9

Es hätte recht gut eine Art Lagerschuppen sein können. Ein langer großer dunkler Raum, weißvergipste Wände, hoch oben eine gewölbte Holzdecke. Ein einzelner Lichtkegel von oben beleuchtete das komplizierte Sparrenwerk und den von Sägemehl bedeckten Boden, die Reihen nackter Holztische und die gebückten düsteren Gestalten, die auf einfachen Bänken hinter den Tischen hockten. Sie blickten starr vor sich hin, und alle schrien sie laut, jeder mitten in einem ganz persönlichen litaneihaften Singsang gefangen, jeder stur gegen alle die anderen Stimmen ansingend.

»Ich bin Wulfgeat. Bei chronischen Störungen des Kopfes oder der Ohren oder der Zähne durch Fäulnis oder Dickfluß entferne man, was da Pein macht, man brühe Kerbel in Wasser und gebe das zu trinken, und das wird die üblen Säfte entweder durch Mund oder Nase herausziehen.«

»Ich bin Aethelbald. Sucht im Magen junger Schwalben nach etlichen kleinen Steinchen und achtet darauf, daß sie weder mit Erde noch mit Wasser in Berührung kommen und nicht mit anderen Steinen; suchet euch deren dreie aus; die legt ihr dem Mann auf, über dem ihr waltet, dem, der der Hilfe bedarf, und er wird bald genesen sein.«

»Ich bin Eadfrith. Wir haben hier Raute, Hysop, Fenchel, Sennep, Elecampanum, Südholz, Celandinum, Rettich, Kumim, Zwiebel, Lupinum, Kerbel, Flor-do-Liszt, Flachs, Rosemarin, Saturai, Liebstöckel, Persilium, Olusatrum, Krüppelwacholder.«

Verwundert und etwas bestürzt fragte Gilgamesch: »Ja, was sind denn das für Typen — und was brabbeln die da?«

»…und wiederum, du sollst die üblen verdrängten Säfte durch Speichelfluß und Erbrechen entfernen. Mische Pfeffer mit Mastix und gib es deinem Kranken, auf daß er es kaue, und bringe ihn so zum Gurgeln und Ausfluß aus dem Rachen…«

»…sind nützlich bei Hauptweh und bei der Augenarbeit, und bei Anfechtungen durch den Bösen Feind, und gegen nächtliche Besuche von Spukgespenstern, und gegen den Alptraum, für Verknotung und für Anziehung und bei Verzauberung durch bösen Sang. Es sollen große Nestlinge sein, bei denen du sie suchen sollst. Und wenn ein Mensch an der Hälfte seines Hauptes Weh leidet, so zerstoße Raute gründlich, setze sie an in starkem Essig…«

Der Haarmensch sagte: »Das sind Verkäufer von Arzneien und Zaubermitteln, und hier ist der Basar, wo man in Brasil diese Dinge verkauft.«

»…und Mastix, Pfeffer, Galbanum, Skammonium, Gutta Ammoniaka, Zimmet, Zinnober, Aloe, Bimsstein, Quecksilber, Schwefelblüte, Myrrhe, Weihrauch, Petroleum, Ingwer…«

»…so daß er dadurch angenehm das üble Phlegma ausbreche. Bewirke damit eine Spülung oder Lotion zur Reinigung des Hauptes, sodann nimm erneut ein Quentchen Sennepsamen und Samen von Nabelkraut und Kressesamen, und zwanzig Pfefferkörner und mische alles gut in Essig und Honig…«

»…und bestreiche damit direkt die obere Seite des Hauptes. Grabe Breitwegerich vor Sonnenaufgang ohne ein Eisen aus, binde die Wurzeln mit Kreuzwurz durch ein rotes Netz auf das Haupt…«

Gilgamesch schauderte es. »Ich fürchte, hier ist es nicht sicherer als draußen auf der Straße. Ein Basar von Zauberern? Hunderte Wunderwirker, die ihre Beschwörungen schreien?«

»Hier kann dir nichts Böses widerfahren«, sagte der Haarmensch. »Hier drinnen werden andauernd so viele Zauber durcheinander gebrüllt, daß der eine den anderen aufhebt, also ist es ganz und gar ungefährlich.«

»… der Absud dieser Wurzel, in Wein gereicht, ist von großem Nutzen gegen alle Arten von Schlangen, gegen den Stich des Skorpions, in so hohem Grade, daß wenn einer auf Skorpione gebettet würde, sie von Ohnmächtigkeit oder Kraftlosigkeit oder Schwäche befallen würden…«

»…bei Lendenpein und schmerzenden Schenkeln nimmst du eben diese Wurzel Pulegium, siedest sie in Essig…«

»Ich bin Aethelbald.«

»Ich bin Eadfrith.«

»Ich bin Wulfgeat.«

»…diese Wurzel, welche Priapiscus heißt und mit anderem Namen Vinca pervinca, ist für viele Anwendungen nützlich, so etwa erstens gegen teuflische Krankheit oder Dämonenbesessenheit, sowie gegen Schlangen und gegen wilde Tiere und gegen Gifte…«

»Guter Herr! Lieber Herr!« Es war der Zauberer, der sich Aethelbald nannte. Er winkte Gilgamesch heftig zu.

»Was will er von mir?«

»Dir etwas verkaufen, zweifellos«, antwortete der Haarmensch. »Weshalb bist du allein durch die Straßen gewandert?«

»Ich hatte Kopfschmerzen, als ich erwachte. Von dem Getöse der Eruptionen die ganze Nacht hindurch, und ich glaube auch von dem ständigen Geschwätz des Hebräers Herodes gestern abend. Also begab ich mich hinaus, um ein wenig herumzulaufen. Einen klaren Kopf zu bekommen, mir die Stadt anzusehen. Ich fand nichts Schlimmes dabei.«

»…und für die verschiedensten Wünsche«, schrie der Mann, der sich Eadfrith nannte, »und gegen Neider, und um Schrecken zu erregen, und auf daß dir Anmut zuwachse, und wenn du dies Schicksalsamulett bei dir trägst, so wirst du gedeihen und stets angenehm sein…«

»Guter Herr! Hierher, lieber Herr! Ich bitte dich!«

»Nichts Schlimmes? Nichts Böses?« Der Behaarte lachte laut und zeigte gewaltige hauerartige Zähne. »Nichts weiter dabei, heh, mit einem Mastodon Haschmich zu spielen, mein Freund? Sofern man dafür groß genug ist, nehme ich an. Du gehst ganz einfach darauf zu, zupfst es am Rüssel, ziehst an seinen Ohren? Ja?«

»Mastodon?« sagte Gilgamesch verdutzt. Ein seltsames Wort. Hatte er es auch richtig gehört?

