6

Keiner von beiden sprach ein Wort, als sie sich westwärts wandten, oder in die Richtung, die sie für Westen hielten. Gilgamesch wünschte sich innig, daß Enkidu zuerst zu sprechen beginnen möge, und Enkidu erwartete das gleiche offensichtlich von ihm. Das Land hier war geisterhaft, voll Feuer und Frost, voller Berge mit Dämonengestalt und voll von Dämonen, die geformt waren wie Berge. Über dem fernen Horizont schwebte niedrig die Sonne, doch sie brannte in einer kalten Mittagsschärfe und war wie ein Gewürm, das sich ein Loch durch den Himmel fraß. Gilgamesch sah hin und wieder fremdartige Geschöpfe vor ihnen herlaufen, und er hob den Bogen und ließ ihn wieder sinken, ohne zu schießen; oder es war Enkidu, der zielte, aber es nicht über sich brachte, den Pfeil zu entsenden. Es war, als sei diese Entfremdung zwischen ihnen noch nicht völlig überwunden und als lähmte dies den Wunsch zu jagen in beiden.

Aber als schließlich das Schweigen zwischen ihnen so lastend geworden war, daß es wie eine schwere eiserne Kugel auf Gilgameschs Nacken drückte, holte er tief Luft in die Lungen, so tief er konnte, und weil er es nicht länger aushalten konnte, sprach er plötzlich: »Also, willst du mir eins sagen, Bruder?«

»Ja?« sprudelte Enkidu eifrig hervor. »Was immer es ist, mein Bruder, frage nur.«

Die erste Frage, die ihm in den Sinn kam, sprach er ungestüm aus und nur, um das Schweigen zwischen ihnen zu durchbrechen. »In der Zeit, die du allein verbracht hast, wie lang das auch sein mag — was war das Merkwürdigste, was du sahst, und wo hast du es gesehen?«

»Ach, das Merkwürdigste, was ich sah?« sagte Enkidu und versank erneut in ein Schweigen, das so lang und lastend wurde, daß Gilgamesch zu fürchten begann, es würde sie beide wieder verschlingen, wie es vordem gewesen war, und sie für die künftigen Tage wieder in diese düstere Eiseskälte des Herzens hüllen. Aber dann sagte Enkidu: »Es war an einem Ort im Norden, jenseits von Cibola, jenseits sogar noch vom kalten Sargassomeer. Es war das Tor zum Land der Lebenden, wonach ich damals suchte, und man hatte mir gesagt, daß ich es dort finden könnte.«

»Das Land der Lebenden?« sagte Gilgamesch. »Also hast auch du danach gesucht? Ich habe gehört, daß auch diese englische Königin, die Queen Elizabeth, Männer ausgesandt hat, die danach forschen sollen, hier im Outback.«

»Alle suchen danach, Bruder.«

»Nicht ich! Ich nicht! Für mich ist das Ganze bloßer hirnrissiger Humbug.«

»Das mag so sein«, erwiderte Enkidu. »Ich jedenfalls war auf der Suche danach. Vielleicht glaubte ich, daß ich dich dort finden könnte, jenseits dieses Durchgangs im Norden. Aber wie es sich zeigte, es gab dort kein solches Tor, jedenfalls soweit ich es feststellen konnte. Aber was ich entdeckte, was merkwürdig genug. Ich durchquerte ein unfruchtbares flaches Land, recht ähnlich wie dieses hier, nur daß dort überall helle blaue Schneewirbel durch die Luft tanzten, und wenn du auf den Boden tratest, jagtest du Wolken von Kristallen auf, die wie Diamanten blitzten und Musik von sich gaben. Und ich sah vor mir ein Weib, eine feine zierliche Frau mit weichem Goldhaar und prächtigen Brüsten, und sie stand vor mir da auf meiner Straße und rief meinen Namen und lächelte mich an.«

Und damit verstummte er wieder, als sei damit seine Geschichte zu Ende.

Gilgamesch wartete, denn er wußte, da mußte noch etliches mehr kommen, auch weil er wußte, daß Enkidu so seine eigene Art hatte, Geschichten zu erzählen. Doch die Zeit verging, und es kam nichts weiter von ihm. Sie schritten aus und folgten ihrem Weg. Nach längerer Zeit wandte er sich Enkidu zu und fragte: »Und? Hast du sie umarmt?«

»Umarmt? Oh. Ja. Ja, das tat ich. Ich trat vor sie hin und griff nach ihr und zog sie in die Arme, und sie fügte sich ganz bereitwillig.« Er lachte. »Warum hätte ich es nicht tun sollen? Sie war sehr schön, Bruder.«

»Und was war daran so merkwürdig?«

»Das Merkwürdige, ja…« Enkidu sprach wie aus weiter Ferne. »Ich will dir davon berichten. Als sie in meinen Armen lag, machte ich mich daran, ihren weichen glatten Rücken zu streicheln, wie Weiber das oft gern von dir erwarten. Doch da war nichts Weiches und Sanftes, Bruder! Von vorne war sie eine wunderschöne Frau, doch von hinten war sie wie ein hohler Baum mit einer groben Borke.«

»Eine Dämonin!« sagte Gilgamesch und machte das Zeichen, um den Schutz Enlils des Vaters anzurufen.

»Eine Dämonin, ja, vielleicht«, sagte Enkidu. »Aber auch eine ziemliche Enttäuschung. Und vergeudete Schönheit, als ich entdeckte, daß sie nur zur Hälfte schön war und die andere Hälfte war die eines Ungeheuers.«

»Aber sie hat dir doch keinen Schaden zugefügt?« fragte Gilgamesch besorgt.

