15

Es war die Stunde des ersten Frühlichts. Sie hatten die ganze Nacht lang durchgezecht. Simon Magus hing schnarchend in seinem Sessel. Der alte Zauberer war das ganze Festbankett hindurch unruhig und gelangweilt gewesen und hatte sich irgendwie vernachlässigt gefühlt und fehl am Platze. Herodes hockte über seiner Flasche goldenen Weins, es war noch dieselbe Flasche, an der er bereits den halben Abend lang genippt hatte; er wirkte zerfranst und abgeschlafft, am Ende seines Durchhaltevermögens, doch fest entschlossen, durchzuhalten. Er war in ein ernsthaftes Gespräch vertieft mit einem mageren dunklen Mann mit gewaltigem Bart in einem weißen weiten Gewand. Und Dumuzi, der verquollene Augen hatte und ganz bleich war, schien sich ebenfalls sichtlich gegen das Einschlafen zu wehren, obwohl ihm immer wieder der Kopf vornüber sank, Ninsun, gegenüber, sah müde aus, hielt sich aber tapfer, und der kleine alte Mann Ruiz an ihrer Seite zeigte keinerlei Anzeichen von Müdigkeit; seine Augen waren noch immer funkelnd-scharf, und er bekritzelte die Tischdecke, benutzte Teller, jede glatte Oberfläche für Dutzende von Zeichnungen.

Vy-otin, der sich in seiner scharfgebügelten makellosen Spättoten-Kleidung zweifellos entsetzlich unwohl fühlte, trat zu Gilgamesch und sagte leise: »Komm, verschwinden wir hier und gehen wir ein paar Schritte. Die Luft draußen ist frischer, und ich muß dir einiges sagen. Dir vielleicht ein paar Ratschläge geben.«

»Klar, sicher«, sagte Gilgamesch.

Er stand auf, verneigte sich vor Dumuzi — es kam ihn ziemlich hart an, seinen Stolz zu überwinden und sich vor dem Kerl zu neigen und um die Erlaubnis zu bitten, sich vom Tisch zu entfernen. Der König wedelte schwächlich mit der Hand. Dann gingen er und der Häuptling der Eisjäger durch die hohe Festhalle zu dem fernen Ausgang.

Im frühen Morgenlicht hatte alles einen rötlichen Schimmer. Die Sonne hing tief am Firmament, ein fetter aufgeblähter Kloß, als würde sie bis zum Mittag brauchen, um bis zu den Gipfelspitzen der Berge der Nachwelt zu klimmen.

Gilgamesch sagte: »Wie friedlich ist es doch um diese Stunde. Sogar hier in der Nachwelt findet man ab und zu Frieden.«

Das windgegerbte Gesicht Vy-otins erstarrte, das eine Auge funkelte scharf. »Frieden? Anderwärts vielleicht, aber nicht hier. Der einzige Frieden, den du hier in Uruk finden wirst, ist der Frieden des Todes. Hau ab aus dieser Stadt, alter Freund, so rasch es geht!«

»Aber ich bin doch gerade erst angekommen, Vy-otin. Es würde einfach von schlechten Manieren zeugen, wenn ich so rasch wieder abreiste.«

»Schön, dann bleib hier. Aber nur, wenn dir dein derzeitiges Leben eine Last ist.«

»Du denkst, ich bin hier in Gefahr?«

»Sag du mir das eine, und was du mir sagen wirst, es soll verschwiegen sein zwischen uns nach unserem uralten Bruderschwur: Bist du nach Uruk gekommen, um den Thron zurückzugewinnen, Gilgamesch?«

Bestürzt blieb dieser stehen. »Ja, glaubst du denn, daß ich deswegen hier bin?«

»Dumuzi glaubt es.«

»Ach? Wirklich? Er steckte schon immer voller Angst.«

»Und er wird dich ermorden lassen, wenn du hierbleibst«, sagte Vy-otin.

»Er wird es versuchen, ja. Damit rechne ich. Aber er wird feststellen, daß es nicht so leicht ist, mich zu beseitigen.«

»Er ist König in der Stadt, Gilgamesch.«

»Und ich, ich bin Gilgamesch. Ich werde hier verweilen, solange es mir beliebt. Niemand von sumerischem Blut wird es wagen, die Hand wider mich zu erheben.«

»Aber nicht alle in Uruk sind Sumerer«, sagte Vy-otin. »Höchstens einer unter zehnen ist es, vielleicht. Es gibt viele hier, die sich gern mit dem Ruhm schmücken möchten, den berühmten Gilgamesch erschlagen zu haben. Dumuzi wird keinen Mangel an Mordbuben haben.«

»Sollen sie kommen, ich kann mich verteidigen.«

»Zweifellos. Aber dann ist es doch wahr, daß du gekommen bist, um ihm den Thron zu nehmen?«

»Nein!« sagte Gilgamesch grimmig. »Weshalb unterstellt ihr mir alle so etwas? Ich will weder seinen Thron noch irgendeinen anderen. Glaube mir, Vy-otin, mir ist die Lust auf Macht schon vor langer Zeit abhanden gekommen. Und das ist die reine Wahrheit. Glaub mir. So glaub mir doch!«

Vy-otin lachte. »In einem Atemzug verlangst du gleich dreimal, daß ich dir glauben soll. Ich fand immer, daß nur jemand, der an seinen eigenen Worten zweifelt, so heftig fordert, daß man ihm glaube.«

Das traf Gilgamesch hart, und er warf dem Eisjäger einen wütenden Blick zu. »Du glaubst also, ich belüge dich?«

»Ich denke, du belügst dich vielleicht selbst.«

»Ach was!« Gilgameschs Hände zuckten. Er fühlte, wie die Wut in ihm hochwallte — und sich wieder legte. Er sagte lange nichts und zwang sich völlig reglos dazustehen. Dann sprach er: »Jeden anderen, Vy-otin, hätte ich wegen solcher Worte niedergeschlagen. Dich nicht. Nein, dich nicht.« Er wurde wieder ruhig und sagte dann mit ganz leiser Stimme: »Ich will dir die Wahrheit bekennen: Ich kenne meine eigene Seele nicht mehr! Ich sage mir, daß ich Macht scheue, Ehrsucht verabscheue und nur Verachtung für jene übrig habe, die in diesem Land der Nachwelt nach Vorzügen streben. Und dennoch, dennoch, Vy-otin, es gibt Momente, wo ich das alte Feuer in mir aufflammen fühle und erkenne, daß ich nicht so sehr anders bin als andere Männer, wie ich mir das gern vorstelle, daß auch mich dieser gleiche eitle Zwang antreibt, auf den Gipfel zu gelangen.« Er schüttelte den Kopf. »Die Wahrheit ist, ich bin mir nicht länger sicher, was ich will. Möglich, daß Dumuzi wirklich einigen Grund hat, mich zu fürchten. Aber ich sage es zu dir, Vy-otin, ich hatte einen anderen Grund, nach Uruk zu kommen. Jedenfalls nicht, um mich hier auf den Thron zu setzen.«

»Und was ist das für ein Grund?«

»Von einem Magier in der Stadt Brasil erfuhr ich, daß Enkidu vielleicht hier weilt. Mein liebster Freund, der Bruder meines Herzens, von dem ich viel zu oft und viel zu lange getrennt gewesen bin.«

»Ja, ich erinnere mich an Enkidu. Ein gewaltiger, von Haaren bedeckter Mann, ungestüm wie ein wilder Stier.«

»Ich bin hergekommen, um ihn hier zu suchen. Weiter nichts. Und das ist die Wahrheit. Ich schwöre dir, es ist die Wahrheit. Soweit ich sie kenne.«