»Spielt keine Rolle. Du würdest es sowieso nicht kennen. Es war vor deiner Zeit. Mach dir nichts draus. Aber ich will dir sagen, daß dies hier keine Stadt ist, in der einer unbeschützt herumstreunen kann. Hat dich denn keiner davor gewarnt?«

»Herodes hat etwas von Zauberern und Magiern geschwätzt, aber…«

»Guter Herr! Lieber Herr!«

»…aber du hast nicht auf ihn gehört. Herodes! Der Narr!« Die tiefliegenden Äuglein des Haarmenschen funkelten vor Verachtung. »Aber manchmal kann sogar Herodes dir etwas Nützliches sagen. Du hättest seine Warnung beachten sollen. Brasil birgt zahlreiche Gefahren.«

»Ich habe keine Furcht vor dem Tod«, sagte Gilgamesch.

»Sterben ist das am wenigsten Scheußliche, was dir hier widerfahren könnte.« Der Haarige legte Gilgamesch eine schrumpelige ledrige Hand auf den Arm. »Komm mit! Hier herüber! Geh mit mir ein Weilchen auf und nieder.«

»Hast du einen Namen?«

»Namen bedeuten gar nichts«, erwiderte der Haarmensch. »Es hat dich erschreckt, ja, was draußen geschah?«

Gilgamesch zuckte die Achseln.

Der Mann rückte nahe an ihn heran. Von seinem pelzigen Körper ging ein seltsam süßlicher Duft aus. »Es gibt hier Straßen, in denen die anderen Welten durchbrechen. Es besteht immer die Gefahr, daß das Gewebe nicht standhält, daß fremde Welten hereinbrechen. Begreifst du, was ich dir sage?«

»Ja«, sagte Gilgamesch. »Auch in Uruk gab es einen solchen Ort. Einen Übergang, der aus unserer Welt hinab in diese hier führte. Die Göttin Inanna stieg durch diesen Gang, wenn sie ihre Schwester Ereshkigal in der Hölle besuchte. Und beim Ritual der Schließung des Tores warf ich meine Trommel und den Schlegel in den Gang, als ein Mädchen mich aufschreckte, indem es den Namen eines Gottes rief.« Jahrhundertelang hatte er nicht mehr an all das gedacht. Nun überflutete ihn die Erinnerung mit unkontrollierbarer emotionaler Heftigkeit. »Es war die Heilige Trommel, die der Kunstwerker Ur-mangar für mich aus dem Holz des Huluppu-Baumes geschnitzt hatte, durch die ich in meine Trancen geriet und Dinge schaute, die sterbliche Augen sonst nicht sehen können. Und so verlor ich zum erstenmal meinen Freund Enkidu, als ich die Trommel und den Trommelschlegel in dieses furchtbare Loch voll Staub und Asche warf und er in die dunkle Niederwelt hinabstieg, um sie mir wiederzubringen.«

»Dann weißt du ja Bescheid«, sagte der Haarige Mann. »Aber du mußt lernen, wo diese Stellen sind, und dich von ihnen fernhalten.«

Gilgamesch zitterte nun. Alte Erinnerungen brachen lebendig wieder in ihm auf.

Enkidu! Enkidu!

Wieder sah er Enkidu vor sich, grau von Staub, gefangen in dicken Strängen wirren Spinngewebes, und er stieg aus dieser Grube in Uruk, die in die Welt der Toten hinabführte; und Enkidu, wie er da heraufstieg, war auch ein Toter, von all seiner Lebenskraft entblößt, und er würde innerhalb von zwölf Tagen für immer und ewig hinweggeschafft werden in das Haus des Staubes und der Finsternis. Was für eine unendliche Trauer für Gilgamesch! Wie hatte er den Todesgöttern geflucht, daß sie ihm Enkidu fortgenommen hatten! Und dann, nachdem seine eigene Zeit abgelaufen war und er seinen Enkidu in der Nachwelt wiedergefunden hatte, mußte er ihn erneut verlieren — was für eine Qual dies alles, wieder mit dem Freund vereint zu sein und ihn zum zweitenmal zu verlieren, als Enkidu sich zwischen die kampfgeilen Spanier und Engländer stellte und eine Kugel abbekam, die einem anderen bestimmt gewesen war…

»Und so habe ich ihn denn schon wieder einmal verloren«, sagte Gilgamesch laut. »Als verfolgte uns der Fluch der Inanna bis hierher in die Nachwelt, und wir müssen einander finden und wieder auseinandergerissen werden, und immer und immer so fort und so fort…«

»Was sprichst du da?« fragte der Haarmensch.

»Wir waren drüben am anderen Ufer, Enkidu und ich, mitten unter einem Troß von Fremdlingen, von jämmerlichen feigen Später Toten. Und während ich fern vom Lager war und jagte, gab es einen Überfall, und als ich ins Lager zurückkehrte, fand ich alle tot vor, außer dem Zottelhund Ajax, und von Enkidu keine Spur. Räuber müssen ihn fortgeschleppt haben, oder Dämonen, die mich quälen wollen, indem sie uns schon wieder einmal voneinander trennen. Aber ich werde ihn finden, und sollte ich suchen müssen, bis die Götter alt und grau werden!«

»In der Nachwelt kann man niemanden auffinden«, sagte der Behaarte, »höchstens zufällig, oder wenn es gerade die Laune der dunklen Gottheiten ist, die hier herrschen. Das mußt du doch eigentlich wissen.«

»Ich will ihn wiederfinden.«

»Und wenn er tot ist?«

»Dann wird er zurückkehren. Wie das hier alle Toten früher oder später tun. Ich sage dir, ich werde ihn wiederfinden!«

»Komm jetzt«, sagte der Haarige Mann. »Komm mit mir, und wir gehen ein bißchen, bis dein Kopf wieder klar ist.«

»Moment!« Gilgamesch schob die Hand des Mannes beiseite. »Meinst du, diese gelehrten Doktoren da hätten vielleicht ein Mittel, das mir helfen könnte, ihn aufzuspüren?«

»Sie werden dir gewiß sagen, daß sie das haben. Aber in der Nachwelt, Gilgamesch, findet man niemanden mehr.«

»Das wollen wir doch mal sehen.«

Und er ging zu den aufgestellten hölzernen Tischen und Bänken zurück.

