17 AMSTERDAM, 1656

Bento schlenderte durch die Straßen von Vlooyenburg, dem Stadtteil Amsterdams, in dem die meisten sephardischen Juden lebten, und betrachtete alles mit einem Gefühl von Wehmut. Jedes einzelne Bild ließ er lange auf sich wirken, wie um es mit Beständigkeit zu erfüllen, damit er es später wieder abrufen könnte, auch wenn die Stimme der Vernunft ihm zuflüsterte, dass sich alles irgendwann in Luft auflösen werde und das Leben in der Gegenwart gelebt werden müsse.

Als Bento zum Laden zurückkehrte, ließ Gabriel den Besen fallen und lief ihm mit angstvollen Blicken entgegen. »Bento, wo warst du? Hast du die ganze Zeit mit dem Rabbi gesprochen?«

»Wir hatten ein langes, unfreundliches Gespräch, und danach lief ich noch durch die Stadt und versuchte, mich zu beruhigen. Ich werde dir alles erzählen, was geschehen ist, aber ich möchte es dir und Rebecca gemeinsam erzählen.«

»Sie wird nicht kommen, Bento. Und inzwischen ist nicht nur sie wütend auf dich – nun ist es auch ihr Gatte. Seit Samuel im letzten Jahr sein rabbinisches Studium abgeschlossen hat, ist seine Haltung immer starrer geworden. Und nun verbietet er Rebecca, dich überhaupt zu sehen.«

»Sie wird kommen, wenn du ihr sagst, wie ernst es ist.« Bento packte Gabriel mit beiden Händen an der Schulter und sah ihm in die Augen. »Ich weiß, dass sie kommen wird. Berufe dich auf das Gedenken an unsere selige Familie. Erinnere sie daran, dass wir die Einzigen sind, die noch leben. Sie wird kommen, wenn du ihr sagst, dass dies unser allerletztes Gespräch sein wird.«

Gabriel war sichtlich beunruhigt. »Was ist geschehen? Du machst mir Angst, Bento.«

»Ich bitte dich, Gabriel. Ich kann es nicht zweimal erzählen – das schaffe ich nicht. Bitte bring Rebecca her. Du findest schon einen Weg. Es ist meine letzte Bitte an dich.«

Gabriel riss seine Schürze herunter, warf sie auf den hinteren Tresen und rannte aus dem Laden. Zwanzig Minuten später kam er mit einer mürrischen Rebecca im Schlepptau zurück. Sie hatte sich Gabriels flehentlicher Bitte nicht verweigern können – schließlich hatte sie Bento nach dem Tod ihrer Mutter Hanna bis zur Wiederverheiratung ihres Vaters mit Ester drei Jahre lang aufgezogen –, aber sie bebte vor Wut, als sie den Laden betrat. Sie begrüßte Bento mit einem frostigem Nicken und ausgestreckten Handflächen. »Nun?«

Bento, der inzwischen eine Nachricht auf Portugiesisch und Holländisch an die Tür geheftet hatte, dass das Geschäft vorübergehend geschlossen sei, antwortete: »Gehen wir nach Hause. Dort können wir ungestört sprechen.«

Kaum hatten sie das Haus betreten, schloss Bento die Haustür ab und bedeutete Gabriel und Rebecca, Platz zu nehmen. Er selbst blieb stehen und lief nervös auf und ab. »So sehr ich es mir gewünscht hätte, dass es in der Familie bliebe, weiß ich nun, dass es nicht so sein wird. Gabriel hat mir deutlich zu verstehen gegeben, wie sehr meine Angelegenheiten die ganze Familie betreffen. Leider wird euch das, was ich euch jetzt zu erzählen habe, erschrecken. Es fällt mir schwer, aber ich muss euch alles erzählen. Ich möchte nicht, dass irgendjemand in der Gemeinde, wirklich niemand in der Gemeinde, mehr darüber weiß als ihr, was geschehen wird.«

Bento hielt inne. Er hatte die volle Aufmerksamkeit seines Bruders und seiner Schwester, die zu Salzsäulen erstarrt auf ihren Stühlen saßen. Bento holte tief Luft: »Ich komme direkt zum Kern der Sache. Heute Morgen sagte mir Rabbi Mortera, dass die Parnassim zusammengekommen sind und dass ein Cherem unmittelbar bevorsteht. Ich werde morgen exkommuniziert.«

»Ein Cherem?«, riefen Gabriel und Rebecca wie aus einem Mund. Beide waren aschfahl im Gesicht.

