18

Der Vezier Herodes wartet auf Audienz, Majestät«, sagte der Haushofmeister.

Gilgamesch seufzte. »Er soll eintreten.«

Herodes kam mit einem großen Bogen Papier, den er vor dem Thron entfaltete, als handelte es sich um eine kostbare Schriftrolle aus dem fernen Cathay. Gilgamesch warf einen säuerlichen Blick darauf.

»Was? Noch mehr Daten, Herodes?« Er ließ das Wort Daten wie ein scheußliches Schimpfwort klingen.

»Die Namensliste der Zivilbeamten«, sagte Herodes. »Nach Abteilungen und Seniorität geordnet.«

»Seniorität? Seniorität?«

»Das ist hier sehr wichtig, das Dienstalter, der Rang, mußt zu wissen. Sie haben hier starke Interessenverbände und eine Reihe von strammen Arbeitsbestimmungen, länger als dein… also, als dein Arm. Soll ich das jetzt mit dir durchgehen, oder wollen wir es auf später verschieben?«

»Auf später, glaube ich«, sagte Gilgamesch. Doch dann schüttelte er den Kopf. »Nein. Nein, bei den Augen Enlils, erledigen wir es gleich!« Und mit soviel Geduld, wie es ihm möglich war, ging er an die Arbeit.

Gilgamesch überraschte es — obschon das eigentlich nicht hatte der Fall sein dürfen —, daß die Herrschaft über Uruk sich als derart komplex und zeitaufwendig erwies. Es galt, an Ritualen teilzunehmen, Bestallungen zu bestätigen, verzwickte Entscheidungen zu treffen, Bauprojekte einzuweihen und zu kontrollieren, Gesandte zu empfangen, sogar den einen und anderen Aufruhr zu ersticken — denn die Nachwelt war kein wohl geordneter Ort, und selbsternannte Könige waren hier so gemein wie Echsen und erhoben Anspruch auf den nächsten besten Thron. Auch war die persönliche Anwesenheit des Königs erforderlich bei theatralischen Ereignissen und bei Sportspielen, besonders bei den Stierkämpfen, die nun, unter der enthusiastischen Ägide Picassos, in Uruk zu einer regulären sonntäglichen Einrichtung geworden waren. Gilgamesch selbst beteiligte sich nicht mehr aktiv an der Corrida — hin und wieder wurde dabei ein Matador getötet, und seit er nun um seine eigene Verwundbarkeit wußte, hätte er es als Verletzung seiner geheiligten königlichen Pflichten betrachtet, wenn er das Risiko einging, auf derart leichtfertige Art weitergesandt zu werden. Doch er nahm fast an jedem Sonntag teil. Enkidu war stets die Hauptattraktion und erlegte zwei, manchmal drei Stiere, ehe der Nachmittag vorbei war.

Im alten Sumer, dem Land, dachte Gilgamesch, war es bei weitem nicht so beschwerlich und mühsam gewesen, König zu sein, wahrscheinlich auch nicht, vermutete er, während seiner ersten Regierungszeit im nachweltlichen Uruk; allerdings war es durchaus möglich, daß er sich darin irrte. Er wußte inzwischen nur zu gut, wie wenig Verlaß auf sein Erinnerungsvermögen in dieser Hinsicht war.

Aber obwohl er jetzt mehr Arbeit hatte als jemals früher, erledigte er sie doch nicht ernsthaft nur mit Widerwillen. Er hatte zunächst einmal genug von dem Leben als einsamer Wanderer, und es brachte große Befriedigung, als König seinen Job zu tun — und ihn gut zu tun. Es war offensichtlich, daß unter Dumuzi in diesem Uruk hier Mißherrschaft bestanden hatte, genau wie damals im ersten Uruk in der anderen Welt, und es bereitete Gilgamesch großes Vergnügen, Dumuzis unsinnige bürokratische Selbstzweck-Verordnungen rückgängig zu machen und wiederherzustellen, was Dumuzi hatte verkommen lassen.

Er machte seinen alten Freund, Vy-otin, den Eisjäger, zu seinem Obersten Minister. Herodes erwies sich ebenfalls als nützlicher Berater Er hatte es vorgezogen, bei Gilgamesch in Uruk zu bleiben, als Simon Magus, vollgepackt mit den Edelsteinen, nach Brasil abgereist war. Auch Ninsun, in ihrer liebevollen Klugheit, war ebenfalls eine wertvolle Ratgeberin. Und immer war Enkidu da für ihn, brachte ihm Entspannung und brüderlich nahe Vertrautheit und seine ehrliche, bodenständige, gesunde, von Herzen kommende Weisheit. Und nach einiger Zeit seiner Herrschaft gewann Gilgamesch einen weiteren Berater, einen seltsamen und unerwarteten: es war kein anderer als der aus der vorgeschichtlichen Urzeit kommende Haarmensch, der in Brasil Simons Chefmagier gewesen war.

Er kam unangemeldet, erschien einfach eines Tages zu Fuß vor den Toren Uruks, zu einer Zeit drückender schwarzer Witterung, brüllender vernichtender Stürme und reißender Überschwemmungen. Gilgamesch schuftete an der Stadtmauer, kämpfte unter einem erbarmungslosen stahlgrauen Himmel und stapelte Sandsäcke vor den Wällen aus gebrannten Ziegeln auf, die an einem Halbdutzend verschiedener Punkte unterspült zu werden drohten, als der Mann ankam. An diesem Tag war so ziemlich jeder, der nur ein bißchen etwas schleppen konnte, da draußen am Werk; und der König persönlich gab das beste Beispiel. Dämonische Geschöpfe mit langen gelben Schuppenhälsen und giftiggrünen Flügeln kreischten höhnend in der Höhe über ihnen. Und weiter oben im Himmel zitterten zuckende Elmsfeuer, blutige Streifen, feurige Kometen. Der Regen prasselte unerbittlich herab, ein ganzes Meer fiel in armdicken Strängen auf die Stadt nieder. Der König stand bis zu den Schenkeln im Schlamm, oder doch fast, fing die Sandsäcke auf, die Enkidu ihm von oben her zuwarf, und packte sie mit wilder Hast an den Fuß der Mauer, als eine seltsam vertraute krächzende Stimme aus dem Sturmgetöse zu ihm drang, die in gutturalen, eisverkrusteten, kaum verständlichen Wortbrocken 2u ihm sprach.

