Bento ging mit Jacob und Franco zu dem Haus, das er mit Gabriel bewohnte, und führte sie in sein Arbeitszimmer. Zunächst durchquerten sie ein kleines Wohnzimmer, dessen Möblierung sichtlich die weibliche Hand fehlte – nur eine grobe Holzbank und ein Stuhl, ein Strohbesen in der Ecke und ein Kamin mit einem Blasebalg. In Bentos Arbeitszimmer standen ein grob behauener Schreibtisch, ein hoher Schemel und ein klappriger Holzstuhl. Drei seiner eigenhändig angefertigten Kohlezeichnungen mit Amsterdamer Grachtenszenen hingen an der Wand über zwei Regalen, die sich unter dem Gewicht von einem Dutzend Bücher mit strapazierfähigen Einbänden bogen. Jacob steuerte sofort auf die Regale zu, um die Buchtitel zu inspizieren, doch Bento bedeutete ihm und Franco, schon einmal Platz zu nehmen, während er eilig einen weiteren Stuhl aus dem angrenzenden Zimmer herbeischaffte.
»Machen wir uns an die Arbeit«, sagte er, nahm seine abgegriffene hebräische Bibel zur Hand, ließ sie schwer auf die Mitte des Tisches fallen und schlug sie vor Jacob und Franco auf. Dann besann er sich eines Besseren, ließ die Blätter wieder aufeinander fallen und klappte die Bibel zu.
»Ich will mein Versprechen halten und Ihnen genauestens darlegen, was unsere Thora darüber sagt oder nicht sagt, dass die Juden das auserwählte Volk sind. Aber ich beginne lieber mit meinen wichtigsten Schlussfolgerungen, die auf jahrelangem Bibelstudium gründen.«
Mit Jacobs und Francos Einverständnis begann Bento: »Die zentrale Botschaft der Bibel über Gott lautet, wie ich glaube, dass er vollkommen ist sowie absolute Weisheit besitzt. Gott ist alles und schuf aus sich heraus die Welt und alles auf ihr. Sind Sie damit einverstanden?«
Franco nickte schnell. Jacob überlegte, schob die Unterlippe vor, öffnete die rechte Faust, ließ seine Handfläche sehen und nickte langsam und bedächtig.
»Da Gott definitionsgemäß vollkommen ist und keine Bedürfnisse hat, schuf Er die Welt folglich nicht für sich selbst, sondern für uns.«
Von Franco erhielt er ein Nicken und von Jacob einen verblüfften Blick und nach oben gedrehte Handflächen, als wollte er sagen: »Worauf wollen Sie hinaus?«
Gelassen fuhr Bento fort: »Und da Er uns aus seiner eigenen Substanz heraus geschaffen hat, ist es Seine Absicht, dass wir alle – die wir wiederum Teil der Substanz Gottes sind – Glück und Segen finden.«
Jacob nickte heftig, als hätte er endlich etwas gehört, dem er zustimmen konnte. »Ja, ich hörte, wie mein Onkel vom göttlichen Funken in jedem von uns sprach.«
»Ganz genau. Ihr Onkel und ich sind vollkommen einer Meinung«, sagte Spinoza, und als er ein leises Stirnrunzeln auf Jacobs Gesicht feststellte, beschloss er, sich solcher Bemerkungen in Zukunft zu enthalten – Jacob war zu intelligent und zu misstrauisch, um sich gönnerhaft behandeln zu lassen. Er schlug die Bibel auf und blätterte darin. »Hier, fangen wir mit einigen Psalmen an.« Bento begann, langsam auf Hebräisch vorzulesen, und zeigte mit dem Finger auf jedes Wort, das er für Franco ins Portugiesische übersetzte. Schon nach wenigen Minuten unterbrach ihn Jacob, schüttelte den Kopf und sagte: »Nein, nein, nein.«
»Nein, was?«, fragte Bento. »Gefällt Ihnen meine Übersetzung nicht? Ich versichere Ihnen, dass …«
»Es sind nicht Ihre Worte«, fiel Jacob ihm ins Wort, »es ist Ihre Art. Als Jude fühle ich mich über die Art beleidigt, wie Sie mit unserem heiligen Buch umgehen. Weder küssen Sie es, noch ehren Sie es. Sie haben es praktisch auf den Tisch geworfen; Sie zeigen mit einem ungewaschenen Finger darauf. Und Sie lesen es weder singend noch mit irgendeinem Tonfall. Sie lesen es so, als würden Sie einen Kaufvertrag über Ihre Rosinen vorlesen. Diese Art zu lesen beleidigt Gott.«
»Beleidigt Gott? Jacob, ich bitte Sie, auf dem Pfad der Vernunft zu bleiben. Haben wir uns nicht gerade darauf verständigt, dass Gott vollkommen ist, keine Bedürfnisse hat und kein Wesen ist wie wir? Könnte ein solcher Gott sich überhaupt von einer solchen Trivialität wie meiner Art zu lesen beleidigt fühlen?«
Jacob schüttelte schweigend den Kopf, während Franco zustimmend nickte und seinen Stuhl näher an Bento heranrückte.