»Und es gibt nichts, was das verhindern könnte?«, wollte Rebecca wissen. »Rabbi Mortera wird sich nicht für dich einsetzen? Unser Vater war sein bester Freund!«

»Ich sprach gerade eine Stunde lang mit Rabbi Mortera, und er sagte mir, dass es nicht in seiner Hand läge – die Parnassim werden von der Gemeinde gewählt und halten die ganze Macht in Händen. Er hat keine andere Wahl, als dem Folge zu leisten, was sie verfügen. Allerdings sagte er auch, dass er mit ihrer Entscheidung einverstanden wäre.«

Bento zögerte. »Ich darf nichts verschweigen.« Er blickte seinem Bruder und seiner Schwester in die Augen und räumte ein: »In Wahrheit sagte er, dass es eine Möglichkeit gäbe. Er sagte, wenn ich alle meine Ansichten zurücknähme, wenn ich öffentlich widerriefe und erklärte, dass ich von nun an die dreizehn Glaubensartikel des Maimonides anerkenne, dann würde er die Parnassim mit allen ihm zur Verfügung stehenden Mitteln ersuchen, den Cherem noch einmal zu überdenken. Tatsächlich – und ich bin nicht sicher, ob er möchte, dass das bekannt wird, weil er es mir nur zugeflüstert hat – bot er mir eine lebenslange Rente aus dem Vermögen der Synagoge an, wenn ich gelobe, mein Leben dem respektvollen und stillen Studium der Thora und des Talmud zu widmen.«

»Und?« Rebecca sah Bento direkt in die Augen.

»Und …«, Bento senkte den Blick, »ich habe abgelehnt. Für mich ist Freiheit mit Geld nicht zu bezahlen.«

»Du Narr! Überleg doch, was du da tust.« Rebeccas Stimme überschlug sich. »Mein Gott, Bruder, was ist nur mit dir los? Hast du den Verstand verloren?« Sie beugte sich vor, als wollte sie aus dem Zimmer stürzen.

»Rebecca …«, Bento zwang sich, seine Stimme ruhig zu halten. »Dies ist das letzte Mal, das allerletzte Mal, dass wir zusammen sind. Der Cherem bedeutet absolutes Exil. Es wird euch verboten sein, jemals wieder mit mir zu sprechen oder euch auf irgendeine Weise wieder mit mir in Verbindung zu setzen. Nie mehr. Denkt daran, wie ihr euch, wie wir drei uns fühlen werden, wenn unser letztes Treffen in Verbitterung und Lieblosigkeit endet.«

Gabriel, den es nicht mehr auf seinem Stuhl hielt, stand auf und lief herum. »Bento, warum sagst du immer wieder ›das letzte Mal‹? Das letzte Mal, dass wir dich sehen, die letzte Bitte, das letzte Treffen? Wie lang wird der Cherem dauern? Wann wird er beendet sein? Ich habe von eintägigen Cherems oder einwöchigen Cherems gehört.«

Bento schluckte und sah seinem Bruder und seiner Schwester in die Augen. »Dies wird eine andere Art von Cherem sein. Ich kenne mich mit Cherems aus, und wenn sie es richtig machen, wird dieser Cherem nie beendet sein. Er wird ein Leben lang gelten, und er wird unumkehrbar sein.«

»Geh noch einmal zum Rabbi«, bat Rebecca. »Nimm sein Angebot an. Bento, bitte. Wir machen alle Fehler, wenn wir jung sind. Komm zu uns zurück. Ehre Gott. Sei der Jude, der du bist. Sei der Sohn deines Vaters. Rabbi Mortera wird dich dein ganzes Leben lang bezahlen. Du kannst lesen, studieren, du kannst alles machen, was du willst, alles denken, was du willst. Du musst es nur für dich behalten. Nimm sein Angebot an, Bento. Verstehst du nicht, dass er dich unserem Vater zuliebe bezahlt, damit du nicht Selbstmord begehst.«