»Nur meinem Gefühl für das, was angemessen und sauber ist. Eine schöne Frau sollte eben durch und durch schön sein, sonst sollte es an ihr überhaupt nichts Schönes geben. Das ist es, was ich denke.« Und nach einer Weile sprach er weiter: »Es kommt noch mehr.«

»Dann sprich dich aus.«

»Ich machte mich von ihr frei und ging fort von ihr, und eine kleine Zeit später stieß ich auf eine zweite Frau am Rand der Straße, und ihre Haare waren rot wie Scharlach und die Haut weiß, und ihr Gesicht war wie das einer Göttin. Sie streckte mir die Arme entgegen, und ich zog sie an mich, und ihre Rückseite waren nur Knochen, hart und kalt und nackt, kein Fetzchen Fleisch bedeckte sie.«

»Wie betrüblich.«

»Ja, sehr betrüblich. Und das nächste Weib…«

»Die nächste? — Ja, wie viele waren es denn?«

»Die nächste hatte schwarze Haare und eine goldene Haut, und Brüstchen, die so bezaubernd waren, daß ich hätte weinen mögen. Und ich drehte sie um, und ihr Rücken war nichts als Seetang und Muscheln. Und die nächste, die dann kam…«

»Die nächste, ja?«

»Schlangen und Kröten auf dem Rücken und die Zeichen des Aussatzes. Doch von vorn strahlend wie ein jungfräuliches Mädchen, und ihre Augen waren blau, und ihr Haar war wie der Aufgang der Sonne. Ihre Schönheit, Bruder, sie hätte dich weinen gemacht, und ebenso das Übel, das hinter ihr lauerte.«

»Und nach ihr kamen weitere«, sagte Gilgamesch, »und jede war noch übler als die zuvor, ja?«

»Ja. Alle paar hundert Schritt stand da eine weitere. Sie schienen wie Blumen aus dem Boden zu wachsen. Und ich zog weiter und weiter, und am Ende rannte ich, und sie winkten mir mit ihren Armen zu, mit Bewegungen wie die der Bäume, die tief im Meer wachsen, und ich lief und rannte, floh, bis ich bei der letzten von ihnen anlangte, und sie war sogar noch schöner als die anderen und sagte zu mir: Hier bin ich, Enkidu. Ich bin es, die Eine, die Wahre. Doch ich schüttelte den Kopf. Und ich sagte ihr, sie solle mir fernbleiben. Ich bin das, was du suchst, sagte sie, ich bin es. Und als sie mir nahe kam, hob ich den Bogen und legte einen Pfeil auf die Sehne und sagte zu ihr, daß ich sie in ihr nächstes Leben befördern würde, wenn sie mir noch einen Schritt näher käme.«

»Und? Kam sie dennoch näher?«

»Nein«, antwortete Enkidu tief bekümmert. »Sie wandte sich um und ging dann mit hängenden Schultern ganz langsam davon und drehte sich kein einziges Mal zu mir um. Aber von hinten war sie noch liebreizender als von vorn. Sie war vollkommen. Makellos. Ich sah ihr nach, bis sie meinem Blick entschwand. Und dann lief ich in die andere Richtung und hielt nicht inne, bis die Dunkelheit hereinbrach. Denn da schien mir gewiß zu sein, daß die Tür zum Land der Lebenden dort nicht zu finden sein würde. Und, Bruder, ich wußte, wäre ich diesem Weib gefolgt und hätte sie umarmt, sie hätte sich in meinen Armen verändert und wäre zu etwas noch Scheußlicherem geworden als alle die anderen, die ich vor ihr sah, und der Schmerz würde mich dann nie wieder loslassen. So geht das doch? Meinst du nicht auch?«

»Wer kann das schon sagen, wo Dämonen im Spiel sind? Aber vielleicht hattest du recht, vor ihnen zu fliehen. Auf jeden Fall ist das eine sehr seltsame Geschichte, eine sehr seltsame, Enkidu.«

»Es ist die seltsamste Sache, die ich dir erzählen kann, von allem, was mir widerfuhr, während ich einsam wanderte.«

Gilgamesch nickte. »Eine sehr seltsame Geschichte«, wiederholte er.

»Und du, Bruder? Was hast du getan in der Zeit, die wir voneinander getrennt waren?«

»Ich habe gejagt«, sagte Gilgamesch. »Allein. Mir war nicht nach Gesellschaft, auch wenn ich gelegentlich jemand fand, oder sie mich fanden, eigentlich. Es war eine kalte Zeit für mich. Bruder.«

»Wir hätten uns nie trennen dürfen.«

»Ja«, sagte Gilgamesch. »Niemals. Aber wir wurden auseinandergerissen. Doch jetzt ist diese Zeit vorbei.«

»Es waren die bösen Dämonen, die sich zwischen uns drängten«, sagte Enkidu. »Die Dämonen verleiteten uns zum Zerwürfnis.«

»Ja, das denke ich auch«, sagte Gilgamesch.

Und danach schwiegen sie wieder. Schließlich sagte Enkidu: »Also, Bruder, wohin sollen wir uns jetzt wenden? Verfolgst du einen bestimmten Weg hier durch dieses Outback?«

»Nur den Weg, wie ihn meine Sohlen finden, Schritt für Schritt.«

»Ah. Ich verstehe. Nun, dann soll dies auch mein Weg sein«, sagte Enkidu.

Sie lagerten für die Nacht an einer Stelle im Flachland, an der sich zwei ausgetrocknete Flußläufe vereinigten und gezackte Felsspitzen vor ihnen direkt aus dem Wüstenboden sich zu bestürzender Höhe erhoben. Enkidu jagte ein Tier, das war wie eine Schwarzgazelle, doch zopfartige grüne Zotteln entlang des Rückenkamms besaß und beunruhigende rote Hörner, gebogen wie Krummsäbel, und fing es ein und rang es zu Boden und erlegte es. Sie enthäuteten es gemeinsam, und sie brieten es über dem Feuer, das Gilgamesch mittels der merkwürdigen grauen Kohlen entzündet hatte, die sich im Wadi türmten. Und danach saßen sie still beieinander, schliefen nicht, waren aber auch nicht gänzlich wach, und sprachen sehr wenig. Es genügte ihnen, wieder beisammenzusein. Von Beginn an, seit den Zeiten im verlorenen uralten Uruk in der anderen Welt, als sie einander begegneten, miteinander rangen und sogleich in heftige Freundschaft fielen, hatten sie beide im anderen einen Gleichen gesehen, eine ergänzende zweite Hälfte. Außer an körperlicher Größe und Stärke waren sie sich nicht ähnlich, denn in jenem anderen Leben war Gilgamesch ein Königssohn, aufgewachsen und erzogen im Überfluß, um das Erbe der Macht anzutreten; und der starke Zottelriese Enkidu war in der Wildnis geboren, war selbst nur ein Wildling, der mit den Tieren der Wildnis lebte und keine Sprache kannte als die der Tiere, bis er mannbar geworden war; doch sie hatten vom ersten Augenschein an erkannt, daß sie zueinander paßten, einander ergänzten wie die zwei Teile eines Ganzen; und so war es dann stets zwischen ihnen geblieben — außer in der Zeit ihres Zerwürfnisses und der Entfremdung, und diese war nun vorbei.

Und in dem Augenblick kurz vor dem ersten Morgenlicht, wenn die Seelen ausgespannt zwischen Ewigkeit und Vergessen schweben, richtete Gilgamesch sich plötzlich auf, denn er hatte das bedrückende Gefühl, daß das Meer mit tödlicher Gewalt über ihn hereinbrechen werde. Aber sie waren hier weitab vom Meer, so weit man es sich nur vorstellen konnte.