»Lieber Herr, ich bin Aethelbald«, sagte einer der Zaubertränkleinbrauer drängend.

»Ich bin Eadfrith«, nölte der neben ihm und winkte.

»Ich bin Wulfgeat, und ich habe hier einen Trank, der gegen Schwindel und Hirnfieber wirkt, und gut beim Gallenfluß und der Gelben Krankheit, bei Stimmen im Ohr und Hörschwäche…«

Ungeduldig winkte Gilgamesch sie beiseite und brachte sie zum Schweigen. »Wer seid ihr Leute denn überhaupt?«

»Wir sind alles Angeln hier«, sagte Wulfgeat, »abgesehen von diesem Saxonen da neben mir, und Meister der Kräuterkunde sind wir und der Kunst, Blutegel zu setzen, und auch der Sternenkunde. Unser Wirken ist gediegen! Unser Können grenzenlos!«

»Kräuterkunde? Sternkunde?« fragte Gilgamesch.

»So ist es, und es mag sein, daß wir auch einen Zauber haben für dich! Was fehlt dir, lieber Herr? Was brauchst du?«

»Ein Mann ist es, nach dem ich suche«, sagte Gilgamesch nach einer Pause. »Ein Freund, den ich verloren habe.«

»Ein verlorener Freund? Ein verlorener Freund?« Die Zauberhöker begannen zu murmeln und sich zu beraten. »Vipernbouglossum«, schlug einer vor. »Die Asche toter Bienen in Leinöl?« meinte ein anderer. »Krummwurz und Thung, Balgwurz und Erlwurz in starkem Met oder ungetrübtem Ale.« Doch der dritte Zauberer schüttelte heftig den Kopf und sprach: »Es muß durch Träume geschehen. Die Zeichen müssen unbedingt aufgerufen werden. Man muß eine Quelle aufbrechen sehen neben seinem Haus, oder eine Glucke mit ihren Küken, oder träumen, daß man ein neu Paar Schuh anzieht — wahrlich, so lauten die Zeichen, und wir müssen ihm den Trank geben, der ihm diese nützlichen Visionen bringt, und in der folgenden Nacht…«

»Was ist denn hier los?« mischte sich eine bekannte säuselnde Stimme ein. »Was treibt ihr denn da?«

Herodes drängte sich heftig durch das Gewühl und erschien plötzlich an Gilgameschs Seite. Der Behaarte Mann schnitt eine Grimasse und brummte etwas Unverständliches. Die Zauberhöker blickten bestürzt drein, kehrten ihnen den Rücken zu und riefen ihre Anpreisungen in die andere Richtung den dort Versammelten entgegen.

»Wo hast du denn gesteckt?« wollte Herodes wissen. »Simon hat überall Sucher nach dir ausgeschickt.«

»Ich dachte, ich schaue mir ein bißchen die Stadt an.«

»Oh, Gewalt! Und dann bist du hier gelandet? Aha. Aha. Ich glaube, ich weiß, warum. Du willst einen Zauber kaufen, der dich nach Uruk führt, ja? Das also. Trotz all dem, was ich dir gestern abend gesagt habe?«

Aus der Ferne hörte man eine gewaltige Stimme röhren: »Das Buch der Fünfzig Namen! Wer kauft das Buch der Fünfzig Namen?«

»Der Behaarte hat mich hierher geführt«, sagte Gilgamesch. »Ich bin einfach von einer Straße in die andere gewandert, und dann passierte mir etwas Merkwürdiges, vielleicht war es ein Anfall — in meinen Erdentagen neigte ich dazu, mußt du wissen, aber ich dachte, ich wäre das hier in der Nachwelt jetzt los — jedenfalls wurde mir schwindlig — ich sah Gesichter — ich sah uralte Straßen…« Verärgert schüttelte er den Kopf. »Nein, ich will keinen Zauber kaufen, um Uruk zu finden. Ich suche nur nach Enkidu. Und wenn diese weisen Gelehrten…«

»Marduk! Marukka! Marutukku!« dröhnte die gewaltige Stimme.

»Diese weisen Gelehrten sind Fischhöker und Abschaum«, sagte Herodes verächtlich und machte das Hörnerzeichen gegen Aethelbald und Eadfrith und Wulfgeat. Und sie wichen vor ihm zurück. »Bauerntölpel sind die. Bestenfalls Kleinkrämer.« Und er zeichnete den sechszackigen Stern vor ihnen in die Luft, und sie wandten sich bleich und bebend von ihm ab. »Siehst du? Siehst du es, Gilgamesch? Was könnten die schon bewirken? Dir vielleicht ein Wehwehchen lindern? Dir den Nasenfluß austrocknen? Das sind törichte kleine Leute hier. Sie werden dir deinen Enkidu nicht finden.«

»Wie kannst du da so sicher sein, Herodes?«

Herodes hatte ein schlaues Glitzern in den Augen, als er nun zu Gilgamesch heraufblickte.

»König von Uruk, wenn ich dich mit einem wahren Weisen zusammenführe, der dir die Antwort geben kann, nach der du suchst, würdest du dann den Plan aufgeben, Simon auf diese unsinnige Expedition zu führen?«

Die gelbgeränderten Augen des Haarmenschen weiteten sich erstaunt. »Du sprichst von Calandola?« fragte er scharf und mit sehr belegter Stimme.

»Ja, von Calandola«, sagte Herodes.

