23 AMSTERDAM, 27. JULI 1656

Als Bento seinen Namen hörte, fuhr er herum und sah einen in Tränen aufgelösten Franco, der sofort auf die Knie fiel und den Kopf so tief beugte, dass er das Straßenpflaster mit der Stirn berührte.

»Franco? Was machen Sie hier? Und was machen Sie da auf dem Boden?«

»Ich musste Sie aufsuchen, um Sie zu warnen, um Sie um Vergebung zu bitten. Bitte vergeben Sie mir. Bitte erlauben Sie mir, es zu erklären.«

»Franco, stehen Sie auf. Es ist gefährlich für Sie, wenn man Sie mit mir zusammen sieht. Ich bin gerade auf dem Heimweg. Folgen Sie mir mit Abstand und treten Sie dann einfach ohne zu klopfen ein. Aber überzeugen Sie sich vorher, dass niemand Sie sieht.«

In Bentos Studierstube fuhr Franco wenige Minuten später mit bebender Stimme fort: »Ich komme gerade aus der Synagoge. Die Rabbiner haben Sie verflucht. Bösartig – so bösartig waren sie. Ich verstand alles, weil sie es ins Portugiesische übersetzten – ich hätte mir nie vorgestellt, dass sie so bösartig sein können. Sie befahlen, dass niemand mit Ihnen sprechen, niemand Sie ansehen oder …«

»Deshalb sagte ich, dass es gefährlich ist, mit mir gesehen zu werden.«

»Sie wissen es schon? Woher können Sie es wissen? Ich komme geradewegs aus der Synagoge. Ich bin nach dem Gottesdienst sofort hinausgerannt.«

»Ich wusste, dass es so kommen wird. Es war vom Schicksal bestimmt.«

»Aber Sie sind ein guter Mensch. Sie haben mir Ihre Hilfe angeboten. Sie haben mir geholfen. Und sehen Sie sich nun an, was sie Ihnen angetan haben. Alles ist meine Schuld.« Franco fiel abermals auf die Knie, ergriff Bentos Hand und drückte sie an seine Stirn. »Es ist eine Kreuzigung, und ich bin der Judas. Ich habe Sie verraten.«

Bento entzog ihm seine Hand und legte sie einen Augenblick lang auf Francos Kopf. »Bitte stehen Sie auf. Ich muss Ihnen verschiedene Dinge sagen. Vor allem müssen Sie eines wissen: Es ist nicht Ihre Schuld. Man hat nach einem Vorwand gesucht.«

»Nein, es gibt Dinge, die Sie nicht wissen. Die Zeit ist gekommen: Ich muss gestehen. Wir haben Sie verraten, Jacob und ich. Wir gingen zu den Parnassim, und Jacob erzählte ihnen alles, was Sie zu uns gesagt haben. Und ich tat nichts, um ihn aufzuhalten. Ich stand nur da und nickte, während er berichtete. Und mit jedem Nicken schlug ich einen Nagel in Ihr Kreuz. Aber ich musste es tun. Ich hatte keine andere Wahl … Glauben Sie mir, ich hatte keine andere Wahl.«

»Es gibt immer eine andere Wahl, Franco.«

»Das hört sich schön an, aber es stimmt nicht. Das wirkliche Leben ist nicht so einfach.«

Verblüfft warf Bento einen langen Blick auf Franco. Dieser Franco war irgendwie anders. »Warum stimmt es nicht?«

»Was ist, wenn man nur zwei Möglichkeiten zur Auswahl hat, von denen jede tödlich ist?«

»Tödlich?«

Franco vermied Bentos Blick. »Sagt Ihnen der Name Duarte Rodriguez etwas?«

Bento nickte. »Der Mann, der versucht hat, meine Familie zu berauben. Der Mann, der nicht erst die Proklamation eines Rabbiners brauchte, um mich zu hassen.«

»Er ist mein Onkel.«

»Ja, das weiß ich, Franco. Das hat mir Rabbi Mortera gestern erzählt.«

»Sagte er Ihnen auch, dass mein Onkel mir zwei Möglichkeiten zur Auswahl anbot? Wenn ich mich bereit erklärte, Sie zu verraten, würde er mich aus Portugal herausholen, und sobald ich mein Versprechen eingelöst hätte, würde er sofort ein Schiff nach Portugal senden, um meine Mutter, meine Schwester und meine Tante, Jacobs Mutter, zu retten. Sie verbergen sich in einem Versteck und schweben in größter Gefahr. Sollte ich mich weigern, würde er sie in Portugal ihrem Schicksal überlassen.«

