33 VOORBURG, DEZEMBER 1666

Bento schüttelte erstaunt den Kopf, ging zur huishouder und sagte ihr leise auf Holländisch, dass sie beide auf das Mittagessen verzichten wollten.

Nachdem sie fort war, rief er: »Koscher! Sie essen koscher?«

»Natürlich! Bento, was dachten Sie denn? Ich bin Rabbiner!«

»Und ich bin ein verdutzter Philosoph. Sie sind mit mir einer Meinung, dass es keinen übernatürlichen Gott gibt, der Wünsche hat oder Forderungen stellt, der zufrieden oder irritiert ist und der sich unserer Wünsche, Gebete, ja selbst unserer schieren Existenz nicht bewusst ist?«

»Natürlich bin ich dieser Meinung.«

»Und Sie sind auch mit mir einer Meinung, dass die gesamte Thora – einschließlich Leviticus mit der Halacha und allen ihren obskuren Speisevorschriften – eine Sammlung theologischer, rechtlicher, mythologischer und politischer Schriften ist, die Ezra vor zweitausend Jahren zusammengestellt hat?«

»Sie sagen es.«

»Und dass Sie ein neues, aufgeklärtes Judentum ins Leben rufen werden?«

»Das ist meine Hoffnung.«

»Aber aufgrund von Gesetzen, von denen Sie wissen, dass sie reine Erfindung sind, können Sie nicht mit mir speisen?«

»Ah, was Letzteres angeht, haben Sie nicht Recht, Bento.« Franco griff in seine Tasche und entnahm ihr ein Paket. »Die Familie, die ich in Den Haag besucht habe, gab mir etwas zu essen mit. Genießen wir nun gemeinsam ein jüdisches Mahl.«

Während Franco geräucherten Hering, Brot, Käse und zwei Äpfel auspackte, fuhr Bento fort: »Aber Franco, ich frage Sie abermals: Warum essen Sie immer noch koscher? Wie können Sie Ihren Verstand ausschalten? Es schmerzt mich, einen Mann von dieser Intelligenz zu sehen, der sich solchen willkürlichen Gesetzen gehorsam beugt. Und, Franco, bitte, ich bitte Sie, ersparen Sie mir die übliche Antwort darauf, dass Sie die zweitausend Jahre alte Tradition am Leben halten müssen.«

Franco aß einen Bissen von dem Hering, trank einen Schluck Wasser und dachte einige Augenblicke nach. »Ich versichere Ihnen abermals, dass ich wie Sie – wie Sie, Bento – die Irrationalität in unserer Religion missbillige. Denken Sie daran, wie ich an die Vernunft appellierte, als ich zu meiner Gemeinde über den falschen Messias sprach. Ich möchte wie Sie unsere Religion ändern, aber anders als Sie glaube ich, dass sie von innen her verändert werden muss. Tatsächlich kam ich durch diesen Vorfall, den Sie erlitten, zu dem Schluss, dass sie nur von innen her verändert werden kann. Wenn ich das Judentum wirksam verändern und meine Gemeinde von übernatürlichen Erklärungen abkehren will, dann muss ich zuerst ihr Vertrauen gewinnen. Sie müssen mich als einen der Ihren ansehen, und dazu gehört es, koschere Vorschriften einzuhalten. Als Rabbiner in meiner Gemeinde ist es notwendig – ja unabdingbar –, dass jeder Jude auf der Welt mich gern besucht und gern bei mir zu Hause speist.«

»Und deshalb befolgen Sie all die anderen Gesetze und die zeremoniellen Rituale?«

»Ich befolge den Sabbat. Ich lege Tefillin. Ich spreche Gebete zu den Mahlzeiten, und natürlich leite ich viele der Gottesdienste in der Synagoge – jedenfalls bis vor kurzem. Bento, Sie wissen, dass der Rabbiner ganz und gar in das religiöse Leben der Gemeinde eintauchen muss …«

