22

Gilgamesch blieb ganz still stehen, er atmete kaum. Auf einmal war plötzlich alles irgendwie anders. Die Straße um ihn herum wurde nebeltrüb und unwirklich. Die turmhohen Gebäude zuckten und schwankten wie zarte Pflanzen, die unter der Wasserfläche leben und sich in der Strömung winden. Das hektische Brüllen des Verkehrs erstarb mehr und mehr. Er konnte den Mann Gallagher kaum noch sehen, und sogar Helena und Enkidu erschienen ihm irgendwie fern und blaß.

Der seltsame Mann mit dem roten Gesicht, Howard, kniete vor ihm, wie bereits einmal, vor langer Zeit, im Outback, und schluchzte und stammelte vor sich hin.

Dann tauchte der andere Mann auf, der mit dem hageren bleichen Knochengesicht — der hieß Lovecraft, erinnerte sich Gilgamesch, und war der andere Gesandte des Achten Heinrich gewesen. Er legte Howard die Hand auf die Schulter und sagte freundlich: »Steh auf, Bob. Du weißt doch, daß er nicht dein Conan ist. Er ist König Gilgamesch.«

»Das ist er. Ja. Ja.«

»Komm weiter. Laß ihn in Ruhe.«

»Weshalb seid ihr hier?« fragte Gilgamesch. »Ist hier nicht das Land der Lebenden?«

»Wir sind alle erschienen, um dich zu besuchen«, sagte eine andere vertraute Stimme. Gilgamesch sah aus dem Augenwinkel Herodes von Judäa, nicht mehr in seiner römischen Toga, sondern in einem Anzug der Später Toten. Vy-otin war neben ihm und sah majestätisch aus in einem mächtigen Mantelumhang und einem schmalkrempigen Hut, der tief über die Stirn gezogen war und das fehlende Auge verdeckte. Sie lächelten ihm zu. Die Gebäude waren inzwischen fast nicht mehr zu sehen. Die Fahrzeuge, die über die Straße rasten, waren auf rätselhafte Weise zu lautlosen Geisterwagen geworden. Herodes schob ihm den Arm unter, und Vy-otin ergriff Gilgamesch am anderen Arm.

»Aber ihr zwei müßtet doch in Uruk sein«, stammelte Gilgamesch unsicher. »Ihr solltet euch doch um die Regierungsgeschäfte in der Stadt kümmern.«

»Die Stadt kommt auch eine Weile ohne uns aus«, sagte Vy-otin. »Das hier war wichtiger. Also, gehen wir, Gilgamesch.«

»Wartet!« sagte er. »Enkidu… Helena…«

»Komm nur«, sagte Herodes. »Hier ist New York! Das müssen wir doch ausnützen! Zuerst zum Natural History Museum. Vy-otin will uns dort die Mammutknochen zeigen und Malereien, die Freunde von ihm vor langer Zeit machten — und dann sollte ich vielleicht eigentlich mal kurz in der Synagoge vorbeischauen — es ist nämlich Freitagabend, müßt ihr wissen — aber ihr könnt gern mitkommen, die werden nichts dagegen haben…«

»Und das Museum of Modern Art«, sagte Picasso, der aus dem Dunst auftauchte. »Das Metropolitan. Das dürft ihr auch nicht vergessen. Er hat eine Menge zu lernen über die großen Maler. Er soll sich Cezanne anschauen. Und Velazquez. Y pues, verdammt, soll er sich Picasso anschauen!«

»Seid ihr denn alle hier?« fragte Gilgamesch leise. »Ihr alle? Jeder?«

Ja. Sie waren alle da. Da war der freundliche alte elsässische Doktor — wieso hieß der Schweitzer? — und lächelte ihm zu und zwirbelte an den Spitzen seines gewaltigen Schnauzbartes. Und da war Simon Magus, der ihm eine Weinflasche entgegenschwenkte. Und da? War das Caesar? Ja. Und Walter Raleigh, in voller schimmernder Rüstung, der eine höfische Verbeugung versuchte? Ja, er war es. Ja. Benommen, verwirrt, machte Gilgamesch ein paar schwankende Schritte auf sie zu. Die Stadt um ihn herum war nun beinahe völlig verschwunden, um sie her war nur noch ein fahles Glühen, das sich bis weit zum Horizont erstreckte. Dann kam es ihm so vor, als befände er sich nun in der ehrwürdigen Festhalle Vy-otins, dem Höhlenpalast der Eisjäger, wo die Knochen der gewaltigen Tiere umherlagen wie in den nebelhaften Frühzeiten. Und überall rings um ihn herum waren unerwartete Gestalten, die aus der anderen Welt zu ihm kamen, sich näherdrängten — nun begrüßte ihn der Priester Johannes, dann der hinkende kleine Magalhaes, und dann Belshazzar, Amenhotep, Kublai Khan, Bismarck, Lenin…

Und da war Calandola, der etwas entfernt von den anderen stand wie eine starre, schwarze, steinerne Säule; er grinste, die Augen flammten wie Feuer — und der Behaarte Mann — und Dumuzi — Ninsun — Minos — Varuna von Meluhha…

