4.

Aber nichts dergleichen geschah. Vor allem die Toreinfahrt schmolz dahin, ein ekliges Traumgesicht, das nie wiederkehrt.

Der allgemeine Verfall ist wohl nicht mehr so furchtbar! Ohne Rücksicht auf ihn füllten sich zweimal täglich die grauen Harmonikas unter dem Fensterbrett mit Glut, und die Wärme floss in Wellen durch die ganze Wohnung.

Klarer Fall: In der Hundelotterie hatte Lumpi das Glückslos gezogen. Denn nicht weniger als zweimal täglich füllten sich seine Augen mit Tränen der Dankbarkeit gegenüber dem Weisen von der Pretschistenka. Auch reflektierten alle Spiegel im Salon beziehungsweise Wartezimmer zwischen den Schränken einen Hundeglückspilz – umwerfend schön.

»Ich bin umwerfend schön. Vielleicht sogar ein Hundeprinz inkognito«, dachte Lumpi mit einem Blick auf den struppigen kaffeefarbenen Köter, der mit einem zufriedenen Gesicht durch die Tiefen des Spiegels stolzierte. »Es ist durchaus möglich, dass meine Omi eine Liaison mit einem Neufundländer hatte. Nicht umsonst sehe ich – auf meiner Schnauze – einen weißen Fleck. Fragt sich, woher er denn sonst stammen soll? Filipp Filippowitsch – ein Mann von Geschmack – nimmt nicht einfach den Erstbesten, Hergelaufenen.«

In nur einer Woche fraß Lumpi so viel wie in den letzten anderthalb Monaten voller Entbehrungen auf der Straße. Dies allein dem Gewicht nach. Was die Qualität der Speisen bei Filipp Filippowitsch anbelangt, darüber braucht man kein Wort zu verlieren. Selbst wenn man die Tatsache unberücksichtigt lässt, dass Darja Petrowna jeden Tag für 18 Kopeken eine Menge Wurstreste am Smolenski-Markt kaufte, es genügt allein schon, die 19-Uhr-Mahlzeiten im Esszimmer zu erwähnen, bei denen der Hund stets zugegen war, trotz heftiger Proteste der reizenden Sina. Dank dieser Mahlzeiten wurde Filipp Filippowitsch nun endgültig zur Gottheit erklärt. Der Köter stellte sich auf die Hinterpfoten und kaute am Sakko, der Köter hatte sich das Läuten von Filipp Filippowitsch genau gemerkt – zwei klangvolle abgehackte herrische Schläge – und schoss bellend hinaus ins Vorzimmer, um ihn zu empfangen. Der Hausherr brach herein im Schwarzfuchs, schimmernd von Millionen Schneesternen, riechend nach Orangen, Zigarren, Parfum, Zitronen, Benzin, Kölnisch Wasser, Chiffon, und seine Stimme, wie eine Kommandotrompete, scholl durch die gesamte Wohnung:

– Wieso hast du Mistkerl den Uhu zerfetzt? Hat er dich irgendwie gestört? Hat er dich irgendwie gestört, frage ich? Wieso hast du Professor MetschnikowAnmerkung zertrümmert?

– Filipp Filippowitsch, man sollte ihm mit der Peitsche eine kräftige Abreibung verpassen, wenigstens ein einziges Mal –, sprach Sina empört, – bevor er sich hier so richtig gehen lässt. Da schauen Sie doch, was er mit Ihren Galoschen angestellt hat.

– Niemand bekommt hier eine Abreibung –, sagte Filipp Filippowitsch aufgeregt, – merke es dir ein für alle Mal! Auf Menschen und Tiere kann man nur sehr behutsam Einfluss nehmen! Wurde er heute mit Fleisch gefüttert?

– Jesses! Er hat das Haus leer gefressen. Dass Sie überhaupt danach fragen! Ich staune, dass er noch nicht geplatzt ist!

– Na, dann lasse er es sich schmecken! … Aber hat dich der Uhu gestört, Rabauke?

– U-uh! –, heulte der Streber und kroch auf dem Bauch mit verdrehten Pfoten.