»Und weißt du mit Bestimmtheit, daß er sich hier in Uruk aufhält?«

»Nein. Nur durch eine Vision, die ein schwarzer Magier mit seinen Künsten in mir hervorgebracht hat. Doch ich glaube nun eben, es ist eine wahre Vision.«

»Dann wünsche ich dir, daß du Erfolg hast in deiner Suche und auch sonst alles erdenkliche Glück.« Vy-otin ergriff Gilgamesch an beiden Händen und drückte sie fest. »Bei den Hörnern des Gottes, ich will dir auf jede mir mögliche Weise helfen! Doch sei auf der Hut in dieser Stadt, Gilgamesch! Dumuzi ist gerissen und hinterhältig, und er haßt dich mehr, als du dir vorstellen kannst. Er würde dich mit Wonne tausendfach in die Nachwelt schicken, wenn du nicht bereits hier wärst.«

»Ich werde mich vor ihm hüten«, versprach Gilgamesch. »Ich kenne seine Methoden aus der anderen Welt.«

Dann schritten sie lange auf und ab, ohne daß einer von ihnen etwas sprach. Das trübe Licht der Sonne verstärkte sich und kroch den Himmel hinauf, und der frühe Morgen erwärmte sich. In den Häusern und Geschäften der Stadt Uruk erwachte das Leben.

Nach einiger Zeit sagte Gilgamesch: »Lieber Freund, du hast mir nicht gesagt, weshalb du diese absurde Verkleidung trägst.«

»Ach, ich habe mich daran gewöhnt und mag sie sogar«, antwortete Vy-otin leichthin.

»Möglich. Aber es ist schon ein komisches Kostüm für einen, der von den Anfängen der Zeit kommt.«

»Wirke ich auf dich dermaßen alt, Gilgamesch? Denk doch an die Haarmenschen, die fast wie Affen aussehen. Sie sind wirklich aus uralter Zeit. Wer weiß, wann die gelebt haben? Es muß schon sehr lange her sein, denn sie sind so gar nicht wie wir, auch wenn sie uns sagen, sie sind unsere Vettern. Meine Zeit lag nur zehntausend Jahre vor der deinigen. Na, vielleicht auch fünfzehntausend, wer kann das schon so genau sagen. Aber ich bin ein Mensch — wie du.«

»Aber zehntausend Jahre sind kein Klacks, kein Räuspern, Vy-otin. Deine Zeit war lang vor der meinen. Über die Haarmenschen kann ich dir nichts sagen. Aber du stammst aus einer Welt, die ich nie gekannt habe, und sie war lange vor meiner Welt. Das war doch schon vor der Großen Flut!«

»Wenn du es so sagen willst.« Vy-otin zuckte die Achseln. »Kann sein. Ich habe keine Ahnung von deiner Flut. In meiner Zeit lag die Welt tief im Eis. Die Sonne war hell, die Luft war kalt, der Wind schnitt wie ein Messer. Die großen zottigen Tiere zogen über das Land. Es war die allergrößte aller Zeiten, Gilgamesch. Wir waren nicht sehr viele, weißt du, doch wir waren großartig! Du hättest uns sehen müssen, wenn wir auf die Jagd zogen und wie Geister durch die dunklen blattlosen Bäume streiften! Bei den Hörnern, ich wünschte, du wärst damals mit uns gewesen!« Und mit veränderter, dunklerer Stimme setzte er hinzu: »Ich wollte, ich wäre noch dort.«

»Du hast mir das alles so geschildert, als wäre es noch immer wahr, diese Zeit des Eises und der gewaltigen Tiere, damals in deinem Palast im Norden«, sagte Gilgamesch. »Und da lagerten die gewaltigen Hauerzähne auf dem Boden, und an den Wänden hingen die zottigen Häute, und dein Volk scharte sich um dich. Ich erinnere mich noch sehr gut, obwohl es schon sehr lange her ist, daß ich dort mit dir zusammen war. Warum bist du fortgegangen?«

»Du warst einmal König in dieser Stadt hier. Warum bist du fortgegangen?«

»Wie könnte ich das sagen? Wir treiben in der Nachwelt umher, ohne das Geringste zu verstehen. Ich war in diesem Uruk, und dann war ich nicht in Uruk, und ich erinnerte mich an nichts von Uruk. Vielleicht wurde ich niedergeschlagen und wachte anderwärts auf. Vielleicht in Nova Roma oder einer anderen weit entfernten Stadt. Ich kann mich nicht daran erinnern. Es hätte alles geschehen sein können. Ich kann nur sagen, ich war hier und auf einmal war ich nicht mehr hier. Die Erinnerung daran, wie und weshalb ich fortzog, ist aus meinem Gedächtnis gestohlen worden.«

»Bei mir ist das anders«, sagte Vy-otin. »Ich wurde getötet. Ein blödsinniger Streit, ein paar betrunkene Ägypter — ich beging den Fehler, dazwischengehen zu wollen. Es war das übliche. Ich trat in die Finsternis, die zwischen den Leben kommt, und ich war tausend oder vielleicht zweitausend Jahre lang weg, und als ich zurückkam, war ich an einem ganz anderen Ort, weit weg von allem, was ich gekannt habe. Kennst du die Stadt Dis, Gilgamesch?«

»Dis? Nein.«

»Am anderen Ufer des Weißen Meeres.«

»Ich habe nicht gewußt, daß es da drüben überhaupt etwas gibt am anderen Ufer.«

»Die Nachwelt ist unbestimmt, meine Freund, und ohne Grenzen. Ich lebte eine lange Zeit in Dis, dann überquerte ich das Meer, und nun bin ich in Uruk. Mein Volk hat sich zerstreut, und keiner erinnert sich noch an das Schloß im Norden. Alles verändert sich, Gilgamesch, und nicht zum Besseren.«

»Und du hast dich in der Stadt Dis dazu entschlossen, dich wie ein Später Toter zu kleiden? Warum?«

»Damit sie nicht merkten, daß ich prähistorisch bin; denn so haben sie mich bezeichnet — vorgeschichtlich, als wäre ich irgendein Tier.«

»Sie? Wer?«

»Die Gelehrten«, sagte Vy-otin. »Die Philosophen. Die Archäologen. Die dumpfdummen langweiligen neugierigen Spätlinge. Ich will dir berichten, was geschehen ist. In Dis geriet ich an einen dieser Später Toten, kurzbeinig und häßlich, aber stark, sehr stark. Ein Musiker, Wagner war sein Name. Und da war sein Freund, der Nietzsche hieß, sofern du das als Namen gelten lassen willst, und da war noch einer, ein Jude wie dein Freund Herodes, aber älter, mit einem weißen Bart und scharfen durchdringenden Augen. Der hieß Freud. Und wir vier saßen zusammen und tranken die ganze Nacht lang, genau wie wir das heute taten, und als die Morgendämmerung heraufzog, fragten sie mich nach meinem Namen, und so sagte ich ihnen, ich heiße Vy-otin und sei von dem alten Volk der Eisjäger, habe in der kalten Zeit in einer Höhle gelebt, und mein Auge habe ich bei einem Kampf mit einem Schneetiger verloren. Und ich erzählte ihnen noch das eine und andere mehr aus meinem ersten Leben. Und da brüllte auf einmal dieser Mann Wagner: Wotan! Du bist Wotan! Und der Nietzsche hieß, der sagte: Ja, er ist es in Person. Und der alte Mann Freud begann zu lachen und sagte, daß das durchaus möglich sei, da es außer Zweifel stehe, daß der Mythos aus einer Realität erwächst, und ich deshalb durchaus der fleischgewordene Mythos sein könnte.«

»Es fällt mir schwer, dir zu folgen«, sagte Gilgamesch.