»Und«, unterbrach Bento, »Sie tun das ausschließlich aus dem Grund, das Vertrauen der Leute zu gewinnen?«

Franco zögerte einen Augenblick. »Nicht ausschließlich. Es wäre unehrlich, das zu behaupten. Wenn ich meine zeremoniellen Pflichten erfülle, achte ich oft nicht auf den Text der Gebete und verliere mich im Ritual und in der angenehmen Woge der Gefühle, die über mich hinwegstreicht. Die Gesänge inspirieren mich und versetzen mich in Verzückung. Und ich liebe die Poesie der Psalmen und der Pijjutim. Ich liebe die Kadenz, die Alliteration; und ich bin sehr berührt von dem Pathos angesichts des Alterns und davon, dem Tod ins Auge zu blicken und sich nach Erlösung zu sehnen.

Aber es gibt sogar noch etwas Wichtigeres«, fuhr Franco fort. »Wenn ich die hebräischen Melodien gemeinsam mit der ganzen Kongregation lese und singe, fühle ich mich sicher; ich fühle mich zu Hause, fast, als sei ich mit meinen Leuten vereint. Zu wissen, dass alle anderen dort die gleiche Verzweiflung und die gleiche Sehnsucht empfinden, erfüllt mich mit Liebe zu jedem dieser Menschen. Haben Sie das selbst noch nie erlebt, Bento?«

»Als ich jung war, ganz bestimmt. Aber jetzt nicht mehr. Seit vielen Jahren nicht mehr. Ich kann meine Aufmerksamkeit nicht wie Sie von der Bedeutung der Worte abwenden. Mein Geist ist immer wachsam, und kaum war ich alt genug, die eigentliche Bedeutung der Thora zu erforschen, schwand auch allmählich meine Nähe zur Gemeinde.«

»Sie sehen«, sagte Franco und fasste Bento am Arm, »genau hier unterscheiden wir uns fundamental. Ich bin nicht der Meinung, dass alle Gefühle sich dem Verstand unterordnen müssen. Es gibt Gefühle, die es verdienen, einen gleichwertigen Status mit dem Verstand zu haben. Nehmen Sie beispielsweise die Nostalgie. Wenn ich Gebete leite, stelle ich eine Verbindung zu meiner Vergangenheit her, zu meinem Vater und meinem Großvater und, ja, Bento, ich wage es zu sagen, ich denke an meine Vorfahren, die seit zweitausend Jahren dieselben Zeilen sprechen, dieselben Gebete beten, dieselben Melodien singen. In diesen Momenten schwindet meine Selbstherrlichkeit, mein Gefühl, von ihnen getrennt zu sein, und ich werde ein Teil, ein sehr kleiner Teil eines ununterbrochenen Stroms einer Gemeinschaft. Dieser Gedanke bietet mir etwas Unschätzbares – wie soll ich es beschreiben? –, eine Verbindung, eine Vereinigung mit anderen, die außerordentlich tröstlich ist. Ich brauche das. Ich stelle mir vor, dass jeder das braucht.«

»Aber Franco, was ist der Vorteil dieser Gefühle? Was ist der Vorteil, sich weiter vom wahren Verstehen zu entfernen? Sich weiter von einem wahren Wissen um Gott zu entfernen?«

»Vorteil? Wie steht es mit dem Überleben? Leben wir nicht seit Menschengedenken in einer Art Gemeinschaft, auch wenn es nur eine Familie ist? Wie könnten wir anders überleben? Haben Sie denn überhaupt keine Freude an Gemeinschaft? Keinen Sinn dafür, zu irgendeiner Gruppe zu gehören?«