Bento fuhr fort, den Psalm laut auf Hebräisch vorzulesen und für Franco ins Portugiesische zu übersetzen. »›Der HERR ist nahe allen, die ihn mit Ernst anrufen.‹« Bento ging einige Verse im selben Psalm zurück und las weiter: »›Der HERR ist allen gütig und erbarmet sich aller seiner Werke.‹ Vertrauen Sie mir«, sagte er. »Ich kann eine Menge solcher Passagen finden, aus denen klar hervorgeht, dass Gott allen Menschen den gleichen Intellekt gab und auch ihre Herzen gleichermaßen formte.«
Bento wandte seine Aufmerksamkeit Jacob zu, der abermals den Kopf schüttelte. »Sind Sie mit meiner Übersetzung nicht einverstanden, Jacob? Ich kann Ihnen versichern, dass es ›alle‹ heißt; es heißt nicht ›alle Juden‹.«
»Dem kann ich nicht zustimmen: Die Worte sind Worte. Was die Bibel sagt, sagt die Bibel. Aber die Bibel hat viele Worte, und es gibt viele Lesarten und viele Interpretationen durch viele heilige Männer. Ignorieren Sie etwa die hervorragenden Kommentare von Rashi und Abarbanel oder kennen Sie sie vielleicht gar nicht?«
Bento blieb unbeeindruckt. »Die Kommentare und die Kommentare zu den Kommentaren wurden mir sozusagen mit der Muttermilch eingeflößt. Ich las sie von Sonnenaufgang bis Sonnenuntergang. Ich verbrachte Jahre damit, die heiligen Schriften zu studieren, und wie Sie mir selbst sagten, respektieren mich viele in unserer Gemeinde als Gelehrten. Vor einigen Jahren fasste ich mir selbst ein Herz, erlangte einen Doktortitel für Alt-Hebräisch und Aramäisch, legte die Kommentare anderer beiseite und studierte aufs Neue die Worte, die tatsächlich in der Bibel stehen. Um die Worte der Bibel wirklich verstehen zu können, muss man die alte Sprache kennen und sie mit einem frischen, unvoreingenommenen Geist lesen. Ich möchte, dass wir die genauen Worte der Bibel lesen und verstehen und nicht das, was irgendein Rabbiner dahinter vermutete, keine ominösen Metaphern, die Gelehrte zu entdecken glaubten, und keine geheime Botschaft, die Kabbalisten in bestimmten Wortmustern und numerischen Buchstabenwerten erkennen. Ich möchte wieder von vorn anfangen und das lesen, was wirklich in der Bibel steht. Das ist meine Methode. Möchten Sie, dass ich fortfahre?«
Franco sagte: »Ja, ich bitte darum«, aber Jacob zögerte.