»Bruder?« fragte er.

»Horch!« sagte Enkidu, der bereits hellwach war.

Gilgamesch nickte. Er vernahm gemeine, spöttische, schmatzende, keckernde Laute wie von Mistvögeln oder von Grabschakalen. Seine Hand fuhr zur Waffe, er sprang auf und tanzte einen Schritt nach vorn und wirbelte dabei herum. Und in diesem Augenblick zitterten die ersten dünnen Strahlen der Morgensonne über den niederen Bergkamm hinter ihnen, und mit der Sonne kam ein Dutzend Geschöpfe der Dunkelheit, Wesen in Mannsgestalt, aber scheußlich verzerrt, verkrümmte, dickliche, kurzbeinige Geschöpfe mit großen baumelnden Armen, die im fahlroten Licht der aufsteigenden Sonne unendlich lang aussahen.

»Enki! Enlil!« brüllte Gilgamesch, und dann stürzten Enkidu und er sich ohne Zögern den Wesen entgegen.

Mit seinem ersten Hieb zerschnitt er zwei davon halb durch, und Enkidu einen dritten Unhold. Die zerstückelten Leiber fielen nieder und verströmten eine dunkle goldene Flüssigkeit. Gilgamesch wirbelte herum, bereit für den nächsten Angreifer, doch sie zogen sich mit feigen leisen Schnüffellauten zurück. Hatte das Gemetzel sie in die Flucht geschlagen? Nein, es war ein Täuschungsmanöver! Sechs weitere kamen seitlich heran, und mindestens ebenso viele von der anderen Seite und stürzten sich furchtlos den beiden Sumerern entgegen. Gilgamesch pflückte einen von Enkidus Schulter und schleuderte ihn weit fort, und Enkidu, der herumfuhr, säbelte einen Angreifer von Gilgameschs Bein, an dem das Ding zerrte, um ihn zu Boden zu werfen.

»Rücken an Rücken, Bruder!« rief Enkidu.

Gilgamesch nickte. Sie gingen in Position und drückten sich eng aneinander, bildeten einen einzigen Leib mit acht Gliedmaßen und zwei wütenden Schwertern. Sie brauchten einander keine weiteren Hinweise zu geben, sie bewegten sich im Einklang, hierhin und dann dorthin, sie hieben zu, stießen, zerschlitzten, schlachteten. Kurz darauf lag ein Halbdutzend der gräßlichen Angreifer tot da, und die übrigen umkreisten sie unruhig, kläffend und zischend, und suchten auf irgendeine Weise die Abwehr der beiden Männer zu durchbrechen.

Dann war die Sonne ganz über den Kamm gestiegen, und ihr volles Licht brach über den Kampfplatz herein; und die Überlebenden unternahmen nicht den Versuch, ihre Gefallenen zu bergen, sondern wandten sich zur Flucht und eilten nach Westen, als fürchteten sie, von der frischgeborenen Tageshelle versengt zu werden. Einer von ihnen wandte sich zu ihnen um, und Gilgamesch erblickte eine grausam höhnende Parodie von Menschengestalt: eine breite niedere dunkle Stirn, zwei funkelnde rote Augen, weitgespreizte Klauenhände. Gilgamesch hob drohend die Faust, und in der alten Sprache des Landes gebot er dem Unhold und allen seiner Art, sich davonzumachen. Schnaubend und fauchend floh das Untier. Die übrigen rannten noch schneller davon, überholten es und verschwanden eines nach dem anderen in Spalten und Höhleneingängen im zerklüfteten Boden.

Enkidu sah starr auf die umherliegenden Leichen. Mit einem leichten Schaudern sagte er: »Bei Enlil, Bruder, das ist wahrhaft ein verrottetes Land, das so scheußliche Geschöpfe hervorbringt.«

»Sind’s Dämonen, meinst du?«

»Nein, bloße Affen, scheint mir.«

Gilgamesch zuckte die Achseln. »Affen oder Dämonen, was macht das für einen Unterschied. Aber ich bin viel lieber in ihrer Gesellschaft als in der von Narren.«

»Und was für Narren meinst du, Bruder?«

Gilgamesch wies mit dem Daumen heftig nach rückwärts, über die Schulter. »Narren, wie sie in den Städten hausen, die hinter uns liegen.«

»Aha. Ja. Du meinst, wie dieser Priester Johannes?«

»Der ist weit weniger ein Narr als die meisten anderen. Nein, ich meine Städte wie Nova Roma und die anderen weit drüben fern im Osten…«

»Elektrograd, ja? Guillotine? Die Städte der Spät-Toten?«

Gilgamesch nickte. »Ja, die meine ich. Und mein einziges Ziel ist es jetzt, mich möglichst weit von Orten entfernt aufzuhalten, in denen diese kleinen, keifenden, gierigen Kläglinge hausen, die König von diesem oder jenem zu sein trachten, und — wie lautet das Wort? — Präsident? Ja, Präsident. Sultan, Kaiser, Zar, Schah… Ich beabsichtige, die halbe Nachwelt oder ein Stückchen mehr zwischen mich und all diese Leute und alle derartigen Städte zu legen.«

Enkidu lachte. »Das muß man sich mal vorstellen, daß ich mir die ganze Zeit, während ich einsam durch die Hinterwäldlerwelt streifte, ausmalte, wie du immer noch in Nova Roma in fauler Bequemlichkeit dich herumsuhltest, an einem Abend mit Bismarck speistest, am nächsten mit Cromwell und dann mit Esarhaddon oder Nefertiti…«

»Nova Roma!« brummte Gilgamesch. »Ich konnte es nicht ausstehen. Ich konnte nicht schnell genug weg von da. Und wenn ich Nova Roma nie wieder sehen muß — oder Bismarck oder Cromwell oder Lenin — oder jemals diese Namen hören muß…« Er schüttelte den Kopf. »Nein, Bruder, das ist eine Lebensphase, die für mich vorbei und abgetan ist. Mich verlangt es nur noch sehnlich danach, als einfacher schlichter Jäger zu leben. Ich werde mich fernhalten von allen diesen wichtigen Hauptstädten, wo sich die Später Toten herumtreiben könnten. Elektrograd, Guillotine, Smoketown, Hypoluxo, Hoch-Versailles — mir sind schon die Namen ein Abscheu und Greuel! Nein, Enkidu, für mich heißt es das Outback, die Wildnis. Jetzt und für immer!«

»Und so ist es auch für mich«, sagte Enkidu. Und sie beschworen es und umarmten einander.