Bento wollte schon den Kopf schütteln, besann sich aber schnell eines anderen. »Dieses Gefühl habe ich seltsamerweise am Tag vor unserem letzten Treffen empfunden. Auf dem Weg nach Amsterdam entdeckte ich eine Gruppe Aschkenaser Juden, die gerade die Taschlich-Zeremonie abhielten. Ich war gerade auf der Trekschuit, sprang aber schnell von Bord, folgte ihnen, wurde begrüßt, und eine ältere Frau namens Rifke gab mir ein Stück Brot. Ich weiß nicht, warum ich mich noch immer an ihren Namen erinnere. Ich lauschte der Zeremonie, spürte, wie eine angenehme Wärme in mir aufstieg, und fühlte mich seltsamerweise zu dieser Gemeinschaft hingezogen. Statt Rifkes Brot ins Wasser zu werfen, aß ich es. Ganz langsam. Und es schmeckte ungewöhnlich gut. Aber als ich später meinen Weg fortsetzte, ließ mein angenehmes, nostalgisches Gefühl schnell nach. Dieser ganze Vorfall war eine weitere Mahnung, dass mich mein Cherem mehr berührte, als ich gedacht hatte. Aber nun hat sich der Schmerz des Ausgestoßenseins gelegt, und ich habe kein Bedürfnis, ganz und gar kein Bedürfnis, in eine Gemeinde einzutauchen.«

»Aber Bento, erklären Sie mir: Wie können Sie in einer solchen Einsamkeit leben, wie leben Sie so, wie Sie leben? Sie sind kein von Natur aus kalter, distanzierter Mensch. Davon bin ich überzeugt, denn immer, wenn wir zusammen sind, spüre ich eine so starke Verbindung – von Ihrer wie auch von meiner Seite. Ich weiß, dass zwischen uns eine sehr große Zuneigung besteht.«

»Ja, ich spüre und hege unsere Zuneigung sehr bewusst.« Bento sah Franco einen kurzen Augenblick in die Augen und wandte dann den Blick ab. »Einsamkeit. Sie fragen nach meiner Einsamkeit. Es gibt Zeiten, in denen ich darunter leide. Und es so bedauere, dass ich meine Ideen nicht mit Ihnen teilen kann. Wenn ich versuche, meinen Ideen Klarheit zu verleihen, diskutiere ich sie oft in meinen Tagträumen mit Ihnen.«

»Bento, wer weiß – vielleicht ist das heute unsere letzte Gelegenheit. Bitte sprechen Sie jetzt mit mir darüber. Erzählen Sie mir wenigstens einige Ihrer wichtigsten Gedankengänge, die Sie verfolgen.«

»Ja, nichts lieber als das, aber wo anfangen? Ich beginne bei meinem eigenen Ausgangspunkt – was bin ich? Welcher Art ist mein Kern, mein Wesen? Was ist es, das mich zu dem macht, was ich bin? Was ist es, das mich genau zu diesem Menschen gemacht hat und nicht zu einem anderen? Wenn ich an das Sein denke, scheint mir eine fundamentale Wahrheit offensichtlich zu sein: Wie jedes Lebewesen strebe auch ich danach, in meinem eigenen Sein zu verweilen. Ich würde sagen, dass dieser Conatus, die Sehnsucht danach zu gedeihen, alle Bestrebungen eines Menschen antreibt.«

»Sie beginnen also mit dem einzelnen Menschen und nicht mit dem entgegengesetzten Pol, nämlich der Gemeinschaft, die ich selbst für übergeordnet halte?«

»Aber ich stelle mir den Menschen nicht als ein Geschöpf der Einsamkeit vor. Es ist nur so, dass ich eine unterschiedliche Perspektive zur Idee von Beziehung habe. Ich strebe nach der freudigen Erfahrung, die sich nicht so sehr aus der Verbindung, sondern vielmehr aus dem Verlust des Getrenntseins ergibt.«

Franco schüttelte verwirrt den Kopf. »Nun haben Sie gerade erst begonnen, und schon bin ich verwirrt. Sind denn Verbindung und Verlust von Getrenntsein nicht dasselbe?«