»Ich verstehe. Sie haben die richtige Wahl getroffen. Sie haben Ihre Familie gerettet.«

»Und trotzdem tilgt es meine Schande nicht. In dem Moment, in dem meine Familie in Sicherheit ist, will ich wieder zu den Parnassim gehen und gestehen, dass wir Sie dazu provoziert haben, diese Dinge zu sagen, die Sie gesagt haben.«

»Nein, tun Sie das nicht, Franco. Das Beste, was Sie im Augenblick für mich tun können, ist, Schweigen zu bewahren.«

»Schweigen?«

»Das ist das Beste für mich, für uns alle.«

»Warum ist es das Beste? Wir haben Sie wirklich mit Hinterlist dazu verleitet, das zu sagen, was Sie gesagt haben.«

»Aber das ist nicht wahr. Was ich sagte, sagte ich aus freiem Willen.«

»Nein, Sie haben nur Mitleid mit mir, Sie wollen nur meinen Schmerz lindern. Meine Schuld bleibt. Es war alles nur gespielt, alles war geplant. Ich habe gesündigt. Ich habe Sie hintergangen. Ich habe Ihnen großen Schaden zugefügt.«

»Franco, Sie haben mich nicht hintergangen. Ich wusste, dass Sie beide gegen mich aussagen würden. Ich sprach absichtlich frei von der Leber weg. Ich wollte, dass Sie Ihre Aussage machen. Ich bin derjenige, der sich der Täuschung schuldig gemacht hat.«

»Sie

»Ja, ich habe Sie benutzt. Und was das Schlimmste ist, ich tat es, obwohl ich eine Ahnung hatte, dass Sie und ich verwandte Seelen sein könnten.«

»Ihre Ahnung hat Sie nicht enttäuscht. Aber unsere gleiche Gesinnung macht meine Schuld nur noch größer. Als Jacob den Parnassim Ihre Anschauungen vortrug, schwieg ich, obwohl ich lauthals hätte schreien sollen: ›Ich stimme mit Baruch Spinoza überein. Seine Ansichten sind auch die meinen.‹«

»Hätten Sie das getan, wären Sie in des Teufels Küche geraten. Ihr Onkel würde sich rächen, Ihre Familie wäre in größter Gefahr, die Parnassim hätten mich dennoch exkommuniziert und Sie noch dazu.«

»Baruch Spinoza …«

»Bitte nennen Sie mich Bento. Einen Baruch Spinoza gibt es nicht mehr.«

»Gut, dann also Bento. Bento Spinoza, Sie sind mir ein Rätsel. Nichts von dem, was heute geschah, ergibt einen Sinn. Beantworten Sie mir eine einfache Frage: Wenn Sie aus dieser Gemeinde ausscheiden wollten, warum sind Sie nicht einfach aus freiem Willen gegangen? Warum luden Sie sich selbst eine solche Schande und ein solches Unglück auf? Warum sind Sie nicht einfach fortgegangen? Woandershin?«

»Wohin? Sehe ich holländisch aus? Ein Jude kann nicht einfach verschwinden. Und denken Sie an meinen Bruder und meine Schwester. Denken Sie daran, wie schrecklich es wäre, sie zu verlassen und sich dann immer wieder aufs Neue dafür entscheiden zu müssen, ihnen fernzubleiben. So ist es besser. Und auch besser für meine Familie. Jetzt brauchen sie sich nicht immer wieder neu zu entscheiden, ob sie mit ihrem Bruder sprechen wollen oder nicht. Der Cherem des Rabbiners hat ihnen und mir diese Entscheidung ein für alle Mal abgenommen.«

»Sie wollen damit also sagen, es wäre besser, sein eigenes Schicksal in die Hände anderer zu legen. Es wäre besser, sich nicht selbst zu entscheiden, sondern andere zu zwingen, die Entscheidung für einen zu treffen? Sagten Sie nicht gerade eben, dass man immer eine Wahl hat?«