Der Behaarte verkniff das Gesicht, mahlte mit dem affenartigen Kiefer und senkte die Brauen, daß es beinahe aussah, als nickte er, und dann stieß er aus tiefer hohler Brust einen brummenden Seufzer hervor. »Das ist nicht klug«, sagte er nach einem Augenblick. »Das ist höchst unklug.«

Herodes funkelte ihn an. »Laß das doch Gilgamesch gefälligst selbst entscheiden!«

»Asaraludu!« brüllte der Ausrufer der Fünfzig Namen. »Namtillaku! Narilugaldimmerankia!«

»Und wer ist dieser große Weise, zu dem du mich bringen möchtest?« fragte Gilgamesch.

»Sein Name lautet Imbe Calandola«, sagte Herodes. »Er ist ein Maure, ein… äh… nein, ein Nubier, oder irgendwas dazwischen. Dunkel wie die Nacht, ein scheußlicher Anblick. Er betreibt einen Tempel in den finsteren Tunnelgängen unter den Straßen von Brasil und dort herrscht er und gibt Visionen. Es gibt welche, die glauben, er sei der Herr der Finsternis in Person, der Fürst der Höllen, der Große Gegenspieler, der gewaltige Lucifer, der Phosphoros der Abgründe: Satanas, Beelzebub, Mephistopheles, der Erzfeind, der Herr des Bösen. Möglich, daß er das ist; ich aber glaube, er ist in Wahrheit nichts als ein prächtiger Wilder, der die Weisheit der Dschungel kennt. Jedenfalls aber wird er dir sagen — können, was du erfahren willst. Soweit ich weiß, befragen ihn die Haarmenschen beständig.«

Gilgamesch blickte zu dem Uralten.

»Ist das wahr?«

Der Behaarte verzog erneut das Gesicht noch schrecklicher als zuvor.

»Er blickt in die anderen Welten, dieser Calandola, ja. Und er kann andere sehen lassen, was er sieht.«

»Dann gedenke ich ihn aufzusuchen«, sagte Gilgamesch.

»Es ist gefährlich«, warnte der Behaarte.

»Das sagst du mir immer wieder. Aber was sollte ich fürchten? Den Tod? Du weißt doch, der Tod ist eine lächerliche Witzfigur für den, der ihm bereits begegnet ist!«

»Und habe ich dir nicht auch bereits gesagt, daß der Tod das am wenigsten Schreckliche hier in Brasil ist?«

»So sagtest du, ja. Aber es macht mir nichts aus.«

»Dann geh und besuche Calandola.«

»Das will ich tun.« Gilgamesch wandte sich zu Herodes. »Wann kannst du mich zu ihm bringen?«

»Wir sind also im Geschäft? Ich bringe dich zu Calandola, und du überredest Simon, seine absurde Wahnidee aufzugeben, nach Uruk zu suchen?«

Es war empörend, daß man ihn in ein derartiges Gefeilsche zu zwingen versuchte, als wären er und Herodes Markthändler, die ein Geschäft tätigen. Mühsam unterdrückte Gilgamesch den Drang, den kleinen Hebräer zu packen und ans andere Ende der Halle zu schleudern.

»Wir wollen doch nicht von einem Austausch von Gefälligkeiten reden, ja«, sagte Gilgamesch eisig. »Ich bin ein Mann von Ehre. Das sollte dir genügen. Also, bring mich zu deinem Weisen!«

Und dann stiegen sie hinab. Hinunter in die Tiefen, in das Dämonenland, in die Gänge der Teufel, wohin das Licht der Sonne niemals drang, zu dem Wohnsitz des schwarzen schrecklichen Imbe Calandola.

Als er ein Junge war in Uruk, hatte sich ihm ein Sklave mit dem Abzeichen der Göttin Inanna eines Tages genähert und zu ihn gesagt, als er sich gerade im Speerwurf übte: »Du mußt jetzt mit mir in den Tempel der Göttin kommen.« Und der Sklave hatte ihn zu dem Tempel geführt, den sein Großvater Enmerkar einst auf der Hügelplattform aus weißen Ziegeln erbaut hatte, und dann hinab und abwärts durch gewundene Gänge, die Gilgamesch nie zuvor gesehen hatte, in unheimliche Stollengänge, die tief unter dem Tempelfundament lagen und bis in die Gründe der Erde hinabführten. Durch Hallengänge, in denen im unterirdischen Dunkel ferne Lampen glühten, und vorbei an Orten, wo Magier im Kerzenschimmer ihr Werk vollführten, und durch Kreuzgänge, wo er flüchtige Blicke auf bocksbeinige Dämonen erhaschte, die stumm irgendwelchen Arbeiten nachgingen, bis er am Ende zu dem Geheimen Gemach der Inanna selbst gelangte, tief, tief unter den sonnversengten Straßen Uruks, wo die schlanke Priesterin ihn erwartete, mit ockergelb gefärbten Wangen und von Kohle schwarzgeschminkten Augenlidern.

Aber das war vor langer Zeit gewesen, in seinem ersten Leben. Und es war das erstemal, daß er einen flüchtigen Eindruck von den Welten gewann, die unterhalb der Welt lagen, wo unsichtbare Flügel flattern und der Widerhall rauhen Gelächters durch stauberfüllte Gänge schallt. An jenem Tage hatte der junge Gilgamesch erfahren, daß die Welt mehr war, als die ihm vertraute Oberfläche ihm sagen wollte, daß es Schichten um Schichten von Rätselhaftigkeit gibt, die weitab außerhalb der Erkenntnis gewöhnlicher Sterblicher liegt. Und während der Zeit seiner Königsherrschaft war er wieder und immer wieder in diese tiefere, untere Welt hinabgestiegen.

Und nun und hier in der Nachwelt, in der gar nichts vertraut war und alles voller Rätsel, stieg Gilgamesch wieder einmal in die Welt unter der Welt hinab.

Schon vor langem hatte er herausgefunden, daß es auch hier eine unterirdische Region gab, ein unermeßlich weites Land voller Gänge und Stollen und alles höchst verwirrend. In den frühen Jahren seines Totenlebens war er stöbernd durch diese Niederwelt gezogen, denn da hielt ihn noch diese unersättliche Neugierde im Griff, die ihn einst bis an die Grenzen der Erde getrieben hatte, aber sein Interesse an derlei Erkundungen war rasch erloschen, je stärker sein zielloses und untätiges Nachweltleben von ihm Besitz ergriff, und so war dies nun seit anderthalb Äonen oder mehr das erstemal, daß er wieder in die unterirdischen Gänge hinabstieg.