»Bitte«, Gabriel drückte Bentos Hand, »nimm sein Angebot an. Mach einen neuen Anfang.«

»Er würde mich für etwas bezahlen, was ich nicht tun kann. Ich habe die Absicht, nach Wahrheit zu streben und mein Leben dem Wissen um Gott zu widmen, während das Angebot des Rabbis von mir verlangt, unaufrichtig zu leben und daher Gott nicht zu ehren. Das werde ich niemals tun. Ich werde keiner Macht auf Erden folgen, außer meinem eigenen Gewissen.«

Rebecca begann zu schluchzen. Sie legte die Hände hinter ihren Kopf, schaukelte vor und zurück und sagte: »Ich verstehe dich nicht, verstehe dich nicht, verstehe dich nicht.«

Bento ging zu ihr hin und legte ihr die Hand auf die Schulter. Sie schüttelte sie ab, hob den Kopf und drehte sich zu Gabriel um: »Du warst damals zu jung, aber ich erinnere mich, als sei es erst gestern gewesen, wie unser seliger Vater damit prahlte, dass Rabbi Mortera ihm gesagt hätte, Bento sei der beste Schüler, den er je gehabt hätte.«

Sie sah Bento an, und Tränen strömten über ihr Gesicht. »Der schlaueste und der scharfsinnigste, hat er gesagt. Wie unser Vater strahlte, als er hörte, dass du vielleicht der nächste große Gelehrte, vielleicht sogar der nächste Gersonides sein würdest. Dass du den bedeutenden Thora-Kommentar des siebzehnten Jahrhunderts schreiben würdest! Der Rabbi glaubte an dich. Er sagte, dass dein Kopf nichts vergisst, was du je gelernt hast, und dass keiner der Gemeindeältesten dir bei einer Debatte das Wasser reichen könnte. Aber nun, trotz alledem, trotz deiner gottgegebenen Begabung, sieh an, was du angerichtet hast. Wie konntest du das alles wegwerfen?« Rebecca nahm das Taschentuch, das Gabriel ihr hinhielt.

Bento hockte sich vor Rebecca, um ihr direkt in die Augen sehen zu können, und sagte: »Rebecca, versuche bitte zu verstehen. Vielleicht verstehst du es jetzt noch nicht, doch irgendwann in der Zukunft wirst du vielleicht verstehen, was ich dir jetzt sage: Ich habe meinen eigenen Weg wegen meiner Begabungen gewählt, nicht trotz ihrer. Verstehst du? Wegen meiner Begabungen, nicht trotz ihrer.«

»Nein. Das verstehe ich nicht, und ich werde dich niemals verstehen, obwohl ich dich seit deiner Geburt kenne, obwohl wir drei nach dem Tod unserer Mutter so viele Jahre lang im selben Bett geschlafen haben.«

»Ich erinnere mich«, sagte Gabriel. »Ich erinnere mich, wie wir gemeinsam im Bett lagen und du uns Geschichten aus der Bibel vorgelesen hast, Bento. Und wie du Rebecca und Miriam heimlich das Lesen beigebracht hast. Ich erinnere mich, dass du sagtest, es sei so ungerecht, dass Mädchen nicht lesen lernen dürften.«