Verblüfft sah Bento abermals diesen anderen Franco an, einen aufmerksamen, zugänglichen Franco, der keine Spur dieses schüchternen, tollpatschigen Franco erkennen ließ, den er von den vergangenen Treffen kannte. »In Ihren Worten liegt viel Wahrheit. Was brachte Sie dazu, so zu denken?«

»Mein Vater, der von der Inquisition auf dem Scheiterhaufen verbrannt wurde, war ein weiser Mann. Bevor sie ihn zur Konvertierung zwangen, war er Großrabbiner und Ratgeber unserer Gemeinde. Auch nachdem wir alle Christen waren, suchten die Leute vom Dorf ihn immer noch auf, um schwierige Alltagsprobleme mit ihm zu besprechen. Ich saß oft an seiner Seite und erfuhr viel über Schuld, Schande, Entscheidungen und Trauer.«

»Sie sind der Sohn eines weisen Rabbiners? Bei unseren Treffen mit Jacob haben Sie demnach Ihr Wissen und Ihre wirklichen Gedanken verschwiegen. Als ich über die Worte der Thora sprach, schützten Sie Nichtwissen vor.«

Franco senkte den Kopf und nickte. »Ich gebe zu, dass ich Ihnen etwas vorgespielt habe. Aber ich weiß wirklich nichts über die jüdische Religion. In seiner Weisheit und aus Liebe zu mir wünschte mein Vater nicht, dass ich in unserer Tradition erzogen wurde. Wollten wir am Leben bleiben, mussten wir Christen sein. Er brachte mir bewusst weder die jüdische Sprache noch jüdische Bräuche bei, denn die durchtriebenen Inquisitoren waren sehr geschickt darin, alle Spuren jüdischen Gedankengutes auszukundschaften.«

»Und Ihr Wutausbruch über den Wahnsinn der Religionen? War der auch gespielt?«

»Absolut nicht! Ja, Jacob hatte für mich vorgesehen, große religiöse Zweifel zu äußern, um Ihnen die Zunge zu lösen. Aber diese Rolle war einfach – bestimmt gibt es keinen Schauspieler, der je eine einfachere Rolle zu spielen hatte. Tatsächlich war es eine große Erleichterung für mich, diese Worte auszusprechen. Bis dahin hatte ich meine Gefühle noch nie preisgegeben. Je mehr christliche Glaubensgrundsätze und Geschichten über Wunder mir aufgezwungen wurden, desto klarer wurde mir, dass sowohl der christliche wie auch der jüdische Glaube auf kindischen, übernatürlichen Phantasien beruhen. Aber darüber konnte ich mit meinem Vater nicht sprechen. Einen solchen Schmerz konnte ich ihm nicht zufügen. Dann wurde er dafür ermordet, dass er Blätter aus der Thora versteckte, auf denen seiner Überzeugung nach die wirklichen Worte Gottes standen. Und wiederum konnte ich nichts sagen. Ihre Gedanken zu hören war so befreiend, dass ich fast nicht mehr das Gefühl hatte, Ihnen etwas vorzuspielen, wenngleich meine aufrichtige Zustimmung zu Ihren Worten in Wahrheit im Dienst der Täuschung stand. Ein komplexes Paradoxon.«

»Ich verstehe genau, was Sie sagen wollen. Während unserer Gespräche war es auch für mich ein erhebendes Gefühl, endlich die Wahrheit über meine Überzeugungen aussprechen zu können. Obwohl ich wusste, dass ich Jacob empörte, hielt ich mich nicht im Mindesten zurück. Ganz im Gegenteil: Ich gestehe, dass ich sogar Gefallen daran fand, ihn zu empören, obwohl mir die schlimmen Konsequenzen durchaus bewusst waren.«

Sie verfielen in Schweigen. Bentos beklemmendes Gefühl der vollkommenen Isolation, nachdem Manny, der Sohn des Bäckers, ihm aus dem Weg gegangen war, verblasste allmählich. Diese Unterhaltung, dieser Moment der Aufrichtigkeit mit Franco, berührte ihn und wärmte seine Seele. Wie es seine Art war, hielt er sich nicht lange mit Gefühlen auf, sondern wechselte zur Rolle des Beobachters, durchforschte seine Seele und spürte insbesondere die Milde, die ihn durchströmte. Obwohl er sich ihrer Flüchtigkeit voll bewusst war, kostete er diese angenehme Empfindung voll aus. Ach, Freundschaft! Das ist also der Klebstoff, der Menschen zusammenhält – diese Wärme, dieser die Einsamkeit vertreibende Seelenzustand. Dadurch, dass er an so vielem zweifelte, sich vor so vielem fürchtete, so wenig von sich preisgab, hatte er Freundschaft viel zu selten in seinem Leben erfahren.