Dann wurde er am Schlafittchen gepackt und krachend durchs Wartezimmer geschleift – bis zum Kabinett. Der Hund untermalte das Ganze mit Jaulen, fletschte die Zähne, krallte sich am Teppich fest, glitt auf dem Hintern wie im Zirkus. In der Mitte des Kabinetts lag am Boden ein glasäugiger Uhu – aufgeschlitzt, und heraus quollen irgendwelche roten Lumpen mit strengem Mottenpulvergeruch. Auf dem Tisch die Splitter eines Porträts.

– Ich habe es extra nicht aufgeräumt, damit Sie die saubere Arbeit bestaunen –, berichtete Sina wehmütig, – selbst auf den Tisch ist er draufgeklettert! Zack, schnappt der Schweinehund den am Schwanz! Eh ich mich’s versah, fliegen die Fetzen! Den Uhu, den sollten Sie ihm mal ruhig unter die Nase reiben, damit er kapiert, was hier Kaputtmachen heißt!

Schon begann das Gewinsel. Der Hund, der am Teppich festklebte, wurde zum Uhu geschleppt, um sich diesen unter die Nase reiben zu lassen, dabei vergoss er heiße Tränen und dachte: »Prügelt mich, aber jagt mich nicht fort!«

– Den Uhu noch heute zum Präparator schicken. Außerdem nimm hier 8 Rubel 16 für die Tram, fahr zum Muir Anmerkung und kauf ein Halsband mit Kette.

Am nächsten Tag bekam der Hund ein breites und glänzendes Halsband verpasst. Im ersten Moment, als er sich im Spiegel sah, wurde er sehr traurig, zog den Schwanz ein und ging ins Bad, wobei er sann, ob es sich denn nicht abreißen lässt – mithilfe eines Kastens oder einer Truhe. Aber bald darauf verstand der Köter – er ist schlicht und ergreifend ein Trottel. Sina führte ihn an der Kette spazieren. Er schritt die Obuchow-Gasse entlang wie ein Häftling, vor Scham vergehend, doch unterwegs von der Pretschistenka bis zur Christus-Erlöser-Kathedrale begriff er, was ein Halsband im Leben bedeutet. Gelber Neid war in den Augen aller Hunde zu lesen, die ihm dort begegneten, und an der Totengasse schimpfte ihn so ein langbeiniger Streuner mit abgehacktem Schwanz einen »feinen Pinkel« und ein »williges Schoßhündchen«. Als sie die Trambahnschienen überquerten, warf der Milizmann einen vergnügten und respektvollen Blick auf das Halsband, und bei der Rückkehr nach Hause geschah schließlich das ganz und gar Unerhörte: Der Portier Fjodor öffnete höchstselbst die Eingangstür, ließ Lumpi hinein und bemerkte zu Sina: – Da hat sich aber Filipp Filippowitsch einen prächtigen Wuschelkopf zugelegt! Und so stattlich.

– Kein Wunder! Der frisst ja auch für zehn –, erklärte Sina, vom Winterfrost strahlend und mit geröteten Wangen.

»Ein Halsband ist fast wie ein Aktenkoffer«, witzelte Lumpi vor sich hin und folgte, mit dem Hintern wackelnd, in die Beletage, wie ein vornehmer Herr.

Nachdem er das Halsband entsprechend gewürdigt, unternahm der Hund einen ersten Abstecher in die Hauptabteilung des Paradieses, welche ihm bislang ausdrücklich versperrt war – in das Reich der Köchin Darja Petrowna. Die ganze Wohnung war nicht einen Bruchteil dieses Reiches wert. In dem oben schwarzen, gekachelten Herd brauste und brodelte stets eine Flamme. Der Ofen knarrte. Zwischen Purpursäulen brannte in ewigen Feuerqualen und einer ungestillten Leidenschaft Darja Petrownas Gesicht. Das glänzte und glitzerte vor Fett. Unter der modischen Frisur mit Herrenwinkern und dem Korb aus hellen Haaren im Nacken schimmerten 22 falsche Brillanten. Entlang der Wände hingen an Haken goldene Töpfe, die gesamte Küche erdröhnte schier vor Gerüchen, brandete, zischte in den geschlossenen Pfannen …

– Husch! –, brüllte Darja Petrowna. – Husch, husch, du Strolch, hinaus, du Bengel! Hast hier gerade noch gefehlt! Dir zeig ich’s mit einem Schürhaken! …

»Na, was schreist du denn so? Na, weshalb denn all das Kläffen?«, kniff der Hund treuherzig die Augen zusammen. »Wieso bin ich ein Strolch? Seht ihr denn nicht dieses Halsband da?«, und er schob sich seitlich zur Tür hinaus und versuchte, die Schnauze folgen zu lassen.