»Das habe ich meinem Gatten erzählt«, sagte Rebecca. »Ich sage ihm alles, ich erzählte ihm, dass du uns unterrichtet hast, dass du uns vorgelesen hast und alles in Frage gestellt hast, die ganzen Wunder. Und dass du immer zu Vater gelaufen bist und ihn gefragt hast: ›Vater, Vater, ist das wirklich passiert?‹ Ich erinnere mich, dass du uns von Noah und der Flut erzählt hast und dass du Vater fragtest, ob Gott wirklich so grausam sein konnte. Du fragtest: ›Warum hat er alle ertränkt? Und wie hat die menschliche Rasse wieder von vorn angefangen?‹ Und: ›Wen konnten Noahs Kinder denn heiraten?‹ Die gleiche Frage, die du zu Kain und Abel gestellt hast. Samuel glaubt, dass das die ersten Anzeichen deines Leidens waren. Ein Fluch von Geburt an. Manchmal denke ich, dass ich daran schuld bin. Ich habe meinem Gatten gebeichtet, dass ich bei deinen Bemerkungen, bei deinen gotteslästerlichen Reden, immer kichern musste. Vielleicht habe ich dich ermutigt, so zu denken.«

Bento schüttelte den Kopf. »Nein, Rebecca, du brauchst dir nicht die Schuld für meine Neugier zu geben. Sie liegt in meiner Natur. Warum wollen wir immer die Schuld für etwas auf uns nehmen, dessen Gründe außerhalb von uns liegen? Weißt du noch, wie Vater sich die Schuld am Tod unseres Bruders gegeben hat? Wie oft hörten wir ihn sagen, dass Isaak niemals die Pest bekommen hätte, wenn er ihn nicht in die anderen Stadtteile geschickt hätte, um Kaffeebohnen auszuliefern. Das ist der Lauf der Natur. Wir können sie nicht beherrschen. Die Schuld auf uns zu nehmen ist nur eine Methode, der Täuschung zu unterliegen, wir seien mächtig genug, die Natur zu beherrschen. Und, Rebecca, du sollst wissen, dass ich deinen Gatten achte. Samuel ist ein braver Mann. Es ist nur so, dass wir unterschiedlicher Meinung sind, was den Ursprung des Wissens angeht. Ich glaube nicht, dass Hinterfragen ein Leiden ist. Blinder Gehorsam, ohne nachzufragen, das ist das Leiden.«

Rebecca hatte keine Antwort darauf. Die drei verfielen in Schweigen, bis Gabriel fragte: »Bento, ein immerwährender Cherem? Gibt es so etwas überhaupt? Davon habe ich noch nie gehört.«

»Ich bin sicher, dass sie genau das tun werden, Gabriel. Rabbi Mortera sagte, sie müssen es tun, um den Holländern zu zeigen, dass wir uns selbst regieren können. Vielleicht ist es das Beste für alle. Diese Entscheidung wird dich und Rebecca wieder mit eurer Gemeinde vereinen. Ihr werdet euch den anderen anschließen müssen und den Cherem beachten. Ihr müsst euch an der Ächtung beteiligen. Ihr müsst wie alle anderen dem Gesetz gehorchen und mich meiden.«

»Das Beste für alle, Bento«, fragte Gabriel. »Wie kannst du so etwas sagen? Wie kann es für dich am besten sein? Wie kann es am besten sein, unter Menschen zu leben, die dich verachten?«

»Ich werde nicht hierbleiben; ich werde woanders leben.«

»Wo könntest du leben?«, fragte Rebecca. »Willst du vielleicht zum Christentum übertreten?«

»Nein. Da kann ich dich beruhigen. Ich finde viel Weisheit in den Worten Jesu. Sie ähneln der zentralen Botschaft in unserer Bibel. Aber ich werde mich niemals irgendwelchen abergläubischen Ansichten zu einem Gott verschreiben, der wie jeder andere Mensch einen Sohn hat und der ihn auf eine Mission schickt, um uns zu retten. Wie alle anderen Religionen, unsere eingeschlossen, stellen sich die Christen einen Gott vor, der menschliche Attribute besitzt, menschliche Wünsche und Bedürfnisse.«

»Aber wo wirst du leben, wenn du Jude bleiben willst?«, fragte Rebecca. »Ein Jude kann nur mit Juden zusammenleben.«

»Ich werde einen Weg finden, ohne jüdische Gemeinde zu leben.«

»Bento, du magst begabt sein, aber du bist auch ein einfältiges Kind«, sagte Rebecca. »Hast du das wirklich durchdacht? Hast du Uriel da Costa vergessen?«

»Wen?«, fragte Gabriel.