»Also, dieser Wotan, der auch Odin genannt wird, war ein Gott, lange nach meiner und deiner Zeit, ein einäugiger Gott in den kalten Nordlanden. Und die drei waren überzeugt, daß ich das Modell bin, nach dem dieser uralte Odin oder Wotan geschaffen wurde. Verstehst du? Daß ich in den Jahren nach meinem Tod immer mehr zur Legende wurde, zum klugen einäugigen König im Schneeland, und dann begannen mich die Leute im Norden im Verlauf von Tausenden von Jahren als Göttervater zu verehren.«

»Und wenn das so ist? Die Zeit hat viele Könige und Krieger zu Göttern gemacht. Was bedeutet dir das schon? Wieso sollte es dich bekümmern?«

»Aber diese drei närrischen Männer hüpften vor Freude bei dem Gedanken, daß sie mit dem Original eines großen Mythos an einem Tisch saßen. Für sie war das eine tolle Sache, aber wo blieb ich, mein wirkliches Selbst, das jetzt da saß und lebte? Mich fegte das einfach weg, Gilgamesch, es raubte mir alles, was meine Wirklichkeit war. Ich sagte ihnen, ich bin kein Mythos, sondern der, der ich bin, aber das wischten sie einfach beiseite. Wer ich bin, bedeutete ihnen überhaupt nichts. Sie fanden mich kurios, ich war ein Primitiver für sie, ein Wilder. Ein Tier. Ich glaube, sie waren erstaunt, daß ich überhaupt sprechen konnte. Was sie erregte, war ich in ihrer Vorstellung, der Archetyp, sonst nichts. So nannten sie mich: der Archetyp. Ich fragte, was das ist, ein Archetyp, und sie erklärten es mir stundenlang, wo ein Satz genügt hätte. Es bedeutet das Original. Ich bin er erste, originale, echte Wotan, sofern man den drei Leuten da glauben kann. Alle großen Mythen, sagten sie, kommen aus der vorgeschichtlichen Menschheitsdämmerung herüber, sagten sie, und da sitze nun ein Mann direkt aus diesem Dunkel leibhaftig mit ihnen an einem Tisch in einer Kneipe. Und davon bekamen sie ein hitziges Hirnfieber und wurden ganz verrückt. Wotan! krächzte Wagner und wollte wissen, ob ich Töchter gehabt habe. Und Freud, der fragte, ob ich Söhne hätte. Und dieser Nietzsche, der wollte wissen, ob ich an Gott glaube… Ach, Gilgamesch, diese drei Typen! Einer hatte Opern über diesen Wotan geschrieben. Weißt du, was eine Oper ist? Gesinge und Lärm und Kostüme. Und der andere hatte philosophische Bücher geschrieben. Und der dritte behauptete, daß er mehr über die Lebenszustände in meiner Zeit wüßte als ich selbst. Alle drei sahen in mir nur eine Widerspiegelung von sich selbst. Und sie stellten mir zehnmal tausend Fragen, und sie holten andere herbei, die mich betrachten mußten, andere Wissenschaftler und Denker, und sie veranstalteten ein solches Getue und Ärgernis mit mir, daß ich ihnen gern mein einziges Auge drangegeben hätte, um meine Ruhe vor all diesen Klugscheißern zu haben. Bei der Mutter! Sie haben mich fast zum Wahnsinn getrieben! Am Ende floh ich vor ihnen. Ich bin kein Gott, Gilgamesch, und ich bin auch kein Archetyp. Ich bin nichts weiter als ein schlichter Mann aus dem Pleistozän und…«

»Dem was?«

»So nennen die Gelehrten die Zeit, in der ich lebte. Als noch alles vom Eis bedeckt war und die großen Zotteltiere noch lebten.« Vy-otin lachte. »Pleistozän. Du merkst es? Ihre törichten Bezeichnungen haben mich angesteckt. Prähistorisch. Glaubst du, daß wir uns für vor der Geschichte lebend gehalten haben, für Nicht-Geschehene hielten? Für bloße grunzende Tiermenschen? Nun, so war es nicht. Wir hatten Gedichte, wir hatten Musik. Wir hatten Götter. Sie nennen uns den Aurignac-Typ. Mir sagt das gar nichts. Archetyp.« Vy-otin schüttelte den Kopf. »Also bin ich geflohen und habe mich vor ihnen versteckt. Und nun heiße ich Henry Smith, und ich tue so, als wäre ich ein Später Toter, damit mir die Gelehrten nicht weiter auf die Nerven gehen können — diese wichtigtuerischen Eierköpfe und Weisheitsfurzer, die mir erzählen wollen, was ich bin. Sollen sie sich einen anderen als Studienobjekt suchen, der für sie das prähistorische Fossil und Aurignac und Archetyp spielt.«

»Du siehst aber nicht aus wie ein Später Toter, Vy-otin.«

»Nicht?«

Gilgamesch lächelte. »Nicht für mich. Für mich siehst du aus wie ein einäugiger Eisjägerhäuptling, der sich als Spättoter verkleidet hat. Ein Barbar wie ich selbst. Du siehst aus wie aus dem — Pleistozän. Wie ein — wie war das Wort? — ein Aurignac-Mensch. Eindeutig aus dem Aurignac. Ein Archetyp, Vy-otin. Habe ich die Wörter korrekt ausgesprochen?«

Auch Vy-otin lächelte nun, doch ohne Heiterkeit. »Mag das sein, wie es will«, sagte er, ein wenig gereizt. »Ich spiele jedenfalls das Spiel dieser Leute nicht mit. Und wehe dir, mein Freund, solltest du eines Tages einem Haufen von Gelehrten in die Hände geraten. Sie werden dich peinigen und dir keine Ruhe lassen, und wenn sie mit dir fertig sind, weißt du nicht mehr genau, wie dein wirklicher Name lautet.«

»Schon möglich«, sagte Gilgamesch. »Im Outback bin ich einmal einem armen Verrückten von den Später Toten begegnet, der mich mit einem gewissen Conan verwechselte, irgend so einem alten Krieger, der sowas wie ein Mann aus dem Land der Kimmerier war, und der wollte mich anbeten oder noch Schlimmeres mit mir. Was für ein trauriger Tor der Mann war! Wahrscheinlich auch wieder so eine archetypische Sache, denke ich.«

»Sie sind alle solche Narren, diese modernen Männer«, sagte Vy-otin.

»Aber die Dummheit ist nicht erst gestern erfunden worden«, sagte Gilgamesch. »Wir hatten zu meiner Zeit davon auch schon einen ganzen Haufen. Und du wahrscheinlich auch.«

»Wahrhaftig«, gab Vy-otin zu.

Gilgamesch betrachtete seinen alten Freund nachdenklich, und auf einmal überkamen ihn Zweifel an seinen eigenen Göttern, dem Himmelsvater An und Enlil, dem Herrn der Stürme, und Enki, dem Barmherzigen, und all den übrigen. Waren auch sie einst nur Menschen gewesen — Krieger, Priester, Könige — und durch die Zeit hindurch und dank der blöden Leichtgläubigkeit der Menschen in derart ferne, erhabene Wesen umgeformt worden, in diese — Archetypen? Wenn er lange genug durch die Nachwelt zog, würde er dann die echten, die echten Urbilder, die Originale der Götter aus Sumer-dem-Land in einer Kaschemme versammelt finden, in der Stadt Dis, wo sie heftig zechten und herzlich lachten und sich Geschichten über die guten alten Zeiten vor der Flut erzählten?

Die Vorstellung behagte ihm nicht sonderlich.

Schweigend gingen die zwei dann wieder zum Festsaal zurück.

