollendet weg.»Sie lieben Loretta — den Menschen Loretta, nicht die Tochter Don Eugenios. Wenn ich Loretta gegenüber versteckte väterliche Gefühle empfinde, dann Sir, erlauben Sie mir, daß ich ab heute auch Sie darin einbeziehe.«
Es war das zweite Mal an diesem Abend, daß Volkmar in sich die Kraft verspürte, alles, was noch kommen würde, durchzustehen.
Der Sarg mit den Überresten des Hafenarbeiters Sergio Rappallo, der nun amtlich Dr. Heinz Volkmar hieß, wurde auf einem Lastwagen nach Cagliari gebracht. Der einzige Leichenwagen von Cabras war an diesem Tage besetzt mit einer verstorbenen Witwe, und das Sargauto von Oristano, der nächsten größeren Stadt, hatte einen Achsenschaden und stand in der Werkstatt. Zum Glück starb niemand in Oristano oder wartete auf sein Begräbnis.
So mietete man ein Lastauto, das sonst Zementsäcke transportierte. Den Toten in seinem Zinksarg berührte das nicht mehr. Nur Dr. Angela Blüthgen empfand diesen Transport als entwürdigend. Sie sagte wörtlich:»Das ist eine Sauerei!«
Der Kommissar gab ihr recht, aber zu ändern war es nicht mehr. Außerdem sehen Zementsäcke immer noch schöner aus als das, was da im Sarg lag. Doch diese Entschuldigung unterließ er aus südländischer Höflichkeit gegenüber der vom Schicksal geprüften Signora.
Die Staatsanwaltschaft forderte unterdessen bei dem Zahnarzt Dr. Weissner in München ein Foto und eine genaue Beschreibung des Gebisses von Dr. Volkmar an. Auf dem Wege der Amtshilfe wollte das Polizeipräsidium München ein Funkbild nach Cagliari schik-ken. Solange blieb Sergio Rappallo in seinem Zinksarg liegen, allerdings in Sardiniens Hauptstadt würdiger aufgebahrt als in dem Nest Cabras. Man stellte den Sarg in eine Seitennische der Kirche Santa Michaela, wozu eine Sondergenehmigung der Staatsanwaltschaft nötig war, denn solange ein rätselhafter Toter noch nicht freigegeben ist, gehört er zu den >Asservaten<, die man unter Verschluß halten muß und die man, strenggenommen, im Gerichtsmedizinischen Institut verwahren müßte. Das aber wollte man der schönen Angela Blüthgen nach all den grausamen Erlebnissen nun doch nicht antun.
Der Leichnam Dr. Volkmars — der Name stand auf einem kleinen Plastikschildchen am unteren Teil des Sarges — wurde flankiert von Lorbeerbäumen in grünlackierten Kübeln, rechts und links von seinem Kopf standen zwei gußeiserne Leuchter mit je sieben langen
Kerzen, die der Mesner immer ansteckte, wenn Besuch erschien. Nicht nur bei Angela, sondern auch, wenn der Staatsanwalt oder die Polizei nach Santa Michaela kamen. Die Beamten fanden das sehr übertrieben, aber sie stellten ihre Bemerkungen ein, als sie erfuhren, daß Dr. Blüthgen der Kirche eine Stiftung in beträchtlicher Höhe gemacht hatte, damit sie Dr. Volkmar würdig aufbahren konnte.
