Zwei Straßen von der Talmud-Torah-Synagoge entfernt verstaute Bento mit Hilfe von Dirk, seinem Studienkollegen an der Lateinschule van den Endens, seine vierzehnbändige Büchersammlung in eine große Holzkiste und baute dann das Himmelbett der Spinoza-Familie ab. Anschließend schafften die beiden Bett und Bücher auf einen Lastkahn, der an der Nieuwe Herengracht lag, um die Fracht zu van den Endens Haus zu transportieren, wo Bento vorübergehend Unterkunft fand. Dirk stieg auf den Kahn, um Bentos Habseligkeiten zu begleiten, während Bento seine restlichen Sachen einpackte – zwei Hosen, die Schuhe mit den Messingschnallen, drei Hemden, zwei weiße Krägen, Unterwäsche, eine Pfeife und Tabak. Er stopfte alles in eine Tasche, die er selbst zu van den Endens Haus bringen wollte. Die Tasche wog nicht viel, und Bento schätzte sich glücklich, dass er so wenige Besitztümer hatte. Ohne das Bett und die Bücher konnte er ein vollkommen ungebundenes Nomadenleben führen.
Bento sah sich ein letztes Mal im Zimmer um, packte sein Rasiermesser, die Seife und das Handtuch ein und entdeckte dann auf einem oberen Regal seine Tefillin. Seit dem Tod seines Vaters hatte er sie nicht mehr angerührt. Er griff nach den zwei kleinen Lederkästchen mit den Riemen und nahm sie behutsam in die Hand – vielleicht zum letzten Mal, dachte er bei sich. Was für seltsame Gegenstände! Und auch seltsam, überlegte er, dass beide ihn einerseits abstießen und andererseits lockten. Er hielt die Lederkästchen hoch und betrachtete sie. An dem Kästchen, das mit Rosh – für den Kopf – markiert war, hingen zwei Lederriemen. Am Yad-Kästchen – für den Arm – war ein langer Riemen befestigt. In den hohlen Kästchen steckten Verse aus der Heiligen Schrift auf Pergament. Und natürlich stammte alles – das Leder, aus dem die Kästchen gefertigt waren, die Sehnen, die zur Befestigung dienten, das Pergament, die Riemen –, alles von koscheren Tieren.
Ein Vorfall von vor fünfzehn Jahren fiel ihm ein. Als Kind hatte er oft mit unbändiger Neugier zugesehen, wenn sein Vater vor dem Frühstück sein Tallit anlegte und die Tefillin band – ein Ritual, das sein Vater sein ganzes Leben lang am Morgen eines jeden Werktages praktiziert hatte (am Sabbat wurden Tefillin natürlich niemals angelegt). Eines Tages hatte sein Vater sich zu ihm umgedreht und gefragt: »Du möchtest wissen, was ich hier mache, wie?«
»Ja!«, hatte Bento gerufen.
»Damit folge ich wie bei allem anderen der Thora«, hatte sein Vater ihm erklärt. »Die Worte im fünften Buch Mose schreiben uns folgendes vor: ›Und sollst sie binden zum Zeichen auf deine Hand, und sollen dir ein Denkmal vor deinen Augen sein.‹«
Wenige Tage später kam sein Vater mit einem Geschenk nach Hause – mit ebenjenen Tefillin, die Bento nun in der Hand hielt.
»Das ist für dich, Baruch, aber nicht für jetzt. Wir werden sie aufbewahren, bis du zwölf bist, und dann werden du und ich ein paar Wochen vor deiner Bar Mitzwa beginnen, gemeinsam Tefillin anzulegen.« So begeistert war Bento von der Aussicht, zusammen mit seinem Vater Tefillin anzulegen, und so häufig bombardierte er seinen Vater mit Fragen zu den einzelnen Handgriffen, dass er sich schon nach ein paar Tagen geschlagen gab. »Heute, aber nur dieses eine Mal, werden wir es üben, und dann, danach werden wir die Tefillin zur Seite legen, bis deine Zeit gekommen ist. Einverstanden?« Bento nickte aufgeregt.