Seine Erregung war offensichtlich, denn kaum hörte er, wie Bento das Wort »alle« betonte, da ahnte er schon, worauf Bento mit seinen Argumenten hinauswollte – er roch förmlich die gestellte Falle. Er versuchte es mit einem präemptiven Manöver: »Sie haben meine drängende und einfache Frage noch nicht beantwortet: ›Streiten Sie ab, dass die Juden das auserwählte Volk sind?‹«
»Jacob, Ihre Fragen sind die falschen Fragen. Offensichtlich habe ich mich nicht klar genug ausgedrückt. Ich habe vor, Ihre gesamte Einstellung zu Autoritäten herauszufordern. Die Frage ist nicht, ob ich es bestreite oder ob irgendein Rabbiner oder ein anderer Gelehrter es behauptet. Wir wollen versuchen, nicht zu irgendeiner bedeutenden Autorität aufzuschauen, sondern uns die Worte unserer Heiligen Schrift ansehen, die uns sagen, dass wahres Glück und wahre Glückseligkeit allein darin liegen, Freude an dem zu haben, was gut ist. Die Bibel verlangt nicht von uns, stolz darauf zu sein, dass wir Juden allein glückselig sind, oder mehr Freude zu empfinden, weil andere das wahre Glück nicht kennen.«
Jacob gab nicht zu erkennen, dass er überzeugt war, und so versuchte Bento es mit einer anderen Taktik. »Ich will Ihnen ein Beispiel aus unserer eigenen Erfahrung geben. Vorhin, als wir im Laden waren, erfuhr ich, dass Franco kein Hebräisch kann. Richtig?«
»Ja.«
»Dann sagen Sie mir: Soll ich nun frohlocken, weil ich besser Hebräisch spreche als er? Macht seine Unkenntnis des Hebräischen mich plötzlich gelehrter, als ich noch eine Stunde zuvor war? Freude über unsere Überlegenheit gegenüber anderen ist nicht glückselig. Sie ist kindisch oder bösartig. Ist es nicht so?«
Jacob signalisierte Skepsis, indem er die Schultern einzog, doch Bento war in Fahrt. Jahrelang war ihm das gebotene Schweigen eine Last gewesen, doch nun genoss er die Möglichkeit, viele der Argumente auszusprechen, die er sich erarbeitet hatte. Er wandte sich an Jacob. »Sie werden mir bestimmt Recht geben, dass Glückseligkeit in der Liebe wohnt. Sie ist die überragende, die Kernbotschaft der gesamten Heiligen Schrift – und auch des christlichen Testaments. Wir müssen eine Unterscheidung zwischen dem treffen, was die Bibel sagt, und dem, was die religiösen Oberhäupter sagen, dass sie sagt. Zu oft fördern Rabbiner und Priester ihr Eigeninteresse durch voreingenommene Lesungen, durch Lesungen, die den Anspruch erheben, dass nur sie den Schlüssel zur Wahrheit in Händen halten.«
Aus den Augenwinkeln heraus sah Bento, dass Jacob und Franco erstaunte Blicke wechselten, doch er fuhr unbeirrt fort. »Hier, sehen Sie sich diese Passage in Könige 3:12 an.« Spinoza schlug die Bibel an einer Stelle auf, die er mit einem roten Faden markiert hatte. »Hören Sie sich die Worte an, die Gott zu Salomon spricht: ›Siehe, ich habe dir ein weises und verständiges Herz gegeben, daß deinesgleichen vor dir nicht gewesen ist und nach dir nicht aufkommen wird.‹ Und denken Sie beide nun einen Augenblick über diese Bemerkung Gottes über den weisesten Mann der Welt nach. Sicherlich ist dies ein Beweis dafür, dass die Worte der Thora nicht wörtlich genommen werden dürfen. Sie müssen im Kontext der damaligen Zeit …«
»Kontext?«, warf Franco ein.