Franco warf einen Blick auf Bentos gepackte Tasche und brach das Schweigen. »Sie reisen heute ab?«

Bento nickte.

»Wohin? Was werden Sie tun? Wovon werden Sie leben?«

»Hoffentlich führt mein Weg mich zu einem unbelasteten Leben der Besinnung. Vergangenes Jahr lernte ich bei einem hier ansässigen Linsenschleifer, Linsen für Brillen anzufertigen und, was mich noch viel mehr interessierte, auch optische Instrumente, also Teleskope und Mikroskope. Meine Bedürfnisse sind gering, und ich sollte in der Lage sein, meinen Lebensunterhalt ohne Schwierigkeiten zu bestreiten.«

»Werden Sie hier in Amsterdam bleiben?«

»Im Augenblick, ja. Ich werde im Haus von Franciscus van den Enden wohnen, der eine Lateinschule an der Singel führt. Irgendwann ziehe ich vielleicht in eine kleinere Gemeinde um, wo ich meinen eigenen Studien in einer ruhigen Umgebung nachgehen kann.«

»Werden Sie ganz allein auf sich gestellt sein? Ich kann mir vorstellen, dass das Stigma der Exkommunikation andere von Ihnen fernhalten wird?«

»Ganz im Gegenteil, es wird einfacher sein, als exkommunizierter Jude unter Nichtjuden zu leben. Vielleicht insbesondere als dauerhaft exkommunizierter Jude im Vergleich mit einem abtrünnigen Juden, der nur nichtjüdischen Umgang sucht.«

»Das ist also ein weiterer Grund, weshalb Ihnen ein Cherem nicht ungelegen kam?«

»Ja, das gebe ich zu, und es gibt noch etwas: Ich möchte irgendwann zu schreiben beginnen, und vielleicht bestehen größere Aussichten, dass eine breitere Bevölkerung das Werk eines exkommunizierten Juden liest als das eines Mitglieds der jüdischen Gemeinde.«

»Das wissen Sie genau?«

»Reine Spekulation, aber ich habe bereits Beziehungen zu mehreren gleichgesinnten Kollegen geknüpft, die mich ermutigen, meine Gedanken aufzuschreiben.«

»Und das sind Christen?«

»Ja, aber eine andere Art von Christen als die fanatischen iberischen Katholiken, die Sie kennen. Sie glauben weder an das Wunder der Auferstehung, noch trinken sie beim Gottesdienst Jesus’ Blut oder verbrennen Menschen bei lebendigem Leib, die anders denken. Es sind liberal gesinnte Christen, die sich Kollegianten nennen und ohne Priester oder Kirchen selbständig denken.«

»Demnach haben Sie die Absicht, zu konvertieren und sich ihnen anzuschließen?«

»Niemals. Ich beabsichtige, ein religiöses Leben ohne den Einfluss irgendeiner Religion zu führen. Ich glaube, dass alle Religionen, sei es der Katholizismus, der Protestantismus, der Islam oder auch das Judentum, uns nur den Blick auf die religiösen Kernwahrheiten versperren. Ich hoffe, dass wir eines Tages in einer Welt ohne Religionen leben werden, in einer Welt mit einer universalen Religion, in welcher jeder Einzelne seine Vernunft einsetzt, um Gott zu erforschen und zu ehren.«

»Heißt das, dass Sie sich ein Ende des Judentums wünschen?«

»Ein Ende aller Traditionen, die das Recht des Einzelnen behindern, selbständig zu denken.«

Franco verfiel einige Augenblicke lang in Schweigen. Dann: »Bento, Sie sind so extrem, dass mir angst und bange wird. Es raubt mir den Atem, wenn ich mir vorstelle, dass unsere Tradition, nachdem sie nun Tausende von Jahren überlebt hat, verschwinden soll.«