Gilgamesch sagte: »Das war also der Rat, den du mir zu geben hattest? Daß ich mich von sogenannten Philosophen fernhalten soll?«

»Ja. Und daß du auf der Hut sein sollst vor Dumuzi.«

»Natürlich. Das auch. Aber die Philosophen sollte ich doch wohl mehr fürchten, wenn deine Erfahrungen einigermaßen verbindliche Anhaltspunkte bieten. Mit Schwertern und Dolchen werde ich leicht fertig. Aber zudringliche Wörterschwätzer? Pfui! Sie machen mich ebenso rasend wie dich!« Und gerade da erblickte er Herodes, der aus dem Festsaal kam und ziemlich angeschlagen von den Ausschweifungen der Nacht wirkte. Der kleine jüdische Fürst stützte sich schwankend gegen die dunkle Relieffläche des Gebäudes, atmete mehrmals nacheinander heftig, rieb sich die Augen und fuhr sich mit dem Handrücken über die Lippen. Seine weiße sumerische Robe war voll Weinflecken, das Schädelkäppchen saß schief. »Siehst du den Mann da?« fragte Gilgamesch. »Er ist mit mir von Brasil hergereist. Er besteht aus nichts weiter als aus Worten, Worten, Worten. Leih ihm dein Ohr, und er sabbert es dir stundenlang voll. Er ist so kühn wie ein Floh. Und dennoch behauptet er, daß auch er einst ein König war.«

»Gilgamesch?« rief Herodes und beschattete die Augen gegen den Sonnenglast. »Da bist du ja, Gilgamesch!« Unsicher, als fürchtete er, seine Fußknöchel könnten unter ihm wegknicken, kam er heran und sagte: »Ich hab’ dich gesucht. Kann ich mit dir reden?«

»Rede.«

Herodes warf Vy-otin einen scheuen Blick zu und schwieg.

»Also? Was gibt es?« sagte Gilgamesch.

Immer noch zögernd sprach Herodes: »Es ist mir gelungen, heute nacht ein paar Informationen aufzuschnappen. Und ein paar davon dürften dich interessieren.«

»So rede schon!«

»Der Freund deiner Mutter? Der Mann, der dich auf einem Bild malen will?«

Mit wachsender Ungeduld sagte Gilgamesch: »Nun, was ist mit dem?«

»Er benutzt hier den Namen Ruiz. Aber weißt du, wer er in Wirklichkeit ist, Gilgamesch? Er ist Picasso!«

»Wer?«

»Picasso! Pablo Picasso!« Mit seinem vom Wein geröteten stoppelbärtigen Gesicht sah er so aufgeregt aus, als bekäme er gleich einen Schlaganfall. »Er versucht sich hier zu verstecken, vor einer Ex-Gemahlin oder einer Ex-Geliebten, deshalb hat er sich einen anderen Namen zugelegt. Aber einer von Dumuzis Höflingen hat mir gesagt, wer er in Wahrheit ist. Es ist einfach sagenhaft! Und natürlich wirst du dich von ihm malen lassen, ja? Er wird dich zu einem Meisterwerk machen, wie es die Nachwelt noch nie…« Herodes brach ab. »Du bist nicht beeindruckt. Nein, ganz und gar nicht. Du weißt nicht einmal, wer Picasso ist, ja? Er ist bloß der größte Künstler der Nachwelt, der je gelebt hat! Ich habe das studiert, weißt du nicht? Die Kunst der Später Toten, die Musik, die Architektur…«

»Nun, ist es nicht, wie ich dir sagte?« fragte Gilgamesch Vy-otin. »Ein endloses Gesäusele, ein Gewäsch von Wörtern.«

»Ist ja schon gut, dir liegt nichts daran«, sagte Herodes kläglich. »Aber laß dich doch trotzdem von ihm malen. Ich dachte, es freut dich, wenn du erfährst, wer er ist. Aber das war nicht die wichtigste Sache, über die ich mit dir sprechen wollte.«

»Bestimmt nicht. Das Wichtige hebst du dir immer bis zuletzt auf. Wie taktvoll. Schön, dann sprich jetzt.«

Aber Herodes schwieg wieder und sah unsicher zu Vy-otin hinüber.

»Der Mann ist mein lieber Freund und Bruder Henry Smith«, sagte Gilgamesch. »Ich habe vor ihm keine Geheimnisse. Also sprich jetzt, Herodes, oder — bei Enlil! — ich schmeiße dich…«

»Enkidu ist in Uruk, genau wie es dir vorhergesagt wurde«, sprudelte Herodes eilig hervor.

»Was?«

»Der große grobschlächtige Mann, nach dem du suchst. Dein Freund, den du deinen Bruder nennst. Ist das nicht Enkidu?«

»Aber ja, ja!«

»Dieser Höfling erzählte mir — er ist ein Assyrer und heißt Tukulti-Sharrukin und war sehr betrunken. Enkidu ist vor etwa einer Woche hier aufgetaucht. Jedenfalls ging er direkt zum Palast, weil er ein Gerücht gehört hatte, daß du dort sein würdest, oder er hatte einen Traum oder — nun, irgend etwas. Er glaubte jedenfalls, du könntest im Palast sein. Aber da warst du natürlich nicht. Er fragte immer weiter: Wo ist Gilgamesch? Wo ist Gilgamesch? Er soll hier in der Stadt sein. Dumuzi wurde sehr besorgt. Das gefiel ihm gar nicht, daß du irgendwo in der Nähe sein könntest.«

Gilgamesch fühlte ein Tosen in seiner Brust. »Zur Hölle mit Dumuzi. Wo ist Enkidu jetzt?«

»Der Assyrer wußte es nicht genau. Immer noch irgendwo hier in Uruk, glaubt er jedenfalls. Er versprach mir, es herauszufinden und mich wissen zu lassen. Morgen.«

»Er ist Gefangener?« fragte Gilgamesch.

»Beim Stoßzahn!« röhrte Vy-otin. »Wir finden ihn! Wir befreien ihn! Bei der Mutter! Bei den Hörnern des Gottes! Ein Gefangener? Enkidu? Wir reißen die Mauern nieder, hinter denen er festgehalten wird!«

»Sachte!« Gilgamesch legte Vy-otin die Hand auf die Schulter. »Bleib ruhig. Es gibt verschiedene Methoden, die Sache anzugehen, Vy-otin, mein Freund.«

»Du sagtest doch, sein Name ist Henry Smith«, bemerkte Herodes leise.

»Das braucht dich jetzt nicht zu kümmern«, sagte Gilgamesch scharf. Und zu dem Eisjäger: »Hast wäre falsch. Zunächst müssen wir herausfinden, ob Enkidu wahrhaftig hier ist und wo er ist und wer ihn bewacht. Dann wenden wir uns an Dumuzi, behutsam, ganz vorsichtig. Er ist ein Schwächling. Und du weißt ja, wie man mit schwachen Männern umgehen muß, Vy-otin: Fest und direkt, aber darauf bedacht, sie nicht in Panik zu versetzen, denn dann wären sie zu allem fähig. Falls er Enkidu aus Furcht vor mir umbringen läßt, dauert es möglicherweise wieder tausend Jahre, ehe ich ihn wiederfinden kann. Deshalb müssen wir behutsam vorgehen. Was meinst du dazu, Vy-otin, heh?«

»Ich glaube, du hast recht«, gab der Eisjäger zu.

Gilgamesch wandte sich wieder Herodes zu. Ein kläglicher kleiner Mensch, dachte er. Aber klug und brauchbar.

