13

Die Stadt war genau so, wie Gilgamesch sie in seiner Vision in Brasil gesehen hatte, als Calandola ihm den Weg geöffnet und ihm die Erkenntnis gegeben hatte. Weiße schimmernde würfelförmige Gebäude, die sich weit über eine dunkle Ebene hin ausbreiteten, die von hochgetürmten Hügeln begrenzt war. Ein hoher Wall aus sonnengetrockneten Ziegeln, von glasierten Reliefs mit Drachen und Göttern in leuchtenden Farben verziert, umgab die Stadt. Von der ziegelgepflasterten Straße aus, die sich durch die Hügel hinabwand, konnte Gilgamesch mitten ins Herz der Stadt blicken, wo sich allerlei Bauten im vertrauten Sumer-Stil drängten: Tempel, Paläste und Zeremonialplattformen.

Ihm war, als wären die endlosen Jahre seines Aufenthalts in der Nachwelt in einem Nu von ihm abgefallen, als sei er heimgekehrt nach Sumer, in das Land, an den geliebten Ort seiner Geburt, wo er die Wege der Götter und der Menschen gelernt hatte, durch Widrigkeiten zum Königtum emporgestiegen war und die geheimen Dinge erkennen lernte, die Wahrheiten über Leben und Tod.

Doch natürlich war hier nicht dieses Uruk. Die Stadt da gehörte in die Nachwelt, war ein völlig anderer Ort, hundertmal größer als in seinem untergegangenen Sumer, tausendfach fremdartiger. Und dennoch auch wieder vertraut und ebenfalls irgendwie heimatlich; denn hier war ja sein Zuhause, sein zweites, das seines zweiten Lebens.

Er hatte diese Stadt gegründet, war hier König gewesen.

Daran konnte er sich nicht erinnern — es war alles versunken in dem trüben Brei, als den sich das Vergangene hier in der Nachwelt darstellte. Doch die Erkenntnis, die Calandola ihm geschenkt hatte, verlieh ihm ein klares Gefühl für seine Leistungen in diesem zweiten Uruk, die er vergessen hatte; und als er nun die Stadt genau so da in der Ebene vor sich liegen sah wie in seiner Vision, wußte er, daß auch alles übrige an der Vision wahr sein müsse, daß er tatsächlich einst König in diesem Uruk war, ehe ihn der reißende Strom der Zeit zu anderen Orten und anderen Abenteuern hinwegriß.

Herodes sagte: »Es ist der rechte Ort, ja?«

»Ohne Frage. Genau der richtige.«

Sie fuhren jetzt alle drei zusammen in dem ersten Landrover, Simon und Gilgamesch und Herodes, ihr Bagagewagen dicht hinter ihnen und ein halbes Dutzend der niederen, stumpfnasigen Fahrzeuge der urukanischen Grenzschutztruppe geleitete sie. Herodes wurde wieder lebhafter, mehr seine gewohnte quirlige Person, mit rasch laufender Zunge, neugierig, zappelig und nervös. Er war ganz schön erschrocken gewesen, als der plötzliche Nebel den Zug zum Halten brachte und diese wild aussehenden schreienden Gestalten sie umringten. Er war überzeugt gewesen, daß eine Horde Dämonen sich über sie hermachen und sie zerfleischen würde. Doch als er sah, wie Gilgamesch gelassen aus dem Wagen stieg und wie sich die Wilden alle mit dem Gesicht auf den Boden warfen, als wäre er der Messias beim Einzug in die Stadt, gewann er wieder Zuversicht. Und nun wirkte er ganz entspannt und lehnte sich mit gekreuzten Armen und Beinen zurück.