Sie waren allesamt da, alle, die er jemals gekannt hatte. Ein unabsehbarer Reigen von Gesichtern umkreiste ihn, sie nickten ihm zu, lächelten, winkten, grinsten, kniffen ein Auge zu, lachten…

»Was soll das?« fragte Gilgamesch. »Was geschieht mit mir?«

Er dachte daran, daß er nun vielleicht endlich sterben würde. Seinen dritten und endlich endgültigen Tod, den wahren Tod, nachdem er von dieser in jene Welt gestorben war und von jener dort wieder zurück in diese, und daß er nun weitergehen dürfe in das Vergessen, in die Auslöschung, den letzten Schlaf. Konnte es das sein? Dann also, endlich — war es endlich der Friede? Schlaf? Ewige Ruhe? Ein Ende der Wanderschaft. Ein Ende des Königtums. Ein Ende für Gilgamesch?

Er begriff nichts. Gar nichts.

»Herodes? Mutter? Ich flehe euch an — sagt mir doch — bitte, sagt mir…?«

Es wurde noch dunkler. Das Glühen im Himmel verblich, und die Gestalten um ihn herum waren nur noch Schatten, gesichtslos, nicht mehr voneinander zu unterscheiden. Er sah die Halle der Eisjäger nicht mehr. Und dann kam es ihm so vor, als ob er wieder in Uruk sei, dem ersten Uruk, der Stadt, in der er geboren wurde — im großen königlichen Palast, dem grandiosen Ort mit den wehrhaften Tortürmen, den raffiniert gegliederten Fassaden und hohen Säulen, wo alle Mauern in strahlendem Weiß leuchteten und die Decken aus kostbarem schwarzen Holz aus fernen Ländern waren.

»Enkidu? Enkidu, wo bist du? Vy-otin? Simon, bist du da? Oder du, Behaarter Mann?«

»Komm zu mir, Gilgamesch!« rief eine gewaltige Stimme in der Dunkelheit. Eine Stimme, die er nicht kannte.

»Ich sehe dich nicht. Wer bist du?«

»Komm her zu mir, Gilgamesch!« Und dann sprach die Stimme einen anderen Namen, diesen geheimen Namen, seinen Geburtsnamen, den keiner jemals aussprechen durfte, und beschwor ihn damit und zwang ihn zu sich.

Die mächtigen rollenden Töne brachen über Gilgamesch herein wie das Dröhnen einer riesigen Glocke. Er tat unsicher einen Schritt voran, dann noch einen und einen weiteren. Und dann umfing ihn äußerste Finsternis und Schwärze. »Komm zu mir!« befahl die Stimme. »Komm! Komm! Komm!«

Und dann war da plötzlich Helle, wie wenn in eben diesem Augenblick eine neue Sonne geboren worden wäre.

Vor ihm ragte in der großen Leere eine mächtige Gestalt auf, ein Mann, der so groß war wie der Höchste Turm und vor dem Gilgamesch klein wirkte wie vor einem Gott. An Kleidung trug er weiter nichts als ein gefälteltes wollenes Gewand, wie es im Lande Sumer die Männer getragen hatten, so daß er über den Hüften nackend war. Seine Schultern waren so breit wie ein Berg, seine Brust so weit wie der Himmel. Seine Haut war glatt und gedunkelt von der Sonne, und sein Kopf war glattgeschoren, und sein Bart war dicht und schwarz und fiel in gekrausten Locken nieder.

Am erstaunlichsten aber waren die Augen: dunkel, glänzend und riesig groß, so groß, daß sie beinahe die ganze obere Gesichtshälfte einnahmen. Diese Augen kannte Gilgamesch. Er hatte sie früher gesehen — und sie niemals vergessen können.

»Vater?«

»Ja. Ich bin Lugalbanda.«

Gilgamesch ließ sich auf beide Knie nieder. Und dennoch hatte er das Gefühl, als saugte ihn eine Strömung hinein in diese weiten dunklen Augenteiche, so daß er auf ewig in der Seele seines Vaters untergehen müßte.

»Wie großartig du bist, mein Sohn«, sagte Lugalbanda. »Komm zu mir. Näher. Näher.«

»Vater…«

Lugalbanda lächelte. Seine Stimme kam polternd von sehr weit oben. »Ach, Gilgamesch, Gilgamesch, du warst ja noch ein kleiner Junge, als ich fortging. Trotzdem habe ich schon damals erkannt, daß du eines Tages ein König sein würdest. Ich hätte so gern um dich sein wollen, um zu sehen, wie du zu deiner Mannheit heranwächst. Aber die Götter nahmen mich zu früh zu sich.«

»Ja. Ich war sechs Jahre alt.«

»Sechs, ja. Aber auch bevor ich starb, sah ich dich so selten. Es gab so viele Kriege, in denen ich kämpfen mußte. Und die Sühnepilgerfahrten danach, die heiligen Tempel, die besucht werden mußten…«

»Du hattest mir versprochen, daß du später Zeit haben würdest für mich«, sagte Gilgamesch. »Dann wollten wir zusammen den Löwen jagen, versprachst du, und du wolltest mich alle die Dinge der Mannheit lehren.«

»Aber es konnte nicht geschehen«, erwiderte ihm Lugalbanda.