Er lächelte ihn warm an. »Eine gute Nachtarbeit! Gut gemacht, König Herodes! Gut gemacht!«

»Und dies wird deine Maske sein«, sagte Picasso. »Hier. Nimm und setze sie mal auf.«

Er fuhr durch den weiten häßlichen Kellerraum wie eine schnaufende kleine Maschine, räumte Haufen von Zeug um, stieß Gegenstände aus dem Weg. Gilgamesch betrachtete sich die Maske, die er ihm in die Hände gedrückt hatte. Er war verwundert. Sie war so häßlich wie alles übrige in dem Raum. Ein breiter Stierkopf aus Papiermaché mit gewaltigen schwarzen Nüstern und großen klobigen Zähnen. An der linken Seite war ein starres rotes Auge und obenauf ein zweites. Kurze scharfgekrümmte Hörner aus Wachs ragten in groteskem Winkel hervor. Fetzen von krausem schwarzen Fell waren überall aufgeklebt. Das Ding verbreitete einen säuerlichen scharfen Geruch. Anscheinend sollte Gilgamesch es mittels der herabbaumelnden Schnur am Hals befestigen.

»Du willst, daß ich das da trage?« fragte er.

»Natürlich! Setz es auf, setz es dir auf! Du wirst mein Minotauros sein!« Picasso fuchtelte ungeduldig mit der Hand. »Ich habe die Maske heute speziell für dich gemacht.«

Seit dem Fest bei Dumuzi war erst ein Tag vergangen. So häßlich diese Stiermaske war, sie war höchst raffiniert gearbeitet, mußte bestimmt das Werk mehrerer Tage sein. »Wie ist das möglich?« fragte Gilgamesch. »Daß du das so schnell hast machen können?«

»Schnell?« Picasso spuckte das Wort fast aus. »Cagarruta! Ich habe mehr als eine Stunde dafür gebraucht!«

»Dann mußt du ein Zauberer sein.«

Picasso lachte und räumte weiter auf, um Platz in dem Atelier zu schaffen.

Gilgamesch legte die Maske weg und wanderte durch den Raum und betrachtete die Bilder, die an jeder Wand gestapelt standen. Es waren erschreckende Bilder. Da war eine Frau mit zwei Gesichtern an einem Kopf, und man konnte nicht sagen, ob sie einen direkt anblickte, oder ob man ihr Gesicht seitlich sah. Und dort stand ein Bild, auf dem lauter kleine Schachteln waren, so daß die Augen herumspringen mußten, bis einem fast die Tränen kamen. Und dort waren drei Ungeheuer mit höhnischen Gesichtern. Eine Frau mit drei Brüsten und Zähnen zwischen den Beinen.

Die Formen! Die Farben! Noch nie hatte jemand solche Szenen gesehen, nicht einmal in der Nachwelt. Ganz gewiß wurde hier irgendeine Art Zauberwerk praktiziert. Gilgamesch dachte: Im alten Uruk hätte ich befohlen, diese Bilder zu verbrennen und den Maler aus der Stadt zu peitschen. Und trotzdem, jetzt fühlte er sich von diesen Arbeiten wie betört. Er spürte in ihnen den starken und spielerischen Geist des kleinen Mannes und seine bestürzende Willenskraft.

»Bist du ein Zauberer?« fragte er.

»Por favor. Die Maske. Bitte setz sie auf.«

»Irgendein Dämon?«

»Ja«, antwortete Picasso. »Ich bin ein Dämon. Die Maske. Bitte?«

»Zeig mir das Bild, das du von meiner Mutter gemalt hast.«

»Es ist nicht fertig. Es verändert sich ständig. Alles verändert sich unablässig. Ich werde dir die Maske selber aufsetzen.« Picasso kam durch das Atelier und griff nach der Maske. Doch er war zu klein. Gilgamesch ragte vor ihm auf wie eine Mauer. »Dios! Was bist du für ein cojonado Prachtbulle! Weshalb mußt du dermaßen groß sein?« Und er schob Gilgamesch die Maske bis ans Kinn. »Also, setz sie schon auf!« befahl er. »Ahora atrabajar. Zeit, daß wir jetzt mit der Arbeit beginnen.«

Er sagte es ruhig, aber mit großem Nachdruck. Gilgamesch stülpte sich die Maske übers Gesicht, und zuerst wäre er an dem Gestank von Klebeleim und anderen Dingen beinahe erstickt. Er band sich die Schnur im Genick zu. Durch zwei Schlitze konnte er etwas sehen, aber nicht besonders gut. Picasso winkte ihn zu einer Stelle unter den grellen starken elektrischen Lampen und zeigte ihm, welche Position er von ihm haben wollte: die Arme erhoben, wie bereit, einen heranstürmenden Angreifer zu packen.

»Bei all diesen anderen Bildern, hast du dafür beim Malen auch Modelle benutzt?« fragte Gilgamesch mit dumpfer und hohler Stimme hinter der Maske. »Es sind Dinge, die du wirklich gesehen hast?«

»Ich sehe sie hier drin.« Picasso klopfte sich gegen die Stirn. Dann zündete er sich eine Zigarette an, trat zurück und starrte Gilgamesch so fest und stetig an, daß dieser die Kraft und Intensität der Augen wie kalte Messerklingen auf der Haut fühlte. »Manchmal arbeite ich mit einem Modell, manchmal nicht. In der letzten Zeit meist mit, wegen der Schwierigkeiten. Ich sage mir, die Modelle helfen, obwohl das nicht der Fall ist, nicht viel jedenfalls. Diese Nachwelt hier, die ist Scheiße, weißt du? Sie ist mierda, sie ist cagada, der ganze Ort hier ist un gran cagadero. Aber wir tun, was wir können, was, König Gilgamesch? Das ist jetzt unser Leben. Und es ist immer noch besser als das große nada, was? Ist’s nicht so, König? Halte die Arme oben! Die Beine auseinander, nur ein bißchen! Stoß mit den Hüften nach vorn, wie wenn du ihn ihr reinstoßen willst, ja, wie du da stehst!« Und er malte bereits drauflos, mit breiten hastigen Pinselstrichen. Gilgamesch empfand einen leichten Schauder der Unsicherheit. Wie wenn das da wirklich eine Art Zauberei war? Wenn Picasso seine Seele einfangen und auf die Leinwand bannen konnte und wenn er beabsichtigte, ihn dort auf ewig eingesperrt zu halten?

Nein, sagte er sich dann. Das ist Unsinn. Der kleine Mann war genau das, was er gesagt hatte: ein Maler.

Wenn man Herodes trauen durfte, sogar ein sehr großer Maler. Vielleicht saß ein Dämon in ihm, aber wenn, dann war es einer von der Art, wie auch Gilgamesch ihn in sich gehabt hatte, der ihn getrieben hatte, überall hin zu gehen, alles zu schauen, alles zu lernen, alles in sich hineinzuschlingen. Ich verstehe diesen Mann, dachte er. Er und ich, wir sind uns sehr ähnlich. Der Unterschied ist, daß ich in der Nachwelt gelassen und unkompliziert geworden bin, während der da immer noch von brennender Ruhelosigkeit und Hunger getrieben ist.

»Du warst immer ein Maler?« fragte er.

»Immer. Von der Wiege an. Sprich jetzt nicht, ja?«

Mit welcher Selbstverständlichkeit er einen König herumkommandiert, dachte Gilgamesch. Dieser kleine Kahlkopf, der nichts weiter anhat als eine zerfetzte zu weite kurze Hose, dem der Schweiß aus den weißen Haaren auf der Brust troff, der in einer Wolke von Zigarettenqualm stand, und er fürchtet niemanden und nichts. Nun war es nicht mehr schwer zu verstehen, daß er Ninsun eingefangen hatte. Dieser Mann, dachte Gilgamesch, konnte wahrscheinlich jedes Weib bekommen, das er haben wollte. Sogar eine Königin. Sogar eine Göttin.