Es gab Meinungen, daß durch diese Stollen ein Weg aus der Nachwelt führe. Gilgamesch bezweifelte das. Er teilte die faszinierte Besessenheit Enkidus und zahlreicher anderer nicht, diesen Traum, den sie so lange gehegt hatten, sie könnten da einen Weg zurück ins Land der Lebenden finden. Für ihn war das ohne Bedeutung; er war sicher, soweit man hier irgendeiner Sache sicher sein konnte, daß für die hier Hausenden die Nachwelt endgültig und ewig sein mußte. Er wußte von einigen, die in die Grüfte hinabgestiegen und nie zurückgekehrt waren. Aber das war für ihn kein Beweis, daß sie einen Weg nach draußen gefunden hätten, sondern er vermutete eher, daß sie durch eine zwiefache Unterwelt irrten, vielleicht gar das Haus des Staubes und der Finsternis selbst, jenen Schreckensort, von dem die Priester in Uruk erzählten, wo die Gestorbenen wie Vögel gekleidet umherirrten und traurig ihr Gefieder durch den Staub schleppen müßten. Es reizte Gilgamesch gar nicht, in dieses ewig nächtliche Land ohne Hoffnung zu gelangen.

Doch jetzt — um zu erfahren, wohin sein Enkidu diesmal entschwunden war…

Und hinab und hinunter. Die Fackel des Herodes zuckte und spuckte. Die Luft war dick und bedrückend. Sie schmeckte brandig. Im trüben Schein erkannte Gilgamesch an den Stollenwänden gräßliche Skulpturen, von denen ihm die Augen zu pulsieren und zu beben begannen. Er mußte den Blick von diesen Scheußlichkeiten abwenden.

Die Gänge wanden, bogen sich, manchmal fast gerade abwärts, dann über schräge steile Rampen. Die Stollen durchkreuzten einander, schienen ineinander zu münden, trennten sich erneut, so daß es nahezu unmöglich war zu erkennen, welchen Weg sie ursprünglich eingeschlagen hatten. Doch Herodes schien sich auszukennen, obwohl auch er hin und wieder sich verwirrt und ratsuchend an den Haarigen Mann wandte, der nur grob mit einem überlangen dolchartigen Fingernagel in diese oder jene Richtung wies. Keiner sprach. Sie trafen auf kaum jemand sonst in den Stollen. Ab und zu hallte Dämonenlärm aus der Ferne zu ihnen: Keckern, Kreischen, Zischen, Gestöhn.

Und dann Musik, ein schreckliches barbarisches Trommeln und die schneidenden Töne von Flöten oder Pfeifen schrillten darüber.

»Das Haus Calandolas liegt gleich dort hinten«, sagte Herodes.

»Was muß ich beim Eintreten tun?« fragte Gilgamesch.

»Steh du aufrecht. Zeig keine Furcht. Blick ihm in die Augen.«

Gilgamesch lachte. »Das wird mir nicht schwerfallen.«

»Warte es ab«, sagte Herodes. »Und sag mir das gleiche dann noch einmal!«

Der Gang bog plötzlich scharf nach rechts ab, und Gilgamesch blickte in einen langen, engen Seitengang, in dem nur ein schwacher flimmernder Lichtschein zu erkennen war. Die einzige Öffnung dorthin schien ein Loch zu sein, das kaum groß genug war für einen Zwerg. »Hier durch«, sagte Herodes und kletterte durch die Öffnung. Gilgamesch mußte auf den Knien sich erst mit der einen, dann mit der anderen Schulter hindurchzwängen. Der Behaarte folgte ihm.

Abgesehen von dem einen Lichtpunkt in der Öffnung, herrschte dahinter absolute finsterste Nachtschwärze, so dicht und schwer, daß sie wie Fäuste auf die Augen schlug. Gilgamesch war von der tiefen Schwärze wie betäubt. Zum erstenmal bekam er nun ein Gefühl dafür, was es bedeuten mußte, blind zu sein.

»Hier herüber«, sagte Herodes munter. »Folgt mir!«

Und was war, wenn vor ihnen auf dem Weg eine bodenlose Fallgrube gähnte, voller kochenden Öls oder gewaltiger Schlangen auf dem Grund? Und wenn scharfe Sicheln von den Wänden des Stollens herausstießen, um Vorbeikommende zu zerstückeln? Wenn an Stolperstricken Schwerter hingen, bereit niederzusausen und zu zersäbeln? Aber er sah nichts. Er war ganz und gar auf blindes gläubiges Vertrauen angewiesen.

Aber in dieser erzwungenen Blindheit erwachten andere Sinne…

Er hörte das Rauschen des schweren römischen Gewandes, das Herodes trug, in der stickigen Luft, das Patschen seiner Sandalen auf dem Boden. Die Haut auf der Stirn und den Wangen spürten den Luftzug, den die Bewegungen Herodes’ bewirkten. Wie ein nächtlicher Jäger bei der Verfolgung seiner Beute las Gilgamesch diese und weitere Signale und folgte furchtlos und ohne Zaudern.

Der Gang verengte sich, bis er wie eine schweißfeuchte Faust sich von allen Seiten heranpreßte. Dann weitete sich der Gang wieder und wurde zu einer weiten hallenden Höhle. Und er verengte sich erneut. Er fiel abwärts, stieg wieder an, wand sich hierhin und dorthin. Und dann entließ er sie plötzlich in einen gewaltigen von Schatten erfüllten Raum, der unregelmäßig von qualmenden Fackeln in Messinghaltern beleuchtet wurde, ein Raum voller Winkel und Ecken, wo Wände und die Decke bedrückend und verwirrend ineinander übergingen. Und in der Raumesmitte thronte ein Mann von derart beeindruckender Würde und Autorität, daß er nur der Großmagier Imbe Calandola in Person sein konnte, von dem man in der Nachwelt munkelte, er sei der Erzfeind, der Herr Alles Bösen, der Wahre Luzifer, der Beherrscher der Finsternis.