Es hätte Gilgamesch sehr gefallen, anderthalb Ewigkeiten und noch eine dazu damit zu verbringen, mit Enkidu als einzigem Gefährten diese wilden abweisenden Landstriche zu durchstreifen. Sie paßten zusammen wie die Hand in den Handschuh, und sie brauchten auch kaum miteinander zu sprechen, weil jeder wußte, was der andere dachte. Vereint weiter zu wandern, Tag um Tag unter der scharfen roten Sonne, gemeinsam gegen die gespenstischen Alptraumgeschöpfe dieser feindseligen Gegend ankämpfend, Auge und Hand und Stärke zu erproben gegen die teuflische Stärke und Hartnäckigkeit der höllischen Wesen, die in den Ödnissen des Outback lauerten — ach, das war die einzige echte Wonne, dachte Gilgamesch. Das einzige im Leben, was wirklich Lust und Erfüllung brachte! Gilgamesch und Enkidu — Enkidu und Gilgamesch — nur sie zwei beide allein, weit fort von den Eitelkeiten und Torheiten und dem fehlgeleiteten Streben der schnatternden Stadtleute!

Aber es sollte nicht sein.

So kahl und leer das Land großenteils war, es war nicht gänzlich leer. Kein Teil der Nachwelt konnte noch leer sein, nicht die unter Eis begrabenen Polarregionen, nicht die kochende Zone der Weltmitte, und auch nicht dieses öde versengte Land im Outback; denn es gab hier Milliarden und Abermilliarden Seelen unterzubringen — Seelen, so entschieden die Leute, die es sich zur Aufgabe gemacht hatten, derartige Dinge zu erforschen, von jedem Menschen, der einstmals auf der früheren Erde gelebt hatte. Und obschon die Nachwelt die Dimensionsbegriffe sogar der gescheitesten Geographen überstieg, gab es auch hier kaum einen Winkel, in dem nicht etliche verstreute Siedler hausten oder es doch zumindest wild umherschweifende Nomadenhorden gab. Gilgamesch und Enkidu hatten es recht schwer, als sie kreuz und quer und auf gut Glück durch das Land zogen, ihre einsame Zweisamkeit länger als einige Tage ohne äußere Störungen aufrechtzuerhalten.

Einmal war es eine klägliche Farm, auf die sie stießen, mit Scheuern und Ställen aus rohen ungestrichenen Brettern und Krähen und Geiern, die auf den krummen Ästen der Bäume dahinter hockten, und ein Grüppchen ausgemergelter graugesichtiger Leute, die gegen den elenden Boden ankämpften. Und ein andermal war es eine Karawane, die sich von da nach dort zwischen den weit entfernt liegenden Siedlungen der weiten Ebene sich dahinschleppte. Und ab und zu war es ein Pilger, allein unterwegs wie sie. Soweit es möglich war, vermieden die beiden Sumerer Begegnungen mit anderen. Manchmal aber war dies nicht möglich, wenn sie nicht unnötig Anlaß zu Feindseligkeit bieten oder sich unnötig in Gefahr bringen wollten; oder aber der einzige Weg führte durch besiedeltes Gebiet. Und manchmal — von Hunger und Durst bedrängt oder dem schlichten Bedürfnis, hin und wieder andere menschliche Stimmen zu hören — entschieden sie sich ganz spontan, ihren Zölibat zu durchbrechen und sich etliche Stunden in der Gesellschaft anderer Menschen zu gönnen, bevor sie weiterzogen.

Und so kam es, fast gegen ihren Willen, daß sie sich mit diesen Leuten einließen, oder mit jenen, oder jenen, und daß sie bei ihnen am Feuer saßen und Tratsch und Gerüchte mit ihnen austauschten und die Namen der Fürsten und der Völker erfuhren, die es im Outback gab, und von den eitlen Bestrebungen und Süchten und schalen Träumen erfuhren, von denen sie getrieben wurden, von den Kriegen, die hier gekämpft wurden, von den Intrigen, den idiotischen Plänen, dem Irrsinn. Und so lernten die beiden wandernden Sumerer, die länger in den übervölkerten Städten an der östlichen Küste der großen Landmasse gelebt hatten, welche die Nachwelt war, daß sogar hier in dieser wilderen Gegend, dem Outback, die gleichen aberwitzigen Irrsinnsvorstellungen im Schwange waren, die gleichen verrückten Versuche, in diesem Leben die Fehler des anderen zu wiederholen. Und so senkte sich die Überzeugung in ihre Herzen, die Wahrheit: Menschen sind eben Menschen, überall, und es gibt kein Ausweichen vor ihrer Schwachheit und ihrem Schwachsinn, alle sind gleich, überall, gleichgültig, welche Art Kleider sie tragen oder was für eine Sprache sie reden. Es war eine betrübliche Wahrheit, die sie da erfuhren, und Gilgamesch suchte in den nebelhaften Tiefen seiner von Zeitgeschichte überlagerten Erinnerung umher und hatte auf einmal das traurige Gefühl, dies alles nicht zum erstenmal zu erfahren.

Obwohl sie selten länger als drei Tage in die selbe Richtung zogen, entdeckten sie, daß sie überwiegend westwärts vorangekommen waren und sich nun fast am äußersten Rand des Outback befanden. Dies erfuhren sie in einem Ort namens Vectis Minima, der aus einer Wegkreuzung und einer Raststätte mit fünf Kabinen bestand, über die ein fahläugiger alter Mann wachte, dessen Gesicht zernarbter und kummervoller wirkte als das Antlitz des Mondes. Sie suchten hier Unterschlupf vor einem kalten schwarzen Regen, der in flachen Bahnen über das Land fegte, ohne den Boden zu treffen, der sie aber dennoch bis in die Knochen frieren ließ. Dort fragte Gilgamesch aus einer launigen Neugier, wo sie sich befänden und was vor ihnen liege.

»Ihr seid hier an die zwölf Tagesreisen von der See entfernt«, unterrichtete sie der alte runzelige Gastwirt.

»Der See? Welcher See?« Gilgamesch war überrascht.