Was im Polizeipräsidium nicht freudig vermerkt wurde, war die immer wiederkehrende Behauptung Angelas, sie könne sich das Ertrinken von Dr. Volkmar nicht erklären. Die Tatsachen waren zwingend: Man hatte den Toten geborgen, er trug die Badehose, hatte den Ring am Finger und das Gebiß würde auch stimmen — dessen war man sicher. Was wollte man also noch mehr an Beweisen? Fingerabdrücke von Dr. Volkmar gab es nicht — er hatte mit der Polizei noch nichts zu tun gehabt. Außerdem waren die Fingerkuppen durch Salzwasser und Abschabungen zerstört. Doch was nutzten alle diese Hinweise! Dr. Volkmar blieb im Geschäftsbereich der Mordkommission von Cagliari. Man war darüber sehr unglücklich, hatte nur vermehrte Arbeit, die man als sinnlos betrachtete, und grübelte darüber nach, wie man Dr. Angela Blüthgen erklären könne, daß niemand, aber auch wirklich niemand ein Interesse daran gehabt haben konnte, den lieben Feriengast aus Deutschland im Meer zu ersäufen. Jeder Mord hat ein Motiv, und wenn es die Rache eines Tierliebhabers ist, dem jemand seinen Hund überfahren hat — das war ein berühmter Fall in Cagliari gewesen! — Aber Dr. Volkmar hatte weder einen Hund bei sich gehabt, noch hatte es sich um Raubmord gehandelt, denn im Zelt fand man ja sein ganzes Reisegeld.
Ganz klar war der Obduktionsbefund: Tod durch Ertrinken. In seinen Lungen befand sich Wasser. Medizinisch gesehen gab es keine Rätsel mehr.
Angela Blüthgen war nicht zu überzeugen. Sie war nie eine gute Schwimmerin gewesen, auf keinen Fall war sie so versiert wie Dr. Volkmar, und sie hatte genau an der Stelle gebadet und war im Meer geschwommen, wo Dr. Volkmar ertrunken sein sollte. Es war fast unmöglich!
«Ein Schwächeanfall!«sagte der Staatsanwalt, der sich notgedrungen mit dem Fall befassen mußte.
«Nicht bei Dr. Volkmar!«sagte Angela stur.
«Jeder Mensch hat Schwächeanfälle! Auch ein so gesunder Mann wie der Dottore. Oder hatte er ein Herz aus Stahl?«
«Das bestimmt nicht.«, sagte Angela leise.»Nein!«
«Und auch keinen Kreislauf wie eine Kühlschlange. Vielleicht hat er Fisch gegessen, Calamaris, Muscheln, Garnelen, was weiß ich… und plötzlich wurde ihm schlecht. Gerade, als er im Meer schwamm.«
«Der Mageninhalt!«
«Signora, Sie wissen, daß der Körper. «Der Staatsanwalt suchte nach Worten, um auszudrücken, daß die Schiffsschraube den Leib so zerrissen hatte, daß man keine Eingeweide mehr gefunden hatte. Dr. Blüthgen nickte.
«Ich weiß.«
«Außerdem: wenn Dr. Volkmar ermordet wurde — sprechen wir es brutal aus, Signora —, haben wir zwar die Arbeit, den Mörder zu finden, aber er bleibt ja tot! Das kann man nun wirklich nicht mehr ändern! Die Art seines Todes sollte zweitrangig sein.«
«Für mich nicht. Ich will wissen, wer der Mörder ist!«
«Was haben Sie davon?«
«Ich weiß es nicht. «Sie saß auf dem harten Stuhl vor dem Schreibtisch des Staatsanwaltes und blickte ins Leere. Ja, was habe ich davon? Ich werde einen Mann oder mehrere Männer ansehen und wissen, daß sie Heinz getötet haben. Dann fahre ich wieder zurück nach München und muß damit fertig werden. Wie Millionen anderer Witwen. Denn ich fühle mich als seine Witwe, so absurd das ist nach dem >nur biologischen Verhältnis<, das wir miteinander hatten. Bleiben wird immer das Rätsel, das alle Hinterbliebenen mit sich herumtragen: Warum mußte das sein?! Es hat daraufnoch nie eine befriedigende Antwort gegeben. Als Ärztin hatte sie hundertemal auf diese Fragen antworten müssen, und wenn sie dann gesagt hatte:»Ihr Mann hatte Krebs!«oder:»Ihre Frau war nicht mehr zu retten. Die Urämie war nicht aufzuhalten.«, dann folgte immer wieder die Gegenfrage:»Warum gerade sie? In diesem Alter?! Sie war doch immer ein so fröhlicher Mensch.«
Das ewige Rätsel um Leben und Sterben. Die große Angst, die schon mit der Geburt beginnt.