Gilgamesch erkannte sogleich, daß dies nicht so war. Er sah auf einen Blick, daß dieser Calandola weder göttlich war, noch ein Dämon oder Teufel, sondern ein Mensch aus Fleisch und Blut, wie er selbst, jedenfalls als er noch gelebt hatte. Doch im gleichen Augenblick erkannte er auch, daß der Mann, vor dem er hier stand, etwas höchst Außergewöhnliches war. Daß er, obwohl vielleicht ein Sterblicher, sehr wohl Götterblut in sich tragen mochte.

Genau wie Gilgamesch selbst, der seit seinen Kindertagen wußte, daß er zu zwei Teilen göttlich und nur zu einem Teil sterblich sei, woher seine gewaltige Statur und seine tiefe Erkenntnis rührten. Obwohl ihn auch dies nicht davor bewahrt hatte, sterben zu müssen und seit so langen Jahren hier in der Nachwelt zu hausen.

»Haltet inne und erweist eure Ehrerbietung!« dröhnte eine dunkle Stimme aus den Schatten hinter dem Thron. »Werft euch nieder, Fremdlinge, denn ihr steht vor dem großen Jaqqa, dem Imbe Calandola!«

Gilgamesch schaute wie erstarrt hin und spürte etwas, das einem Gefühl von Ehrfurcht nahekam, wie er es seit fünftausend Jahren nicht mehr gekannt hatte.

Calandola war so schwarz wie Calandolas Stollengänge: eine abgrundtiefe absolute Schwärze, das Schwarz einer sonnenlosen Leere, so tief, daß alles umgebende Licht hineingesogen zu werden schien. In seinem vorherigen Leben waren schwarze Menschen Gilgamesch nicht unbekannt gewesen. Auf seinen Wanderzügen zu fernen Orten hatte er die plattnasigen, dicklippigen kraushaarigen Matrosen aus dem Königreich — Punt gesehen, die aus einem Land kamen, in dem die Luft war wie Feuer, so daß die Haut der dort Lebenden verbrannte. Und aus dem weit entfernten Meluhha kamen andere schwarzhäutige Leute, mit schmalen Nasen und Lippen und langem glatten Haar, so dunkel, daß es beinahe blau war. Und hier in der Nachwelt selbst war er vielen begegnet, die auf die eine oder andere Art schwarz waren und aus Ländern kamen, deren Namen ihm nichts sagten — Nigeria, Äthiopien, Nubien, Mali, Quiloa, Indien, Socotra, Sansibar und viele andere Namen mehr. Vielleicht gab es ja in jedem Teil der früheren Welt schwarzhäutige Menschen und gelbe und rote und braune und — was wußte denn er, Gilgamesch, schon — vielleicht solche mit blauer oder grüner Haut oder mit gescheckter. Aber in beiden Welten hatte er noch nie einen wie Calandola gesehen.

Seine Haut hatte die Schwärze der Leute aus Punt, doch seine Nase war gerade, die Lippen schmal und scharf geschnitten, ähnlich wie die Gesichtszüge der Männer aus Meluhha und Indien, obwohl diese Leute klein waren, dieser Galandola hingegen war gewaltig, ein Riese, der beinahe an Gilgameschs Größe heranreichte. Seine Haare waren dicht, lang und gelockt, und Meeresmuscheln waren dareingeflochten, und um den Hals trug er einen Kragen aus großen Muscheln einer anderen Art, die wie gezwirbelte Türmchen hervorragten. In der Nase trug er eine blitzende Kupfernadel, so lang wie der kleine Finger eines Mannes, und zwei andere ähnliche Kupferstücke baumelten von seinen Ohren. Um die Lenden geschlungen war ein grell-scharlachnes Tuch, sonst war sein wuchtiger Körper nackt. Seine Flanken waren von roten und weißen Malereien bedeckt, und wo er nicht bemalt war, war die Haut zerschnitten und gekerbt oder sonstwie zu verblüffenden vortretenden Wülsten und Narben verzerrt, zu monströsen Schmuckverzierungen in der Gestalt von Blüten und Knoten und Linien. Auch war die Haut stark geölt und spiegelte den Schein der Fackeln wider.

Und diese Augen!

Ihr Götter! Enlil und Enki und Inanna — was waren das für Augen!

Schwarz waren sie und glänzend und tief. Unergründliche schwarze Teiche, umgeben von strahlendem Weiß. Gilgamesch erkannte es sofort, es waren die Augen eines wahren Königs. Es waren Augen, die ergreifen und bannen, die peitschen und niederschmettern konnten. Augen, die verzaubern konnten, wenn nötig, oder töten.

Wer war dieser Mann? Wo hatte er geherrscht, als er lebte? Weshalb hauste er jetzt in dieser Höhle in den Abgründen der Nachwelt unterhalb der Insel Brasil?

Galandola erhob sich. Trat ein paar Stufen vom Thron herab und ein paar Schritte auf Gilgamesch zu. Ein merkwürdiger dunkler Geruch umgab ihn, ein säuerlicher Gestank, von dem Gilgamesch vermutete, daß er von dem Öl ausgehe, das den Körper so glänzen ließ. Er bewegte sich mit höchster Bestimmtheit, gelassen, gemessen, sicher. Nun wurde sichtbar, daß Calandola um eine halbe Haupteslänge kleiner war als Gilgamesch. Aber nur sehr wenige Männer waren so groß wie Gilgamesch. Den Eindruck massiver Größe verdankte er dem mächtigen Nacken, den enorm breiten Schultern und der Wucht seiner Oberarme, die so wuchtig waren wie Schenkel.

Er nickte dem Haarmenschen schnaubend zu und bedachte den unterwürfig zitternden Herodes mit einem Achselzucken. Und zu Gilgamesch sprach er mit einer gewaltigen dunklen Stimme, die wie aus einem noch weiter hinten liegenden Höhlengang zu dringen schien: »Weshalb bist du zu mir gekommen?«

»Ich habe Fragen, und sie sagten mir, du wissest Antwort.«

»Ich weiß, wo man die Antwort finden kann, ja. Gib mir deine Hand.«

Er streckte eine nach oben geöffnete Hand aus. Die Handfläche war rosa in der Innenseite und so groß, daß er damit leicht den Schädel eines Menschen hätte packen und wie einen Klumpen Lehm zerdrücken können. Nach kurzem Zögern legte Gilgamesch seine Hand flach auf die von Calandola und wartete. Dann schlossen sich die beiden äußeren mächtigen schwarzen Finger um Gilgameschs Hand und bohrten sich tief ein, und noch tiefer, bis Gilgamesch ein leichtes Schmerzgefühl verspürte und seine Handknochen sich gegeneinander zu bewegen begannen. Ein Härtetest? Nun gut. Es war zwar kindisch, aber er würde mitspielen. Er hielt dem schrecklichen Druck der zwei Finger stand, als streichelten ihn Federn, und als der Schmerz zu heftig wurde, verscheuchte er ihn wie eine lästige Fliege.