»Wir sollten Dinge bewahren, weil sie wahr sind, nicht weil sie alt sind. Alte Religionen locken uns in die Falle, indem sie steif und fest behaupten, dass wir, wenn wir unsere Traditionen aufgeben, alle Gläubigen entehren, die vor uns lebten. Und falls einer unserer Vorfahren als Märtyrer sterben musste, sitzen wir erst recht in der Falle, weil unser Ehrgefühl uns dazu zwingt, den Glauben des Märtyrers fortzuführen, auch wenn wir wissen, dass er mit Irrtümern und Aberglauben befrachtet ist. Gaben Sie mir nicht zu verstehen, dass Sie nach dem Märtyrertod Ihres Vaters ähnlich empfanden?«

»Ja – dass ich seinem Leben den Sinn nähme, wenn ich genau das verleugnete, wofür er starb.«

»Aber wäre es nicht auch sinnlos, das einzige Leben, das Sie haben, einem falschen und abergläubischen System zu opfern – einem System, das nur ein einziges Volk auserwählt und alle anderen Wesen ausschließt?«

»Bento Spinoza, Sie strapazieren meinen Kopf zu sehr. Einen Schritt weiter, und er wird zerspringen. Ich habe es nie gewagt, über solche Dinge nachzudenken. Ich kann mir nicht vorstellen, ohne meine Gemeinde, ohne meine Gruppe zu leben. Warum fällt es Ihnen so leicht?«

»Leicht? Es ist nicht leicht, aber es ist leichter, wenn die eigenen Angehörigen tot sind. Meine lebenslange Exkommunikation stellt mich nun vor die Aufgabe, meine Identität vollkommen neu zu gestalten und zu lernen, ein Leben zu führen, ohne Jude, Christ oder Angehöriger irgendeiner anderen Religion zu sein. Vielleicht werde ich der erste Mensch sein, auf den das zutrifft.«

»Seien Sie auf der Hut! Es ist möglich, dass Ihre lebenslange Exkommunikation in Wirklichkeit nicht lebenslang sein wird. Andere Leute gestehen Ihnen vielleicht nicht den Luxus zu, kein Jude zu sein. Baruch, was wissen Sie über die limpiezas de sangre

»Die iberischen Blutgesetze? Nicht sehr viel, außer dass Spanien sie einführte, um konvertierte Juden daran zu hindern, zu viel Macht zu erlangen.«

»Wie mein Vater mir erzählte, begann es mit Torquemada, dem Großinquisitor, der Königin Isabella vor zweihundert Jahren davon überzeugte, dass der jüdische Makel im Blut auch nach einer Konversion zum Christentum bestehen bliebe. Da Torquemada selbst in der vierten Generation vor ihm jüdische Vorfahren hatte, verfügte er, dass die Blutgesetze bis drei Generationen rückwirkend anzuwenden seien. Daher stehen heutige Conversos und selbst diejenigen, die zwei oder drei Generationen älter sind, unter strengem Verdacht, und viele Karrieren bleiben ihnen versagt – in der Kirche, beim Militär, in vielen Gilden und in öffentlichen Ämtern.«

»Offenkundig willkürliche Überzeugungen, wie ›drei, aber nicht vier Generationen‹, wurden augenscheinlich erfunden, um dem Urheber einen Dienst zu erweisen. Falsche Überzeugungen wird es so lange geben, wie es Arme auf der Welt gibt, und ich kann nichts gegen ihr Fortbestehen tun. Und nun strebe ich danach, mich nur noch um die Dinge zu kümmern, die ich selbst beeinflussen kann.«

»Wie zum Beispiel?«

»Ich glaube, dass ich wirkliche Kontrolle nur über eines habe: über den Fortschritt meiner Erkenntnis.«

»Bento, mir liegt etwas auf der Seele, von dem ich weiß, dass es unmöglich ist.«

»Aber nicht unmöglich, es zu sagen?«

»Ich weiß, es ist unmöglich, aber ich möchte Sie begleiten! Sie denken bedeutende Gedanken, und ich weiß, dass Sie noch bedeutendere denken werden. Ich möchte Ihnen folgen, Ihr Schüler sein, Ihr Diener, ich möchte teilhaben an dem, was Sie tun werden, Ihre Manuskripte abschreiben, Ihnen Ihr Leben erleichtern.«

Bento sagte einen Augenblick lang nichts. Er lächelte und schüttelte dann den Kopf.