»Sehr beeindruckend, dein Uruk«, sagte Herodes. »Meinst du nicht auch, Simon? Warum sagst du Gilgamesch nicht, was du von seiner Stadt hältst?«

Simon bedachte den judäischen Fürsten mit einem kalten abweisenden Blick. »Ich habe die Stadt noch nicht gesehen, Herodes.«

»Aber du siehst sie doch jetzt vor dir.«

»Die Mauerwälle. Die Dächer.«

»Aber es sind doch höchst majestätische Wälle? Und schau nur, wie weit sich die Stadt ausdehnt! Ziemlich viel gewaltiger als Brasil, findest du nicht?«

»Brasil liegt auf einer Insel«, erwiderte Simon eisig. »Seine Ausdehnung wird dadurch begrenzt, wie du nur zu genau weißt. Aber doch, ja, dies ist eine sehr prächtige Stadt, dieses Uruk. Und ich freue mich schon darauf, seine zahlreichen Wunder zu genießen.«

»Und deine Finger auf seine Schätze zu legen«, sagte Herodes. »Und die sind sicherlich üppig. Ist das die Schatzkammer, Gilgamesch, das große Gebäude dort unten auf der Terrasse?«

»Es ist der Tempel Enlils, glaube ich«, antwortete Gilgamesch.

»Aber er steckt doch gewiß voll von Rubinen und Smaragden. Mein Herr Simon, weißt du, liebt Rubine und Smaragde sehr. Meinst du, sie werden an diesem Ort etwas einzuwenden haben, wenn er sich mit ein paar Preziosen aus dem Schatz bedient, Gilgamesch?«

Simon Magus sagte finster: »Weshalb reizt du mich, Jude? Du bringst mich dazu, daß ich es bedauere, dich mit auf die Reise genommen zu haben.«

»Ich versuche doch nur, dich zu amüsieren, Simon.«

»Wenn du so weitermachst, könnte es mich leicht amüsieren, dich zum zweitenmal beschneiden zu lassen«, sagte Simon. »Oder Schlimmeres.« Und zu Gilgamesch sagte er: »Kommt dir wieder irgendeine Erinnerung zurück? An dein früheres Leben in Uruk?«

»Nichts. Gar nichts.«

»Aber du bist trotzdem sicher, daß du einmal hier gelebt hast?«

»Ich habe diese Stadt erbaut, Simon. Das glaube ich wahr und ehrlich. Ich führte Leute meiner Art an diesem Ort zusammen, ich gab ihnen Gesetze und herrschte über sie, wie ich es einst in dem anderen Uruk auf der Erde tat. Überall ringsum finde ich Anzeichen dafür, die ich weder ignorieren noch abstreiten kann. Aber jegliches feste Wissen darüber, die Erinnerung an Arbeiten und Tage, an das wirkliche Gefühl für das, was ich in jenen Tagen getan haben muß, die Festigkeit und Wirklichkeit, soweit sie Geschehnisse und Ereignisse betrifft, all das ist mir entschwunden.« Gilgamesch lachte. »Kannst du dich an alles erinnern, was dir seit dem ersten Tag in der Nachwelt zustieß?«

»Wäre ich vor Brasil König in irgendeiner Stadt gewesen, ich denke, ich würde mich daran erinnern.«

»Wie lange bist du schon hier, Simon?«

»Wer könnte das sagen? Du weißt doch, wie das mit der Zeit geht hier. Aber ich habe mir sagen lassen, daß so an die zweitausend Jahre auf der Erde vergangen sein müssen, seit meinem Aufenthalt dort. Vielleicht ein wenig mehr.«

»In zweitausend Jahren«, sagte Gilgamesch, »hättest du in der Nachwelt fünfmal König sein können und es völlig vergessen haben. Du könntest hundert Königinnen umarmt und sie allesamt vergessen haben.«

Herodes lachte glucksend. »Helena von Troja — Kleopatra — Nefertiti — alles weg und vergessen, Simon, die Form ihrer Brüste, der Geschmack ihrer Lippen, die Laute, die sie in der Lust von sich gaben…«

Simon griff nach seinem Wein. »Glaubst du das auch?« fragte er Gilgamesch. »Kann das so sein?«