Sein Vater fuhr fort: «Wir werden es gemeinsam üben. Du machst genau das, was ich auch mache. Du legst das Yad-Kästchen so auf deinen linken Oberarm, dass es zum Herzen zeigt, und dann wickelst du die Lederstreifen sieben Mal um deinen Arm bis zum Handgelenk. Sieh her – schau mir zu. Denk daran, Baruch, genau sieben Mal – nicht sechs Mal, nicht acht Mal –, denn das haben uns die Rabbiner gelehrt.«
Dann sang sein Vater den vorgeschriebenen Segen:
»Baruch Atah Adonai Eloheinu Melech Haolam Asher Kidishanu B’mitzvotav V’tziu L’haniach Tefillin.«
(Gesegnet seist du, Gott, unser Gott, Herrscher der Welt, der uns mit seinen Geboten geheiligt und uns befohlen hat, Tefillin anzulegen.)
Sein Vater schlug das Gebetsbuch auf, gab es Bento und sagte: »Hier: Du liest das Gebet.« Aber Bento nahm das Buch nicht. Stattdessen legte er den Kopf so weit in den Nacken, dass sein Vater seine geschlossenen Augen sehen konnte, und dann wiederholte er die Gebete genauso, wie sein Vater sie gesprochen hatte. Hatte Bento ein Gebet – oder irgendeinen anderen Text einmal gehört –, vergaß er es nie wieder. Sein Vater strahlte und setzte ihm einen zarten Kuss auf beide Wangen. »Ach, was für eine Mitzwa, was für ein Geist. In meinem Herzen weiß ich, dass du eines Tages einer der größten aller Juden sein wirst.«
Bento unterbrach seine Tagträume und ließ die Worte »größter aller Juden« auf sich wirken. Tränen flossen ihm über die Wangen, als er sich wieder seinen Erinnerungen zuwandte.
»Und nun lass uns mit dem Tefillin-shel-rosh-Kästchen fortfahren«, sagte sein Vater. »Stelle es genauso auf deine Stirn wie ich – hoch, direkt über den Haaransatz und genau zwischen die Augen. Dann legst du den festen Knoten genau so auf deinen Nacken, wie ich das tue. Und jetzt sprich das nächste Gebet.
»Baruch Atah Adonai Eloheinu Melech Haolam Asher Kidishanu B’mitzvotav V’tziu Al Mitzvat Tefillin.«
(Gesegnet seist du, Gott, unser Gott, Herrscher der Welt, der uns mit seinen Geboten geheiligt und uns befohlen hat, die Tefillin zu beachten.)
Und zum Entzücken seines Vaters wiederholte Bento das Gebet abermals Wort für Wort.
»Als Nächstes legst du die beiden hängenden Rosh-Riemen vor deine Schultern und passt auf, dass die geschwärzten Seiten nach außen zeigen und der linke Riemen genau bis hierher reicht …« Sein Vater legte einen Finger auf Bentos Bauchnabel und kitzelte ihn. »Und du musst darauf achten, dass der rechte Riemen ein paar Zentimeter tiefer liegt – genau an deinem kleinen Wasserspeier.
Nun aber zurück zum Tefillin shel yad: Binde es um deinen Mittelfinger und wickle es drei Mal herum. Siehst du, wie ich das mache? Dann wickle es um deine Hand. Siehst du, dass es an meinem Mittelfinger wie der Buchstabe shin aussieht? Ich weiß, das ist schwierig zu sehen. Wofür steht shin?«
»Shin ist der erste Buchstabe von Shaddai (der Allmächtige).«
Bento erinnerte sich an ein ungewöhnliches Gefühl der Ruhe, das sich einstellte, wenn er die Lederriemen um Kopf und Arme band. Das Gefühl der Einengung, das Binden, erfüllte ihn mit großer Befriedigung, und er fühlte sich fast verflochten mit seinem Vater, der auf gleiche Weise von den Lederriemen gebunden war.