Während man in Cagliari auf das Gebißfoto wartete, blieben die mit der Polizei befreundeten Reporter nicht untätig. Eine Agentur verbreitete die Meldung von der Auffindung der Leiche, eine italienische Illustrierte interviewte Dr. Blüthgen in ihrem Hotelzimmer. Der Journalist verfuhr dabei raffiniert, stellte sich als Angestellter des Überführungsunternehmens vor, brachte einen Rosenstrauß zur Tröstung mit und quetschte in einem Gespräch so viel aus Angela heraus, daß es für einen schönen runden Artikel reichte: Der Tod eines medizinischen Genies.
Vierundzwanzig Zeitungen und Journale übernahmen diesen Bericht, auch zwei deutsche Blätter. Das regte an, sich noch einmal näher mit Dr. Heinz Volkmar zu beschäftigen. Genies sterben nicht alle Tage. Und nur höchst selten ertrinken sie.
Professor Dr. Hatzport gab ein Interview, sehr verhalten, sehr väterlich, sehr fachkundig. Als ehemaliger Chef des Toten lobte er dessen Forschungen, beschrieb die Versuchsreihen der Transplantation, noch einmal wurde Volkmar als große Hoffnung gepriesen, die nun jäh vernichtet war. Man flocht ihm einen goldenen Lorbeerkranz, den er zu Lebzeiten nie bekommen hätte. Der medizinische Expertenstreit hätte das nie zugelassen, zumal gerade Professor Hatzport die Herztransplantation als modernen Schnickschnack abgetan hatte, als Modetorheit, als Spielerei mit Utopien.
Aber man sprach eine Zeitlang von Dr. Volkmar. Utopien sind ein gutes Thema.
Nach vier Tagen hatte man in Cagliari Klarheit. Das Gebißfoto war eingetroffen. Zwei Zahnärzte, unter Aufsicht des Staatsanwaltes, verglichen alles in dem schrecklich zugerichteten Kopf. Dann lötete man den Zinksarg endgültig zu. Der Beweis war da: Das Gebiß stimmte bis zur letzten Plombe, bis zum letzten Bohrloch überein mit dem Bericht aus München.
«Haben Sie noch Anträge, Signora?«fragte der Staatsanwalt nach diesem Protokoll. Angela schüttelte den Kopf.
«Nein. Es ist Dr. Volkmar. Können wir jetzt abreisen?«
«Es steht dem nichts mehr im Wege.«
«Wir fliegen zurück. Ich möchte so schnell wie möglich von Sardinien weg. Ich möchte Sardinien nie wiedersehen.«
Man verstand das, auch wenn es den Nationalstolz verdroß. Was kann Sardinien dafür, wenn jemand an seiner Küste ertrinkt?!
Mit einem Flugzeug der Alitalia kehrten Dr. Angela Blüthgen und im Frachtraum, in einer Ecke, auch das, was von Dr. Volkmar geblieben war, nach Deutschland zurück.
Es war eine ruhige Zeit, die Dr. Volkmar in der riesigen Villa bei den Ruinen von Solunto verlebte. Dr. Soriano ließ ihn in Frieden, bis auf die gesellschaftlichen Verpflichtungen, von denen er gesprochen hatte. Man stellte Volkmar als Dr. Ettore Monteleone vor, und Loretta sorgte durch ihr Verhalten dafür, daß man sich nicht gewundert hätte, bald von einer Verlobung zu hören.