»Was?« brüllte Gilgamesch. »Wer ist das denn? Was sagst du?«

»Daß das da vielleicht die Große Flut ist, von der du immer so viel geredet hast, die jetzt wiederkehrt, um dein Land erneut zu ertränken«, sagte der andere nun langsamer und um deutlichere Aussprache bemüht.

Gilgamesch blickte sich um. Im Donnergetöse und den Dämonenblitzen erkannte er den Haarigen Mann, der klein, untersetzt und mit seinem Tiergesicht ganz gemütlich in dem Sturm dastand, als wehte weiter nichts als ein sanfter Frühlingszephyr. Er trug eine Römertoga, weiß mit rotem Ziersaum, und man sah darunter den schweren rötlichen Pelz, der vom Regen dicht und verfilzt an ihm klebte. Die dunklen Augen unter den massigen Stirnbögen leuchteten in einem seltsam urtümlichen Feuer. Hier war ein Geschöpf, das wußte Gilgamesch, das auf der Welt gelebt hatte, als auch die Götter noch jung waren.

»Die Flut, sagst du?« grunzte Gilgamesch.

»Ja, die Flut. Die nach meiner Zeit kam und vor der deinen, jedenfalls hast du mir das so gesagt, König Gilgamesch. Die kam, um diese Welt wieder einmal zu beenden und eine frischere zu beginnen. Aber, komm, laß mich dir helfen.« Und er watete in den driftenden Schlamm, hob einen Sandsack hoch, den Enkidu von der Mauerkrone so weit geworfen hatte, daß Gilgamesch ihn nicht erreichen konnte, und stopfte ihn sorgfältig an den rechten Platz.

Gilgamesch starrte ihn an. »Wer bist denn du?«

»Nun, in Brasil kanntest du mich.«

»Simons Erzweiser?«

»Genau dieser. Frieden und Freude dir, König von Uruk.«

Von weit oben spähte Enkidu mit gerunzelter Stirn zu ihnen herab. Er rief etwas, das der heulende Sturmwind verwehte, und warf einen weiteren Sandsack herunter, der viel zu weit weg aufzutreffen drohte. Der Haarmensch faßte zu und fing ihn und stopfte ihn an die richtige Stelle. Und winkte nach einem weiteren Sack. Gilgamesch besah ihn sich aus dem Augenwinkel. Nun, möglicherweise war es ja derselbe wie früher. Sie sahen einander alle so ähnlich, diese Haar-Männer. Kein Wunder, daß keiner von ihnen einen Namen trug. Wie zottige Gespenster wanderten sie auf ihren eigenen Pfaden durch die Nachwelt, diese rätselhaften Geschöpfe aus der Morgendämmerung der Zeiten, und einer ähnelte so sehr dem anderen, daß sie sehr wohl nur ein und dasselbe Individuum sein mochten. Doch je genauer Gilgamesch nun diesen Behaarten ansah, desto mehr glaubte er, etwas ihm Vertrautes zu entdecken, aber er wußte nicht, was das sein könnte. Es war wohl tatsächlich jener Mann, dem er zuvor in Brasil begegnet war, der Mann, der ihn durch die verteufelten Straßen der Stadt und zu Calandola geführt hatte.

»Und was bringt dich hierher?« fragte er den Mann.

»Simon sandte mich her. Ich bin sein Geschenk, ich soll bei dir an deinem Hof leben und dir dienen.«

»Sagtest du ein Geschenk?«

»Ich soll dir als dein Erzzauberer dienen. Simon war der Ansicht, du würdest mich brauchen.«

Augenblicklich kam so etwas wie ein stechender Argwohn in Gilgamesch auf. Konnte Simon seinen Zauberer vielleicht geschickt haben, um zu spionieren? Nein. Nein, entschied er dann. Das wäre zu plump, zu offenkundig gewesen.

Wieder brüllte Enkidu von oben, und wieder kam ein Sandsack herunter. Diesmal fing Gilgamesch ihn und setzte ihn an Ort und Stelle.

Aber der Haarige sprach weiter: »Ich bin aber auch zu dir gesandt worden als Gegengabe für deine Großzügigkeit. Simon meinte, er sollte dir etwas Gutes tun, als Gegenleistung für die Edelsteine von Uruk, und seine Dankbarkeit für die großen Schätze, die du ihm geschenkt hast, so ausdrücken. Als ich ihn zuletzt sah, badete er in deinen Schätzen: Er lag in seiner Alabasterwanne und ließ sich mit einer Kaskade von Smaragden und Rubinen übergießen.«

»Er liebt simple Vergnügen«, sagte Gilgamesch trocken. Wieder erschallte der Donner, laut und dröhnend wie die Posaune des Jüngsten Gerichts. Es war so ungeheuer laut, daß die Luft Ungeheuer gebar, einen Schwarm von Wesen mit vielen Köpfen und Heuschreckenflügeln und gelben Krötenaugen. Vielleicht hatte der Haarmensch recht, und dies war von neuem die Große Flut, in welchem Falle es klüger wäre, eine neue Arche zu bauen, als Zeit darauf zu verschwenden, diese einstürzende Mauer zu flicken. Doch keiner hatte je eine Sintflut für die Nachwelt vorhergesagt. Und so rief Gilgamesch dem Haarmann zu. »Meinst du das im Ernst? Glaubst du, das ist ein neuer Weltuntergang?«

Der Behaarte stieß einen Laut hervor, der wie ein Lachen klang, und schüttelte den schweren breitnackigen Kopf; dann äußerte er pelzige Laute, die vom Sturm verweht wurden. Gilgamesch hoffte, daß er gesagt hätte, er habe nur einen Scherz machen wollen, daß es sich nicht um die Sintflut handelte, sondern nur wieder um einen neuen üblen Trick der Nachwelt, um einen Sturm, der weiterziehen würde, ohne alles auf seinem Weg zu zerstören.