»Da Costa war ein Häretiker, über den Rabbi Modena, der Lehrer von Rabbi Mortera, einen Cherem verhängt hat«, sagte Rebecca. »Du warst damals noch ganz klein, Gabriel. Da Costa hat alle unsere Vorschriften in Frage gestellt – die Thora, das Scheitelkäppchen, die Tefillin, die Beschneidung, sogar die Mesusas an unserer Tür – genau wie dein Bruder. Und das Schlimmste von allem: Er leugnete die Unsterblichkeit unserer Seele und das Wiederauferstehen unseres Fleisches. Nacheinander verhängten weitere jüdische Gemeinden in Deutschland und Italien einen Cherem über ihn und verstießen ihn. Niemand wollte ihn hier haben, aber er flehte uns immer wieder an, ihn wieder aufzunehmen. Schließlich nahmen wir ihn wieder auf. Dann fing er wieder mit seinen Verrücktheiten an. Und wiederum bettelte er um Vergebung, und die Synagoge hielt eine Bußzeremonie ab. Du warst damals viel zu jung, Gabriel, aber Bento und ich haben diese Zeremonie gemeinsam gesehen. Weißt du noch?«

Bento nickte, und Rebecca fuhr fort: »In der Synagoge musste er sich entkleiden und bekam neununddreißig Peitschenhiebe auf den Rücken, und als die Zeremonie vorüber war, musste er sich auf die Türschwelle legen, und alle Mitglieder der gesamten Gemeinde traten auf ihn, als sie hinausgingen. Und alle Kinder rannten hinter ihm her und haben ihn angespuckt. Wir haben uns nicht daran beteiligt – Vater hat es nicht erlaubt. Kurze Zeit später nahm er eine Muskete und schoss sich in den Kopf.

Das geschieht mit solchen Leuten«, sagte sie und wandte sich Bento zu. »Es gibt kein Leben außerhalb der Gemeinde. Ihm ist es nicht gelungen, und dir wird es auch nicht gelingen. Wie willst du leben? Du wirst kein Geld haben – du wirst in dieser Gemeinde keinen Beruf ausüben dürfen –, und Gabriel und mir wird es verboten sein, dir zu helfen. Miriam und ich haben unserer Mutter geschworen, dass wir uns um dich kümmern werden, und Miriam bat mich auf dem Totenbett, auf dich und Gabriel achtzugeben. Aber nun kann ich nichts mehr tun. Wie wirst du leben?«

»Ich weiß es nicht, Rebecca. Ich habe nur wenige Bedürfnisse. Das weißt du. Sieh dich um.« Er wies mit dem Arm über das Zimmer. »Ich komme mit Wenigem zurecht.«

»Aber antworte mir: Wie wirst du leben? Ohne Geld, ohne Freunde?«

»Ich denke daran, mir mit Glasarbeiten meinen Lebensunterhalt zu verdienen. Linsen schleifen. Ich glaube, dass ich das gut kann.«