Lumpi, der Hund, wusste wohl ein Geheimnis, das Menschenherzen besänftigte. 2 Tage später lag er bereits neben dem Korb mit den Kohlen und sah Darja Petrowna beim Arbeiten zu. Mit einem schmalen und scharfen Messer hackte sie den wehrlosen Haselhühnern die Köpfe und die Füße vom Leib, und dann, wie ein bluttrunkner Henker, zerrte sie das Fleisch von den Knochen, riss die Innereien aus der Brust heraus, drehte fortwährend was durch den Wolf. Währenddessen zermarterte Lumpi einen Perlhuhnkopf. Der Schale mit Milch entnahm Darja Petrowna eingeweichte Semmeln, mischte sie auf dem Brett mit Faschiertem, übergoss das Ganze mit Rahm, streute Salz drüber und formte aus dieser Masse Laibchen. Im Herd brummte es wie beim Hausbrand, in der Pfanne ein Murren, ein Blubbern, ein Brutzeln. Die Ofenklappe sprang donnernd auf, dahinter – ein fürchterliches Inferno. Und dessen Geloder flirrte und flackerte.

Abends erlosch der steinerne Schlund, im Küchenfenster über der weißen Kurzgardine erstand eine zähe und wuchtige Pretschistenka-Nacht mit einem einsamen Stern. Der Fußboden feucht, die Kasserollen funkelnd, geheimnisvoll und kühl. Der Tisch. Eine Feuerwehrschirmmütze. Lumpi wachte auf dem warmen Herd wie der Löwe über dem Torbogen, das Ohr vor lauter Neugier gespitzt, betrachtete er einen erregten Schnurrbartträger mit breitem Ledergurt hinter der angelehnt stehenden Türe zu Sinas und Darja Petrownas Zimmer Darja Petrowna fest an sich drückend. Ihr ganzes Gesicht brannte vor Qualen und Leidenschaft – bis auf die leichenfahl gepuderte Nase. Ein Lichtspalt lag auf dem mit Osterröschen dekorierten Porträt des Schnurrbartträgers.

– Klebt an mir wie der Leibhaftige persönlich –, murmelte Darja Petrowna im Halbdunkeln, – lass ab. Gleich kommt Sina herein. Oder wurdest du etwa auch verjüngt?

– So was haben wir gar nicht nötig –, sagte heiser der Schnurrbartträger, der sich kaum noch beherrschen konnte. – Meine Güte, wie feurig Sie sind!

Abends verbarg sich der Pretschistenka-Stern hinter den schweren Vorhängen, und wurde am Bolschoi keine Aida gegeben, und fand keine Sitzung der Allrussischen Chirurgischen Gesellschaft statt, thronte die Gottheit im Kabinett auf einem geräumigen Sessel. Oben an der Decke nicht ein einziges Licht, nur auf dem Tisch die grüne Lampe. Lumpi lag auf dem Teppich im Schatten und sah pausenlos grauenhafte Dinge. In ekelhaft ätzender trüber Brühe schwammen menschliche Gehirne. Die Hände der Gottheit unter hochgekrempelten Ärmeln steckten in fuchsroten Gummihandschuhen, und die Finger, glitschig und stumpf, wühlten in den verschiedenen Windungen. Von Zeit zu Zeit bewaffnete sich die Gottheit mit einem kleinen glitzernden Messer und zerschnitt in aller Stille die gelben prallen Stränge.

Zu des Niles heil’gem Ufer … Anmerkung


sang leise die Gottheit, biss sich die Lippen in Erinnerung an das goldene Interieur des Bolschoi. Zu dieser Stunde wurden die Rohre bis zum Äußersten erhitzt. Die Glut stieg hoch, unter die Decke, verteilte sich von dort durchs gesamte Zimmer, im Hundefell erwachte der letzte, von Filipp Filippowitsch beim Kämmen übersehene, und dennoch dem Tode geweihte Floh. Die Teppiche dämpften die Geräusche in der Wohnung. Und ferne tönte die Eingangstür.