Sein Vater schloss die Lektion ab: »Bento, ich weiß, dass du keinen dieser Handgriffe vergessen wirst, doch musst du dich hüten, Tefillin anzulegen, bevor du vor deiner Bar Mitzwa eine formelle Einweisung bekommen hast. Und nach deiner Bar Mitzwa wirst du an jedem Morgen für den Rest deines Lebens Tefillin anlegen, außer …?«
»Außer an Feiertagen und am Sabbat.«
»Ja.« Sein Vater küsste ihn auf die Wangen. »Genau wie ich, genau wie alle Juden.«
Bento ließ das Bild seines Vaters verblassen, kehrte zur Gegenwart zurück, betrachtete die bizarren, kleinen Kästchen und verspürte einen Stich, denn er würde niemals wieder Tefillin anlegen, niemals wieder dieses angenehme Gefühl der Einengung spüren. War er ehrlos, weil er dem Wunsch seines Vaters nicht entsprach? Er schüttelte den Kopf. Sein Vater, gesegnet sei sein Name, stammte aus einer Zeit, die von Aberglauben beherrscht war. Bento warf abermals einen Blick auf die rätselhaft verhedderten Rosh- und Yad-Riemen und wusste, dass er die für sich richtige Entscheidung getroffen hatte. Aber was sollte er mit dem Geschenk seines Vaters, mit seinen Tefillin anstellen? Er konnte sie nicht einfach zurücklassen; dann würde Gabriel sie finden. Er würde sie mitnehmen müssen und sich ihrer später entledigen. Für den Augenblick legte er die kleinen Kästchen in seine Tasche neben das Rasiermesser und die Seife, dann setzte er sich hin und begann, einen langen, liebevollen Brief an Gabriel zu schreiben.
Erst nachdem er fast fertig war, erkannte Bento seine Torheit. Inzwischen hatte man Gabriel und mit ihm der gesamten Gemeinde wegen des Cherem sicherlich schon verboten, irgendetwas zu lesen, was er geschrieben hatte. Bento zerriss seinen Brief, um seinem Bruder nicht noch mehr Kummer zu bereiten, und verfasste schnell eine wenige Zeilen lange Nachricht mit wichtigen Informationen, die er auf den Küchentisch legte:
»Ach, Gabriel, ein paar letzte Worte: Ich habe das Bett mitgenommen, das Vater mir in seinem letzten Willen hinterlassen hat, und auch meine Kleider, die Seife und die Bücher. Alles andere überlasse ich dir, auch unser ganzes Geschäft – so armselig es sein mag.«
Bento wusste, dass der Lastkahn wegen der vielen Zwischenstationen zwei Stunden bis zum Haus van den Endens brauchen würde. Zu Fuß konnte er die Strecke in einer halben Stunde bewältigen. Er hatte also noch Zeit, um ein letztes Mal durch die Straßen des jüdischen Viertels zu schlendern, in welchem er sein ganzes Leben verbracht hatte. Er ließ seine Tasche stehen und machte sich ziemlich gelassen mit forschen Schritten auf den Weg. Aber schon bald machte sich ein Gefühl von Beklommenheit breit, als er durch die schaurig ruhigen Straßen ging, die ihn daran erinnerten, dass fast alle, die er kannte, in diesem Augenblick in der Synagoge waren und zuhörten, wie Rabbi Mortera den Namen Baruch Spinoza verfluchte und ihnen befahl, ihn für alle Zeiten zu verstoßen. Bento stellte sich vor, wie es wohl gewesen wäre, hätte er diesen Spaziergang am folgenden Morgen unternommen: Alle würden seinen Blick meiden, und die Menschen auf den Straßen würden vor ihm zurückweichen, als wollten sie einem Leprakranken Platz machen.
Obwohl er sich monatelang auf diesen Augenblick vorbereitet hatte, erschrak er über den Schmerz, der ihn unerwartet durchzuckte – ein Schmerz von Heimatlosigkeit, ein Gefühl, verloren zu sein, zu wissen, dass er niemals mehr durch diese erinnerungsträchtigen Straßen der Jugend wandern würde, die Straßen Gabriels und Rebeccas und aller seiner Freunde und Nachbarn aus der Kinderzeit, die Straßen, über die all die geliebten Menschen gegangen waren, die nun niemals mehr einen Fuß auf irgendeine Straße dieser Erde setzen würden – sein Vater und seine Mutter, Michael und Hanna, seine Stiefmutter Ester und sein toter Bruder Isaac und seine tote Schwester Miriam. Bento ging weiter und kam an einer kleinen Geschäftszeile vorbei. Diese Straßen waren seine letzte greifbare Verbindung zu den Toten. Sie waren wie er über diese Straßen gewandert, und ihr Blick war auf dieselbe Szenerie gefallen: Mendozas koscherer Metzgerladen, Manuels Bäckerei, Simons Heringsstände. Doch nun würde diese Verbindung abreißen; nie wieder würde er seinen Blick auf etwas richten, was auch sein toter Vater, seine tote Mutter und seine Stiefmutter gesehen hatten. Einsamkeit – er spürte sie jetzt wie nie zuvor.