Auf der schimmernden Stirn von Calandola trat eine Ader hervor. Die seltsamen Muster der Schmuckornamente auf seiner Haut traten irgendwie noch stärker hervor und schienen zu beben und zu schwingen. Die beiden Finger preßten noch heftiger. Ohne mit der Wimper zu zucken, blickte Gilgamesch gleichmütig auf seine und Calandolas Hände, dann ließ er zwei seiner Finger um das Handgelenk des anderen gleiten und erwiderte den Druck mit ebenso großer Kraft.

Calandola reagierte darauf nicht. Es war, als verspürte er keinen Schmerz, oder aber er wußte — wie Gilgamesch —, wie man Schmerz als unwichtige, unwürdige Nebensächlichkeit aus dem Bewußtsein verbannt.

Während sie so aneinander geklammert standen und sich die Finger in die Hände gruben, sagte Calandola: »Du bist zu groß für einen Portugaller und zu dunkelhäutig für einen Ingleser. Aber nicht dunkel genug, um Afrikaner zu sein.«

»Nein. Ich bin weder das eine noch das andere.«

»Was bist du dann also?«

Gilgamesch erhöhte den Fingerdruck. Aber Calandola ließ nicht erkennen, daß es ihn schmerzte. Wie es schien, waren sie beide nicht fähig, einander durch Schmerz zu überwinden.

»Als ich am anderen Ufer lebte«, sagte Gilgamesch, »in dem Land, das als das Land zwischen den Zwei Strömen bekannt war, nannten wir es Sumer.«

»In Afrika?«

»Nein, nicht Afrika.« Hin und wieder hatte Gilgamesch Landkarten gesehen. Er hegte geringes Vertrauen zu ihnen, aber andere Menschen richteten sich anscheinend danach, und auf diesen Karten war Afrika der Name des großen buckeligen Landes weit südlich von seinem Land, und die Luft dort war wie Feuer. »Einige nannten mein Land Mesopotamien.«

»Ich weiß nichts von einer solchen Gegend.«

»Sehr wenige tun das heutzutage. Doch einst war dort der Mittelpunkt der Welt.«

»Zweifellos«, entgegnete Calandola unbeeindruckt. Er ließ Gilgameschs Hand wie beiläufig los, keineswegs als Eingeständnis einer Niederlage, sondern anscheinend nur, als habe ihm irgendeine Prüfung die erwünschten Ergebnisse gebracht. »Deine beiden Flüsse, welche waren das?«

»Der kürzere hieß Euphrates, so nannten ihn manche später. Der andere Tigris. Bei uns hießen sie Buranunu und Idigna.«

Calandola nickte erhaben. Es war deutlich, daß diese bedeutenden Namen für ihn nichts weiter waren als Geräusche. Er schien ganz in irgendwelche geheimen Berechnungen versunken.

»Bringt Wein!« rief er plötzlich mit einer Handbewegung zu jemandem im Hintergrund der Höhle.

Gilgamesch erkannte, daß im Dunkel hinter Calandola ein beträchtlicher Hofstaat wartete: ein halbes Dutzend schwarzer Männer, die fast so massig waren wie ihr Herr, und etwa ein Dutzend entsprechender Weiber, allesamt mit kaum mehr als mit Perlen und Muscheln und ihrer ölglänzenden dunklen Haut bekleidet. Einer kam nun mit einer hölzernen Schüssel nach vorn, die randvoll war von irgendeinem dicken süßduftenden Wein. Calandola tauchte die Fingerspitzen hinein und beträufelte damit Gilgameschs Haupt, als wolle er ihn salben, und rieb ihm dann den Wein fest in die Haut des Schädels, wobei er langsam in einer unbekannten Zunge etwas murmelte. Gilgamesch unterzog sich widerstandslos diesem Ritual. Danach bot ihm der schwarze Riese die Schale dar. Einen Augenblick lang fragte er sich, ob er nun seinerseits Calandola das Haupt salben müsse, doch nein, er sollte einfach nur daraus trinken. Er nippte, fand das Getränk schwer und ekelhaft süß. Calandola ließ ihn nicht aus den Augen. Und nach kurzem Zögern griff Gilgamesch erneut nach der Schüssel und trank, diesmal einen großen Zug.

Calandola warf den Kopf zurück und lachte. Sein Mund war riesig, ein großes weltverschlingendes Loch mit gewaltigen weißen Hauerzähnen. Vier von ihnen fehlten, zwei oben und zwei unten, so symmetrisch waren die Lücken, daß Gilgamesch es für wahrscheinlich hielt, daß sie absichtlich entfernt worden waren, vielleicht aus Eitelkeit oder für einen dunklen Ritualzauber. Und als das Lachen ihres Herrn die Männer und Weiber seines Volkes gleichfalls zum Lachen ermunterte, sah Gilgamesch, daß auch ihnen allen in gleicher Weise zwei obere und zwei untere Zähne fehlten.

»Du trinkst wie ein König«, sagte Calandola. »Hast du einen Namen?«

»Ich bin der Sumerer Gilgamesch, der König war in Uruk.«

»Aha. Ich bin Calandola-der-Jaqqa, der König war der Welt.« Er klatschte in die Hände. »Öl für den König Gilgamesch!« dröhnte er.

Zwei der schwarzen Weiber kamen nach vorn und schleppten einen hölzernen Bottich heran, der ein dunkles schmieriges Fett enthielt. Calandola tunkte die Pranken hinein, hob einen großen Klumpen heraus und klatschte ihn Gilgamesch auf die nackte Brust; dann verrieb er die Salbe mit erstaunlich sanften Fingern über die Brust und den Rücken, die Schultern und den Nacken und das Rückgrat, bis der Sumerer ebenso schimmerte wie alle diese Jaqqa. Die Salbe verströmte den selben scharfen säuerlichen Geruch wie Clandola selbst. Gilgamesch fühlte, wie sie tief in seine Haut eindrang.