Abgesehen von diesen recht theatralisch verlaufenden Abenden, hatte Volkmar viel Zeit. Soriano holte ihn nicht in die Klinik, auch Dr. Nardo meldete sich nicht. Meistens schwamm Volkmar in dem riesigen Pool, spielte mit Loretta oder dem schnaufenden Gallez-zo Tennis, besichtigte endlich auch die Löwen, die in einem Innenhof herumliefen, der arabischen Löwenhöfen nachgebildet war, und er dachte daran, daß der eine Jimmy und der andere Al Sacco gefressen hatte. Die beiden anderen Löwen trugen unverdächtige Namen: Kibu und Simbaze. Dr. Soriano erklärte, diese Namen kämen aus einem afrikanischen Dialekt, den er auch nicht kenne. Die Löwen hätten diese Namen mitgebracht.
Die Krokodile besuchte Volkmar nicht mehr. Die Menschenknochen am schlammigen Ufer des künstlichen Sees hatten ihm genügt. Dr. Soriano bot ihm auch nie mehr an, bei Fütterungen zuzusehen.
Sechs Tage nach jener Übertragung eines ganzen Herzens kam Dr. Soriano mit leuchtender Miene in Volkmars Gästehaus und legte ihm einen Packen Zeitungen auf den Frühstückstisch. Blätter aus aller Welt, von Los Angeles bis Hamburg. Sie alle enthielten Artikel über den >Tod eines medizinischen Genies<. Die deutschen Zeitungen und Illustrierten brachten auch das Interview mit Professor Hatzport.
Volkmar überflog einen Artikel, dann schob er die Zeitungen zur Seite. Sie fielen vom Tisch auf den Marmorboden.»Das ist Ihr Sieg, Don Eugenio!«sagte er hart.»Vollendet! Einfach perfekt! Damit gibt es mich nicht mehr. Es wird jetzt sehr kompliziert — falls mir je der Ausbruch gelingen sollte.«
«Wollen Sie Loretta zurücklassen, Enrico?«Dr. Soriano setzte sich Volkmar gegenüber an den Tisch. Worthlow holte noch ein Gedeck. Offensichtlich hatte Soriano die Absicht, mit Volkmar zu frühstücken. Loretta schwamm noch im großen Gartenpool; das tat sie immer, bevor sie zum >Petit dejeuner< ging. Mit langen, nassen, glänzenden Haaren saß sie dann am Tisch neben Volkmar, meistens in einem Bikini oder einem kurzen Frotteestrandkleidchen, das die betörenden Linien ihres Körpers nur partiell unterbrach. Ihr Körper war dazu geschaffen, entblößt von der Sonne vergoldet zu werden. Soriano duldete schweigend diese morgendlichen Zusammenkünfte; er wußte, daß die Leidenschaft zwischen Loretta und Dr. Volkmar sich bislang nur in Blicken und einem gelegentlichen Streicheln der Hände geäußert hatte. Aber wie lange würde es so bleiben?
«Sie sollten die Berichte nicht einfach wegwerfen, Dottore!«sagte er, während Worthlow mit der Eröffnung des Frühstücks begann, Soriano pflegte als erstes ein Glas frischer Milch zu sich zu nehmen.»Nicht nur Ihr einwandfreier Tod und die hundertprozentige Identifizierung Ihres Leichnams stehen darin, nicht nur Lobgesänge Ihrer Kollegen, die Sie vom Druck Ihrer Überlegenheit befreit haben und die nun herzzerbrechend weinen, aber im Inneren jubilieren — nein, da findet sich auch eine Menge Information, die mich geradezu begeistert. Und einiges, was mich nachdenklich macht.«
Er trank seine Milch und betrachtete wohlgefällig das Stück Weißbrot mit Ziegenkäse, das Worthlow servierte. Außerhalb seiner Feste lebte Dr. Soriano bescheidener als ein Reisbauer. Aber es gehört Snobismus dazu, eine halbe Tomate auf einem alten venezianischen Silberteller noch einmal durchzuschneiden und mit Salz und Pfeffer zu bestreuen.
«Wo soll ich anfangen?«fragte er.
«Überhaupt nicht. Ich möchte in Ruhe frühstücken!«antwortete Volkmar unhöflich.