»Weißt du was?« sagte Picasso nach langer Zeit. »Ich glaube, diesmal wird es hinhauen. Das Bild vergeht nicht. Die anderen, die haben sich mir unter der Hand verändert. Aber das da, das steht. Das ist die Magie des Minotauros, glaube ich. Der Stier regiert in der Nachwelt! Ich bin ein Stier. Du bist ein Stier. Wir sind die ganze Zeit in der Arena. Ich konnte nicht Matador werden, also wurde ich Stier. Bei dir ist es das gleiche. Glaube ich. Es spielt keine Rolle: Die Kraft des Stieres ist in uns beiden. Hast du in deiner Stadt mit dem Stier gekämpft?«

»Einmal habe ich mit einem gekämpft«, sagte Gilgamesch. »Enkidu und ich zusammen. Es war der Himmelsstier, in dem die Kraft des Vaters Enlil steckte. Die Priesterin Inanna hatte ihn freigelassen in der Stadt, und er raste ungehemmt und wild umher und tötete ein Kind; aber Enkidu und ich, wir fingen ihn ein, wir tanzten mit ihm, wir spielten mit ihm und erledigten ihn. Enkidu ermüdete ihn, und ich gab ihm den Schwertstoß.«

»Bravo!«

»Doch das erzürnte die Götter. Sie nahmen zur Vergeltung Enkidu das Leben. Er kümmerte dahin und starb. Dies war das erstemal, daß ich ihn verlor, aber dann habe ich ihn hier in der Nachwelt wieder und immer wieder verloren. Ich bin dazu verdammt, ewiglich nach ihm zu suchen. Es ist unser Schicksal, daß wir nie lange beisammen sein dürfen. Dieser Mann ist mein Bruder; er ist mein zweites Selbst. Aber ich werde ihn wiederfinden, und bald. Man sagt, er ist hier in Uruk, als Gefangener. Vielleicht hast du ihn gesehen — er ist genauso groß wie ich, und…«

Aber Picasso hörte nicht zu. Er schien ganz in seine Arbeit und in einen persönlichen fernen Traum versunken zu sein.

»Der Stierkampf am Sonntag«, sagte er, als hätte Gilgamesch überhaupt nicht gesprochen. »Das wird dir gefallen! Wir zwei werden in der Ehrenloge sitzen. Sabartes hat einen Matador ausfindig gemacht, von dem ich noch nie gehört habe, aber vielleicht taugt er ja was, nicht? Es ist sehr wichtig, daß der Matador gut ist. Die bloße Abschlachterei ist eine Schande! Die corrida ist Kunst. Die Arme höher, ja?«

Er hat nicht ein Wort von dem gehört, was ich zu ihm über Enkidu sagte, dachte Gilgamesch. Seine Gedanken schweiften ab, als ich von der Tötung des Himmelsstiers sprach. Er hört nur, was er hören will. Und wenn er zuhören will, hört er zu, und wenn er sprechen will, so spricht er. Doch in seiner Seele ist er allein König. Macht nichts, dachte Gilgamesch. Er ist ein großer Mensch. Seine Größe leuchtet und strahlt von ihm, wie das Licht von einem polierten Schild sich spiegelt. Und Herodes hat wahrscheinlich recht, daß er auch ein großer Maler ist. Auch wenn er nichts als Ungeheuerlichkeiten malt.

»Es geht gut voran«, sagte Picasso dann. »Das Bild bleibt, weißt du? Die Kraft des Stieres! Heute mal kein Kubismus; kein Blau, kein Rosa.« Und nun bewegte sich sein Arm so rasch, daß es aussah, als wäre es nicht einer, sondern drei Arme. Die Augen glühten. Und dennoch, er erweckte nicht den Eindruck der Hast. Das Gesicht war starr, bewegungslos, ausdruckslos. Der Körper schien — bis auf diesen rastlos werkenden Arm — vollkommen entspannt zu sein. Gilgamesch brannte darauf, zu sehen, was sich auf der Leinwand tat.

Die Maske war inzwischen erstickend heiß geworden. Er merkte, wenn er sie noch viel länger tragen mußte, würde er keine Luft mehr bekommen. Doch er wagte es nicht, sich zu bewegen. Er war ganz unter dem Bann dieses kleinen Mannes. Ein Zauber, ja, ganz bestimmt, es war Hexerei, dachte er.

»Weißt du, warum ich male?« fragte Picasso. »Ich sage mir jedesmal: Was kann ich heute über mich lernen, was ich noch nicht weiß? Die Bilder sind meine Lehrmeister. Wenn nicht mehr ich in ihnen spreche, sondern sie selber, die Bilder, die ich male, und wenn sie sich mir entziehen und mich verspotten, dann weiß ich, ich habe mein Ziel erreicht. Begreifst du? Verstehst du das? Nein?« Er zuckte die Achseln. »Ach, macht auch nichts. So. Ja. Wir können jetzt abbrechen. Genug für heute. Es läuft gut. Por dios, es läuft gut!«

Gilgamesch verlor keine Zeit, sich von der Maske zu befreien. Er rang nach frischer Luft, aber die gab es hier unten nicht. Der Raum war drückend schwer von Schweißgeruch erfüllt.

»Ist es fertig?« fragte er. Er hatte keine Ahnung, wie lange er Modell gestanden hatte, zehn Minuten oder einen halben Tag lang.

»Vorläufig«, sagte Picasso, »Komm und schau es dir an.«

Er drehte die Staffelei herum. Gilgamesch sah gebannt auf die Leinwand.

Was hatte er zu sehen erwartet? Das Abbild eines hochgewachsenen muskulösen Mannes mit einem häßlichen Stiergesicht, mit weit aufgerissenem Maul, geschwollener Zunge, wütenden roten Augen, die in verschiedene Richtungen blickten, das Gesicht der Stiermaske. Aber in dem Bild waren zwei nackte Männer, die einander gegenüber hockten, Gesicht an Gesicht, wie Ringer zum Angriff bereit. Der eine war riesenhaft, schwarzbärtig, hatte starke herrscherliche Gesichtszüge. Gilgamesch erkannte sich selbst in dem Porträt sofort: es sah ihm erstaunlich ähnlich. Der andere Mann war viel kleiner, untersetzt, breitschulterig, breitbrüstig. Eindeutig Picasso selbst. Doch sein Gesicht war nicht sichtbar. Es war der kleinere Mann, der die Stiermaske trug.

Als er hinaus auf die Straße der Gerber und Färber trat, lauerten dort drei Mordgesellen auf Gilgamesch. Er war weder überrascht noch erschrocken. Sie warteten so offensichtlich auf ihn, daß klar war, was sie vorhatten, bevor sie ihre Waffen herausholten.

Sie waren ziemlich ungeschickt als urukanische Polizisten verkleidet und trugen schlechtsitzende Khaki-Uniformen mit dunklen Schweißflecken in den Achselhöhlen. Einer davon hatte eine große breite Nase und schwamm in einer dicken Wolke von Knoblauch, und er mochte leicht ein Hittiter sein; die anderen zwei waren Später Tote und hatten diese seltsam gelben Haare, wie manche davon sie haben, und kümmerliche ungepflegte Kinn- und Lippenbärte. Sie trugen Schußwaffen.