»Die Jahre fließen vorbei und zerlaufen ineinander. Die Dämonen spielen mit unseren Erinnerungen. Es gibt hier keine geraden Linien, auch keine durchgehenden ungebrochenen. Und wie sollten wir unseren Verstand bewahren, Simon, wenn wir alles im Gedächtnis behielten, was uns in diesem Nachweltleben widerfährt? Zweitausend Jahre, sagst du? Bei mir sind es fünftausend, oder mehr. Hundert Lebenszeiten. Ach nein, Simon, ich bin zu der Überzeugung gelangt, daß wir hier wieder und immer wieder geboren werden daß unser Bewußtsein leergefegt wird, und die Tortur besteht darin, daß wir nicht einmal wissen, daß es so ist. Wir bilden uns ein, wir wären der, der wir immer waren. Wir glauben, daß wir uns selber begreifen, aber in Wirklichkeit erfassen wir nur die äußerste Oberfläche der Wahrheit. Der unwandelbare Essenzkern unserer Seele, der bleibt stets der gleiche, ja — ich bin immer Gilgamesch, er Herodes, du bleibst Simon, und wir treffen wieder und wieder die gleichen Entscheidungen, die einer mit unserer Natur treffen wird und muß — doch die Bedingungen in unserem Leben sind fließend und veränderlich, wir werden von den heißen Winden der Nachwelt herumgeschleudert, und das meiste von allem, was uns geschieht, versinkt schließlich in Vergessen. Dies ist die Weisheit, die ich bei der Offenbarung durch Calandola erfahren habe.«

»Dieser Wilde! Dieser Teufel!«

»Und wenn schon. Er schaut hinter die flache Realität der Nachwelt. Und ich nehme seine Offenbarung als wahr an.«

»Du hast vielleicht Uruk vergessen«, sagte Herodes, »aber Uruk scheint dich nicht vergessen zu haben, Gilgamesch.«

»Ja, es sieht fast so aus«, sagte Gilgamesch.

In der Tat war er zutiefst bestürzt gewesen, als die sumerischen Grenzwachen ihn sofort als Gilgamesch, ihren König, gegrüßt hatten. Er war noch nicht ganz aus dem Landrover gestiegen, da knieten sie schon vor ihm, schlugen mit den Händen die heiligen Zeichen und jubelten ihm in der alten Sprache des Landes zu, die er so lange Zeit nicht mehr gehört hatte, daß sie ihm fremdartig und grob in den Ohren klang. Es war ihm, als hätte er diese Stadt erst vor ganz kurzer Zeit verlassen — während er doch wußte, daß es selbst angesichts der unergründlichen Zeitabläufe in der Nachwelt bereits eine lange Ewigkeit her sein mußte, seit er zuletzt in dieser Stadt gewohnt haben konnte. In diesem Punkt war seine Erinnerung deutlich, denn er wußte, daß er die letzte Phase seiner Zeit hier großenteils mit Enkidu durch das Hinterland gestreift war und die seltsamen Tiere im Outback, der Wildnis, gejagt hatte, sich aus den Intrigen und dem üblen Treiben in den Städten heraushielt — und diese Zeitperiode in der Wildnis mußte gewiß Jahrzehnte gedauert haben, wenn nicht Jahrhunderte. Und dennoch schienen sein Gesicht und seine Gestalt jedermann in Uruk bekannt zu sein.

Nun gut, er würde darüber in Kürze mehr erfahren. Vielleicht verehrten ihn die Einwohner hier wie eine ehrwürdige Legende und erflehten beständig seine Wiederkehr. Oder, noch wahrscheinlicher, es handelte sich nur um eine weitere Manifestation des Hexenspuks der Nachwelt, der solche Verwirrungen erzeugte.

Inzwischen waren sie fast in Uruk angelangt. Die Straße war flach geworden. Vor ihnen ragte eine feste Mauer aus rotem Backstein auf, und in der Mitte war ein breites Bronzetor, beschrieben mit den Symbolen von Schlangen und anderen Ungeheuern. Als sie herankamen, flog das Tor auf und der ganze Zug rollte hindurch.