Dann schufteten sie schweigend weiter, stapelten die Sandsäcke auf. Hunderte andere arbeiteten an diesem Abschnitt der Mauer, Scharen von körperlich kräftigen Männern, aber auch viele Frauen. Der Regen schien nun ein wenig nachzulassen. Aber noch immer krachten diese lauten furchteinflößenden Donnerschläge, regneten die Blitze, brummten die Schwärme der Flugungeheuer. Die Ebene vor der Stadt war jetzt keine Wüste mehr, sondern ein schimmerndes Meer. In weiter Ferne hatte es den Anschein, als driftete ein gewaltiger glitzernder blau-weißer Gletscher im Himmel, dessen schroffe Kanten von einem inneren Licht leuchteten, und auf dessen Flanken Hirsche mit Menschengesichtern tanzten, Männer mit Stierköpfen und andere, seltsame und furchteinflößende ungeschlachte Tierungetüme. Der kleine Mann Picasso, dachte Gilgamesch, sollte das sehen und aufzeichnen. Aber Picasso befand sich im Moment sicher und geschützt unter einem Dach; er hatte erklärt, daß er keine große Lust zu derart stürmischer Plackerei habe und lieber im Haus bleiben wolle. Aber schließlich kann Picasso ja ausreichende Mengen von Monstern aus seinem eigenen brodelnden Hirn produzieren, sagte sich Gilgamesch. Er braucht die da gar nicht zu sehen.

»Wenn du ein echter Zauberer bist«, sagte er zu dem Haarigen Mann, »weißt du dann kein Mittel, um diese elende Pisse abzustellen?«

»Viel mächtigere Zauberer als ich haben uns das gesandt, König. Es gibt keine Zaubersprüche, dem zu gebieten.«

»Und werden wir allesamt ersaufen? Sag, werden wir?«

»Wir werden den neuen Tag erleben, glaube ich«, sagte der Behaarte.

Tatsächlich legte sich der Regen einige Stunden später, was der Behaarte nicht auf sein Zutun zurückführte, aber die Mauern der Stadt blieben verschont. Als sich die Sonne wieder zeigte, inspizierte Gilgamesch mit Enkidu und Vy-otin von der Mauerkrone aus alles und blickte verwundert hinaus auf die überschwemmte Ebene, das Gewirr umgestürzter Bäume, die Trümmer zerstörter Dörfer und die Kadaver der ertrunkenen Tiere, die aus den Marschlanden herangespült worden waren. Aber Uruk selbst war heil geblieben, wenn es auch ein bißchen aufgeweicht aussah. Es würde also diesmal keine zweite Sintflut sein. Und vielleicht handelte es sich nur um einen Krieg der Dämonen hoch droben, dachte Gilgamesch, was diesen teuflischen katastrophalen Regen über die Stadt brachte.

Daß Simon ihm seinen Haarmenschen gesandt hatte, überraschte ihn, und es gefiel ihm. In diesen uralten Geschöpfen, die lebten, bevor es Menschen gab, lag große Weisheit, und ihre Hilfe war etwas höchst Wertvolles. Gewiß zog Simon bei dieser Transaktion den kürzeren, wenn er diesen uralten Zauberer und ehrenwerten Weisen eintauschte gegen nichts als ein paar Säcke voll bunter Steine. Aber als Geste war das wahrhaft königlich, und es bewies, daß Simon mehr war als ein ausschweifender Gierhals. Vielleicht war es dem alten Weinschlauch von einem Tyrannen auch nicht mehr wichtig gewesen, vielleicht sah er schon seinen nächsten Tod vor Augen, und es kümmerte ihn nichts mehr, und er wollte sich nur noch in den schimmernden schönen Steinen suhlen, die er so liebte. Aus welchem Grunde immer — und Gilgamesch bezweifelte, daß hinter dem Ganzen irgend etwas Bösartiges steckte —, er war dankbar, dieses seltsame Geschöpf an seinem Hof zu haben.

Er wies dem Haarmenschen im Palast erlesene Gemächer an, an einem geschlossenen Innenhof, in dem er im Freien schlafen konnte, wenn ihm der Sinn danach stand; Geschöpfe seiner Gattung zogen es vor, nachts keine Dächer über dem Kopf zu haben. Bei den Tagesgeschäften am Hof behielt er ihn in seiner Nähe, sowohl als Zauberer und Beschwörer, wie auch zum Zwecke schlichter Beratung in Fragen der Diplomatie und der Staatskunst, denn er war ein höchst nützlicher Ratgeber.

Das Leben am Hof verlief in unerbittlicher Routine. Tag um Tag trafen neue Gesandtschaften aus anderen Fürstentümern der Nachwelt ein, seitdem sich die Nachricht verbreitete, daß der starke Held Gilgamesch in Uruk erneut an die Macht gekommen war, und man mußte die Emissäre offiziell mit gebührendem Gepränge empfangen. Die Gesandten kamen hereingestolpert, oft wirkten sie abgerissen und entnervt durch die Un- und Zufälle ihrer Reise durch die weite Ödnis der Nachwelt; sie brachten Geschenke und Lobsprüche und sonstiges Brimborium, sein Wohlwollen zu erlangen, vor Gilgamesch. Alle erstrebten sie das eine: Bündnisse mit dem Sumererkönig gegen tatsächliche oder mögliche Feinde, oder aber Gilgameschs Mitwirkung bei irgendwelchen verzwickten und kostspieligen Plänen, ihre eigene Größe auf Kosten ihrer Nachbarn zu steigern.

Die Stapel der Gesandtschaftsstäbe wuchsen wie Sanddünen im Wind. Gilgamesch schüttelte ärgerlich den Kopf angesichts der unordentlichen Haufen, die sich in seinem Thronsaal mehrten. »Die Vollkommene Aryanische Republik — das Neue Ottomanische Sultanat — das Ruhmreiche Proletarische Königreich — das Reich der Freien Geister — das Unbezwingbare Amazonenreich — das Großdionysische Königreich — der Rolling Acres Country Club…« Gilgamesch hob den Blick und fragte Vy-otin: »Ist das etwa auch ein Volk? Der Rolling Acres Country Club?«

»Ein höchst wohlhabendes Land, habe ich mir sagen lassen, mit prächtigem grünen Rasen und schönen Häusern, von einem königlichen Komitee von achtzehn Männern regiert.«