»Es gibt einen feinen, aber entscheidenden Unterschied. Ich will versuchen, es zu erklären. Wie Sie wissen, ist das wichtigste Fundament meines Denkens die Idee, dass wir allein mittels Logik etwas vom Wesen der Natur oder von Gott verstehen können. Ich sage ›etwas‹, denn das eigentliche Sein Gottes ist ein Geheimnis über das Denken hinaus und jenseits davon. Gott ist unendlich, und da wir selbst nur endliche Geschöpfe sind, ist unser Blickfeld begrenzt. Drücke ich mich klar aus?«

»Bis jetzt ja.«

»Um unser Verständnis zu verbessern«, fuhr Bento fort, »müssen wir deshalb versuchen, diese Welt sub specie aeternitatis – vom Aspekt der Ewigkeit – her zu betrachten. Mit anderen Worten, wir müssen die Hindernisse überwinden, die unserem Wissen entgegenstehen und die sich aus der Bindung zu unserem eigenen Ich ergeben.« Bento hielt inne: »Franco, Sie machen ein fragendes Gesicht?«

»Ich kann Ihnen nicht mehr folgen. Sie wollten Ihren Verlust des Getrenntseins erklären. Was ist damit?«

»Geduld, Franco. Das kommt gleich. Zuerst muss ich den Hintergrund schaffen. Wie ich sagte, um die Welt sub specie aeternitatis zu betrachten, muss ich meine eigene Identität abwerfen, das heißt meine Bindung an mich selbst – und alles vom absolut Adäquaten und der wahren Perspektive aus betrachten. Wenn ich das schaffe, höre ich auf, Grenzen zwischen mir und anderen zu erfahren. Sobald das geschieht, strömt eine große Ruhe herein, und kein Ereignis, das mich betrifft, nicht einmal mein Tod, spielt noch eine Rolle. Und sobald andere diese Perspektive erreichen, werden wir einander Freunde sein, werden wir für andere wollen, was wir für uns selbst wollen, und mit Hochherzigkeit handeln. Diese glückselige und freudvolle Erfahrung ist demnach eher eine Konsequenz aus einem Verlust von Getrenntsein als aus einer Verbindung. Sie sehen also, dass es einen Unterschied gibt – den Unterschied zwischen Menschen, die sich aneinanderschmiegen, um einander zu wärmen und sich sicher zu fühlen, und den Menschen, denen eine aufgeklärte, freudige Sicht auf die Natur oder Gott gemeinsam ist.«

Franco, der noch immer einen verwirrten Eindruck machte, sagte: »Ich versuche zu verstehen, Bento, aber es ist nicht einfach, weil ich diese Erfahrung nie gemacht habe. Seine eigene Identität zu verlieren – das kann ich mir nur schwer vorstellen. Allein der Gedanke daran bereitet mir Kopfschmerzen. Und es kommt mir so einsam, so kalt vor.«

»Einsam, und dennoch kann diese Idee paradoxerweise alle Menschen miteinander verbinden – es ist gleichzeitig getrennt voneinander und ein Teil von. Ich empfehle die Einsamkeit nicht, und ich ziehe sie auch nicht vor. Tatsächlich habe ich keinen Zweifel daran, dass unser Streben nach Verständnis, vorausgesetzt, Sie und ich könnten uns jeden Tag zu Gesprächen treffen, außerordentlich beflügelt würde. Es hört sich paradox an, wenn ich sage, dass Menschen einander am nützlichsten sind, wenn jeder seinen eigenen Vorteil verfolgt. Wenn es Menschen der Vernunft sind, ist es tatsächlich so. Aufgeklärter Egoismus führt zu gemeinsamem Nutzen. Unsere Fähigkeit, vernünftig zu denken, ist uns allen gemeinsam, und ein wahres irdisches Paradies wird entstehen, wenn unser Bekenntnis zum Verständnis der Natur oder von Gott alle unsere anderen Zugehörigkeiten ersetzt, seien sie religiös, kulturell oder national.«

»Bento, wenn ich Sie recht verstehe, dann befürchte ich, dass diese Art von Paradies noch tausend Jahre entfernt ist. Und ich frage mich auch, ob ich oder irgendjemand, der nicht Ihren Geist, Ihre Auffassungsgabe und Ihren Tiefgang besitzt, in der Lage sein wird, diese Ideen voll und ganz zu begreifen.«