Simon, inzwischen ziemlich weinbeduselt, drosch fröhlich auf Gilgameschs Schulter ein. »Uruk, Gilgamesch, wir sind tatsächlich da! Hättest du geglaubt, daß wir wirklich herfinden?«

»Uruk hat uns gefunden«, erwiderte Gilgamesch gelassen. »Wir hatten uns verfahren, in einer Gegend, wo überall Nichts war, und plötzlich lag Uruk vor uns. Also sind wir jetzt da, Simon. Aber wo sind wir?«

»Ach, Gilgamesch, Gilgamesch, was bist du doch für ein nüchterner Klotz! Wir sind in Uruk, egal wo das ist! Freu dich doch, Mann! Lache! Sei fröhlich! Diese Stadt ist deine Heimatstadt! Dein Freund wird da sein — wie heißt er noch? Inkibu? Tinkibu?«

»Enkidu!«

»Enkidu, ach ja. Und deine Verwandten, deine Bruder, dein Vater vielleicht…«

»Wir sind hier in der Nachwelt, Simon. Hier wird dir Genuß zu Asche auf der Zunge. Ich erwarte mir gar nichts von hier.«

»Du wirst wieder König sein. Ist das nichts?«

»Habe ich etwa gesagt, daß ich den geringsten Wunsch verspüre, hier zu herrschen?« fragte Gilgamesch und funkelte Simon an.

Dieser blinzelte überrascht. »Also, Herodes sagt es.«

»Ach, sagt er das?« Gilgamesch durchbohrte den kleinen Hebräerkönig mit einem scharfen Blick. »Wer glaubst du denn, wer du bist, Herodes, daß du dir anmaßen darfst, zu verkünden, was in meinem Kopf vorgeht? Woher nimmst du die Kühnheit zu glauben, du weißt, was in meinem Innersten ist?«

Als fürchtete er, geschlagen zu werden, sank Herodes in sich zusammen und sagte ganz leise: »Es ist, weil ich doch bei dir war, als du die Erkenntnis bekamst, Gilgamesch. Und ich empfing sie mit dir. Hast du das so rasch schon wieder vergessen?«

Gilgamesch dachte darüber nach. Er konnte die Tatsache nicht leugnen. Ruhig sagte er: »Es muß hier in dieser Stadt schon einen König geben. Ich gedenke nicht, ihn zu vertreiben. Aber wenn die Götter mir dieses Geschick bereitet haben, dann…«

»Nicht die Götter, Gilgamesch. Die Dämonen! Wir sind hier in der Nachwelt«, ermahnte ihn Herodes.

»Ja, die Dämonen«, gab Gilgamesch zu.

Inzwischen waren sie weit nach Uruk hineingefahren und hielten nun mitten auf einem weiten Platz. Aus der Nähe erkannte Gilgamesch nun, daß dieses Uruk nur scheinbar eine sumerische Stadt war: Gewiß, viele Gebäude waren im alten Stil, doch es gab auch alle erdenklichen anderen Stilrichtungen und Perioden, diese scheußlichen Bauwerke, die man als Bürohäuser bezeichnet, und der düster brütende Koloß eines Kraftwerks, das giftige Fäulnis in die Luft spuckte, und ein unheimlich wirkender schmutzig-roter Backstein-Barackenkomplex ohne Fenster, und dann an einer Ecke drüben etwas, das aussah wie ein Gerichtshaus oder wie ein Palast in römischem Stil. Vor dem Landrover drängte sich eine Menschenmenge, viele in sumerischer Kleidung, aber keineswegs alle, es war die gewöhnliche Mischung, Früh-Tote und Spätere, in allen den Moden ihrer Zeiten kostümiert. Alle starrten auf ihn. Alle waren stumm.

»Du steigst zuerst aus«, sagte Simon zu Gilgamesch.

Der nickte. Ein Haufen von offensichtlich offiziellen und ihrer Erscheinung nach eindeutig sumerischen Stadthonoratioren hatte sich vor dem Landrover in einer Reihe aufgebaut und schaute erwartungsvoll zu ihm herein. Seine Ankunft hier schien sie einigermaßen zu beunruhigen oder doch zu verblüffen.

Er stieg aus. Er überragte sie alle durch seine gewaltige Größe.