Als die Salbung beendet war, schloß Calandola Gilgamesch kurz und heftig in die Arme. Gilgamesch fühlte die bullenhafte Kraft dieses Berges von einem Mann.

Dann gab der Schwarze ihn frei und trat von ihm zurück. »Wenn du zurückkehrst, König Gilgamesch, werden wir vielleicht die Antworten auf deine Fragen suchen können.«

Calandola ließ seine Augen funkeln, grinste ihm zahnlückig zu, wandte sich in eindeutig verabschiedender Weise um und stapfte in das Schattendunkel, und sein Hofstaat scharte sich hinter ihm, so daß Gilgamesch ihn nicht länger sehen konnte.

Lange stand Gilgamesch da und starrte vor sich hin.

Er spürte den schweren süßen Wein in seinem Leib, und er fühlte die Glätte des Salböls, mit dem Calandola ihn bestrichen hatte. Dann blickte er umher, was mit seinen Gefährten geschehen sein mochte. Der Behaarte Mann lehnte an der Wand, die Arme über der zottigen Brust verschlungen, die schmalen Lippen in heftiger Mißbilligung zusammengepreßt. Und Herodes, der lag als verschwitztes Häuflein auf den Knien und stierte mit hängenden Armen irgendwohin ins Leere. Er wirkte benommen. Es war fast der gleiche Ausdruck wie neulich, als er aus dem Fenster in Gilgameschs Suite im Palast auf die wütenden Flammenkaskaden bei dem Ausbruch des Vesuv gestarrt hatte.

Gilgamesch stupste ihn mit der großen Zehe an.

»Komm«, sagte er. »Steh auf! Ich glaube, wir sollen uns jetzt entfernen.«

Herodes nickte dumpf. Seine Augen waren weit aufgerissen. »Er hat dir den Wein gereicht!« murmelte er. »Er hat dich mit dem Öl gesalbt! Wie außergewöhnlich! Wie erstaunlich! Bei deiner ersten Audienz — der Wein — das Öl!«

»Ist das so ungewöhnlich?« fragte Gilgamesch.

Herodes bebte vor Erregung. »Die Macht dieses Mannes! Seine schrecklich beeindruckende Größe! Ich kann es einfach nicht fassen, daß er dir gleich beim erstenmal den Wein gereicht hat. Und die Salbung! Es war, wie wenn er dich angeschaut und auf den ersten Blick richtig erkannt und eingeschätzt hätte, wie wenn er dann zu sich sagte: Ja, der Mann da und ich, wir sind vom selben Geist. Himmel, wie ich dich beneide! So einfach gleich von Calandola in die Arme geschlossen zu werden…« Er wandte sich zu Gilgamesch um, und dieser erblickte in dem Gesicht von Herodes einen Ausdruck krankhaften Hingerissenseins.

Auf seltsame Weise war auch er selbst von Calandola stark beeindruckt. Aber doch nicht so! Nicht auf diese Art!

Aus einem Schattenwinkel schnaubte der Haarmensch verächtlich: »Und das nach einer halben Million Jahren der Evolution! Ihr legt euch zu Wilden ins Bett, und es dauert nicht lang, dann seid ihr selber Wilde.«

»Und was bist denn du?« fauchte Herodes, der in einem plötzlichen Anfall von Wut herumfuhr. »Du Tier! Du Affe! Du wandelnder Bettvorleger! Du halbmenschliches Ding! Du wickelst dir eine Toga um und glaubst, damit bist du ein Römer. Aber ich weiß, was du in Wahrheit bist!«

»Kommt!« sagte Gilgamesch.

»Lange bevor es Adam gab«, fauchte Herodes weiter auf den Behaarten los, »seid ihr nackend durch die Wälder gerannt, habt in Löchern in der Erde gehaust und habt weder Götter gekannt noch eine Zivilisation, noch hattet ihr eine Sprache, und ihr habt Würmer gefressen und Wurzeln und Blätter. Rede du mir von Wilden! Wir wissen, was ihr wart! Wilde ist ein zu höfliches Wort. Laß mich dir sagen, du Ding, du Irgendwas: Ihr Leute seid nur auf Grund einer technischen Formalität hier. Die Nachwelt ist den Menschen vorbehalten. Und wenn wir uns ein paar von euch grunzenden Affenmenschen hier noch leisten, schön, das heißt nichts weiter, als daß da jemand die Vorschriften ein bißchen großzügig auslegt. Vielleicht gaben sich gewisse blauäugige Idealisten unter den Später Toten blödsinnigerweise eingeredet, ihr wäret unsere Urvorfahren, aber wir beide wissen, daß das nicht möglich sein kann. Und wenn ihr dann noch anfangt, euch aufzuspielen und so zu tun, als wäret ihr wirklich menschliche Wesen…«

»Das reicht, Herodes!« sagte Gilgamesch etwas strenger. »Hoch. Und raus! Bring mich in die Oberstadt zurück.« Und zu dem Haarigen Mann sagte er entschuldigend: »Er ist einfach bloß etwas überdreht. Ich vermute, die Luft hier unten…«

»Er möchte seine Seele verkaufen«, sagte der Behaarte. »Aber sein Problem ist, daß er nicht weiß, wo er die finden könnte. Aber ich bin nicht gekränkt. Ich bin es ebenso gewohnt, daß man mich einen Affen heißt, wie du, den Leuten zu erklären, wo das Land deiner Herkunft einmal war. Wenn er es unbedingt nötig hat, sich selbst für die absolute Krone der Schöpfung zu halten, was bedeutet das schon für mich? Er weiß nichts über das Leben, das wir führten, als seine und eure Götter noch nicht einmal auf den Gedanken gekommen waren, euch zu erschaffen.« Der Behaarte kratzte sich lachend an der pelzigen Brust. »Frag ihn, später, was das für ein Öl war, mit dem dich der schwarze Zauberer gesalbt hat. Nicht jetzt. Aber frag ihn danach.«

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