»Ich bezweifle nicht, dass es einiger Anstrengungen bedarf. Alles, was herausragend ist, ist schwierig, weil es so selten ist. Doch habe ich eine Gemeinschaft von Kollegianten und anderen Philosophen, die meine Worte lesen und verstehen, obwohl es auch zutrifft, dass viele von ihnen mir viel zu viele Briefe schreiben, in denen sie um mehr Aufklärung bitten. Ich erwarte nicht, dass meine Ideen vom unvorbereiteten Leser gelesen und verstanden werden. Ganz im Gegenteil: Viele würden verwirrt und beunruhigt sein, und ihnen kann ich nur raten, mein Werk nicht zu lesen. Ich schreibe für die philosophischen Köpfe auf Latein, und ich hoffe nur, dass manche dieser Köpfe, die ich beeinflusse, wiederum andere beeinflussen werden. Derzeit sind beispielsweise Johan de Witt, unser bedeutender Ratspensionär, und Henry Oldenburg, der Sekretär der British Royal Society, unter meinen Korrespondenten. Aber falls Sie glauben, dass mein Werk niemals für eine größere Leserschaft veröffentlicht werden könnte, werden Sie vielleicht Recht behalten. Es ist sehr gut möglich, dass meine Ideen Tausende von Jahren lang warten müssen.«

Die beiden Männer verfielen in Schweigen, bis Bento hinzufügte: »Nun, in Anbetracht dessen, was ich über mein Vertrauen in die Vernunft sagte: Verstehen Sie nun, weshalb ich dagegen bin, Worte und Gebete ohne Rücksicht auf ihren Inhalt zu lesen oder zu sprechen? Diese innere Kluft kann für Ihre seelische Gesundheit nicht gut sein. Ich glaube nicht, dass Rituale mit dem wachsamen, vernunftbegabten Kopf koexistieren können. Ich glaube, sie sind ausgesprochene Antagonisten.«

»Ich halte Rituale nicht für gefährlich, Bento. Bedenken Sie, dass ich mit dem Glauben und den Ritualen der Katholiken und auch der Juden indoktriniert wurde, und seit zwei Jahren studiere ich nun auch noch den Islam. Je mehr ich lese, desto mehr gewinne ich den Eindruck, dass jede Religion, und zwar ohne Ausnahme, ein Gemeinschaftsgefühl hervorruft, Rituale und Musik verwendet und eine Mythologie herausbildet, die voller Geschichten über wundersame Ereignisse ist. Und ausnahmslos jede Religion verspricht ein ewiges Leben, vorausgesetzt, man lebt nach irgendwelchen vorgegebenen Geboten. Ist es nicht bemerkenswert, dass Religionen, die unabhängig voneinander in unterschiedlichen Teilen der Welt entstehen, einander so ähnlich sind?«

»Worauf wollen Sie hinaus?«

»Ich will auf folgendes hinaus, Bento: Wenn Rituale, Zeremonien und, jawohl, auch Aberglaube so tief in der eigentlichen Natur des Menschen eingebettet sind, ist es vielleicht legitim, daraus zu schließen, dass wir Menschen sie brauchen.«

»Ich brauche das nicht. Kinder brauchen Dinge, die Erwachsene nicht brauchen. Der Mensch von vor zweitausend Jahren brauchte Dinge, die der Mensch von heute nicht mehr braucht. Ich glaube, dass der Grund für Aberglauben in all diesen Kulturen darin liegt, dass der antike Mensch die geheimnisvolle Launenhaftigkeit des Daseins fürchtete. Ihm fehlte das Wissen, das ihm vielleicht das Einzige geben konnte, was er am dringendsten brauchte – Erklärungen. Und in jenen frühen Tagen griff er nach der einzigen verfügbaren Form von Erklärung – nach dem Übernatürlichen, mit Gebeten und Opfern und koscheren Gesetzen und …«