Ein Mann mit einem dichten schwarzen Krausbart und kahlgeschorenem Schädel, gekleidet in den Wollkittel des Sumer-Landes, trat vor und sagte — auf englisch: »Wir grüßen Gilgamesch, den Sohn des Lugalbanda, in der Stadt Uruk und heißen ihn willkommen, und ebenso seine Freunde. Ich bin der Erzvezier Ur-ninmarka, Diener des Königs Dumuzi, dessen Gäste ihr seid.«

»Dumuzi?« fragte Gilgamesch erstaunt.

»Ja, des Königs in Uruk.«

»Jener, der vor mir herrschte, als wir noch auf der Erde lebten?«

Ur-ninmarka hob bedauernd die Schultern. »Davon weiß ich nichts. Ich war ein Mann aus Lagash im einstigen Land, und Uruk war weit entfernt. Aber Dumuzi ist hier der König, und er hat mich ausgeschickt, dich zu begrüßen und zu deinen Gemächern zu geleiten. Heute abend wirst du mit ihm und den Großen der Stadt dinieren.«

Dumuzi, dachte Gilgamesch und wunderte sich. Erinnerungen aus seinem ersten Leben strömten viel klarer als die an seine Geschicke in der Nachwelt in ihn zurück.

Dumuzi! Dieser bedauernswerte Schwächling! Dieses mörderische Schwein! Es ist bestimmt der gleiche, dachte er, denn hier geschieht immer wieder, was bereits geschehen ist. Also war Dumuzi wieder einmal König in Uruk, jener gleiche Dumuzi, der im alten Leben aus Furcht vor Gilgamesch, dem Sohn des Lugalbanda, den er für seinen Rivalen hielt, obwohl er erst ein vierzehnjähriger Junge war, Mordbuben gegen ihn ausgesandt hatte, die ihn töten sollten. Doch dieser Anschlag schlug fehl, und am Ende war es Dumuzi, der aus der Welt verschwand, und Gilgamesch bekam den Thron. Zweifellos, vermutete Gilgamesch, fürchtet er mich immer noch. Und wird ein zweites Mal seine Hinterlist an mir versuchen. Manche Dinge ändern sich eben niemals, dachte er. So ist das in der Nachwelt. Wie Dumuzi schmerzlich erfahren wird, falls er wieder üble Pläne hegte.

Laut sagte er: »Ich bin entzückt, die Gastfreundschaft eures Königs zu genießen. Bitte sagt ihm das.«

»Das werde ich.«

»Und sagt ihm auch, daß er noch zwei weitere Gäste hat: Simon, den Herrscher der großen Stadt Brasil, und seinen Premierminister, Herodes von Judäa, die meine Reisegefährten sind.«

Ur-ninmarka verneigte sich.

»Noch eins«, fuhr Gilgamesch fort. »Ich nehme doch an, daß in dieser Stadt viele Bürger des Landes Sumer leben.«

»Sehr viele, edler Herr.«

»Kannst du mir sagen, gibt es hier einen gewissen Enkidu, einen Mann von meiner Körpergröße und sehr kräftig und ganz behaart am Leibe wie ein Tier der Wildnis? Ein Mann, von dem man weiß, er ist mein Freund, den zu suchen ich hergekommen bin?«

Die nackte Stirn des Erzveziers furchte sich. »Das kann ich dir nicht sagen, edler Herr. Aber ich will Erkundungen einholen, und du wirst heute noch einen Bericht erhalten, wenn du im Palast speisen wirst.«

»Ich danke dir«, sagte Gilgamesch.

Doch sein Herz wurde schwer. Enkidu war also wohl doch nicht hier; denn wieso sollte Ur-ninmarka es nicht erfahren haben, wenn ein gewaltiger kraftstrotzender behaarter Riese wie Enkidu in die Stadt gekommen war? In der ganzen Nachwelt gibt es keine Stadt, die so groß wäre, daß Enkidu daselbst kein Aufsehen erregen würde, dachte er, und mehr als nur neugieriges Aufsehen!