»Ich meine die Sprache und die geschichtlichen Ereignisse jener Zeit. Wir können die Bibel nicht mit der Sprache von heute verstehen: Wir müssen sie mit dem Wissen über die Sprachkonventionen jener Zeit lesen, in der sie geschrieben und zusammengestellt wurde, und das war vor ungefähr zweitausend Jahren.«
»Wie bitte?«, rief Jacob aus. »Moses schrieb die Thora, die ersten fünf Bücher, vor weit mehr als zweitausend Jahren!«
»Das ist ein großes Thema. Darauf werde ich in ein paar Minuten zurückkommen. Lassen Sie mich zunächst mit Salomon fortfahren. Worauf ich hinaus möchte, ist, dass Gottes Bemerkung zu Salomon nur eine Redensart ist, die seine große, hervorragende Weisheit zum Ausdruck bringen soll, und sie zielt darauf ab, Salomons Glück zu vergrößern. Glauben Sie im Ernst, dass Gott von Salomon, dem weisesten aller Menschen, erwarten würde, sich darüber zu freuen, dass nach ihm keiner so intelligent sein würde wie er? Bestimmt hätte Gott sich in seiner Weisheit gewünscht, dass ein jeder mit den gleichen Fähigkeiten ausgestattet werde.«
Jacob protestierte. »Ich verstehe nicht, worüber Sie sprechen. Sie pflücken ein paar Worte oder Sätze heraus, aber Sie ignorieren die offensichtliche Tatsache, dass wir von Gott auserwählt wurden. Die Heilige Schrift sagt das immer und immer wieder.«
»Hier, sehen Sie, bei Hiob«, sagte Bento, der sich nicht beirren ließ und das Buch bei Hiob 28 aufschlug. »Gott sprach zu den Menschen, dass sie Gutes tun und das Böse meiden sollen. In solchen Passagen«, fuhr Bento fort, »liegt es klar auf der Hand, dass Gott die gesamte Menschheit im Sinn hatte. Und bedenken Sie auch, dass Hiob ein Heide war und Gott dennoch am wohlgefälligsten von allen. Hier steht es – lesen Sie selbst.«
Jacob weigerte sich, es anzusehen. »In der Bibel mögen einige solcher Worte stehen. Aber es gibt Tausende von gegenteiligen Worten. Wir Juden sind anders, und das wissen Sie. Franco ist gerade der Inquisition entronnen. Sagen Sie mir, Bento, wann hat es bei Juden jemals eine Inquisition gegeben? Andere schlachten Juden ab. Haben wir jemals andere abgeschlachtet?«
Bento blätterte ruhig weiter, diesmal zu Josua 10:37 und las: »›Und gewann sie und schlug sie mit der Schärfe des Schwerts und ihren König mit allen ihren Städten und alle Seelen, die drinnen waren; und ließ niemand überbleiben, allerdinge wie er Eglon getan hatte, und verbannete sie und alle Seelen, die drinnen waren.‹ Oder bei Josua 11:11 über die Stadt Hazor«, fuhr Bento fort: »›Und schlugen alle Seelen, die drinnen waren, mit der Schärfe des Schwerts und verbanneten sie; und ließ nichts überbleiben, das den Odem hatte; und verbrannte Hazor mit Feuer.‹ Oder wiederum hier, Samuel 18:6-7: ›Es begab sich aber, da David wiederkommen war von des Philisters Schlacht, daß die Weiber aus allen Städten Israels waren gegangen mit Gesang und Reigen dem Könige Saul entgegen mit Pauken, mit Freuden und mit Geigen. Und die Weiber sangen gegeneinander und spielten und sprachen: ‚Saul hat tausend geschlagen, aber David zehntausend.‘‹
Leider gibt es viele Beweise in der Thora, dass die Israeliten, als sie an der Macht waren, so grausam und so erbarmungslos waren wie jedes andere Volk. Sie waren nicht moralisch überlegener, rechtschaffener oder intelligenter als andere antike Völker. Sie waren nur insofern überlegen, als sie eine gut strukturierte Gesellschaft und eine bessere Regierung hatten, die es ihnen erlaubte, lange Zeit zu überdauern. Aber dieses antike hebräische Volk gibt es schon lange nicht mehr, und seit dieser Zeit stehen sie mit den anderen Völkern auf einer Ebene. Ich kann nichts in der Thora erkennen, woraus hervorgehen könnte, dass Juden anderen Völkern überlegen sein sollen. Gott ist allen gleichermaßen gnädig.«
Mit ungläubigem Gesichtsausdruck meldete sich Jacob zu Wort: »Sie sagen also, dass es nichts gäbe, was Juden von Nichtjuden unterscheidet?«