»Na, dem Weißen Meer, dem Dämonenmeer. Was sonst? Mit was für einem anderen Meer habt ihr denn gerechnet?«

»Das mußte ja so kommen«, brummte Gilgamesch. »Wir sind Fremde aus dem Osten.«

»Aha, dem Osten«, sagte der Wirt. »Dem Vulking-Land, ja? Oder aus Lord Wolframs Domäne?«

»Nein, noch weiter im Osten«, sagte Gilgamesch. »Tausend Tripelmeilen, vielleicht auch zehntausend. Zuletzt waren wir in Nova Roma zu Hause.«

»In Nova Roma«, sagte der Alte leise, als hätte Gilgamesch von einem fremden Stern gesprochen. »Ja, dann seid ihr also aus Nova Roma? Aber dann seid ihr weit weg von dort. Seht her!« Und er tunkte die Fingerspitze in den herben grauen Hauswein und zog eine Linie über das splitternde Holz der Tischplatte. »Also, das Meer liegt da, und wir sind hier drüben. Das ist der Weg nach Lo-yang und das da der Weg nach Cabuldidiri. Ihr kennt diese Orte? Nein? Nun, verpaßt habt ihr dabei nicht viel. Und das da führt direkt weiter zur Brasil-Insel, von der ihr sicherlich gehört habt.«

»Brasil?« sagte Gilgamesch. »Was ist das?«

»Ich kenne es«, sagte Enkidu plötzlich. »Wenigstens vom Hörensagen. Die berühmte Insel der Weisen und der Magier, nicht wahr?«

»So ist es. Die Zauberinsel. Die Spukinsel«, sagte der Wirt. »Wo Simon der Magus als König herrscht, und mögen euch alle Dämonen davor bewahren, dem zu begegnen. Nun, und diese Berge hier, das sind die Mottenberge« — er zeichnete sie mit weiteren Weinspuren auf das dürre Holz — »und hinter denen liegen fünf Städte, und sie heißen Torfaeus, Gardilone, Pizigani, Camerata und — also, es gibt da noch eine fünfte Stadt, aber ihr Name fällt mir momentan nicht ein. Und wenn man von hier aus nordwärts geht…«

»Es reicht«, unterbrach ihn Gilgamesch. »Du sagst mir mehr, als ich wissen möchte.«

Seine Stimmung war mit jedem Namen düsterer geworden, den der Alte über die Lippen gerollt hatte. Er hatte nicht erwartet, schon so bald ans Ende der Wüste zu gelangen, doch es wurde ihm klar, daß es vielleicht überhaupt nicht ›so bald‹ war, sondern daß er und Enkidu Jahre, vielleicht Jahrhunderte in der Ödnis verbracht hatten, seit sie vom Hof des Priesterkönigs Johannes aufbrachen, während sie doch geglaubt hatten, es seien nur etliche Monate gewesen. Der Ablauf der Zeit war höchst unbestimmt hier. Und nun lag direkt vor ihm eine Küstenregion, die er noch nicht kannte, die aber allem Anschein nach derjenigen recht ähnlich war, die er hinter sich gelassen hatte: weitere Städte, weitere Könige, wieder neue Ränke und wieder die gleiche Torheit. Am besten wäre es wohl kehrtzumachen und wieder ins Kernland zurück zu ziehen. Das hatten sie doch gewiß noch nicht gänzlich durchstreift.

Doch auch dies sollte nicht sein. Denn sie schlugen die Straße nach Norden ein, zu dem Ort namens Cabuldidiri, denn sie gedachten von dort auf einer passablen Wüstenroute wieder ins Landesinnere zurückkehren. Doch sie waren kaum etliche Meilen weit gekommen, als der Weg sich ärgerlich erneut westwärts zu winden begann, als wollte er ihnen nicht erlauben, Cabuldidiri zu erreichen. Sie konnten in weiter Ferne vor sich ein Tal sehen und eine mittelgroße Stadt, die auf einem Einschnitt zwischen zwei senkrechten Bergflanken lagerte. Dies war gewiß die Stadt Cabuldidiri. Aber die Straße erlaubte ihnen nicht, sie zu erreichen. Beständig bog sie zur Seite ab und fort. Selbst als sie die Route verließen und durch das wilde Land ostwärts vorantreckten, fanden sie nach kurzem, daß sie wieder in die entgegengesetzte Richtung zogen.

»Was soll das?« fragte Enkidu. »Wieso entwischt uns die Stadt immer wieder, Bruder?«

»Enlil allein mag es wissen. Vielleicht liegt dort ja gar keine Stadt. Vielleicht gibt es auch keine Straße. Oder die Zauberer verlegen die Straße jede Nacht anders, um sich zu belustigen.«

»Was sollen wir tun?«

»Unseren Füßen folgen«, sagte Gilgamesch. »Und unsere Füße werden ihrem Schicksal nachgehen, und auf diese Weise erfahren wir, was uns bestimmt ist.«

Das Schicksal ihrer Füße schien sie in einen immer enger werdenden Canyon zu führen, der — soweit sie dies feststellen konnten — von Osten nach Westen verlief. Obwohl das die entgegengesetzte Richtung war, die sie hatten einschlagen wollen, blieb ihnen nichts anderes übrig, als zu gehorchen, denn zu beiden Seiten ragten die Wände der Kluft empor wie glattes Glas, und so wurden sie in die Schlucht hineingezwungen wie Tiere, die in eine Falle tappen. Gilgamesch empfand dies als ärgerlich, und er wanderte mürrisch dahin und suchte beständig die Felsenbollwerke zur Rechten und zur Linken nach irgendeiner Öffnung ab. Doch da war nichts. Die Wände waren inzwischen so dicht zusammengerückt, daß er sie fast mit den ausgestreckten Armen berühren konnte, und sie schimmerten hell wie polierter rosa Marmor, und der schmale Pfad unter ihren Füßen war von roter Erde und Kolonnen emsiger grün-schwarzer Insekten krochen darauf herum. Um den Himmel zu sehen, mußte man den Kopf weit in den Nacken legen und gerade nach oben blicken.

Nach etlicher Zeit tauchten vor ihnen Wagenspuren auf.

»Wir sind hinter einer Karawane«, bemerkte Enkidu. »Da? Siehst du den frischen Dung? Was werden wir tun, Bruder? Warten wir, bis sie fortgezogen sind?«

»Ich denke, nein«, antwortete Gilgamesch. »Hier ist ein Ort des Todes, sehr beklemmend für die Seele, und es gibt außer Käfern nichts zu essen. Wir ziehen weiter und holen sie ein, und vielleicht reisen wir ein Stück weit mit ihnen, sofern sie sich als freundlich erweisen.«

»Wie du sagst, Bruder.«

Nach drei Tagen und drei Nächten holten sie die Karawane ein: Ein Dutzend wackeliger schäbiger trauriger Karren, ein paar mit Landsegeln bestückt, andere gezogen von hageren erschöpft wirkenden Lasttieren. Sobald sie auftauchten, begann ein Hund wie wild zu kläffen, und der Zug hielt sogleich an. Männer und etliche Frauen, die mit Pistolen und Schnellfeuerwaffen ausgerüstet waren, sprangen herab und kauerten sich auf den roten Boden, als erwarteten sie einen Angriff.