»Einem Komitee von Königen? Reiner Wahnsinn!«

»Sie behaupten, daß es ihnen dabei sehr gut geht.«

»Und dieses Portefeuille da — von der Erhabenen Großfürstin, der Artemis von Neu-Kreta — und hier, von Seiner Transsylvanischen Exzellenz Vlad dem Fünften — und da noch eins, auf kostbarem Velin, Himmel, von — was steht da? Soll das eine Schrift sein? Jigme Phakpa Chenrezi, der Allerbarmende Großlama von…« Gereizt schob Gilgamesch den Haufen beiseite. »Wer sind denn alle diese Könige und Königinnen und Sultane und Lamas überhaupt? Wo ist ihr Land? Kann sich denn ein jeglicher, der fünf Narren findet, die ihm nachhinken, heutzutage bereits als Herrscher aufführen? Ich glaube einfach nicht, daß es diese ganzen Länder wirklich gibt! Laßt mir eine Karte bringen! Zeigt mir, woher diese Gesandten kommen!«

»Du hast doch zweifellos nicht vergessen, König Gilgamesch, daß es mit einigen Schwierigkeiten verbunden ist, wenn man sich auf Landkarten stützt«, bemerkte Herodes. »Sie bieten nur sehr unzuverlässige Informationen, um es gelinde auszudrücken.«

Gilgameschs Gesicht rötete sich. In seinem wilden Eifer hatte er das ganz vergessen.

»Gut, ja, manche vielleicht«, knurrte er. »Aber es muß doch Karten geben, die zuverlässiger sind. Außerdem, eine Karte, auch wenn sie nicht stimmt, ist besser als gar keine. Sucht mir diesen Mercator. Er soll mir eine Karte machen!«

»Wen?«

»Er wurde Mercator genannt. Ich kannte ihn vor hundert etlichen Jahren, oder vor zweihundert, in Persepolis Khaikosru, wo er im Dienst des Schah stand und den ganzen Tag, in irgendwelchen Kneipen herumhing und auf Lederstreifen Karten zeichnete. Aber da war auch noch ein anderer, Herodot, ein Grieche, der quasselte auch von früh morgens bis in die Nacht, ohne aufzuhören, aber wenigstens erzählte er wunderbare Geschichten, und er war in jedes Land gereist, das es gibt. Vielleicht könnt ihr den finden. Und wenn ihr die zwei nicht findet, dann vielleicht jemand anderen. Laßt in Uruk verkünden, daß ich einen Kartographen suche!«

Aber Mercator war nicht auffindbar, ebensowenig Herodot, doch einige Tage später schleppte Herodes ein gewisses wenig vertrauenerweckendes Subjekt an, einen dunklen kleinen Mann mit einem lahmen Bein und ausdruckslosen, aber wilden Augen, einer von den Später Toten, aber dafür recht altmodisch gekleidet, sehr düster. Er sagte, sein Name sei Fernao de Magalhaes, Portugiese, sagte er, für die Spanier sei er unter dem Namen Magellanes bekannt, und, sagte er, er verstehe einiges von Geographie.

»Du bist also ein Kartograph?« fragte Gilgamesch.

Magalhaes warf ihm einen lodernden Blick zu. »Ich habe Karten benutzt, aber ich fertige keine an. Ich bin Seemann, Seefahrer, Kapitän. Ich segelte einst um die ganze Welt, oder doch beinahe.«

»Um diese ganze Welt?« Gilgamesch hob die Augenbrauen.

»Um diese Welt kann man nicht segeln, denn sie hat nirgendwo ein Ende. Ich spreche von der wahren Welt«, sagte Magalhaes. »Über den Leib der Welt, von einem Ende zum anderen, auch wenn Gott mir nicht gestattete, das ganz zu vollenden; allerdings konnten andere meine Reise vollenden, nachdem ich ermordet worden war, doch den Ruhm trug ich davon. Ich hatte die Idee, ich plante die Fahrt, ich führte sie durch, ich leitete alles. Es war meine Leistung.«

Die Augen loderten. Vielleicht ist er ein bißchen aus dem Gleichgewicht, dachte Gilgamesch. Aber es konnte ja wohl jeden durcheinanderbringen, so kurz vor der Erreichung eines so gewaltigen Ziels ausgeschaltet zu werden. Die ganze Welt zu umsegeln! Der Mann besaß echte Stärke, ohne Zweifel. Und außerdem, fast alle Leute, denen er in der Nachwelt begegnete, erschienen Gilgamesch als ›aus dem Gleichgewicht‹. Aber er verstand noch immer nicht so recht, wie man es anstellen sollte, rund um die Welt zu segeln, wenn man die Schwierigkeiten bedachte, auf die man stoßen mußte, wenn man an den Rand der Welt kam; doch wenn dieser Mann hier behauptete, er hätte es geschafft, schön, dann hatte er das höchstwahrscheinlich tatsächlich getan.

»Kannst du mir eine Karte machen?« fragte er.

»Von der wirklichen Welt?«

»Von dieser hier«, sagte Gilgamesch.

Magalhaes verzog finster das Gesicht. »Das wird dir nicht viel bringen. Hier ist es verdammt bescheuert, keine Breitenmessung bleibt stabil, und der Kompaß ist weiter nichts als ein Spielzeug.«

»Das weiß ich. Trotzdem, ich brauche eine Landkarte. Mit den allgemeinen Umrissen der Welt und den vielen Königreichen, die es da gibt, auch wenn die genauen Details nicht stimmen oder sich mir unter den Augen verändern.«

»Du könntest ebenso gut nach den Linien in deiner Hand navigieren«, sagte Magalhaes. »Aber ja, schön, ich werde dir eine Weltkarte zeichnen, wenn du das wünschst. Jetzt gleich. Gebt mir eine Feder, gebt mir eine Pergamentrolle!«