«Da Ärzte keinen Ekel kennen und beim Anblick einer Eiterwunde Kekse essen können, vor allem die Chirurgen — gut, sprechen wir über die Klinik. Die Obduzierung von Melata hat ergeben, daß tatsächlich drei Nähte der großen Gefäße gerissen sind und er nach innen verblutet ist. Wie Sie voraussagten, Dr. Nardos Bericht liegt vor.«
«Er soll ihn auf den Lokus hängen!«sagte Volkmar grob.
«Sie haben mir etwas verschwiegen, Dottore, was dem ganzen Bild vielleicht ein anderes Aussehen gegeben hätte: Sie haben eine neue Gefäßnahtmaschine erfunden.«
«Nein!«
«Doch! Eine Maschine, die Gefäße nicht mehr näht, sondern zusammenklammert. So wie Büroklammern Papierbögen zusammenheften, laienhaft ausgedrückt.«
«Diese Erfindung kommt aus Rußland, aus der Klinik von Professor Demichow, nicht von mir.«
«Aber Sie haben sie verfeinert. Sie haben die Gefäßklammermaschine so fortentwickelt, daß man mit ihr die feinsten Nähte bombensicher machen kann.«
«Es gibt in der Chirurgie nie etwas Bombensicheres! Man kann an einem dummen Panaritium sterben.«
«Sie weichen aus, Enrico! Sie haben die Gefäßklammermaschine verfeinert. In vier deutschen Zeitungen steht es. Professor Hatzport hat es auch im Interview gesagt. «Dr. Soriano aß mit zierlichen Bewegungen die halbe Tomate. Ihn speisen zu sehen, war ein ästhetischer Genuß. Selbst wenn er nur in ein Stück Brot biß, wirkte das elegant.
«Wir werden diese Nahtmaschine bis zur Perfektion ausbauen, Dot-tore! Geld spielt keine Rolle, das wissen Sie! Mit dieser Nahtmaschine und Ihren Teflonprothesen muß es Ihnen doch gelingen, die Herztransplantation gleich vom Beginn an praktisch risikolos werden zu lassen. Ich weiß — die Immunschranke. Aber auch das bekommen Sie hin!«
«Nur ein Mann mit Ihrem Geld kann so optimistisch sein!«
Worthlow servierte Volkmar eine halbe, gezuckerte Grapefruit, angerichtet mit einem Schuß Portwein.
«Wäre Melata auch gestorben, wenn Sie Ihre Gefäßnahtmaschine hier gehabt hätten?«
«Ja.«
«Eine klare Antwort. «Soriano schielte nach dem Ziegenkäse. Sofort brachte Worthlow das Käsetablett.»Wollen Sie morgen einen Schimpansen operieren? Wir haben Teflon in allen Größen da!«
«Nein.«
«Gut. Dann wird sich Dr. Nardo damit beschäftigen. Kommen wir zum anderen Thema. «Dr. Soriano sah sich um. Loretta kam noch nicht. Er konnte sie jetzt auch nicht gebrauchen.