Doch er behielt dies für sich. Er winkte Simon und Herodes aus dem Landrover und sagte weiter nichts zu ihnen als: »Alles steht zum besten. Heute abend sind wir Gäste auf einem Bankett von Uruks König.«


Jedenfalls schien Dumuzi die Dinge mit Stil zu tun. Für seine Besucher hatte er luxuriöse Suiten in einer prächtigen Herberge hinter dem Haupttempel angeordnet, einem massigen Gebäude, das aussah, als sei es aus einem einzigen schwarzen Granitblock gehauen. Im Innern gab es Fontänen, Arkaden, derart viele Standbildnisse, daß man sich kaum bewegen konnte, ohne gegen irgend etwas zu stoßen, riesenhafte Götterfiguren mit starr blickenden Augen in gefältelten Kleidern nach dem Alten Stil, und gigantische purpurbelaubte Palmbäume, die in großen vielseitigen Pflanzkübeln aus einem schimmernden rötlichen Stein wuchsen, der wie Rubin leuchtete. Vielleicht waren es ja Rubine. Gilgamesch sah, wie Simon einen der Kübel liebevoll begrapschte, als berechnete er bereits, wie viele hundert eigroße Steine daraus zu brechen sein könnten.

Die Reisenden bekamen separate palastwürdige Räume angewiesen, mit einem seidenbezogenen breiten Bett, einer im Boden eingelassenen alabasternen Badewanne und einem Spiegel, der leuchtete wie ein Fenster zum Paradies. Selbstverständlich stimmten in der ganzen Perfektion ein paar Kleinigkeiten nicht, es kam kein heißes Wasser aus den Hähnen, und ein Trupp unangenehm aussehender dickbäuchiger pelziger Insekten mit smaragdenen Augen zog beständig über die Decke in Gilgameschs Gemach, und als er sich auf seinem Bett ausstreckte, gab dieses endlose Jammerlaute von sich, als hätte er sich auf lebendige Wesen gelegt, die dagegen protestierten. Nun ja, es war hier die Nachwelt. Hier rechnete man sowieso bei allem und überall mit Unvollkommenheiten, und man bekam sie prompt serviert. Aber alles in allem war ihre Unterbringung kaum zu überbieten.

Wie aus dem Nichts erschien ein Halbdutzend Diener und half Gilgamesch bei seinem Bad und salbte ihn mit Duftölen und kleidete ihn in einen weißen Rock aus Baumwollplissé im sumerischen Stil, der seinen Oberkörper unbedeckt ließ. Nach einer Weile pochte Herodes an seine Tür, und auch er war sumerisch gekleidet, allerdings trug er noch immer die schimmernden italischen Lederschuhe, statt der Sandalen, und auf dem Kopf die kleine jüdische Yarmulke-Kappe. Die dunklen Kraushaare schimmerten von Pomade.

»Na?« fragte er und stolzierte auf und ab. »Sehe ich aus wie ein Prinz aus dem Lande Sumer, Gilgamesch?«

»Du siehst aus wie ein Gockel wie immer. Und außerdem noch dazu ein ziemlich spilleriger. Deine Toga verdeckte wenigstens die Schwabbelarme und die dürre Brust.«

»Ach, Gilgamesch, wozu brauche ich Muskeln, wenn ich hier was habe?« Er klopfte sich auf den Kopf. »Und solange ich den kühnen König Gilgamesch habe, der mich gegen Übeltäter beschützt?«

»Aber werde ich dich schützen?«

»Aber gewißlich wirst du das.« Herodes lächelte. »Ich tue dir leid, weil ich die ganze Zeit auf meinen klugen Verstand angewiesen bin und mich nur damit verteidigen kann. Nein, du wirst dich schon um mich kümmern. Es liegt nicht in deinem Charakter, jemanden wie mich in Gefahr kommen zu lassen. Außerdem, du brauchst mich.«

»Ach ja?«

»Ja. Du hast zu lange im wilden Outback gelebt. Dir hängen Strohhalme im Haar.«

Automatisch griff sich Gilgamesch tastend an den Kopf.