Vor sich hinbrummend, machte er sich rasch über der aufgespannten Haut ans Werk, zeichnete weite krause Bögen, die sich weit nach rechts und links dehnten. »Hier«, sagte er, »hier haben wir das Weiße Meer, das da ist das Schwarze, und hier drüben liegt das Land Dis. Das bezeichnen wir als die Große Unendliche, hier unten, wo einer ewig weitersegeln kann und niemals Land sichtet. Viele mutige Männer gingen dort zugrunde und viele Toren. Allerdings ist es zuweilen schwer, die einen von den anderen zu unterscheiden. Und das da« — ein kühner Federzug — »ist der Zentralkontinent, auf dem wir uns hier befinden. Manchmal hat er eine andere Gestalt, aber ich kannte ihn so, als ich vor langen Jahren mit Harald dem Norsen die ganze Länge seiner Küsten befuhr. Das da ist Nova Roma, hier an der anderen Küste. Dies ist die Kristallene Halbinsel, und hier, dies ist die Meerenge der Gespenster, und sie ist ebenso schmal und kalt und übel wie jene Meerenge, die ich einst in der anderen Welt im Südozean entdeckte. Und da — da — da…« Magalhaes zeichnete Berge ein, Flüsse und gewaltige Seen. Er gab die Umrisse des öden trockenen Outback an, die Insel Brasil, das Land um Uruk selbst in der oberen Ecke jenseits des Westrandes des Outback. Er schrieb die Namen anderer Städte auf: Cambaluc, Nova Lisboa, Nunca, Tintagel, New South Brooklyn, Ciudad Meshugah, Walhalla.

»Die Vollkommene Aryanische Republik?« fragte Gilgamesch. »Wo liegt die?«

»Hier. Glaube ich.«

Gilgamesch nickte. Endlich bekam er einen gewissen Eindruck von der Gestalt der anderen Landgebiete der Welt, mit denen er es zu tun haben würde.

»Und das Neue Ottomanische Sultanat?«

Magalhaes wies auf den Südrand des Outback. »Da. Höchstwahrscheinlich.«

Gilgamesch sah in dem Stapel von Gesandtschaftsakkreditionen nach. »Und der Rolling Acres Country Club?«

Magalhaes schwieg. Nach längerem Überlegen tippte er mit dem Finger auf die Karte. »Hier, soweit ich mich erinnere. In der Nähe von Adonai Elohim, aber liegt er nun östlich davon? Nein, westlich — ja, bestimmt westlich — laß mich nachdenken, ich reiste von der Küste heran und gelangte zunächst nach Adonai Elohim, und dann…« Er schloß die Augen. »Die Orte wandern so. Es gibt keine Gewißheit.« Plötzlich flammte Wut in dem Mann auf. »Die Karte, die ich dir gezeichnet habe, ist wertlos, König Gilgamesch!«

»Nein«, sagte Gilgamesch. »Sie hat vielleicht ein paar Schwachstellen, aber sie liefert mir ein weit besseres Bild…«

»Wertlos! Wertlos!« beharrte Magalhaes. Er zitterte, vermochte seinen Zorn kaum zu bändigen. »Hast du eine Vorstellung davon, was für ein Fluch es für einen Mann wie mich bedeutet, auf der Welt herumzureisen und nie beim zweitenmal sicher zu wissen, wo ich schon war oder wohin ich fahre? Wenn ich versuche, meinen Kurs nach den Sternen zu richten, und immer wieder erleben muß, wie sie sich über mir verändern und mich verhöhnen? Wenn die Sonne am einen Tag hier aufgeht und auf der anderen Seite am nächsten Tag? Das ist alles sinnlos. Es ist würdelos!«

Ruhig fragte Herodes: »Möchtest du einen Schluck Wein?«

»Ja, vielleicht hilft es mir«, antwortete Magalhaes.

Nachdem er getrunken hatte, wirkte er ruhiger. Er sagte, alles in allem erscheine ihm seine Karte nicht gar so schlecht. Sie sei ganz brauchbar. Es gebe zwar etliche zweifelhafte Sachen darauf und einige ihn rasend machende Ungenauigkeiten, und Sachen, die er einst als wahr erfahren hatte, die aber seiner Vermutung nach nun nicht mehr zutrafen; doch alles in allem, sagte er, habe er sein Bestes getan, so gut es eben gegangen sei, bei den ganzen Widerständen, und er zweifle, daß Gilgamesch von anderer Seite besser bedient werden könne.

»Das ist auch mein Eindruck«, sagte Gilgamesch. »Es ist eine prächtige Karte, guter Freund. Und wenn du mir nun liebenswürdigerweise noch markieren könntest, wo Neu-Kreta liegt und das Großdionysische Königreich…«


Nach den Regenstürmen trat eine lange Trockenperiode mit sengender Hitze ein, in der die Sonne fast überhaupt nicht unterzugehen schien, und die Felder um Uruk verdorrten und wurden braun. Die Luft selbst schien zu brennen, und wenn Gilgamesch mit Enkidu vor die Mauern auf die Jagd ritt, fanden sie draußen keine anständige Jagdbeute, nur klägliche dürre, sich dahinschleppende räudige Knochengerippe. Doch die Kornspeicher Uruks waren für eine derartige Notzeit gut gefüllt, und niemand mußte Hunger leiden; allerdings berichtete Vy-otin, daß das Volk ein bißchen murrte, weil Gilgamesch die Nahrungsverteilung recht strikt rationiert hatte.

»Sollen sie doch murren«, sagte Gilgamesch. »Wer glaubt, er bekommt hier den Bauch nicht voll genug, kann zu saftigeren Weiden ziehen, wenn er welche findet. Laßt sie zu den Amazonen gehen. Oder nach Rolling Acres.«

»Oder sie sollen Kuchen essen«, bemerkte Herodes.

»Was? Aber wir haben doch keinen Kuchen für das Volk! Woher sollten wir Kuchen nehmen, wo wir kaum anständiges Brot haben?«

»Ach, nichts weiter«, sagte der Hebräer. »War nur ein kleiner Scherz.«

Gilgamesch schüttelte den Kopf. »Ein ziemlich törichter. Kuchen? Was soll an Kuchen komisch sein?«

»Ich könnte es dir später erklären«, erbot sich Vy-otin.