Es waren allesamt später Tote, sah Gilgamesch angewidert. »Komm«, sagte er zu Enkidu. »Gehen wir friedlich auf sie zu. Die halten uns wahrscheinlich für Späher, für die Vorhut eines größeren Trupps, oder aber sie sind außergewöhnlich ängstlich.«

Mit hoch erhobenen Händen trat er vor.

Die Reisenden gaben ihre Vorsicht nicht so rasch auf. Der Anführer, ein stämmiger dickbäuchiger Mann namens van der Heyden, hatte zwei Patronengurte um seine Mitte geschlungen und hielt unter beiden Armen eine Waffe, und er forschte sie ziemlich lange aus, fragte, woher sie kämen und wohin sie zu ziehen beabsichtigten, ob sie noch weitere Gefährten weiter hinten hätten. »Wir sind nur zwei umherziehende Jäger«, gab Gilgamesch Auskunft, »und wir sind nicht mehr, als was du hier siehst.«

»Jäger? Hier draußen? Was gibt es denn hier zu jagen?«

»Wir hätten gern eine mehr östliche Route eingeschlagen, aber durch die Natur der Straße wurden wir in diese Schlucht gezwungen.«

»Also ist nicht Brasil euer Ziel?«

»Kaum«, sagte Gilgamesch. »Wir würden es ganz gern vermeiden.«

Van der Heyden lachte glucksend. »Kaum eine Chance dafür jetzt. Dieser Canyon endet direkt an der Festlandküste gegenüber von Brasil. Jetzt kommt ihr da nicht mehr daran vorbei.«

»Und wenn wir umkehren?« sagte Enkidu.

»Dann findet ihr euch genau da wieder, wo ihr vorher wart. Und es ist ein langer hungriger Fußmarsch bis dorthin.« Die Augen des stämmigen Mannes wurden schmal. »Aber ihr seht mir beide nicht aus wie Trottel. Also, warum sollte jemand so wie ihr durch eine Gegend wie die hier reisen? Da steckt doch mehr dahinter.«

»Was du siehst«, sagte Gilgamesch, »sind zwei Männer, denen nichts am Leben in den Städten liegt und die nur die Einsamkeit suchen — die sogar in dieser Gegend schwerer zu finden ist, als wir erwarteten. Wir sind keine Späher, und wir haben nichts Hinterhältiges im Sinn. Wenn es euch gefällt, schließen wir uns euch an und leisten euch jede Art von Hilfe, die ihr braucht, bis wir aus dieser Schlucht herauskommen, gegen Essen und eine Decke für die Nacht. Wenn nicht, nun, dann werden wir weiterziehen und uns allein durchschlagen.«

Van der Heyden überdachte das Angebot eine Weile.

»Könnt ihr kämpfen?« fragte er schließlich.

»Was glaubst du denn?« Enkidu grinste aus seiner großen Höhe zu ihm hinab.

»Damit? Mit Schwertern? Mit Pfeil und Bogen?«

»Wir kommen recht gut damit zurecht«, sagte Gilgamesch. »Aber wir sind auch mit euren Waffen vertraut. Aber wenn ihr keine Verwendung für uns habt…«

»Halt!« sagte van der Heyden. »Kommt mit uns. Ich denke, wir können zwei Burschen von eurem Kaliber brauchen.«

»In diesem Fall«, sagte Gilgamesch, »sollst du wissen, daß es bereits etliche Tage her ist, seit wir zuletzt etwas gegessen haben.«

»Das habe ich mir doch fast gedacht«, sagte van der Heyden.


Die Karawane kam aus der Stadt Lo-yang im Outback und brachte Waren zum Verkauf in Brasil, wo Simon der Magier herrschte. Van der Heyden vermied es sorgfältig, Genaueres über die Art seiner Waren zu sagen, und man bekam auch sonst keinerlei Hinweise darauf. Aus der Wortkargheit des Dicken und der Ängstlichkeit, mit der die Kauffahrer die beiden Sumerer empfangen hatten, war zu schließen, daß es sich um eine kostbare Fracht handeln müsse und daß man fürchtete, in dieser Region von Briganten überfallen zu werden. Doch Gilgamesch stellte keine Fragen. Er wollte nur mit van der Heyden bis zum Ausgang aus der Schlucht ziehen und sich dann dort von der Karawane trennen und entweder gen Norden oder südwärts ziehen, er wußte noch nicht recht, wohin, in der Hoffnung, dort eine Route zurück in unbesiedelte Landstriche zu finden.

Der Zug kam nur langsam voran. Die Schlucht war kaum weit genug, die Wagen durchzulassen, und an einigen Stellen sah es so aus, als würden sie steckenbleiben; doch van der Heyden verfügte über einen Trick, indem er die Wagen zunächst auf die linken, dann auf die rechten Räder kanten ließ, und irgendwie gelang es ihm, die Fuhrwerke um die Felsvorsprünge herumzumanövrieren, die an den engsten Stellen den Pfad blockierten. Dann wurde die Schlucht allmählich weiter; der Wind war nun weicher und feuchter, ein sicheres Anzeichen dafür, daß sie sich der Küste näherten. Die Wände der Schlucht öffneten sich und ragten nicht mehr steil und senkrecht empor, und sie zeigten auch einigen Pflanzenbewuchs. Und es gab wieder Wild, das man jagen konnte. Die Karawane führte zwar genug eigenen Proviant mit, doch van der Heyden schien geplant zu haben, die Versorgung durch unterwegs erlegte Beutetiere zu ergänzen, und so verdienten sich die beiden Sumerer den Transport, indem sie oben in den Hängen Fleisch jagten.

In der Regel jagten Gilgamesch und Enkidu gemeinsam. Doch einmal zog Gilgamesch allein aus, und dies stellte sich als ein schwerer Fehler heraus.