»Nein. Doch nicht wörtlich, du dummer Affe!« Herodes lachte. »Ich meinte bloß, daß du zu lange von allem weggewesen bist. Du hast mich nötig, damit ich dir die Realität klarmache. Du begreifst die moderne Welt nicht mehr. Du streunst durch die Wildnis und spielst den edlen genügsamen Helden, wogegen an sich nichts einzuwenden wäre, aber du hast dich einfach nicht darum gekümmert, was in der Nachwelt in der letzten Zeit so vorgegangen ist. In den Moden, der Musik, der Kunst, in der neuen Technik.«

»Das alles ist für mich unwichtig. Mode? Und Musik? Musik ist in meinen Ohren nichts weiter als scheppernder Lärm. Bestenfalls banales Zeug, meistens sogar noch schlimmer. Kunst, das ist hier Dekoration, bedeutungslos. Und was diese neue Technik angeht, von der du sprichst, die ist eine Schande und ein Frevel. Ich verabscheue sie alle, diese Erfindungen der Später Toten.«

»Verachte sie, soviel du magst, aber sie sind da und werden bleiben. Diese Neuen Toten sind uns zahlenmäßig tausend zu eins überlegen, und jeden Tag kommen mehr von ihnen her. Man kann sie nicht einfach ignorieren. Auch nicht ihre Technik.«

»Ich kann.«

»Das denkst du vielleicht. Ein Bogen und eine Hand voll Pfeile, das genügt dir, ja? Aber du schreckst vor Dingen zurück, die du nicht erfassen kannst. Du preschst einfach weiter und immer weiter so, und meistens wirst du auch ziemlich gut mit Schwierigkeiten fertig, aber im Grunde hast du keine Ahnung, worum es geht, und früher oder später rennst du einmal in eine Sache hinein, die sogar für dich zu gewaltig ist. Ich dagegen habe mich auf dem laufenden gehalten, was die moderne Entwicklung betrifft. Ich kann dich durch alle Fährnisse und Fallgruben führen. Ich bin auf der Hut, Gilgamesch, ich weiß, was vorgeht. Ich halte Verbindung zu allem. Zur politischen Entwicklung, beispielsweise. Hast du mehr als einen nebelhaften Schimmer von der augenblicklichen Lage? Von den wahrhaft spektakulären Umwälzungen, die sich gerade jetzt ereignen?«

»Ich gebe mir alle Mühe, nicht daran zu denken.«

»Hältst du es für sicher, so den Kopf in den Sand zu stecken? Was da drüben am anderen Ende der Nachwelt sich ereignet, kann schreckliche Auswirkungen auf die hiesigen Abläufe haben. Das hier ist nicht mehr die uralte Welt, in der es ewig und einen halben Monat dauerte, bis Nachrichten aus Rom bis nach Syrien gelangten. Weißt du, was ein Radio ist? Ein Telefon? Ein Mikrowellenrelais? Ob es dir paßt oder nicht, wir sind jetzt allesamt Später Tote. Möglich, daß es dir gelingt, weiterhin wie ein alter Sumerer zu leben, aber der Rest der Menschen steckt bis zum Hals in der Moderne.«

»Sie haben mein tiefes Mitgefühl«, sagte Gilgamesch.

»Du hast nicht die geringste Ahnung davon, was für revolutionäre Bewegungen in einem halben Dutzend Städten hinten im Osten brodeln, nicht wahr? Die Aufstände? Die Volksrevolte gegen die Regierung in Nova Roma? Die jüngsten Großtaten von Tiglath-Pileser? Der momentane Standpunkt Metternichs? Nein, Gilgamesch, nein, du bist nicht auf dem laufenden. Und dazu noch sträflich stolz auf deine Uninformiertheit. Ich dagegen, ich kümmere mich um das, was an Neuem passiert, und ich…«