»Du? Woher solltest du wissen, was der meint? Ist es etwas, das ihr beide von euren Freunden unter den Später Toten aufgeschnappt habt? Bei Herodes rechne ich ja mit so etwas, aber du, Vy-otin, wie kannst du…?«

Herodes stotterte: »Beim Heiligen Altarsakrament, Gilgamesch, ich sage dir doch, es war nur ein…«

In eben diesem Augenblick trat Enkidu in das Gemach des Königs. Mit einer herrischen Geste, gebot Gilgamesch Herodes Schweigen und sprach: »Kuchen, Enkidu. Sie sollen Kuchen essen.«

»Was?«

»Es ist der neueste Witz. Herodes hat ihn mir gerade erzählt.«

Enkidu blinzelte verdutzt. »Habe ich was nicht mitbekommen? Sie sollen Kuchen essen? Das finde ich nicht besonders witzig.«

»Es stammt von den Später Toten und ist zu subtil für so jemand wie uns beide.«

»Bei Allahs Liebe, Gilgamesch«, flehte Herodes. »Darf ich dir die Geschichte erzählen, damit du es verstehst? Es gab da mal eine Königin in Frankreich — Frankreich ist ein Königreich aus der Zeit der Später Toten, in Europa, irgendwo in der Nähe von Germanien und Hispanien — und zur Zeit dieser Königin standen die Dinge in Frankreich sehr schlecht, ein Großteil des Volkes hungerte, und…«

Enkidu sagte: »Erzähl uns das später, Herodes. Ich habe Kunde für den König. Dicht vor der Stadt hält ein Heerestrupp.«

»Ein Heerestrupp?« Gilgameschs Augen wurden groß. »Was für ein Heer?«

»Ein sehr zerlumptes müdes Heer, Bruder. Vier-, fünfhundert Mann stark, darunter auch Frauen, und wie es aussieht, können sie kaum noch kriechen. Ein paar Bauern, die nach Wasser bohren wollten, entdeckten sie vor einigen Stunden, halb verhungert und verdurstet. Jetzt lagern sie einige Meilen draußen in der Wüste, und sie ersuchen um deine Erlaubnis, hereinkommen zu dürfen.«

»Das ist kein Heer«, sagte Gilgamesch. »Das ist bloß ein Haufen harmloser erbarmungswürdiger Versprengter, denke ich.«

»Es sei denn, sie führen ein Trojanisches Pferd mit«, sagte Herodes.

»Ein was? Ist das schon wieder einer von deinen Spätzeit-Witzen?«

»Nein, nicht aus der Zeit der Später Toten, Gilgamesch«, sagte Vy-otin. »Herodes spielt auf eine viel ältere Sache an — diesmal ist es eine von den Geschichten bei — Homer. Als die Griechen einst die Stadt Troja belagerten, merkten sie, daß sie nur durch eine List in die Stadt gelangen konnten, also erbauten sie ein gewaltiges Roß aus Holz, das…«

Gilgamesch bedachte den Einäugigen mit einem merkwürdigen Blick »Moment mal! Du bist doch angeblich — wie lautete das Wort noch? — prähistorisch? Du kommst, wenn ich mich nicht irre, aus dem Pleistozän, ja? Woher weißt du dann so viel über die Griechen und ihren Krieg gegen Troja? Das Ganze war doch lange nach meiner Zeit, ganz zu schweigen von der deinen!«

»Aber hier ist die Welt, in der ich jetzt lebe. Die andere war nur ein Augenblick, vor langer Zeit, und hier ist für immer. Und darum ist dies hier die für mich wirkliche Welt und die andere war wie ein Traum. Ich habe mich auf dem laufenden gehalten. Sollte ich denn nicht Bescheid wissen über die Geschichte der Menschen, mit denen ich Tag für Tag zu tun habe, Gilgamesch? Solltest nicht auch du das?«

»Geh nicht so hart mit ihm um«, murmelte Herodes. »Geschichte kommt und geht bei uns allen wie ein Hirnfieber. Und er steckt gerade in einer Phase der Vergeßlichkeit.«

»Ach so«, sagte Vy-otin. »Ja, dann. Natürlich.«

Ärgerlich bemerkte Gilgamesch: »Geht es bei dem ganzen Gerede darum, daß wir von diesem zerlumpten Haufen von Fremdlingen eine Hinterlist fürchten sollen?«

»Das ist die Meinung von Herodes, nicht meine«, sagte Enkidu. »Nach meinen Informationen geht es den Leuten sehr schlecht, und so ist es kaum wahrscheinlich, daß sie uns größere Schwierigkeiten machen könnten.«

»Abgesehen davon, daß sie in eine Stadt kommen wollen, die sowieso schon mitten in einer Dürre- und Hungerperiode ist«, sagte Herodes. »Müssen wir auch noch die aufnehmen? Fünfhundert weitere durstige Kehlen? Fünfhundert weitere leere Mägen?«

»Wir sind ein zivilisiertes Volk hier«, sagte Gilgamesch kalt. Er nickte Enkidu zu. »Nimm dir hundert Mann von der Grenzpatrouille und finde heraus, wer diese Leute sind und was sie wollen. Und natürlich auch, ob sie irgendwelche hölzernen Rösser mitführen.«


»Sir Walter?« flüsterte Hakluyt. »Bist du vielleicht wach, Sir Walter?«

Raleigh öffnete vorsichtig die Augen. Das war ziemlich schmerzhaft, denn seine Lider waren empfindlich wie bei einem kleinen Kind, voll Blasen von der Sonne und dem Glast, der von der endlosen Weite des Sandes strahlte. Seine Rüstung lag weggeworfen neben ihm, er hatte nur ein Wams und filzbesetzte Beinkleider an. Er hob den Kopf. Auch das kostete Mühe und war schmerzhaft. Diese ganze Expedition, dachte er, war eine einzige Qual und Plage.

»Was ist denn, Richard, du verfluchter Hurensohn von einem Pavian?«

Der kleine Geograph glühte vor Erregung. Er zappelte und hüpfte nervös umher und fuchtelte heftig mit etwas in seiner Hand. »Die Karte, Sir Walter! Sie ist wieder lesbar!«

»Was?« Raleigh setzte sich unvermittelt hellwach und energiegeladen auf. »Dein Wort in Gottes Ohr, Hakluyt, wenn du mich narrst…«

»Aber sieh doch! Hier!« Hakluyt hob das Ding, mit dem er herumgefuchtelt hatte, eine abgenutzte fleckige und nur allzu vertraute Lederrolle, und löste die Verschnürung. Zitternd schob er Raleigh die Karte fast bis auf die Nase. »Ich glaube, es kommt davon, daß wir so nahe an Uruk sind. Die Karte hat aus der Nähe zu der Stadt ihre frühere Kraft wiedergewonnen, vielleicht durch irgendeinen Zauber, den Doktor Dee auf sie legte, ehe wir aufbrachen, und…«

»Dee?« rief Raleigh und spuckte aus. »Seine Lungen sollen zu Wasser werden! Der Bart soll ihm einwärts durch die Lippen wachsen, dem heimtückischen Zaubergaukler! Der mir geschworen hat, daß die Karte vollendet ist und er sie mit solchem Zauber belegt hat, daß wir damit nie in die Irre gehen könnten…«

»Aber sieh doch nur«, sagte Hakluyt.