»Unsre Sina ist wohl in den Kintopp gegangen«, dachte der Köter, »und kommt sie zurück, essen wir erst einmal zu Abend. Was gibt’s heute? Kalbskotelett vermutlich!«


Dann der furchtbare Tag. Schon seit dem Morgen nagte an Lumpi so ein Gefühl. Er jaulte plötzlich, und das Frühstück – eine halbe Tasse Hafergrütze und der gestrige Hammelknochen – wollte ihm nicht so recht munden. Gelangweilt trottete er ins Wartezimmer und heulte dort sein Spiegelbild an. Aber nachdem Sina ihn auf dem Boulevard Gassi geführt hatte, verlief alles zunächst wie gewohnt. Der Tag war von Besuchern frei, weil der Dienstag ja bekanntlich ein besucherfreier Tag ist, und die Gottheit saß im Kabinett bei irgendwelchen vor sich hin ausgebreiteten wuchtigen Büchern mit bunten Bildern. Allgemeines Warten auf das Essen. Der Hund belebte sich beim Gedanken (und die Information stammte direkt aus der Küche): Heute zum Hauptgericht gibt es Pute. Unterwegs durch den Flur hörte Lumpi in Filipp Filippowitschs Kabinett unangenehm und unerwartet das Telefon schrillen. Filipp Filippowitsch hob den Hörer, horchte und wurde gleich rege.

– Bestens –, erklang seine Stimme, – bringen Sie ihn auf der Stelle hierher, auf der Stelle!

Er begann zu handeln, er läutete und befahl der eingetretenen Sina, augenblicklich aufzutragen. Das Essen! Das Essen! Das Essen! Im Speisezimmer klirrten die Teller. Sina flitzte, Darja Petrowna murrte in der Küche, die Pute sei aber noch nicht gar. Der Köter fühlte erneut diese Unruhe.

»Ich hasse Chaos in der Wohnung«, dachte er. Doch sobald er es dachte, wurde das Chaos noch sehr viel hässlicher. Vor allem im Zusammenhang mit dem Erscheinen des seinerzeit angeknabberten Doktor Bormenthal. Der brachte einen widerlich riechenden Koffer mit, begab sich, ohne erst abzulegen, mit demselbigen durch den Flur direkt ins Untersuchungszimmer. Filipp Filippowitsch ließ den Kaffee stehen, was so gar nicht seiner Art entsprach, und eilte Bormenthal entgegen, was noch weniger seiner Art entsprach.

– Wie lange ist er tot? –, rief er aus.

– Seit 3 Stunden –, antwortete Bormenthal, ohne die verschneite Mütze abzunehmen, und öffnete den Koffer.

»Wer soll denn da bittschön gestorben sein?«, grübelte unzufrieden der Hund und drängte sich allen unter die Füße. »Ich hasse solche Aufregung.«

– Geh mir aus dem Weg! Schnell, schnell, schnell! –, rief Filipp Filippowitsch in jede Richtung und betätigte wirklich jede Klingel (zumindest kam es Lumpi so vor).

Sina stürzte herbei.

– Sina! Darja Petrowna schmeißt sich ans Telefon, schreibt jeden auf, nimmt keinen dran! Du wirst gebraucht. Doktor Bormenthal, ich flehe Sie an – schnell, schnell, schnell!

»Gefällt mir nicht, gefällt mir gar nicht«, der Köter verzog beleidigt die Miene und streunte in der Wohnung herum, so blieb nun die Unruhe im Untersuchungszimmer. Sina steckte plötzlich in einem Kittel, à la Totenhemd, und hetzte vom Untersuchungszimmer zur Küche und zurück.

»Einen Happen futtern? Sollen die sich doch alle zum Teufel scheren«, beschloss der Köter und bekam auf einmal eine schöne Bescherung verpasst.

– Lumpi nichts geben –, dröhnte ein Befehl aus dem Untersuchungszimmer.

– Von wegen! Der tut doch eh, was er will.

– Dann eben wegsperren!

Und Lumpi wurde ins Bad gelockt und daselbst weggesperrt.