Der Leitwagen hatte an dem Tag eines seiner Räder verloren. Er krängte stark über, lag fast auf der Seite, und die radlose Achse hatte eine tiefe Furche in den roten staubigen Boden gegraben. Van der Heyden trommelte sich grimmig in die Flanken, dann wandte er sich den kräftigen sumerischen Helden zu und rief: »He! Ihr zwei, kommt doch mal und helft uns!«

»Wir gehen auf die Jagd«, sagte Gilgamesch. »Die Hänge da oben wimmeln von Wild.«

»Also, dann soll einer von euch auf Jagd gehen, und der andere soll uns hier helfen. Wir müssen den verdammten Wagen da wieder aufstellen, kapiert ihr?«

Gilgamesch zögerte. Ärger wallte in ihm hoch. Lastwagen aus dem Graben zu hieven, das war keine Arbeit für einen ehemaligen König; außerdem wartete auf ihn eine gute Jagd. Und er hätte van der Heyden hitzig abfahren lassen, doch Enkidu, der fühlte, was da gleich geschehen würde, legte ihm rasch die Hand auf den Arm und sagte zu dem Kerl: »Ich will euch bei eurem Wagen helfen. Und mein Bruder Gilgamesch wird sich auf die Spur des Wildes machen.«

»Enkidu…«

»Es ist schon recht, Bruder. Ich bringe ihren Wagen in Ordnung, und wenn ich damit fertig bin und es ist genug Licht, folge ich deiner Spur und komme dir nach in die Berge. Und nun geh schon, solange du noch Beute findest.«

»Aber…«

»Geh nur«, wiederholte Enkidu.

Immer noch zornig sah Gilgamesch zu, wie Enkidu zu der Gruppe trat, die sich um den Wagen abmühte. Enkidu stemmte die Schulter gegen die Seite des Karren und winkte Gilgamesch zu, er solle endlich losziehen; und nachdem er noch einen Augenblick finster zugesehen hatte, nickte der sumerische Held und stapfte davon. Es war eigentlich schon recht spät am Tag für die Jagd. Rasch erklomm er den Hang, indem er sich an den verkrüppelten Stämmen der fast blattlosen Büsche festhielt, die dort wurzelten. Ein weißfelliges Geschöpf, nicht viel größer als eine Ziege kam plötzlich aus der Deckung gestürmt, besah ihn bestürzt und floh in wilden Sprüngen hangaufwärts. Gilgamesch machte sich sofort an die Verfolgung, und er verlor beim Aufstieg keinen Augenblick die flimmernde Weißheit des Tieres aus dem Blick. Das Fleisch würde wahrscheinlich gut schmecken; die Decke würde zweifellos einen wundervollen Umhang ergeben. Und so stieg er weiter und höher und weiter, und dann durch einen Spalt in der Felswand des Canyons und weiter, ohne zu ermüden weiter, hinter dem leuchtenden Weiß her.

Am Ende hatte er seine Beute verloren. Das verdroß ihn sehr. Aber er stöberte doch tiefer in den Nebencanyon, in den er geraten war, weil er dachte, er würde vielleicht ein ähnliches Tier aufspüren. Aber auch dies erwies sich als ergebnislos, und so mußte er sich mit kleinerem, weniger erfreulichem Wild begnügen. Als die Schatten wuchsen, kehrte Gilgamesch auf seinem Weg zurück, stieg von dem kleinen Seitental zurück in die große Schlucht und begann den Abstieg zu dem Ort, an dem die Karawane gehalten hatte.

Er konnte den Zug wegen eines Vorsprungs in der Felswand zunächst nicht sehen. Erst als er bis auf halbe Höhe hinabgestiegen war und bevor er die ersten Wagen sah, erblickte er eine schwarze Rauchwolke, die irgendwie nicht wie der Rauch von einem Lagerfeuer aussah. Er rannte hastig an den Rand des Vorsprungs und blickte hinab.

»Götter!« schrie er.

Drunten im Tal lagen die Wagen umgekippt und verstreut umher, als hätte die Hand des Beherrschers der Dämonen sie durcheinandergeworfen. Einige Wagen brannten. Alle waren aufgeschlitzt und ausgeraubt worden. Und darum herum verstreut lagen die Kaufleute in ihrem eigenen Blut. Gilgamesch sah van der Heyden, der auf dem Rücken lag und mit glasigen Augen nach oben starrte. In seiner Brust war eine tiefe Wunde. Andere lagen bäuchlings tot da, oder es war ihnen gelungen, unter einen der Wagen zu kriechen. Niemand bewegte sich mehr.

»Enkidu?« schrie Gilgamesch.

Er ließ die Jagdbeute fallen und raste in wilden Sprüngen, halb schlitternd zum Talgrund hinab. Aus der Nähe sah die Szene des Gemetzels noch furchtbarer und wüster aus, als er befürchtet hatte. Sie waren alle tot, die Männer, die Weiber, die Kinder, sogar die Zugtiere — alle außer einem großen scheckigen Hund namens Ajax, der wild bellend umherrannte. Und alle waren mit einer Raserei und Wut getötet worden, die sogar dem schlachtengehärteten Gilgamesch Ekel erregten: ein gräßliches Hinschlachten, ein abscheuliches Gemetzel. Die Wagen waren wüst geplündert und zerstört worden.

Und Enkidu? Wo war Enkidu?

Das Gefühl, daß er fort sei, dröhnte in Gilgameschs Kopf wie eine schauerliche Glocke.

Verzweifelt suchte er hinter diesem Wagen und unter diesem, und mit seiner gesammelten gewaltigen Stärke brüllte er den Namen seines Freundes: Aber von Enkidu war nirgendwo etwas zu sehen, nicht von ihm und auch nichts von seinen Waffen. Das war verwirrend. Hatten die Angreifer ihn mit sich fortgeschleppt? So sah es aus — es sei denn, daß Enkidu während des Überfalls gar nicht da war, daß er sich in die Berge aufgemacht hatte, um Gilgamesch zu suchen, und daß sie sich irgendwie verpaßt hatten…

Nein, in diesem engen Tal war es ausgeschlossen, daß Enkidu Gilgameschs Fährte nicht gefunden und ihr hätte folgen können! Und Gilgameschs widerhallende Rufe — Enkidu hätte sie doch gewiß hören müssen, wie weit er auch gewandert wäre…

»Enkidu! Enkidu!«

Gilgamesch rief weiter den Namen seines Freundes, bis ihm die Stimme versagte. Doch es half nichts. Die Nacht kam näher. Sicher würde Enkidu aus den Bergen herabkommen, sobald es dunkel wurde. Sofern er überhaupt dort oben war. Ist er denn schon wieder fort von mir? Tot? In die Sklaverei verschleppt?