»Ganz genau, aber das sage nicht ich, sondern die Heilige Schrift.«
»Wie können Sie sich ›Baruch‹ nennen und solche Reden führen? Leugnen Sie tatsächlich, dass Gott die Juden auserwählt hat, dass er sie bevorzugte, dass er den Juden half, dass er viel von ihnen erwartete?«
»Noch einmal, Jacob, denken Sie darüber nach, was Sie sagen. Ich erinnere Sie noch einmal: Menschliche Wesen wählen aus, bevorzugen, helfen, werten, erwarten. Aber Gott? Hat Gott diese menschlichen Attribute? Denken Sie an meine Worte über den Trugschluss, sich Gott als unser Ebenbild vorzustellen. Denken Sie daran, was ich über Dreiecke und einen dreieckigen Gott sagte.«
»Wir wurden nach seinem Ebenbild geschaffen«, sagte Jacob. »Schlagen Sie die Schöpfungsgeschichte auf. Ich werde Ihnen diese Worte zeigen …«
Bento rezitierte sie aus dem Gedächtnis: »›Und Gott sprach: ‚Laßt uns Menschen machen, ein Bild, das uns gleich sei, die da herrschen über die Fische im Meer und über die Vögel unter dem Himmel und über das Vieh und über die ganze Erde und über alles Gewürm, das auf Erden kreucht.‘ Und Gott schuf den Menschen ihm zum Bilde, zum Bilde Gottes schuf er ihn; und schuf sie ein Männlein und Fräulein!‹«
»Ganz genau, Baruch, das sind die Worte«, sagte Jacob. »Ich wünschte, Ihre Frömmigkeit wäre so groß wie Ihre Merkfähigkeit. Wenn dies Gottes Worte sind, wie kommen Sie dann dazu, daran zu zweifeln, dass wir nach seinem Bilde geschaffen wurden?«
»Jacob, nutzen Sie Ihre von Gott gegebene Vernunft. Wir können solche Worte nicht buchstäblich nehmen. Es sind Metaphern. Glauben Sie wahrhaftig, dass wir Sterbliche – also auch Gehörlose, Krüppel, Elende, an Verstopfung Leidende – nach dem Ebenbild Gottes geschaffen wurden? Denken Sie an Menschen wie meine Mutter, die in ihren Zwanzigern starben, an die blind Geborenen, Deformierten oder Schwachsinnigen mit riesigen Wasserköpfen, an Menschen mit Skrofulose, an jene, deren Lungen versagen und die Blut spucken, an jene, die habgierig oder mordlüstern sind: Sind auch sie Ebenbilder Gottes? Sie glauben, Gott habe eine Mentalität wie die unsere, ließe sich gern umschmeicheln und würde eifersüchtig und rachsüchtig, wenn wir seinen Geboten nicht gehorchen? Könnten solch unreine, verstümmelte Gedankengänge in einem perfekten Wesen vorhanden sein? Das sind nur die Redensarten der Leute, welche die Bibel geschrieben haben.«
»Der Leute, die die Bibel geschrieben haben? Sie sprechen abfällig von Moses, von Josua und von den Propheten und den Richtern? Sie leugnen, dass die Bibel das Wort Gottes ist?« Jacobs Stimme wurde mit jedem Satz lauter, und Franco, der jedes Wort Bentos aufmerksam verfolgte, legte ihm eine Hand auf den Arm, um ihn zu beruhigen.
»Ich spreche von niemandem abfällig«, sagte Bento. »Diese Schlussfolgerung entstand in Ihrem Kopf. Aber ich sage tatsächlich, dass die Worte und Gedanken der Bibel dem menschlichen Geist entsprangen, dass sie von den Männern kommen, welche diese Abschnitte schrieben und sich vorstellten – nein, besser gesagt, sich wünschten, sie wären Gott ähnlich, sie wären nach dem Ebenbild Gottes geschaffen worden.«
»Sie leugnen also, dass Gott durch die Stimmen der Propheten spricht?«
»Es ist offensichtlich, dass alle Worte in der Bibel, die sich auf das ›Wort Gottes‹ beziehen, nur der Phantasie der verschiedenen Propheten entspringen.«
»Phantasie! Sie sagen Phantasie?« Jacob schlug erschreckt die Hand vor seinen Mund, während Franco versuchte, ein Lächeln zu unterdrücken.
Bento wusste, dass jede seiner Äußerungen Jacob empörte, doch er schaffte es nicht, sich zurückzuhalten. Er war in Hochstimmung, endlich wollte er die Ketten seines Schweigens sprengen und alle Ideen geradeheraus aussprechen, die er im Geheimen ersonnen oder dem Rabbiner nur in sorgfältig verschleierter Form mitgeteilt hatte. Van den Endens Warnung »caute, caute« fiel ihm ein, doch ausnahmsweise hörte er nicht auf seine Vernunft und preschte weiter vor.