»Ich habe in Nova Roma gelebt, Herodes. Ich habe Cromwell erlebt und Bismarck und Lenin und Tiglath-Pileser und Sennacherib und den Rest dieser Mistkerle, wie sie ihre erbärmlichen kleinen Intrigen schmiedeten. Weshalb, denkst du, bin ich sonst ins Outback gezogen? Nach einer halben Stunde in ihrer Gesellschaft kamen mir Tränen der Langeweile vom Gähnen. Ihre Intrigen kamen mir vor wie das Gequieke von Mäusen. Was immer diese Typen planen mögen, es wird hinweggewaschen werden wie Sandburgen am Gestade des Meeres, und die Nachwelt wird weitergehen und weiter, wie sie es immer tat. Und genau das werde auch ich tun. Die dämonischen Unsichtbaren, die hier die wahren Herrscher sind, lachen über die Anmaßung solcher Aufmüpflinge. Ich übrigens lache darüber auch. Nein, nein, Herodes, ich brauche deine Führung nicht. Wenn ich beschlossen habe, dich vor Schaden zu schützen, dann aus Mitgefühl, und nicht aus Eigensucht.« Er warf einen Blick auf die Armbanduhr an seinem Gelenk, ein Geschenk von Simon Magus. »Es wird spät. Wir sollten zu dem Fest aufbrechen.«

»Diese Uhr, die du da trägst, ist eine der verächtlichsten Erfindungen der Später Toten.«

»Ich nehme mir, was mir gefällt, von ihrem Zeug«, sagte Gilgamesch. »Aber nur sehr wenig davon gefällt mir. Und du bist auch nicht der erste, der mich wegen meiner Inkonsequenz zu necken versucht. Aber ich weiß, wer ich bin, Herodes, und ich weiß, woran ich glaube.«

»Gewiß«, sagte Herodes in einem Ton, der sich selber Lügen strafte. »Wie dürfte jemand daran zweifeln?«

Gilgamesch hätte ihn gern zum Fenster hinausgeworfen, doch in diesem Moment kehrten die Diener zurück, um sie zum Festsaal zu geleiten. Simon erwartete sie bereits in der prunkvollen Vorhalle und strahlte sie mit weingerötetem Gesicht an. Er hatte es abgelehnt, sich sumerisch zu kleiden, und trug eine purpurne Toga und hohe vergoldete griechische Kothurne.

Auf dem Weg zur Tür ergriff Simon Gilgamesch am Arm und sagte leise: »Einen Moment. Sag mir etwas über diesen König, den wir da treffen sollen, diesen Dumuzi.«

»Wenn es der gleiche Mann ist, folgte er meinem Vater, Lugalbanda, auf dem Thron in Uruk nach — dem ersten Uruk —, als ich ein Knabe war, und trieb mich ins Exil. Er war feige und dumm, er mißachtete Recht und Riten und vergeudete die öffentlichen Gelder für lachhafte Abenteuerlichkeiten, und die Götter nahmen das Königtum von ihm, und er starb. Und damit war für mich der Weg zum Thron frei, und ich wurde König.«

Simon der Magier nickte. »Du hast ihn ermorden lassen, meinst du?«

Gilgameschs Augen wurden groß. Dann lachte er. Der Mann mochte zwar ein Säufer sein, aber sein Verstand klickte immer noch scharf genug.

»Nicht ich, Simon. Damit hatte ich nichts zu schaffen. Ich war damals im Exil; es waren die großen Männer der Stadt, die erkannten, daß Dumuzi verschwinden mußte, und die Priesterin Inanna, die ihm dann das Gift verabreichte. Sie sagte ihm, es sei eine Medizin gegen eine Krankheit, an der er litt.«

»Hmmm«, machte Simon. »Du und der, ihr wechselt euch also in der Königsherrschaft von Uruk ab, hier und im früheren Leben. Und jetzt ist gerade wieder mal er an der Reihe und herrscht. Und dann bist vielleicht bald wieder du dran. Alles bewegt sich endlos weiter im Kreise.«

»So ist es nun einmal hier an diesem Ort. Ich bin inzwischen daran gewöhnt.«

»Und er hat dich einst gefürchtet. Also wird er dich auch jetzt immer noch fürchten. Es werden also heute abend eventuelle alte Schwären aufbrechen. Vielleicht gibt es einen Versuch, alte Rechnungen zu begleichen.«

»Dumuzi hat mir noch nie Furcht eingejagt«, sagte Gilgamesch und machte eine Handbewegung, als verscheuchte er eine aufdringliche Fliege.

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