»Glas wofür?«

»Brillen. Vergrößerungsgläser. Vielleicht sogar Teleskope.«

Rebecca sah ihren Bruder verblüfft an. »Ein Jude, der Glas schleift. Was ist nur mit dir los, Bento? Warum bist du so seltsam? Du hast kein Interesse am wirklichen Leben. Nicht an einer Frau, nicht an einer Gattin und auch nicht an einer Familie. Als wir noch Kinder waren, hast du ständig gesagt, dass du mich heiraten wolltest, aber seit Jahren – seit deiner Bar mitzwa – hast du nie wieder von Heirat gesprochen, und ich habe nie gehört, dass du dich für eine Frau interessiert hättest. Das ist unnatürlich. Weißt du, was ich glaube? Ich glaube, du hast dich nie vom Tod unserer Mutter erholt. Du hast sie sterben sehen, hast gesehen, wie sie keuchte, wie sie um Luft rang. Es war schrecklich. Ich weiß noch, wie du auf dem Beerdigungskahn meine Hand hieltest, der ihre sterblichen Überreste zum Friedhof von Beth Haim in Ouderkerk brachte. Den ganzen Tag lang sprachst du kein Wort – du sahst immer nur wie gebannt auf das Pferd, das den Kahn den Kanal entlang zog. Die Nachbarn und Freunde jammerten und wehklagten so laut, dass die holländischen Vögte auf den Kahn stiegen und uns mahnten, leiser zu sein. Und während der ganzen Beerdigungsfeier hattest du die Augen geschlossen, als schliefest du im Stehen. Du hast nicht gesehen, wie alle Leute Mutters sterbliche Überreste sieben Mal umrundeten. Als sie in die Erde gesenkt wurde, musste ich dich zwicken, und du öffnetest die Augen, bekamst schreckliche Angst und wolltest weglaufen, als einer nach dem anderen begann, eine Handvoll Erde auf sie zu werfen. Vielleicht war das zu viel – vielleicht hat der Tod bei dir schreckliche Wunden hinterlassen. Noch Wochen später hast du fast nichts gesprochen. Vielleicht bist du nie darüber hinweggekommen, und nun willst du nicht riskieren, eine andere Frau zu lieben, du willst keinen weiteren Verlust riskieren, keinen weiteren Tod wie diesen. Vielleicht lässt du deshalb nicht zu, dass dir irgendjemand etwas bedeutet.«

Bento schüttelte den Kopf. »Das stimmt nicht, Rebecca. Du bedeutest mir etwas. Und Gabriel bedeutet mir etwas. Euch nie mehr wiederzusehen wird wehtun. Du redest, als sei ich kein menschliches Wesen.«

Rebecca sprach weiter, als hätte sie ihn nicht gehört. »Ich glaube, du hast dich von all den Todesfällen nicht erholt. Beim Tod unseres Bruders Isaak zeigtest du so wenig Gefühl, als hättest du es nicht einmal begriffen. Und dann, als Vater von dir verlangte, deine rabbinischen Studien abzubrechen, um das Geschäft zu übernehmen, hast du nur genickt. Mit einem Wimpernschlag hat sich dein ganzes Leben geändert, und du hast nur genickt. Als wäre es nicht wirklich von Bedeutung.«

»Das ergibt keinen Sinn«, sagte Gabriel. »Dass wir unsre Eltern verloren haben, ist nicht die Erklärung. Ich habe in derselben Familie gelebt, unter denselben Todesfällen gelitten, und ich denke nicht wie Bento. Ich bin gern Jude. Ich möchte eine Gattin und eine Familie haben.«

»Und«, sagte Bento, »wann hast du mich sagen hören, dass eine Familie unwichtig wäre? Ich freue mich für dich, Gabriel. Ich freue mich darüber, dass du deine eigene Familie gründen wirst. Es schmerzt mich zutiefst, wenn ich daran denke, dass ich deine Kinder niemals sehen werde.«

»Aber du liebst Gedanken, keine Menschen«, unterbrach Rebecca. »Vielleicht kommt es daher, wie Vater dich erzogen hat. Erinnerst du dich an das Honigbrett?«

Bento nickte.

»Woran?«, fragte Gabriel.

»Als Bento noch klein war, drei oder vier Jahre – ich weiß es nicht mehr genau –, versuchte Vater, ihm mit einer seltsamen Methode das Lesen beizubringen. Später sagte er mir einmal, dass dies vor Hunderten von Jahren eine übliche Unterrichtsmethode war. Er gab Bento ein Brett, auf dem das ganze aleph, bet, gimmel aufgemalt war, und strich Honig darauf. Dann ließ er Bento den Honig abschlecken. Vater glaubte, dass es Bento helfen würde, die hebräischen Buchstaben zu lieben.

Vielleicht hat es zu gut gewirkt«, fuhr Rebecca fort. »Vielleicht sind deshalb Bücher und Ideen von größerer Bedeutung für dich als Menschen.«

Bento zögerte. Alles, was er darauf antworten konnte, würde es nur noch schlimmer machen. Weder seine Schwester noch sein Bruder konnten ihre Seelen für seine Ideen öffnen, und vielleicht war es am Ende auch das Beste. Wenn es ihm gelänge, ihnen zu helfen, die Problematik eines blinden Gehorsams gegenüber der Autorität der Rabbiner einzusehen, stünde ihre Hoffnung auf Zufriedenheit in ihrer Ehe und in ihrer Gemeinschaft auf dem Spiel. Er würde sich ohne ihren Segen von ihnen trennen müssen.