»Auch nach deinem Tod glaubte ich immer noch weiter, daß du zurückkehren würdest«, sagte Gilgamesch. »Vielleicht habe ich das mein ganzes Leben lang geglaubt, daß ich dich eines Tages wiederfinden würde.«

»Und hier bin ich.«

»Bin ich tot, Vater?«

»Tot? Ja. Ja, natürlich. Wir sind alle Tote.«

»Ich meine, werde ich nun Schlaf finden und Ruhe? Werde ich eingehen in die große Dunkelheit und niemals mehr erwachen müssen?«

»Ach«, sagte Lugalbanda, »aber unsere Seelen sind ewig lebendig. Hast du denn dies nicht gelernt auf deiner langen Suche?«

Gilgamesch schwieg und starrte zu der unermeßlich hohen Gestalt hinauf, die den Abgrund vor ihm ausfüllte. Nach einiger Zeit sprach er: »Manchmal glaube ich, daß ich überhaupt nichts begriffen habe, Vater.«

Lugalbanda lächelte und streckte ihm eine riesenhafte Hand entgegen.

»Komm näher, Gilgamesch. Und leg deine Hand in meine.«

»Ja, Vater.«

»So. Ja, so.« Ihre Hände berührten sich. Und ein so gewaltiger Kraftstrom durchfloß Gilgamesch, daß er beinahe zum zweitenmal auf die Knie gefallen wäre, doch er hielt sich aufrecht, nahm die Kraft entgegen und in sich auf. Die Größe und Majestät Lugalbandas waren überwältigend. Die Augen Lugalbandas waren wie Sonnen über ihm. Endlich begegne ich meinem Vater, dachte Gilgamesch. Und er ist ein Gott.

Gelassen sprach dann Lugalbanda: »Ich sage dir nur dies eine, mein Sohn Gilgamesch, und das weißt du bereits, obwohl du glaubst, du hättest es vergessen: Es gibt keinen Tod. ES GIBT DEN TOD NICHT. Es gibt nur die Verwandlung, und die Verwandlung führt nur zu erneuter Geburt und erneutem Leben. Deine Seele wandert immer weiter, voll Freude und Erstaunen, durch alles, was da kommen will; und wenn alles geschehen ist, so wird es wieder und wieder und immer wieder geschehen, ohne Ende und ohne zu verblassen. Wir sind unzerstörbar, auch wenn wir sterben und wie Asche zerstreut werden im Zeitenwind, denn wir werden immer wieder zusammengeführt und neugeboren. Und dies ist die Wahrheit über die Welt, Gilgamesch. Und es ist die einzige Wahrheit: Es gibt keinen Tod! Verstehst du mich, Gilgamesch? Verstehst du, begreifst du das?«

»Doch, ich glaube, ich verstehe es. Ja, Vater.«

»Das ist gut. Dann geh nun. Geh. Und nimm meinen Segen mit dir.«

Und dann bekam Gilgamesch den Eindruck, als beginne die Gestalt Lugalbandas zu schwanken und immer mehr zu verblassen.

»Vater? Vater, werde ich dich denn wiedersehen?«

»Aber gewiß.«

»Vater! Vater!«

»Geh nun«, befahl Lugalbanda. »Alles ist bereit und wartet auf dich.«

Gilgamesch versuchte, die Hand seines Vaters festzuhalten, doch es ging nicht, die Hand besaß keine Festigkeit mehr, sie war nur noch eine Schattenhand, und dann war sie ganz verschwunden, und da war nichts mehr, und er stand allein und mußte blinzeln gegen die plötzliche Helligkeit, die über ihn hereinbrach. Über dem Horizont zuckten Blitze. Aus dem Osten fuhr ein Wind herein, scharf wie eine Klinge, fegte das flache Land kahl und wirbelte Wolken graubraunen Staubes auf. Und er trug einen Bogen in der Hand, seinen eigenen Bogen aus mehreren edlen Hölzern gefügt, seinen Bogen, den kein anderer Mann zu spannen stark genug war, außer ihm — ihm und Enkidu. Er kannte diesen Ort hier wieder. Ja, wirklich, er war früher schon hier gewesen. Es war die Nachwelt. Es war das Outback, das öde Hinterland, in dem er so lange Zeit auf Jagd gegangen war. Er kniff die Augen zusammen und spähte in die Ferne. Über die weite Ebene her bewegte sich eine Gestalt auf ihn zu. Es war ein Mann, ein starker, von Leben strotzender Mann, ein Mann, den er so gut kannte, wie er sich selber kannte. Es war Enkidu, sein Enkidu, und er lächelte und winkte ihm zu. »Bruder!« rief er laut. »Heil dir, Bruder!« Und auch Gilgamesch lächelte und winkte zurück und rief ihm freudig einen Gruß entgegen und ging auf ihn zu.

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