Raleigh sah mit der Hand über den verkniffenen Augen auf die Karte und versuchte, die Markierungen auszumachen, die sie enthielt. Es überraschte ihn, daß Hakluyt das hinterhältige Ding überhaupt behalten hatte, in all den Monaten — oder waren es Jahre? —, seit es plötzlich verblaßte und vollkommen leer wurde.

Aber wahrhaftig, jetzt schien es wieder mit irgendeiner Art Schriftzeichen bedeckt zu sein. Ein erneuter teuflischer Trug? Oder war es die echte ursprüngliche Karte? Es sah so aus, ja, das echte Original, soweit er sich daran erinnern konnte. Ja, da war alles wieder vorhanden, auf wundersame Weise wiederhergestellt, blaßrote Tusche auf dunkelbraunem Leder, die ganze Route ihres waghalsigen Abenteuers, bei dem sie Jahr um Jahr im Kreis gezogen waren, länger, als er die Jahre mitgezählt hatte, auf der Suche nach etwas, das vielleicht gar nicht existierte. Da, im Norden, war in kühnen Umrissen das Reich ihrer Majestät, und nicht weit davon entfernt das Gebiet ihres Vaters, des harten alten Königs Heinrich, die schreckliche Weite des Outback, das Königreich des Priesters Johannes, das des Mao Tse-tung und die ganzen übrigen Herrschaftsbereiche der närrischen Kleinfürsten der Wüste, und weit drüben am westlichen Rand, in einem gespenstischen roten Glühen, das aus dem Leder aufstieg, die Insel Brasil, von der aus, wie — dieser verräterische Schuft, der Zauberdoktor Dee, behauptet hatte, man den Weg ins Land der Lebenden finden könne.

In seiner Brust wühlte Zorn. Die wiedergeschenkte Karte bereitete ihm keine Freude. Sie bedeutete ihm nur eine erneute Mahnung daran, wie ungeheuerlich und herzzerfressend unberechenbar alles hier in dieser Welt war.

Schlimm genug, daß er schon in seinem alten Leben eine so endlose Serie von herzzerreißenden Widrigkeiten hatte einstecken müssen, die Roanoke-Katastrophe und diesen erniedrigenden Angriff auf Cadiz, wo er so töricht gekämpft hatte, und sein katastrophaler Irrsinn, El Dorado in Guiana zu suchen, was ihn seinen Sohn gekostet hatte und seine Gesundheit und sein Vermögen, und am Ende sogar den Kopf. Man konnte diese Mißgeschicke auf einen Unstern zurückführen, vielleicht, oder auf ein Übermaß an Begeisterung, die zu kühnen unausgereiften Abenteuern verleitete, die mit mehr Erfolg später von weniger wagemutigen Männern durchgeführt werden würden, aber das waren doch wirklich keine Todsünden, wenn einer Pech hatte, wenn einer übereifrig war. Hier dagegen, wo er dazu verdammt war, durch ein Land hin und her zu ziehen, das jegliche Vernunft verhöhnte, wo sich seine Karten über ihn lustig machten, wenn er sie studierte — nein, nein, es war einfach zu viel. Aus Liebe zur Königin war es soweit mit ihm gekommen, war er so weit vorgedrungen und hatte dies alles erduldet, doch allmählich gewann Raleigh den Eindruck, daß er um Elizabeths willen genug gelitten hätte, und eigentlich auch genug für sein eigenes unersättliches Wesen. Wohin hatte es ihn geführt, dieser ganze hochfliegende Ehrgeiz, sein ganzer Wagemut, sein ungebärdiger und unbezähmbarer Wille? In Länder voller Menschenfresser und Ungeheuer, und zu Menschen, denen der Kopf unterhalb der Schultern hervorwuchs, und an Orte, an denen es nur Sand zu trinken und nur blattlose Zweige zu essen gab. Düster sah er zu den drei zusammengebrochenen Jeeps hinüber, die letzten erbärmlichen verrosteten Reste der einhundertundfünfzig Fahrzeuge, mit denen seine Expedition vor — wie ihm schien — einem Jahrhundert — so grandios aufgebrochen war.

Wenn ich aus diesem unfruchtbaren Land jemals wieder lebend herauskommen sollte, schwor er sich, dann will ich mich zur Ruhe setzen und nie wieder in die Ferne ziehen! Beim Rood, ich will nicht mehr wandern, nicht um der Queen zu gefallen, noch um meinetwillen und für keinen andern Menschen! Jesu Cristo, ich will es nicht tun, ich schwöre es!

»Na, also haben wir unsere Karte wieder«, sagte er säuerlich. »Vergebt mir, Hakluyt, doch was bringt uns das Gutes? Können wir die Karte trinken? Können wir sie essen? Wir sitzen in dieser Wüste schon fünfzigmal länger als Moses, und nimmt sie je ein Ende? Du sagtest, hinter dem Outback liegen grüne Felder und ein Meer und dort ist auch ein Weg ins Land der Lebenden…«

»Das war der Doktor Dee, der das sagte, Sir Walter.«

»Nun, du oder der Dee, wer immer, was nutzt uns das jetzt? Jenseits von diesem Outback lag wieder nur eine neue Wüste, und es sieht nicht so aus, als wären wir die los, Karte hin, Karte her! Bei den Wundmalen des Herrn, meinst du, ich hätte noch die Kraft, um weiterzuziehen? Glaubst du das wahrhaftig?«

»Aber wir sind nicht mehr weit von der Stadt Uruk entfernt, und wenn sie uns dort aufnehmen und uns Wasser geben, könnten wir von dort weiterziehen zur Insel Brasil, wo mit gutem Glück…«