Verwirrt und tief beunruhigt schleifte Gilgamesch die noch rauchenden Wagentrümmer zusammen und baute aus ihnen einen Scheiterhaufen, und er legte die verstümmelten Leiber der Toten darauf und trat beiseite und sprach die rituellen Worte, während die Flammen aufloderten. Dann wandte er sich ab und schritt davon und zog rasch in den wachsenden Schatten nach Westen. Er wollte die Nacht nicht an diesem Ort des Todes zubringen. Seine Seele war leer. Es war ihnen so wenig Zeit gegeben, bei dieser jüngsten Wiedervereinigung, ehe ihm Enkidu wieder entrissen wurde. Ihr Götter, dachte Gilgamesch, soll es uns denn nie erlaubt sein, beisammen zu bleiben?

Der Hund Ajax trottete hinter ihm drein. Gilgamesch scheuchte ihn fort, doch der Hund bellte und kläffte so verzweifelt, als versuchte er, ihm etwas in Worten zu sagen, und ließ sich nicht abschütteln. Gilgamesch hatte kein Verlangen nach einem Hund; aber er begriff, daß er es kaum über sich bringen konnte, das Tier hier zum Sterben zurückzulassen. Und außerdem sah es so aus, als wäre es unmöglich, den Hund fortzujagen. »Na, dann komm schon«, sagte Gilgamesch zu dem Tier. Und dann zogen sie Seite an Seite weiter durch die Nacht.

Als es wieder hell genug war, daß er etwas sehen konnte, erkannte Gilgamesch, daß er ans Ende der Schlucht gelangt war. Die Felswände öffneten sich hier und sanken zu bloßen Böschungen weitab zu beiden Seiten ab. Nördlich und südlich erhoben sich gewaltige Berge, die Flammen und Rauch ausrülpsten, der das Firmament verdüsterte. Vor ihm lag eine weite Ebene, auf der seltsame verstreute geisterhaft-verdrehte rosafarbene Steinmassen standen, ähnlich wie die Stalagmiten, die man zuweilen in Höhlen sehen kann, sie standen da zu Hunderten und sie sahen wahrhaftig aus wie eine Menge versteinerte Seelen, die sich eng aneinander drängten. Dahinter sah er ein Zeltlager, in dem sich Leute umherbewegten, und noch weiter hinten lag eine schimmernde Wasserfläche und darauf, dicht an der Küste, ankerte ein Schiff mit scharlachrotem Segel. Gilgamesch hatte das Weiße Meer im Fernen Westen erreicht.

In gleichmäßigen weiten Sätzen begann er durch die Reihen der merkwürdigen Steine auf das Zeltlager zuzulaufen. Männer in, wie ihm schien, römischer Kleidung blickten ihm entgegen.

»Wer bist du?« wollte ein Posten wissen.

»Ich bin Gilgamesch von Uruk. Ich suche nach meinem Freunde Enkidu, der…«

»Komm mit mir!«

»Weißt du, wo Enkidu ist?«

»Komm mit!« wiederholte die Wache gleichmütig.

Erschöpft ließ er sich durch das Lager zu einem Zelt bringen, das größer war als die übrigen und aus prachtvoll üppigem bunten Gewebe. Auf einer Art hölzernem Thron lümmelte ein Mann in mittleren Jahren, zur Kahlheit neigend, stattlich von Gestalt und mit einem fleischigen Gesicht voll roter Flecken und Augen, die gerötet waren von zu viel Wein und zu wenig Schlaf.

Der Posten sagte: »Wir entdeckten ihn, wie er draußen zwischen den Erstarrten Seelen umherwanderte, Majestät. Er sagt, er heißt Gilgamesch von Uruk und daß er auf der Suche ist nach einem…«

Der Mann auf dem Thron gebot ihm mit einer Handbewegung Schweigen. Er neigte sich vor und betrachtete Gilgamesch scharf und neugierig.

»Uruk?« sagte er. »Du kommst aus Uruk?«

»Es ist die Stadt meiner Geburt.«

»Wahrhaftig! Gilgamesch von Uruk… Uruk, ehrlich?«

»Aus Uruk, ja«, erwiderte Gilgamesch ein bißchen ärgerlich.

»Der Stadt gewaltiger Schätze«, sagte der auf dem Thron, und ein unwägbarer Ausdruck trat in seinen Blick. »Eine mir so sehr liebe Stadt. Wie erstaunlich, einem Mann zu begegnen, der aus Uruk kommt! Und warst du kürzlich dort, mein Freund?«

Gilgamesch sah ihn verdutzt an. »Wie könnte ich? Uruk ist lange dahin und fast vergessen.«

»Ist es das? Nein, das glaube ich nicht. Weder dahin noch vergessen, sondern nur schwer aufzuspüren, lauten jedenfalls die mir vorliegenden Berichte.« Der Mann sah ihn lange eindringlich an. »Doch vielleicht könnten wir es gemeinsam finden, du und ich.«

»Uruk war eine Stadt in der anderen Welt.«

»Und es ist auch in dieser Welt eine Stadt. Und viele Menschen deiner Art leben da.«

»Wirklich?« Gilgamesch war benommen. »Sie leben?« Das war unmöglich. In all seinen Jahren in der Nachwelt hatte er noch nie davon gehört. »Ein neues Uruk also? Wer sagt das? Wo ist es? Was erzählst du mir da?«

»Wo es liegt? Ach, das hoffe ich herauszufinden. Denn ich würde diesen Ort Uruk nur zu gern finden, verstehst du. Sein Reichtum übersteigt jede Berechnung. Sein Staatsschatz füllt zahllose Lagerhäuser. Wir könnten gemeinsam die Stadt finden, glaube ich. Wir haben ein großes Abenteuer nötig, wir Brasilier, und was könnte grandioser sein, als uns auf die Suche nach Uruk zu machen, wie? Gefällt dir der Gedanke, Freund Gilgamesch, mit mir zu ziehen und Uruk zu suchen?«

Mit wachsendem Unmut, der in Zorn überzugehen drohte, rief Gilgamesch laut: »Wer bist du? Was soll das alles? Ich suche Enkidu — nicht Uruk!«

»Wer ich bin? Hat es dir keiner gesagt?« Das Fleckengesicht lachte. »Ich bin der Herr der Insel Brasil. Mein Name ist Simon Magus. Da im Hafen ankert mein Schiff. Wir werden bald in meine Stadt aufbrechen, sie liegt gleich dort drüben in der Bucht. Willst du mit uns kommen? Ja, Gilgamesch, fahr mit uns nach Brasil.« Er winkte einem Diener. »Wein für Gilgamesch! Für Gilgamesch von Uruk!« Und erneut lachte er. »Fahr mit mir nach Brasil, ja. Und reden wir davon, wie wir die Schätze des lange versunkenen Uruk finden. Was hältst du davon, Gilgamesch? Eh?«

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