»Das, was Sie da sagen, ist schmeichelhaft, ja sogar verführerisch für mich. Lassen Sie mich darauf von innen her wie auch von außen her antworten.

Zuerst von innen her. Obwohl ich mir ein zurückgezogenes Leben wünsche und es unbedingt anstrebe, spüre ich, dass ein anderer Teil in mir sich nach Vertrautheit sehnt. Manchmal kann ich in eine unbeschreiblich starke Sehnsucht nach lange entbehrten Gefühlen abgleiten, nach Geborgenheit in einer trauten Familie, und dieser Teil von mir – der sich sehnende Teil – begrüßt Ihren Wunsch, möchte Sie am liebsten in die Arme schließen und ›ja, ja, ja!‹ rufen. Gleichzeitig schreit ein anderer Teil in mir, mein stärkerer und wichtigerer Teil, nach Freiheit. Es schmerzt mich, dass die Vergangenheit vergangen ist und niemals zurückkehren wird. Es schmerzt mich, daran zu denken, dass alle diejenigen, die mir Geborgenheit gaben, tot sind, und ich hasse auch diesen Schmerz, der mich in Ketten legt und mich bremst. Ich kann vergangene Ereignisse nicht beeinflussen, aber ich habe mich entschlossen, für die Zukunft starke Bindungen zu vermeiden. Ich werde mich niemals mehr in meine kindische Sehnsucht hüllen, geborgen sein zu wollen. Verstehen Sie das?«

»Ja, viel zu gut.«

»So viel zum Inneren. Lassen Sie mich nun von außen her antworten: Ich vermute, Ihr Wort ›unmöglich‹ bezog sich auf die Unmöglichkeit, Ihre Familie zu verlassen. Wäre ich an Ihrer Stelle, wäre es mir auch unmöglich. Mir selbst fällt es schon schwer genug, meinen jüngeren Bruder zu verlassen. Meine Schwester hat ihre eigene Familie, und um sie mache ich mir weniger Sorgen. Aber es ist nicht nur Ihre Familie, Franco, die Sie daran hindert, sich mir anzuschließen. Es gibt andere Hindernisse. Erst vor wenigen Minuten sagten Sie mir, dass Sie sich ein Leben ohne eine Gemeinde nicht vorstellen könnten. Doch mein Weg ist ein Weg der Einsamkeit, und, abgesehen von der vollkommenen Absorption in Gott, sehnt er sich nach keiner Gemeinschaft. Ich werde niemals heiraten. Und selbst wenn ich eine Heirat wünschte, wäre es nicht möglich. Als einzelgängerische Kuriosität kann ich vielleicht ohne Religionszugehörigkeit leben, aber es ist zweifelhaft, ob es selbst in Holland, dem tolerantesten Land der Welt, einem Paar gestattet wäre, ein solches Leben zu führen und Kinder zu erziehen, ohne einer Kirche anzugehören. Und mein einzelgängerisches Leben heißt auch: keine Tanten, keine Onkel, keine Vettern, keine Familienfeste, kein Pessachmahl, kein Rosh Hashanah. Nur Einsamkeit.«

»Ich verstehe, Bento. Ich verstehe, dass ich geselliger bin und vielleicht größere Bedürfnisse habe. Ich bewundere Ihre außerordentliche Selbstgenügsamkeit. Mir scheint, Sie wollen niemanden und brauchen niemanden.«

»Das habe ich schon so oft gehört, dass ich allmählich selbst daran glaube. Es ist nicht so, dass mir die Gesellschaft anderer Menschen keine Freude bereitete – in diesem Augenblick genieße ich unser Gespräch, Franco. Aber Sie haben Recht: Ein gesellschaftliches Leben ist für mich nicht lebenswichtig. Jedenfalls nicht so lebenswichtig, wie es für andere zu sein scheint. Ich erinnere mich, wie verstört meine Schwester und mein Bruder immer waren, wenn sie zu irgendeiner Veranstaltung mit ihren Freunden nicht eingeladen wurden. So etwas störte mich nie im Geringsten.«