Gilgamesch vergeudete keine Zeit. Er hieb einem der Später Toten mit der Handkante gegen den Hals und schleuderte ihn in eine schmale Seitengasse, wo er taumelnd auf das Gesicht fiel und zuckend, röchelnd und spuckend auf dem Boden lag. Beim Zurückschwingen rammte Gilgamesch dem Hittiter scharf den Ellbogen in die breite Nase, und gleichzeitig packte er den dritten Kerl am Handgelenk und drehte ihm die Pistole aus dem Griff und kickte sie auf die andere Straßenseite.

Der dritte Mann schrie auf und rannte mit heftig rudernden Armen rasch davon, und Gilgamesch zog seinen Dolch und wandte sich wieder dem Hittiter, der beide Hände aufs Gesicht gepreßt hatte, zu. Zwischen den Fingern lief das Blut hervor.

Gilgamesch setzte die Dolchspitze an den Bauch des Mannes. »Wer hat euch geschickt?«

»Du hast mir das Nasenbein gebrochen!«

»Höchstwahrscheinlich. Nächstesmal solltest du deine Nase nicht gegen meinen Ellbogen rammen«, sagte Gilgamesch und drückte die Dolchspitze ein wenig fester. »Hast du einen Namen?«

»Tudhaliyash.«

»Das ist kein Name. Das ist ein Rülpser. Du bist Hittiter?«

Tudhaliyash nickte kläglich. Das Blut floß nun schon etwas weniger üppig.

»Für wen arbeitest du, Hittiter?«

»Für die Stadtregierung von Uruk«, schniefte der Mann dumpf. »Amt für Maße und Gewichte.«

»Und ihr seid gekommen, um mich zu wiegen oder um mich zu messen?«

»Ich war mit meinen Freunden auf dem Weg ins Wirtshaus, als du uns angegriffen hast.«

»Genau. Ich greife oft Fremde auf der Straße einfach so an, besonders wenn sie zu dritt daherkommen. Wer hat euch nach mir ausgesandt?«

»Es würde mich das Leben kosten, wenn ich das sagte.«

»Es kostet dich dein Leben, wenn du schweigst«, sagte Gilgamesch und drückte die Dolchspitze ein bißchen härter gegen den Leib des Mannes. »Ein Stoß damit, und ich expediere dich in dein künftiges Leben. Aber du wirst dort nicht schnell ankommen. Es dauert lange, bis man an aufgeschlitzten Därmen krepiert.«

»Ur-ninmarka hat mich geschickt«, murmelte der Mann.

»Wer?«

»Der königliche Erzvesir.«

»Ah ja, ich erinnere mich. Dumuzis rechte Hand. Und wen solltet ihr töten?«

»G-G-G-Gil…«

»Sprich es aus!«

»Gilgamesch.«

»Und wer ist das?«

»Der frühere K-könig.«

»Und bin ich Gilgamesch?«

»Ja.«

»Ich bin der Mann, den ihr töten solltet?«

»Ja. Ja. Erledige es rasch, Gilgamesch! Ins Herz, nicht in den Bauch!«

»Es ist die Mühe nicht wert, hinterher die Klinge von dir säubern zu müssen«, sagte Gilgamesch kalt. »Ich will gnädig sein. Du sollst leben und noch eine Weile weiterrülpsen dürfen.«

»Tausendfachen Segen über dich! Millionenfachen Segen!«

Gilgamesch verzog das Gesicht. »Es reicht! Verzieh dich aus meiner Nähe. Zeig mir, wie gut du rennen kannst. Und nimm deinen kotzenden Freund da drüben mit. Ich will diese ganze Begegnung vergessen. Ich erinnere mich nicht, etwas von dir erfahren zu haben, und weiß nichts darüber, daß euch jemand auf mich angesetzt hat. Hast du kapiert? Ja, ich denke, du hast kapiert. Also los jetzt. Verpiß dich!«

Die beiden waren wirklich ganz passable Läufer. Gilgamesch lehnte sich gegen die Mauer von Picassos Haus und blickte ihnen nach, bis sie verschwunden waren. Wie lästig, dachte er, einfach so auf der Straße überfallen zu werden. Dumuzi hätte sich etwas Phantasievolleres einfallen lassen können. Hätte ein paar Dämonen dazu überreden können, daß sich die Straße unter mir auftut und mich verschlingt, oder mir einen Kessel brennendes Öl von einem Dach aus auf den Kopf gießen, oder etwas in der Art.

Er sah sich sorgfältig um, ob noch jemand auf ihn lauerte. Das Haus auf der anderen Seite war von einem schwachen Ektoplasmaschimmer umgeben, als dringe eine diabolische Wesenheit durch die Mauern, doch war dies nicht ungewöhnlich. Sonst schien alles ruhig zu sein. Rasch ging er ans Ende der Straße und bog dort links in eine andere, die Straße der Kamele hieß, und ging da weiter über den Gang der Seufzer und den Platz des Geflüsters zu der großen Plaza, an der seine Herberge lag.

Dort wartete Herodes bereits auf ihn und sprudelte über von Neuigkeiten.

»Dein Freund sitzt tatsächlich als Gefangener in Uruk«, sagte er. »Wir haben herausbekommen, wo sie ihn festhalten.«

Gilgamesch riß weit die Augen auf. »Wo ist er? Was haben sie mit ihm gemacht? Woher weißt du es?«

»Tukulti-Sharrukin ist unsere Informationsquelle, der assyrische Höfling, der so gern zuviel trinkt. Deinem Freund geht es gut. Der Assyrer sagte, es ist ihm in keiner Weise ein Leid geschehen. Er befindet sich an einem Ort, der das Haus des Staubes und der Finsternis heißt, am Nordende der Stadt. Haus des Staubes und der Finsternis, was für ein lustiger Name, wie?«

»Du Idiot!« Gilgamesch vermochte kaum seinen Zorn zu beherrschen.

Herodes wich erschrocken zurück. »Was ist denn?«

»Dein assyrischer Freund hat sich einen Scherz mit dir gemacht, du Narr! Jeder, der von den Zwei Strömen kommt, würde wissen, was das ist, das Haus des Staubes und der Finsternis. Es ist einfach die Bezeichnung, die wir im alten Sumer für den Ort hatten, an den du Toten gehen. Begreifst du denn nicht? Wir sind alle hier im Haus des Staubes und der Finsternis!«

»Nein«, sagte Herodes und wich noch weiter zurück, da Gilgamesch bedrohliche Handbewegungen machte. »Ich habe keine Ahnung von Sumer, aber dieses Gebäude heißt hier und jetzt tatsächlich so. Ich habe es gesehen. Der Name steht über dem Eingang. Es ist einfach bloß ein Gefängnis, Gilgamesch. Dumuzis spezielles Ersterklasse-Gefängnis für seine politischen Häftlinge, sehr hübsch, sehr komfortabel. Sieht aus wie ein Hotel.«

»Du sagst, du warst dort?«

»Tukulti-Sharrukin brachte mich hin.«

»Und Enkidu? Du hast mit ihm gesprochen?«

»Nein. Ich bin nicht hineingegangen. So sehr gleicht es einem Hotel auch wieder nicht. Doch Tukulti-Sharrukin sagt…«

»Wer ist dieser Assyrer? Weshalb verläßt du dich so auf das, was er dir sagt?«

»Vertraue mir. Er haßt Dumuzi — irgendwas Geschäftliches, das schiefging, eine echte Gaunerei, er und der König hatten eine Partnerschaft bei einem Bebauungsprojekt, und der König hat ihn beganefft und die Gewinne allein eingesackt. Und deshalb will er jetzt alles tun, um es Dumuzi heimzuzahlen. Er hat mir alles darüber erzählt, in der Nacht bei dem Fest. Er und ich, wir sind da so dicke Freunde geworden, Gilgamesch, so dick. Er ist einer von meinem Volk, mußt du wissen.«