Fast augenblicklich beobachtete Bento ein entgegengesetztes Gefühl, das sich in seinem Kopf regte. »Freiheit«, flüsterte er. »Wie interessant!« Bento hatte diesen Gedanken nicht willentlich hervorgerufen – er hatte sich eingestellt, um dem Schmerz der Einsamkeit zu begegnen. Es war, als bemühte sein Geist sich automatisch um ein Gleichgewicht. Wie war das möglich? Gab es tief in seinem Innern eine Macht, unabhängig vom bewussten Wollen, eine Macht, welche Gedanken schuf, Schutz anbot und ihm erlaubte, erfolgreich zu sein?
»Ja, Freiheit«, sagte er – so lange schon hatte Bento es sich angewöhnt, langatmige Selbstgespräche zu führen –, »Freiheit ist das Gegenmittel. Endlich bist du von dem Joch der Tradition erlöst. Erinnere dich, wie sehr du dich nach Freiheit gesehnt hast. Freiheit von Gebeten, Ritualen und Aberglauben. Erinnere dich, wie sehr dein Leben von Ritualen eingeengt war. Die unzähligen, den Tefillin gewidmeten Stunden. Dreimal täglich die vorgeschriebenen Gebete in der Synagoge zu singen und immer wieder, wenn Wasser getrunken, ein Apfel oder sonst ein Happen gegessen wurde, wann immer es im Leben irgendein Ereignis gab. Erinnere dich an die endlosen Stunden, in denen du alphabetische Sündenlisten heruntergebetet, auf deine vollkommen unschuldige Brust geschlagen und um Vergebung gefleht hast.«
Auf einer Brücke über der Verwersgracht blieb Bento stehen, lehnte sich an das kalte Steingeländer, schaute ins tintenblaue Wasser und rief sich sein Studium der Kommentare zur Heiligen Schrift ins Gedächtnis. Tag um Tag, Nacht um Nacht, unzählige Stunden lang, hatte er über den Worten – manche banal, manche brillant – der unübersehbaren Armeen von Gelehrten gebrütet, die ihr ganzes Leben damit verbracht hatten, über die Bedeutung und die Auswirkungen der Worte Gottes in der Heiligen Schrift zu schreiben und über die Berechtigung und die Auswirkungen der vorgeschriebenen sechshundertdreizehn Mitzvot (Gebote), welche jeden Aspekt des jüdischen Lebens reglementierten. Und später, beim Studium der Kabbala mit Rabbi Aboab, wurden die Lektionen unendlich undurchsichtig, als er die geheimen Bedeutungen eines jeden Buchstabens und die Auswirkungen der einem jeden Buchstaben zugeordneten Zahlwerte gegenüberstellte.
Und dennoch hatte keiner der Rabbiner, die ihn ausbildeten, und auch keiner der Gelehrten früherer Zeiten jemals die Gültigkeit ihrer wesentlichen Texte angezweifelt und auch nicht, ob die Bücher Mose wirklich die Worte Gottes waren. Als er es vor mehr als einem Dutzend Jahren gewagt hatte, in einer Unterrichtsstunde über jüdische Geschichte nachzufragen, wie Gott ein Schriftstück mit so vielen Ungereimtheiten geschrieben haben konnte, hatte Rabbi Mortera langsam den Kopf gehoben, ihn ungläubig angestarrt und geantwortet: »Wie kannst du als einzelne Menschenseele, der du praktisch noch ein Kind bist, an Gottes Urheberschaft zweifeln und dich erdreisten, Gottes unendliche Weisheit und Gottes Absichten zu kennen? Weißt du nicht, dass die Verkündigung des Bündnisses mit Israel an Moses von Zehntausenden, ja Hunderttausenden, ja vom ganzen Volk Israel bezeugt wurde? Das haben mehr Menschen beobachtet als jedes andere Ereignis in der ganzen Geschichte.«
Der Tonfall des Rabbiners sollte der Klasse zu verstehen geben, dass kein Schüler jemals wieder eine so törichte Frage wagen sollte. Was auch niemand mehr wagte. Und niemandem außer ihm, so schien es Bento, war jemals aufgefallen, dass das Volk Israel mit seiner kollektiven, ehrfürchtigen Haltung gegenüber der Thora ebenjene Sünde begangen hatte, vor der Gott sie durch Moses am meisten gewarnt hatte: die Götzenanbetung. Die Juden auf der ganzen Welt huldigten nicht goldenen Götzen, sondern Götzen aus Papier und Tinte.