»Ja«, nickte Franco, »Das stimmt. Ich könnte nicht so wie Sie leben. Das ist mir tatsächlich fremd. Aber überlegen Sie, Bento, welche andere Wahl mir bleibt. Vor Ihnen steht jemand, der so viele Ihrer Zweifel und auch Ihre Wünsche, frei von Aberglauben zu leben, mit Ihnen teilt, und doch ist es mein Schicksal, mich in eine Synagoge zu setzen, zu einem Gott zu beten, der mich nicht hört, törichten Ritualen zu folgen, als Heuchler zu leben, ein bedeutungsloses Leben anzunehmen. Ist es das, was mir bleibt? Ist es das, worum es im Leben geht? Werde ich selbst mitten unter Menschen nicht in ein einsames Leben gezwungen?«

»Nein, Franco, es ist nicht so trostlos. Ich beobachte diese Gemeinde schon sehr lange, und es wird für Sie eine Möglichkeit geben, hier zu leben. Jeden Tag strömen Conversos aus Portugal und Spanien nach Amsterdam, und viele, das stimmt, sehnen sich aus tiefstem Herzen danach, zu den jüdischen Wurzeln ihrer Vorfahren zurückzukehren. Da niemand von ihnen eine jüdische Erziehung genossen hat, müssen sie Hebräisch und das jüdische Gesetz wie Kinder lernen, und Rabbi Mortera arbeitet ohne Unterlass, um sie wieder ins Judentum heimzuführen. Viele werden ihm nacheifern und noch religiöser als der Rabbi werden, aber glauben Sie mir, es wird andere wie Sie geben, die durch ihre erzwungene Konversion zum Christentum von Religionen insgesamt enttäuscht sind und sich ohne religiösen Eifer der jüdischen Gemeinde anschließen werden. Wenn Sie nach diesen Menschen Ausschau halten, werden Sie sie auch finden, Franco.«

»Aber trotzdem, dieses So-tun-als-ob, diese Heuchelei –«

»Ich will Ihnen etwas über Epikurs Gedanken erzählen. Epikur war ein weiser griechischer Denker der Antike. Er glaubte, was jeder vernünftige Mensch glauben muss, dass es kein Weiterleben nach dem Tod gibt und dass wir unser einziges Leben so friedlich und freudvoll wie möglich leben sollen. Was ist der Zweck des Lebens? Seine Antwort war, dass wir nach ataraxia streben sollten, was vielleicht mit ›Seelenruhe‹ oder ›Freiheit von emotionaler Anspannung‹ übersetzt werden könnte. Er führte aus, dass die Bedürfnisse eines weisen Menschen gering und leicht zu befriedigen seien, wohingegen Menschen mit einer unerbittlichen Gier nach Macht oder Reichtum, wie etwa Ihr Onkel, niemals ataraxia erreichen können, weil Begierden sich vermehren. Je mehr man hat, desto mehr haben sie einen. Wenn Sie daran denken, sich hier ein Leben einzurichten, denken Sie daran, ataraxia anzustreben. Betten Sie sich in jenem Teil Ihrer Gemeinde ein, in dem Ihre Anspannung am niedrigsten ist. Heiraten Sie jemanden, der ähnlich empfindet wie Sie – Sie werden viele Conversos finden, die am Judentum nur deshalb festhalten, um in einer Gemeinde geborgen zu sein. Und wenn die anderen Mitglieder der Gemeinde mehrmals im Jahr Gebetsrituale absolvieren, dann beten Sie mit ihnen in dem Wissen, dass Sie es nur der ataraxia zuliebe tun und nur, um die Konflikte und die Spannungen zu vermeiden, die auftreten, wenn Sie nicht daran teilnehmen.«

»Wollen Sie mir etwas einreden, Bento? Ist es so, dass ich mich auf ataraxia einlassen soll, während Sie nach Höherem streben? Oder werden auch Sie nach ataraxia streben?«