«Wer ist Dr. Angela Blüthgen?«
Volkmar ließ den Löffel, mit dem er die Grapefruit ausschabte, sinken. Fassungslos starrte er Soriano an.»Don Eugenio — «, sagte er dann mit belegter Stimme,»lassen Sie jetzt bloß Angela in Ruhe!«
«Sie interessiert mich nur privat. Als Vater einer Tochter, die Sie liebt. Wer ist Angela Blüthgen?«
«Eine Ärztin. Internistin. Wir kennen uns seit dem Studium.«
«Sie haben mit ihr geschlafen?«
«Das geht Sie nichts an!«
«Also ja! Sie haben! Lieben Sie Angela Blüthgen?«
«Ich wollte sie heiraten.«
«Und warum haben Sie's nicht getan?«
«Sie lehnte es ab! Sie ist stolz auf ihre Emanzipation.«
«Dann hat sie sich selbst geradezu irrsinnig belogen. Angela Blüth-gen liebt Sie, Enrico. Sie war auf Sardinien und hat Ihre sterblichen Überreste abgeholt. Sie hat der Polizei in Cabras und Cagliari gründlich eingeheizt. «Soriano zeigte auf den Zeitungspacken auf dem Marmorboden.»Wollen Sie nicht ihr Interview lesen? So, wie sie sich benommen hat, das, was sie gesagt hat… das kann nur eine Frau, die über den Tod hinaus liebt.«
«Das habe ich nie gewußt. Nicht einmal geahnt«, sagte Volkmar leise.»Don Eugenio, lassen Sie die Zeitungen vernichten. Ich möchte nichts darüber lesen.«
Worthlow servierte den heißen, starken Kaffee in kleinen Tassen, die innen vergoldet waren. Angela. Sie ist nach Sardinien geflogen, sie hat das, was sie für meine Leiche hält, zurück nach Deutschland geholt. Sie wird den fremden Körper begraben, Blumen auf den Erdhügel legen, vielleicht ab und zu auf den Friedhof gehen und die Blumen erneuern; sie wird einige Erinnerungen haben an die Wochenend-Nächte und meine Worte hören:»Warum heiraten wir nicht? Mein Gott, wir lieben uns doch!«
«Wir vereinigen uns sporadisch!«hatte sie dann geantwortet.»Das ist etwas anderes!«
Das war nun alles gelogen, wie sich zeigte. Sie hatte geliebt mit allem, was in einer Frau zur Liebe fähig ist. Aber sie hatte es nicht gestehen wollen und war in die Lüge geflüchtet. Und belogen wurde sie jetzt, im letzten Akt dieser verworrenen Liebe, auch noch: Sie beweinte und holte einen Toten heim, der nicht Dr. Volkmar war. Sie begrub einen Mann, dessen Name vielleicht nur Don Eugenio kannte, oder selbst er nicht, weil er sich mit solchen Kleinigkeiten nicht abgab.
Dr. Soriano hatte seinen weißen Ziegenkäse gegessen und tauchte die Fingerspitzen in eine Kristallschale mit Zitronenwasser. Worth-low reichte ein kleines Handtuch, das sogar parfümiert war.
«Reminiszenzen?«fragte Soriano.»Sie sollten Loretta von Angela erzählen.«
«Was hätte sie davon?«
«Sie weiß dann, daß sie gegen einen Schatten kämpfen muß.«
«Sie würde dann auch wissen, daß ihr Vater einen fremden Toten mit meinem Gebiß, meiner Badehose und meinem Ring geliefert hat. Ich nehme an, sie würde dann harte Fragen stellen.«
«Da haben Sie recht, Dottore!«Soriano winkte dankend zu Volkmar hinüber.»Ich habe eben wieder nur als Vater gedacht. Ein Fehler, ich gebe es zu. Man soll nie das große Ziel vergessen, das wir anstreben.«
«Das Sie anstreben, Don Eugenio!«
«Es ist Ihres wie meines, Dottore. Wir sind jetzt beide in einem Anzug. Wer aus ihm aussteigt, steht nackt da!«In der Halle hinter ihnen klappte eine Tür. Worthlow, der Perfekte, trug das dritte Gedeck zum Tisch.»Aha. Loretta kommt!«Soriano blickte Volkmar fragend an.»Lieben Sie meine Tochter mehr als diese Angela?«
«Darauf gebe ich Ihnen keine Antwort.«
«Wenn Sie's nicht tun, bringe ich Sie trotz aller Pläne um. «Soriano erhob sich.»Das schwöre ich Ihnen!«
Dann ging er Loretta entgegen, mit ausgebreiteten Armen, und sagte mit aller väterlichen Zärtlichkeit:»Guten Morgen, mein Engelchen. Jetzt hat der Tag für mich erst begonnen!«
Sie trug wieder ihren goldenen Bikini, über dem ihr schwarzes Haar wie eine lange Stola lag.
Sie sah hinreißend aus.