»Schweinerei«, dachte Lumpi im halbdunklen Bad sitzend, »einfach albern …«

Ungefähr eine Viertelstunde blieb er im Bad, seltsam gestimmt – mal zornig, mal irgendwie niedergeschlagen. Alles war so öde, so undurchsichtig …

»Wie Sie wollen, verehrter Filipp Filippowitsch, doch Ihre Galoschen knöpfe ich mir vor«, dachte er, »zwei Paar mussten schon dran glauben, auf ein weiteres kommt es jetzt auch nicht mehr an. Ihnen zeig ich’s, von wegen – Hunde wegsperren.«

Aber sein erzürnter Gedanke wurde blitzartig unterbrochen. Plötzlich und deutlich sah er einen Fetzen frühester Jugend – einen lichtüberfluteten riesigen Hof an der Preobraschenskaja SastawaAnmerkung, Sonnensplitter in den Flaschen, gebrochene Ziegel, frei herumlaufende Hunde.

»Nein, also wirklich, ergebensten Dank, die Freiheit, die kann mir geschenkt bleiben«, schnaufte der Köter wehmütig, »Gewohnheitssache. Ich bin ein hochherrschaftlicher Hund, ein Intellektueller, ich kenne die Sonnenseite des Lebens. Was soll diese Freiheit denn überhaupt sein? Ein Luftschloss, ein Traumbild, eine Fiktion … Ein Hirngespinst dieser elenden Demokraten …«

Dann wurde das Zwielicht des Bads erschreckend, er heulte, warf sich gegen die Tür, begann zu kratzen.

– U-u-uh! –, tönte es wie durch eine Tonne durch die Wohnung hindurch.

»Ich bring den Uhu wieder um!«, dachte er voll machtloser Wut. Dann wurde er schwach, ruhte sich aus, als er wieder aufstand, sträubte sich plötzlich sein Fell: Im Bad zeigten sich widerwärtige Wolfspupillen.

Auf dem Höhepunkt der Marter sprang die Tür auf. Der Hund kam heraus, schüttelte sich und wollte verstimmt in die Küche gehen, allein Sina packte ihn am Halsband und zerrte ihn hartnäckig ins Untersuchungszimmer. Dem Köter wurde es eisig ums Herz.

»Wozu brauchen die mich dort?«, dachte er ahnungsvoll. »Die Seite ist doch längst wieder verheilt. Ich verstehe rein gar nichts mehr.«

Und er glitt mit den Pfoten auf dem glatten Parkett und erschien so im Untersuchungszimmer. Als Erstes erstaunte die nie zuvor geschaute Beleuchtung. Die weiße Kugel an der Decke strahlte so grell, dass die Augen schmerzten. Im weißen Schein stand ein weiser Priester und sang durch die Zähne vom Ufer des Nils. Einzig der leicht gedämpfte Geruch verriet dahinter Filipp Filippowitsch. Sein gestutztes graues Haar lag unter einer weißen Haube – der Mitra eines Patriarchen. Der Priester war ganz in Weiß gehüllt, und über das Weiß zog sich als Stola ein schmaler Gummischurz. Schwarze Handschuhe.

Eine Mitra trug auch der Angeknabberte. Die lange Tafel war ausgezogen und seitlich daneben stand noch ein kleines viereckiges Tischchen auf metallischem Bein.

Lumpi hasste da am meisten den Angeknabberten – am meisten für seine heutigen Augen. Sonst kühn und direkt, huschten sie heute nach allen Richtungen, Hauptsache an den Augen des Hundes vorbei. Sie waren angespannt, sie waren verlogen, in ihrem Inneren barg sich eine ungute, eine schmutzige Sache, wenn nicht gar ein echtes Verbrechen. Der Köter sah ihn trübe und schwermütig an und wich in die Ecke.

– Sina, das Halsband –, raunte Filipp Filippowitsch, – und beruhige ihn.

Sina bekam sofort genauso ekelhafte Augen wie der Angeknabberte. Sie näherte sich dem Hund und streichelte ihn – eindeutig geheuchelt. Der schaute sie traurig und verächtlich an.

»Nun gut … ihr seid in der Überzahl. Ihr habt gewonnen. Doch ihr solltet euch schämen … Wenn ich wenigstens wüsste, worum es geht?«

Sina nahm ihm das Halsband ab, der Hund bewegte ein paar Mal den Kopf, schnaufte. Der Angeknabberte erstand vor ihm, im fiesen beduselnden Geruch zerfließend.

»Igitt … Woher diese Übelkeit und Furcht …«, dachte der Köter und taumelte fort von dem Angeknabberten.

– Los, Doktor, nun machen Sie schon –, sagte ungeduldig Filipp Filippowitsch.