»Ich weiß, dass du wütend bist, Rebecca, und auch du, Gabriel. Und wenn ich es von eurem Gesichtspunkt aus betrachte, verstehe ich auch, weshalb. Aber ihr könnt es nicht von meinem Gesichtspunkt aus betrachten, und es betrübt mich, dass wir uns trennen müssen, ohne uns verständigt zu haben. Auch wenn es nur ein schwacher Trost sein mag, so sind dies meine Abschiedsworte: Ich verspreche euch, dass ich ein heiliges Leben führen und die Worte der Thora beachten werde, indem ich meinen Nächsten liebe, niemandem etwas zuleide tue, dem Pfad der Tugend folge und meine Gedanken auf unseren unendlichen und ewigen Gott richte.«

Doch Rebecca hörte nicht zu. Sie hatte noch etwas zu sagen: »Denke an deinen Vater, Bento. Er liegt nicht neben seinen Frauen, weder neben unserer Mutter noch neben Ester. Er liegt in geheiligter Erde Seite an Seite mit den heiligsten Männern. Er liegt in seinem ewigen Schlaf, geehrt für seine Ergebenheit gegenüber der Synagoge und unseren Gesetzen. Unser Vater wusste von der bevorstehenden Ankunft des Messias, und er wusste von der Unsterblichkeit der Seele. Denke – denke darüber nach, was er von seinem Sohn Baruch halten würde. Denke darüber nach, was er von ihm hält, denn seine Seele stirbt nicht. Sie schwebt über uns, sie kann sehen, sie weiß um die Ketzerei seines auserkorenen Sohnes. Er verflucht dich in diesem Augenblick!«

Bento konnte sich nicht beherrschen: »Du tust genau dasselbe, was die Rabbiner und die Gelehrten tun. Und das ist genau der Punkt, an dem sich ihre und meine Wege trennen. Ihr alle verkündet mit einer solchen Gewissheit, dass die Seele unseres Vaters mich beobachtet und mich verflucht. Von woher kommt deine Gewissheit? Jedenfalls nicht aus der Thora. Ich kenne sie auswendig, und darin steht kein einziges Wort darüber. Es gibt keinen wie immer gearteten Beweis für deine Behauptungen über Vaters Seele. Ich weiß, dass du solche Märchen von unseren Rabbinern hörst, aber siehst du denn nicht, wie sehr das ihren eigenen Zwecken dient? Sie kontrollieren uns mit Furcht und Hoffnung. Furcht davor, was nach dem Tod passiert, und Hoffnung darauf – vorausgesetzt, wir leben auf eine ganz bestimmte Art und Weise, und zwar auf eine, die gut für die Gemeinde und für das Weiterbestehen der Autorität der Rabbiner ist –, dass wir uns im Jenseits eines glückseligen Lebens erfreuen dürfen.«

Rebecca hielt sich die Ohren mit den Händen zu, aber Bento sprach nur noch lauter. »Ich sage dir, wenn der Körper stirbt, stirbt auch die Seele. Es gibt kein Jenseits. Ich werde weder den Rabbinern noch sonst jemandem erlauben, mir zu verbieten, vernünftig zu urteilen, denn nur mittels Vernunft können wir Gott kennenlernen, und dieses Streben ist der einzige wahre Ursprung von Glückseligkeit in diesem Leben.«

Rebecca stand auf und machte sich zum Gehen bereit. Sie trat an Bento heran und sah ihm in die Augen. »Ich liebe dich so, wie du einmal in unserer Familie gewesen bist«, und sie umarmte ihn. »Und jetzt«, sie schlug ihm heftig ins Gesicht, »hasse ich dich.« Sie packte Gabriel an der Hand und zerrte ihn aus dem Zimmer.

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