»Ja, es ist offensichtlich Phantasie, Jacob, und seien Sie nicht so entsetzt: Das steht ausdrücklich in der Thora.« Aus den Augenwinkeln registrierte Bento ein Lächeln auf Francos Gesicht. Bento fuhr fort: »Hier, Jacob, lesen Sie diesen Abschnitt mit mir aus dem 5. Buch Moses, 34:10: ›Und es stund hinfort kein Prophet in Israel auf wie Mose, den der HERR erkannt hätte von Angesicht zu Angesicht.‹ Nun, Jacob, überlegen Sie, was das bedeutet. Sie wissen natürlich, dass die Thora uns berichtet, dass nicht einmal Moses das Angesicht Gottes erblickt hat. Richtig?«
Jacob nickte: »Ja, so steht es in der Thora.«
»Nun, Jacob, wir haben die Anschauung Gottes ausgeschlossen, und das muss bedeuten, dass Moses Gottes wirkliche Stimme hörte und dass kein Prophet nach Moses seine wirkliche Stimme gehört hat.«
Jacob hatte keine Antwort.
»Erklären Sie mir«, bat Franco, der aufmerksam jedes Wort Bentos verfolgt hatte. »Wenn keiner der anderen Propheten die Stimme Gottes hörte, woher stammen dann die Prophezeiungen?«
Bento, der sich über Francos Mitarbeit freute, antwortete sofort: »Ich glaube, dass die Propheten mit einer ungewöhnlich lebhaften Vorstellungskraft, aber nicht unbedingt mit einem hoch entwickelten logischen Denkvermögen ausgestattet waren.«
»Dann glauben Sie also, Bento«, sagte Franco, »dass wundertätige Prophezeiungen nichts anderes sind als eingebildete Ansichten der Propheten?«
»Ganz genau.«
Franco fuhr fort: »Es ist, als gäbe es nichts Übernatürliches. Sie lassen es so aussehen, als sei alles erklärbar.«
»Das ist genau das, was ich glaube. Alles, und damit meine ich wirklich alles, hat eine natürliche Ursache.«
»Was mich betrifft«, sagte Jacob, der Bento wütend angefunkelt hatte, als er über die Propheten sprach, »gibt es Dinge, die nur Gott weiß, Dinge, deren Ursache nur im Willen Gottes liegen.«
»Je mehr Wissen wir erlangen können, desto weniger wird nur Gott allein bekannt sein. Mit anderen Worten: Je größer unser Unwissen ist, desto mehr schreiben wir Gott zu.«
»Wie können Sie es wagen …«
»Jacob«, unterbrach Bento. »Lassen Sie uns darauf zurückkommen, weshalb wir drei hier zusammensitzen. Sie kamen zu mir, weil Franco sich in einer spirituellen Krise befand und Hilfe brauchte. Ich habe Sie mir nicht ausgesucht – in Wahrheit riet ich Ihnen, lieber den Rabbiner zu konsultieren. Sie sagten, Ihnen sei zugetragen worden, dass der Rabbiner den Zustand Francos nur noch verschlimmern würde, wissen Sie noch?«
»Ja, das stimmt«, sagte Jacob.
»Was hilft es Ihnen oder mir dann, einen solchen Disput vom Zaun zu brechen? Tatsächlich gibt es nur eine einzige richtige Frage.« Bento wandte sich an Franco. »Sagen Sie mir, bin ich eine Hilfe für Sie? War irgendetwas, was ich sagte, hilfreich?«
»Alles, was Sie sagten, verschaffte mir Trost«, sagte Franco. »Sie helfen meiner geistigen Gesundheit. Ich war kurz davor, die Orientierung zu verlieren, und Ihr klares Denken, Ihre Art, nichts einfach hinzunehmen, was auf Autoritäten beruht – so etwas habe ich bis jetzt noch nie gehört. Ich höre Jacobs Wut, und ich entschuldige mich für ihn, aber was mich betrifft – ja, Sie haben mir geholfen.«
»Wenn das so ist«, sagte Jacob und stand abrupt auf, »haben wir bekommen, weswegen wir gekommen sind, und für uns ist die Sache hiermit erledigt.« Franco sah bestürzt aus und blieb sitzen, aber Jacob packte ihn am Ellbogen und schob ihn zur Tür.