In der Luft hauchte es streng und süß. Der Angeknabberte fixierte mit seinen angespannten Drecksaugen den Köter, holte die rechte Hand hinter dem Rücken hervor und schob dem Hund einen Bausch nasse Watte unter die Nase. Lumpi erstarrte, in ihm begann sich alles zu drehen, doch er schaffte es noch, zurückzuweichen. Der Angeknabberte sprang hinterher und verklebte ihm die Schnauze komplett mit Watte. Das verschlug den Atem, doch dem Köter gelang es noch einmal, sich loszureißen. »Mistkerl …«, schoss es ihm durch den Kopf. »Wofür denn?« Wieder wurde er überklebt. Da zeigte sich mitten im Untersuchungszimmer unvorhergesehen ein See und darauf saßen in Segelbooten seltsame jenseitige und glückselige rosige Hunde. Die Beine – knochenlos – knickten ein.

– Auf den Tisch mit ihm! –, rumste von irgendwoher die heitere Stimme Filipp Filippowitschs und verplätscherte in orangenen Strömen. Der Schrecken verschwand, stattdessen nur Freude, für Sekunden liebte der verdämmernde Hund den Angeknabberten. Dann aber stand die ganze Welt Kopf, darüber hinaus wurde Folgendes gespürt: Eine kühle, doch angenehme Hand unter dem Bauch. Ansonsten nichts.


Auf dem schmalen Operationstisch lag ausgebreitet der Hund Lumpi und sein Schädel pochte hilflos gegen das weiße mit Wachstuch bezogene Kissen. Sein Bauch war geschoren, und Doktor Bormenthal, schwer atmend und hetzend, fraß sich mit der Schneidemaschine ins Fell hinein, während er Lumpis Schläfen rasierte. Filipp Filippowitsch hielt die Handflächen gegen die Tischplatte gestützt, folgte mit den Augen, glänzend wie die Goldfassung seiner Brille, der gesamten Prozedur und redete unruhig.

– Iwan Arnoldowitsch, die entscheidende Phase beginnt, wenn ich in den Türkensattel eindringe. Sie müssen mir unverzüglich die Hypophyse reichen und sofort, hören Sie?, sofort nähen. Kommt es mir dort zu einer Blutung, verlieren wir Zeit und auch den Köter. Aber der hat sowieso keine Chance. – Er schwieg, kniff die Augen zusammen, blickte in die beinahe spöttisch halbverdeckte Hundepupille und fügte hinzu: – Dabei tut er mir leid. Stellen Sie sich vor: Ich habe mich an den Kerl gewöhnt.

Dies sprach er und hob seine beiden Hände, segnete den unglückseligen Hund Lumpi auf dessen langem beschwerlichen Weg. Möge nicht ein einziges Stäubchen auf der schwarzen Gummischicht landen.

Unter dem geschorenen Fell leuchtete die helle Hundehaut. Bormenthal stieß die Maschine beiseite und bewaffnete sich mit einem Messer. Er seifte den wehrlosen kleinen Kopf ein und begann, ihn zu rasieren. Unter der Klinge knirschte es stark, hie und da trat auch Blut hervor. Anschließend rieb der Angeknabberte den Kopf mit einem feuchten Benzinbüschel ab, breitete den nackten Hundebauch aus und sagte, Atem schöpfend:

– Das war’s.

Sina öffnete den Hahn über der Spüle, und Bormenthal wusch sich rasch die Hände. Sina begoss sie außerdem mit Spiritus aus einem Fläschchen.

– Werde ich noch gebraucht, Filipp Filippowitsch? –, fragte sie mit schiefem Blick hin zum rasierten Hundekopf.

– Nein, du kannst gehen.

Sina verschwand. Bormenthal war aber weiterhin schwer beschäftigt. Er legte weiche Mullservietten um Lumpis Kopf, und sogleich erschien auf dem Kissen ein nie geschauter nackter Hundeschädel mit einer seltsamen bärtigen Schnauze.

Da erwachte der Priester. Er streckte sich aus und sah den Hundekopf an und sprach:

– Nun denn, Gott stehe uns bei. Das Messer.

Bormenthal nahm vom strahlenden Haufen auf dem Tisch ein kleines gewölbtes Messer und reichte es dem Priester. Dann aber legte er die gleichen sakralen schwarzen Handschuhe an.

– Schlaf stabil? –, fragte Filipp Filippowitsch.

– Schlaf stabil.