Als er einem kleinen Boot nachsah, das in einem Seitenkanal verschwand, hörte Bento, wie jemand auf ihn zugerannt kam. Er schaute auf und sah Manny, den Sohn des Bäckers, seinen pummeligen, leicht begriffsstutzigen, aber treuen Klassenkameraden und lebenslangen Freund. Reflexartig lächelte Bento und blieb stehen, um seinen Freund zu begrüßen. Doch Manny rannte unbeirrt weiter, ohne ihn eines Blickes zu würdigen, über die Brücke und die Straße hinunter zur Bäckerei seines Vaters.
Bento erschauerte. Also war der Cherem nun tatsächlich verhängt worden! Natürlich hatte er gewusst, dass er Realität war – Rabbi Morteras feindseliger Blick hatte es ihm verraten und auch die leeren Straßen und Rebeccas Ohrfeige, die ihm immer noch auf der Wange brannte. Aber erst als Manny sich von ihm abgewandt hatte, brach die Realität mit voller Wucht über ihn herein. Er schluckte und dachte: Umso besser – sie zwingen mich nichts zu tun, was ich nicht aus freien Stücken getan hätte. Ich fürchtete das Aufsehen, aber da sie es so wollen, werde ich nun freudig den Weg beschreiten, der sich mir eröffnet hat.
»Ich bin kein Jude mehr«, murmelte Bento und lauschte dem Klang dieser Worte. Er wiederholte sie immer wieder: Ich bin kein Jude mehr. Ich bin kein Jude mehr. Ich bin kein Jude mehr. Er fröstelte. Das Leben erschien ihm kalt und herzlos. Aber das Leben war schon kalt gewesen, seit sein Vater und seine Stiefmutter gestorben waren. Von heute an war er kein Jude mehr. Vielleicht konnte er als exkommunizierter Jude nun denken und schreiben, wie er wollte, und würde mit Nichtjuden Meinungen austauschen können.
Mehrere Monate zuvor hatte Bento sich insgeheim geschworen, ein gesegnetes Leben von Aufrichtigkeit und Liebe zu führen. Als Nichtjude konnte er nun friedvoller leben. Die Juden hatten immer behauptet, dass wahre Meinungen und ein wahrer Lebensplan, geboren aus Vernunft statt aus prophetischen, mosaischen Schriften, auf dem Pfad der Glückseligkeit nichts zu suchen hätten. Gegen die Vernunft zu wettern ergab für Bento keinen Sinn, und weshalb sollte er nun, da er Nichtjude war, nicht ein Leben der Vernunft leben können?
Als er von der Brücke trat, dachte Bento plötzlich: Was bin ich? Wenn ich kein Jude bin, was bin ich dann? Er suchte in seiner Tasche nach dem Notizbuch, das er immer bei sich trug – dasselbe Notizbuch, in das er damals seine Eintragungen gemacht hatte, als er van den Enden kennen gelernt hatte. Er wandte sich nach rechts in eine kleine Straße, setzte sich ans Ufer der Gracht und suchte nach einer Antwort in seinen schriftlichen Aufzeichnungen der letzten beiden Jahre. Dann las er die Kommentare nach, die seinen Entschluss explizit unterstützten:
Wenn ich mich unter Individuen befinde, welche mit meiner Natur sehr wenig übereinstimmen, so werde ich kaum ohne größere Veränderung meiner selbst mich ihnen anbequemen können.
Der freie Mensch, der unter Unwissenden lebt, sucht,
so sehr als möglich, ihren Wohltaten auszuweichen.
Der freie Mensch handelt niemals arglistig, sondern stets aufrichtig.
Nur die freien Menschen sind einander höchst nützlich
und durch die festesten Bande der Freundschaft
miteinander verbunden.
Und es ist jedem nach dem höchsten Naturrecht erlaubt, klare Vernunft einzusetzen, um sich für ein Leben zu entscheiden, das ihm seiner Meinung nach zum Vorteil gereicht.
Bento klappte sein Notizbuch zu, stand auf und kehrte durch die verlassenen Straßen zu seinem Haus zurück, um seine restlichen Habseligkeiten zu holen. Plötzlich rief eine verzweifelte Stimme hinter ihm: »Baruch Spinoza, Baruch Spinoza.«