»Danke, Bento«, sagte Franco, der im Türrahmen stand. »Sagen Sie mir bitte, stehen Sie für weitere Treffen zur Verfügung?«
»Ich stehe immer für eine vernünftige Diskussion zur Verfügung – kommen Sie einfach zu mir ins Geschäft. Aber«, und damit wandte Bento sich an Jacob, »für ein Streitgespräch, das keine Vernunft zulässt, stehe ich nicht zur Verfügung.«
Jacob grinste übers ganze Gesicht, sobald sie außer Sichtweite von Bentos Haus waren, legte den Arm um Francos Schulter und drückte sie. »Jetzt haben wir alles, was wir brauchen. Wir haben gut zusammengearbeitet. Du hast deine Rolle gut gespielt – fast schon zu gut, wenn du mich fragst –, aber darüber will ich kein Wort mehr verlieren, denn wir haben nun das vollbracht, was wir tun mussten. Was haben wir alles? Die Juden sind nicht von Gott auserwählt; sie unterscheiden sich überhaupt nicht von anderen Völkern. Gott hat uns gegenüber keine Gefühle. Die Propheten reimen sich alles zusammen. Die Heiligen Schriften sind nicht heilig, sondern ganz und gar Menschenwerk. Gottes Wort und Gottes Wille existieren nicht. Die Schöpfungsgeschichte und der Rest der Thora sind Mythen oder Metaphern. Die Rabbiner, selbst die Größten unter ihnen, besitzen kein besonderes Wissen, sondern handeln nur aus eigenem Interesse.«
Franco schüttelte den Kopf. »Wir haben nicht alles, was wir brauchen. Noch nicht. Ich möchte ihn noch einmal treffen.«
»Ich habe gerade seine ganzen Abscheulichkeiten aufgezählt: Seine Worte sind reine Ketzerei. Das war es, was Onkel Duarte von uns verlangte, und wir haben seinem Wunsch entsprochen. Die Beweise sind erdrückend: Bento Spinoza ist kein Jude: Er ist ein Anti-Jude.«
»Nein«, gab Franco zur Antwort, »wir haben nicht genug. Ich muss noch mehr hören. Ich werde nichts bezeugen, ehe ich nicht mehr habe.«
»Wir haben mehr als genug. Deine Familie ist in Gefahr. Wir haben mit Onkel Duarte einen Handel geschlossen – und niemand wird sich aus einem Handel mit ihm herauswinden. Genau das hat dieser Narr Spinoza versucht – ihn zu betrügen, indem er das jüdische Gericht überging. Nur den Kontakten des Onkels, den Schmiergeldern des Onkels und dem Schiff des Onkels hast du es zu verdanken, dass du dich nicht mehr in einer Höhle in Portugal verstecken musst. Und schon in zwei Wochen wird sein Schiff auch deine Mutter, deine Schwester und meine Schwester herausholen. Willst du, dass sie wie unsere Väter ermordet werden? Wenn du nicht mit mir zur Synagoge gehst und vor dem Vorstand aussagst, wirst du derjenige sein, der ihren Scheiterhaufen anzündet.«
»Ich bin kein Narr, und ich werde mich nicht wie ein Schaf herumkommandieren lassen«, sagte Franco. »Wir haben Zeit, und ich brauche mehr Informationen, bevor ich vor dem Vorstand der Synagoge meine Aussage mache. Ein zusätzlicher Tag macht keinen Unterschied, und das weißt du. Und dazu kommt noch, dass der Onkel verpflichtet ist, sich um seine Familie zu kümmern, selbst wenn wir nichts tun.«
»Der Onkel macht, was der Onkel will. Ich kenne ihn besser als du. Er folgt keinen Regeln außer seinen eigenen, und er ist nicht von Natur aus großzügig. Ich will deinen Spinoza jedenfalls nie mehr besuchen. Er verleumdet unser ganzes Volk.«
»Dieser Mann hat mehr Intelligenz als die ganze Kongregation zusammen. Und wenn du nicht mehr hingehen willst, werde ich allein mit ihm sprechen.«
»Nein, wenn du hingehst, komme ich mit. Ich werde dich nicht allein hingehen lassen. Der Mann hat eine zu große Überzeugungskraft. Ich bin ja selbst ins Wanken gekommen. Wenn du allein hingehst, sehe ich nicht nur einen Cherem für ihn, sondern auch für dich.« Als Jacob Francos verwirrten Blick bemerkte, fügte er hinzu: »Cherem bedeutet so viel wie Exkommunikation – noch ein hebräisches Wort, das du dir merken solltest.«