Filipp Filippowitsch presste die Zähne zusammen, seine Äuglein glänzten scharf und stachelig, er schwang das Messer und zog damit – lang und treffsicher – eine Wunde über Lumpis Bauch. Die Haut fuhr sofort auseinander und von unten kam Blut hinausgeschossen. Bormenthal stürzte sich wie ein Raubtier darauf, drückte Mull dagegen, klemmte die Ränder mit einer kleinen (beinahe schon Zucker-)Zange ab, und die Wunde trocknete. In Bläschen trat Schweiß auf Bormenthals Stirn. Filipp Filippowitsch langte ein zweites Mal zu, und beide begannen, Lumpis Körper auseinanderzuziehen – mit Haken, Scheren, irgendwelchen Klammern. Heraus sprang, weinend vom blutigen Tau, gelbes und rotes Gewebe. Filipp Filippowitsch stocherte mit dem Messer im Leib herum, dann schrie er:

– Die Schere!

Das Werkzeug erschien auf schier magische Weise in den Händen des Angeknabberten. Filipp Filippowitsch fuhr in die Tiefe und entriss dem Körper, nach ein paar Mal dran Zerren, Lumpis Samendrüsen zusammen mit einigen anderen Fetzen. Bormenthal, ganz nass vor Anstrengung und Aufregung, eilte zu einem Glasbehältnis und entnahm ihm noch weitere schlapp herabhängende triefende Samendrüsen. In den Händen des Professors und seines Assistenten zuckten sich verheddernd kurze feuchte Fäden. Abgehackt ratterten die krummen Nadeln in den Klemmen, die Samendrüsen wurden anstelle der Lumpischen angenäht. Der Priester ließ von der Wunde ab, betupfte sie mit einem Klumpen Mull und befahl:

– Doktor, die Haut sofort vernähen!

Er blickte auf die runde weiße Wanduhr.

– Ganze 14 Minuten hat das gedauert –, zischelte Bormenthal durch die Zähne und biss sich mit der krummen Nadel in der zartblassen Haut fest.

Und schon sputeten sich die beiden, wie zwei Mörder nach frischer Tat.

– Das Messer –, schrie Filipp Filippowitsch.

Das Messer hüpfte ihm in die Hand, wie von selbst, und Filipp Filippowitschs Gesicht war auf einmal Furcht einflößend. Er fletschte seine Gold- und Porzellankronen und schuf mit einem einzigen Streich auf Lumpis Stirn einen purpurnen Kranz. Die Haut mit dem abrasierten Haar wurde, ein Skalp, nach hinten gestoßen, der blanke Schädel offengelegt. Filipp Filippowitsch schrie:

– Den Trepan!

Bormenthal gab ihm einen glänzenden Fräser. Filipp Filippowitsch biss sich die Lippen, fing an, denselbigen zu benutzen und kleine Löcher in Lumpis Schädel (im Abstand von einem Zentimeter) zu drillen, die rings den gesamten Kopf übersäten. Für jedes brauchte er kaum 5 Sekunden. Mit einer Säge von nie gesehener Façon, deren Schwanz er in das erste Löchlein steckte, begann er zu werkeln, wie an einem Kästchen für Damenhandarbeiten. Der Schädel kreischte leise und ruckelte. Und schließlich, circa 3 Minuten später, wurde Lumpis Schädeldecke geknackt.

Schon ragte die Kuppel von Lumpis Gehirn – grau – blaue Äderchen, rosa Flecken. Filipp Filippowitsch fraß sich mit der Schere in die Häute hinein und schnitt diese auf. Einmal spritzte ein dünner Blutstrahl beinahe ins Auge des Professors, aber traf nicht und besprengte nur dessen Haube. Bormenthal, mit einer Torsionspinzette, sprang hinzu wie ein Tiger, um den Fluss zu stoppen, und stoppte den Fluss. Sein Schweiß schwappte über, das Gesicht wurde fleischig und bunt gescheckt. Die Augen hetzten von den Händen des Professors hin zu dem Teller auf dem Tisch. Nun aber schaute Filipp Filippowitsch wirklich und wahrhaftig zum Fürchten aus. Den Nüstern entrang sich ein schrilles Röcheln, der Kiefer lag frei bis auf die Knochen. Jetzt rupfte er die Haut vom Gehirn und fuhr irgendwohin in die Tiefe, in der klaffenden Schädelschale die beiden Hirnhälften zerteilend. Da begann Bormenthal zu erblassen, packte Lumpi mit einer Hand an der Brust und sagte:

– Der Pulsschlag sinkt rapide …

Filipp Filippowitsch warf ihm einen bestialischen Blick zu, muhte etwas und fraß sich daraufhin noch tiefer hinein. Bormenthal ließ klirrend eine Ampulle zerplatzen, entsaugte ihr eine volle Spritze und piekste Lumpi heimtückisch in die Herzgegend.