»Er ist was?«

»Jude. Wie ich.«

Gilgamesch runzelte die Stirn. »Ich dachte, er ist Assyrer.«

»Ein assyrischer Jude. Sein Großvater war der assyrische Gesandte in Israel, zur Zeit König Davids, und der verliebte sich in eine von Davids Nichten und mußte zum Judentum konvertieren, um sie heiraten zu können. Die Sache muß ein verdammt saftiger Skandal gewesen sein: eine Nichte des Königs heiratet nicht bloß einen Goi, sondern auch noch einen assyrischen. David wollte ihn ermorden lassen, aber der Mann genoß ja diplomatische Immunität, also ließ König David ihn zur Persona non grata erklären, und er wurde heim nach Ninive geschickt. Aber irgendwie schaffte er es, die Frau mitzunehmen, und nachdem sie zurück in Assyrien waren, blieb die Familie weiter koscher. Also, du hättest mich mit ‘nem Strohhalm umwerfen können, als der mir erklärt hat, er ist auch ein Jid, weil er doch so ein gemeines Assyriergesicht hat, wo die Nase gleich aus der Stirn springt, weißt du, und diesen absurden Kräuselbart, den die alle tragen, mit diesen kleinen Kringeln, aber wenn du ihm erst einmal eine Weile zugehört hast, wie der redet, dann zweifelst du überhaupt nicht mehr, daß…«

»Wenn ich dir noch eine Weile zuhöre, wie du redest«, sagte Gilgamesch, »dann überkommt mich das Verlangen, dich zu erwürgen! Kannst du denn nie bei der Sache bleiben? Es ist mir gleichgültig, wen dein komischer Stammesgenosse geheiratet oder nicht geheiratet hat. Ich will wissen, ob er uns helfen wird, Enkidu zu befreien, oder nicht?«

»Spiel nicht den Antisemiten, Gilgamesch. Es steht dir nicht besonders. Tukulti-Sharrukin hat versprochen, für uns zu tun, was er kann. Er kennt den Typ, der im Haus des Staubes und der Finsternis den Zentralcomputer bedient. Der wird versuchen, die Software durcheinander zu bringen, so daß Enkidus Name von der Insassenliste verschwindet, und dann können wir ihn vielleicht hinten rausholen. Aber das ist natürlich nicht garantiert. Und es wird nicht einfach werden. In ein, zwei Tagen wissen wir, ob es klappen kann. Ich tue wirklich mein Bestes für dich, weißt du.«

Gilgamesch schloß die Augen und atmete kräftig durch. Herodes war zwar so etwas wie ein Pickel am Po, doch er brachte etwas zuwege.

»Gut. Verzeih mir meine Ungeduld, Herodes.«

»Es beglückt mich immer, wenn du dich entschuldigst. Noch vor einer Minute hattest du diesen Schimmer im Auge, der sagt: Ich hab’ keine Geduld mit Narren. Und ich fürchtete schon, du schmeißt mich gleich von hier bis Nova Roma.«

»Weshalb sollte ich Geduld mit Narren haben?«

»Stimmt. Aber ich bin wirklich nur ein kleinerer Narr.« Herodes grinste breit. »Also, zu anderen Sachen. Du weißt, daß Dumuzi einen Kontrakt auf dich ausgesetzt hat, oder?«

»Einen Kontrakt?« Gilgamesch war aufs neue verblüfft.

»Jupiter! Wo hast du denn dein Englisch gelernt? Dumuzi will, daß du getötet wirst, meine ich. Tukulti-Sharrukin hat mir auch das gesagt. Dumuzi macht sich in die Höschen vor Angst, daß du die Macht ergreifen könntest in seiner Stadt, und deshalb…«

»Ja, ich weiß. Es haben schon drei Komiker versucht, mich anzugreifen, als ich aus dem Haus von Picasso wegging. Einer hat zugegeben, daß er für Dumuzi arbeitet.«

»Du hast sie getötet?«

»Nein. Ich habe sie bloß ein wenig angekratzt. Wahrscheinlich sind sie inzwischen schon halb in Brasil. Aber ich nehme an, es wird weitere Versuche geben. Das wird mich aber nicht meinen Schlaf kosten. Wo ist Simon?«

»Im Badehaus. Er versucht, nüchtern zu werden. Er und ich sind in Kürze zu einer Audienz beim König fällig. Simon möchte ein Handelsabkommen rüberbringen, er möchte Dumuzi ein paar Dutzend seiner überschüssigen Nekromanten, Thaumaturgen und Schamanen als Tausch gegen einige Barrels der Diamanten, Rubine und Smaragde anbieten, die — wie er glaubt — tonnenweise in Dumuzis Schatzkammer liegen.«

»Sogar ein Blödian muß doch sehen, daß diese Stadt hier nicht gerade von Diamanten und Rubinen überquillt!«

»Das sage mal du dem Simon. Ich bin ja nur ein Angestellter. Er ist vierhundertprozentig davon überzeugt, daß diese Stadt überquillt von kostbaren Edelsteinen, und du weißt doch, wie ihm das Maul wässert nach sowas. Er würde für sechs Pfund Saphire seine Schwester verkaufen, der meschuggene goische kup. Na, der Scheißkerl wird’s merken. Wie hat es mit dir und Picasso geklappt?«

»Er ließ mich eine merkwürdige Maske aufsetzen, mit einem Stiergesicht. Aber als er mich gemalt hatte, war er auch mit in dem Bild, und er hatte selber die Maske auf. Ich habe das nicht verstanden, Herodes.«

»Das ist Kunst. Du mußt nicht versuchen, das zu verstehen.«

»Aber…«

»Glaub es mir. Der Mann ist ein Genie. Vertraue dich ihm an. Er wird ein Meisterwerk machen, und wen kümmert es dann noch, wer von euch beiden die Maske aufhat? Aber davon verstehst du wohl nichts, von diesen Dingen, Gilgamesch, wie? In deiner Zeit warst du was Großes, sagen sie mir jedenfalls alle, ein grandioser Kämpfer und sogar ein bemerkenswerter Baumeister, aber auch du hast deine Grenzen. Schließlich, auch du hast deine goische kup. Allerdings muß ich zugeben, daß du dich ganz gut hältst, wenn man dein Handicap bedenkt.«

»Du hast zu viele mir unbekannte Wörter benutzt. Was ist das goische kup?«

»Es bedeutet, du hast das Hirn eines Heiden.«

»Eines Heiden?«

»Es bedeutet weiter nichts als nicht-jüdisch. Sei nicht beleidigt, du weißt doch, wie sehr ich dich bewundere. Kommt ihr gut zurecht, Picasso und du?«

»Wir finden uns gegenseitig amüsant. Er hat mich eingeladen, am Sonntag bei einem Stierkampf bei ihm in seiner Loge zu sitzen.«

»Ah. Ja, dieser Stierkampf. Seine große Leidenschaft.

Zuzuschauen, wie schmale, junge spanische Mannes ihren Degen in große wütende Tiere stechen. Auch so ein meschuggener Typ, dieser Picasso. Er und seine Stierkämpfe. Sicher, ein Genie, aber trotzdem ein Meschuggener.«

»Und ein goischer kup?« fragte Gilgamesch.

Herodes wirkte überrascht. »Er? Nun je, möglich, schon möglich. Aber trotzdem ein Genie. Wenigstens macht er aus seinen Stierkämpfen großartige Bilder. Und jeder Mensch hat das Recht auf sein besonderes Hobby, denke ich. Sogar auf eine fixe Idee.«

»Und was ist es bei dir?« fragte Gilgamesch.

Herodes kniff ein Auge zu. »Überleben.«

Загрузка...