Raleigh hob die Hände zum Himmel. »Mit gutem Glück, ja, aber wie’s mein Glück will, mit Hunger und Durst und die ganze Zeit mit wunden Füßen. Und der äußersten Gewißheit auf Kummer und Mühsal. Und was ist das überhaupt für ein Ort, dieses… dieses Uruk?«

»Eine große Stadt der Sumerer, Sir Walter. Berühmt für seinen Reichtum und seine Macht.«

»Und wer sind die, deine Sumerer? Sarazenen, willst du wohl sagen? Muselmanische Heidenschurken?«

»Es ist eine babylonische Rasse«, sagte Hakluyt, »eine sehr alte, und sie schreiben mit kleinen Sticheln auf weiche Tontafeln. Sie erbauten den Turm in Babel in Nimrods Tagen, und das war noch vor Abrahams Zeit.«

»Es sind also keine Sarazenen? Und sie kennen Mohammed nicht?«

»Ich glaube, sie sehen aus wie Sarazenen, Sir Walter, sind es aber nicht.«

»Aber auch keine Christenmenschen. Und sie werden mit Freude sehen, wie unsere Knochen im Sand bleichen, möchte ich meinen.«

»Jene, mit denen wir sprachen, waren freundliche Leute. Bauersleute waren die, harmlos, ohne Arglist. Sie werden binnen einer Stunde mit Hilfe für uns zurückkehren, möchte ich wetten, und dann haben unsere Leiden ein Ende.«

»Und was willst du als Einsatz geben, Richard? Deine Lesegläser? Deine löcherigen Stiefel, aus denen die Zehen hervorschauen? Oder vielleicht eins von deinen geographischen Manuskripten? Ja, und ich setze dagegen meinen zinnernen Trinkbecher oder meine Pfeife, in der kein Toback mehr ist, oder mein…«

»Sir Walter? Sir Walter?« Eine Stimme von ferne.

»Wer ist denn das?« fragte Raleigh und blinzelte gegen die Sonne.

»Helena, glaube ich«, murmelte Hakluyt.

»Ach ja, diese Schlampe! Was hat sie denn jetzt wieder zu keifen, möchte ich wissen?«

»Sir Walter! Sir Walter!«

»Ich kann dich hören, Mädchen«, sagte Raleigh. »Was gibt es?«

Sie kam auf ihn zugerannt, weißgekleidet, mit dunklem Haar, glatter Haut, makellos. Sie wirkte von den Strapazen der Wüstenwanderung so unberührt, als hätte sie die ganze Zeit in Moschus und den Salbölen Arabiens gebadet.

»Mädchen?« Sie kicherte leichthin. »Nennst du mich ein Mädchen? Mich, die ein dreitausendjähriges Leben voller Wollust hinter sich hat? Also, wirklich, Sir Walter!«

»Komm nicht auf schiefe Gedanken. Ich habe weiter nichts damit gemeint.« Raleigh klang gereizt. Sie sah ebenso aufgeregt aus, wie Hakluyt es wegen der Landkarte gewesen war, und sie glühte und gibberte förmlich. Und sah sehr schön aus überdies, auf ihre dunkle türkische Weise. Ihre berühmte Schönheit hatte ihn eigentlich stets kaltgelassen — für seinen Geschmack war sie zu dunkel; man führe ihm eine bleiche, blonde keusche britische Maid zu, nicht eine von diesen schwülhitzigen Muschis aus dem Osten; außerdem hatte diese Frau etwas Unwirkliches, Ungreifbares an sich, war zu vollkommen, wie ein Wachspuppenweib, ohne Leben im Leib — doch jetzt erweckte es den Anschein, als sei der Funke in ihr wieder entzündet worden, und sie strahlte geradezu wie eine Kaiserin. Das Antlitz, das tausend Schiffe aufs Meer trieb, dachte Raleigh, und nicht zum erstenmal, schön, wenn sie es nur jetzt fertigbrächte, ein Schiff segeln zu lassen, das uns an einen leidlich angenehmeren Ort bringt! »Was setzt dich denn so in Flammen, Helena?« fragte er.

»Die Sumerer! Sie sind gekommen, um uns zu retten. Mit einer ganzen Flotte von Landrovern!«

»Was? Die sind hier?« Raleigh rappelte sich auf die Beine, schwankte benommen, sah sich nach seiner Rüstung um. »Wieviel? Wo?«

»Fünfzig oder vielleicht hundert. Alle bis an die Zähne bewaffnet wie Achilles, jeder einzelne Mann. Aber sie wirken nicht feindlich.«

»Habe ich es dir nicht gesagt«, sagte Hakluyt.

Und Helena sagte: »Sie führen uns in ihre Stadt. Und sie geben uns zu essen und zu trinken. Und alles auf den Befehl ihres Königs, der Gilgamesch heißt.«

Raleigh sagte achselzuckend: »Nie von dem Kerl gehört. Ist der auch da?«

»Er hat seinen Stellvertreter gesandt«, sagte Helena. »Ein prachtvoller Riese von einem Mann, mit dem Namen Enkidu, und ganz erstaunlich kräftig und bildschön.«

»Bildschön?«

»Aber ja!« gurrte Helena. »Ja! Ein wahrer Herkules. Achilles war im Vergleich mit ihm ein Wicht. Und Paris, Menelaos, Agamemnon, sogar Hektor — die waren alle im Vergleich zu ihm — nichts! Nichtse! Ach, Sir Walter, wir sind gerettet! Gerettet! Gerettet!« Aber dann sah sie zu Hakluyt, der sie auf seine trockene, unpersönliche Gelehrtenart studierte, aber trotz allem auf eine irgendwie blutlose Art fasziniert, als wäre sie nicht die berühmteste Erz-Verführerin, die es je gab, sondern eine selten kostbare Handschrift oder sonst irgendein derartiger Schatz, auf den Gelehrte so gern und geil abfahren. Und so sprach sie zu ihm: »Es müßte doch etwas in eurem Archiv darüber geben, Doktor Hakluyt, nicht wahr? Über diesen Mann Enkidu? Sag mir, was du über ihn herausfindest! Sag mir alles. Ich will alles wissen, was es über diesen Mann an Unterlagen gibt. Und ich… ich möchte es sogleich wissen!«

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