– Und nun hinunter zum Türkensattel! –, knurrte Filipp Filippowitsch und presste mit den blutig glitschigen Handschuhen Lumpis graugelbes Hirn aus dem Kopf. Er schielte sekundenlang auf die Hundeschnauze, und sogleich ließ Bormenthal eine zweite Ampulle mit gelber Flüssigkeit zersplittern und füllte mit dieser eine lange Spritze.

– Ins Herz? –, erkundigte er sich feige.

– Dass Sie noch fragen! –, brüllte aufgebracht der Professor. – Er ist doch unter ihren Händen schon 5 Mal gestorben. Stechen Sie zu! Ja, ist das zu fassen! – Dabei wurde sein Gesicht wie das eines berauschten Räubers.

Der Doktor versenkte schwungvoll und leicht die Spritze mitten im Herzen des Hundes.

– Er lebt, aber nur gerade so eben –, flüsterte er schüchtern.

– Keine Zeit zum Philosophieren – ob er lebt oder nicht –, keuchte der furchtbare Filipp Filippowitsch, – ich bin jetzt im Sattel! Er stirbt doch eh … Zum Teufel noch mal …

Zu des Niles heil’gem …


Los, die Hypophyse!

Und Bormenthal übergab ihm die Dose, in deren flüssigem Inhalt an einem Faden dieses weißliche Knubbelchen zappelte. »Niemand in ganz Europa kann ihm das Wasser reichen … Verdammt noch mal!«, dachte verschwommen Bormenthal – Mit einer Hand packte Filipp Filippowitsch das zappelnde Knubbelchen, mit der anderen schabte er unter Zuhilfenahme einer Schere irgendwo in der Tiefe zwischen den zwei gespreizten Halbkugeln ein gleiches heraus. Lumpis Knubbelchen schmiss er auf einen Teller, das neue führte er ins Hirn ein, zusammen mit dem Faden und seinen kurzen Fingern, die auf schier wundersame Weise feingliedrig und elastisch wurden, und war so flink, es dort mit dem Bernsteinfaden festzuschnüren. Er entfernte aus dem Kopf Klemmen und Klammern, schob das Hirn in die knöcherne Schale zurück, kippte nach hinten und erkundigte sich, bereits etwas ruhiger geworden:

– Er ist tot, nehme ich an? …

– Der Puls ist hauchdünn –, erwiderte Bormenthal.

– Noch mehr Adrenalin!

Der Professor schmiss die Häute aufs Hirn, tat den abgetrennten Deckel darauf, zog den Skalp darüber und brüllte:

– Nähen!

In knapp 5 Minuten flickte Bormenthal wieder alles zusammen, wobei er 3 Nadeln brach.

Und da schließlich erschien auf dem Kissen vor einem blutfarbenen Hintergrund die leblos erloschene Schnauze Lumpis mit einer Schramme um den gesamten Kopf. Nun ließ auch Filipp Filippowitsch ab, wie ein satter Vampir, zog den Handschuh aus, aufwirbelnd vom Schweiß pudelnassen Puder, den anderen zerriss er, patschte ihn zu Boden und betätigte einen Knopf in der Wand. Sina zeigte sich an der Türschwelle, abgewandt, um Lumpi im Blut nicht sehen zu müssen.

Der Priester nahm mit kreidigen Händen die blutbefleckte Mitra vom Kopf und rief:

– Eine Zigarette für mich, Sina, sofort. Dann frische Wäsche und ein Bad.

Er legte sein Kinn auf den Rand des Tischs, öffnete mit zwei Fingern das rechte Hundelid, blickte ins fraglos sterbende Auge und sagte:

– Verdammt! Der Kerl ist nicht totzukriegen! Stirbt aber trotzdem. Tja, Doktor Bormenthal, schade um den Köter! Er war ein ganz treuer, dieser Schlawiner.

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