»Eine schwierige Frage. Ich glaube …« Plötzlich läuteten die Kirchenglocken. Bento lauschte kurz dem Geläut, warf einen Blick auf seine gepackte Tasche und fuhr dann fort: »Ach, die Zeit, in sich zu gehen, ist kurz. Ich muss sehr bald fortgehen, bevor die Straßen zu voll werden. Nur noch schnell dies: Ich habe ataraxia nicht ausdrücklich zu meinem Ziel gewählt, sondern sehe es als mein Ziel an, meine Vernunft zu perfektionieren. Vielleicht ist das Ziel jedoch dasselbe, obwohl sich die Methode unterscheidet. Die Vernunft führt mich zu der außerordentlichen Schlussfolgerung, dass alles auf der Welt eine einzige Substanz ist, welche die Natur ist oder Gott, wenn Sie wollen, und dass alles ohne Ausnahme im Licht des Naturgesetzes verstanden werden kann. Während ich mehr Klarheit über das Wesen der Wirklichkeit gewinne, erlebe ich gelegentlich einen Zustand der Freude oder Glückseligkeit, obwohl ich weiß, dass ich nur ein Kräuseln auf der Oberfläche Gottes bin. Vielleicht ist das meine Variante von ataraxia. Vielleicht hat Epikur Recht, wenn er uns rät, nach Seelenruhe zu streben. Aber jeder Mensch muss nach den gegebenen äußeren Umständen, nach seinen natürlichen Begabungen und seinen inneren geistigen Eigenschaften seinen eigenen Weg finden, nach ataraxia zu streben.«

Abermals läuteten die Glocken.

»Bevor wir uns trennen, Franco, habe ich eine letzte Bitte an Sie.«

»Sprechen Sie. Ich stehe tief in Ihrer Schuld.«

»Ich bitte Sie nur darum zu schweigen. Ich habe Ihnen heute Dinge gesagt, die nichts als halbgare Gedanken sind. Vor mir liegt eine Menge Denkarbeit. Versprechen Sie mir, dass alles, worüber wir uns heute unterhalten haben, unser Geheimnis bleibt. Ein Geheimnis vor den Parnassim, vor Jacob, vor allen Menschen und für alle Zeiten.«

»Sie haben mein Versprechen, dass ich Ihre Geheimnisse mit ins Grab nehmen werde. Mein Vater, Gott habe ihn selig, lehrte mich viel über die Heiligkeit des Schweigens.«

»Nun müssen wir Abschied nehmen, Franco.«

»Warten Sie nur noch einen Augenblick, Bento Spinoza, denn auch ich habe ein letztes Anliegen. Sie sagten gerade, dass wir vielleicht ähnliche Ziele im Leben und ähnliche Zweifel haben, aber dass jeder von uns einen anderen Weg einschlagen muss. Deshalb werden wir auf gewisse Weise ein unterschiedliches Leben führen, das auf das gleiche Ziel zusteuert. Wer weiß, wenn das Schicksal und die Zeit nur eine winzige Wendung genommen und unsere äußeren Umstände und unser Temperament nur ein wenig verändert hätte, dann hätten Sie mein Leben führen können und ich das Ihre. Und nun mein Anliegen: Ich möchte von Zeit zu Zeit von Ihrem Leben erfahren, selbst wenn es nur einmal im Jahr, jedes zweite oder jedes dritte Jahr wäre. Und ich möchte, dass auch Sie wissen, wie sich mein Leben entwickelt. So können wir beide sehen, was hätte sein können – das andere Leben, das wir hätten führen können. Wollen Sie mir versprechen, in Kontakt mit mir zu bleiben? Ich weiß noch nicht, wie wir es anstellen können. Aber werden Sie mir von Ihrem Leben berichten?«

»Ich möchte es nicht weniger als Sie, Franco. Mein Verstand weiß um die Notwendigkeit, mein Zuhause zu verlassen, aber mein Herz schwankt stärker, als ich erwartet hatte, und ich begrüße Ihr verlockendes Angebot, mein alternatives Leben zu betrachten. Ich kenne zwei Menschen, die immer wissen werden, wo ich bin: Franciscus van den Enden und ein Freund, Simon de Vries, der an der Singel wohnt. Ich werde eine Möglichkeit finden, mich mit Ihnen über sie in Verbindung zu setzen, sei es mit Briefen oder persönlichen Treffen. Nun müssen Sie mich verlassen. Seien Sie auf der Hut, dass Sie nicht gesehen werden.«

Franco öffnete die Tür, spähte nach links und rechts und ging davon. Bento sah sich ein letztes Mal in seinem Heim um, legte die Notiz für Gabriel auf einen Stuhl am Eingang, damit er sie nicht übersehen konnte, öffnete mit der Tasche in der Hand die Tür und trat in ein neues Leben.

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