»Und? Nur weiter, Bento – welcher Funktion dienen Erklärungen?«

»Erklärungen beruhigen. Sie erlösen einen vom Leid der Unsicherheit. Der Mensch der Antike wollte fortbestehen, hatte Furcht vor dem Tod, war vielem in seiner Umgebung hilflos ausgeliefert, und Erklärung vermittelte das Gefühl oder wenigstens die Illusion einer Kontrolle. Er kam zu folgendem Schluss: Wenn alles, was passiert, übernatürliche Ursachen hat, dann kann vielleicht ein Weg gefunden werden, das Übernatürliche zu besänftigen.«

»Bento, es ist nicht so, dass wir uns insoweit nicht einig wären; es ist nur so, dass sich unsere Methoden unterscheiden. Jahrhundertealtes Denken zu ändern ist ein langsamer Vorgang. Sie können nicht alles auf einmal erreichen. Ein Wandel, selbst von innen her, muss langsam geschehen.«

»Ich bin sicher, dass Sie Recht haben, aber ich bin auch sicher, dass vieles von dieser Langsamkeit daher kommt, dass alternde Rabbiner und Priester sich hartnäckig an die Macht klammern. Das war bei Rabbi Mortera so, und das ist heute bei Rabbi Aboab so. Als Sie mir vorhin erzählten, wie er die Flammen des Glaubens an Sabbatai Zevi schürte, schüttelte es mich. Ich habe meine ganze Jugend unter den Abergläubischen verbracht; gleichwohl entsetzt mich diese Zevi-Hysterie. Wie können Juden an einen solchen Unsinn glauben? Es scheint unmöglich, die Irrationalität ihrer Unvernunft zu überschätzen. Mit jedem Wimpernschlag wird irgendwo auf der Welt ein Narr geboren.«

Franco biss in das letzte Stück seines Apfels, lächelte und fragte: »Bento, dürfte ich eine Franco-Beobachtung machen?«

»Ah, jetzt kommt mein Nachtisch! Was könnte besser sein! Warten Sie, ich will mich darauf vorbereiten.« Bento lehnte sich zurück und machte es sich auf dem Polsterkissen bequem. »Ich glaube, dass ich gleich etwas über mich selbst lernen werde.«

»Sie sagten, dass wir uns von der Fessel der Leidenschaft befreien sollten, doch heute ging Ihre Leidenschaft mehrmals mit Ihnen durch. Obwohl Sie einem Mann ganz und gar vergeben haben, der versuchte, Sie zu töten, reagieren Sie auf Rabbi Aboab voller Leidenschaft und auch auf diejenigen, die dem neuen Messias folgen wollen.«

Bento nickte: »Ja, das ist richtig.«

»Ich gehe noch weiter – Sie zeigten auch mehr Verständnis für den jüdischen Attentäter als für die Ansichten meiner Frau. Stimmt das nicht?«

Bento nickte abermals, diesmal vorsichtiger. »Fahren Sie fort, mein Lehrmeister.«

»Einmal sagten Sie zu mir, dass menschliche Emotionen genauso wie Linien, Flächen und Körper verstanden werden könnten, richtig?«

Abermaliges Nicken.

»Wollen wir dann versuchen, eben dieses Prinzip auf Ihre scharfzüngige Reaktion auf Rabbi Aboab und auf die leichtgläubigen Jünger Sabbatai Zevis anzuwenden? Und auf meine Frau Sarah?«

Bento machte ein fragendes Gesicht. »Worauf wollen Sie hinaus, Franco?«

»Ich bitte Sie, Ihre Instrumente des Verstehens bei Ihren eigenen Gefühlen anzuwenden. Denken Sie an Ihre Worte, als ich so außer mir über den Attentäter war. ›Alles, jede Tatsache‹, sagten Sie, ›hat ohne Ausnahme eine Ursache, und wir müssen verstehen, dass alles notwendigerweise eintritt.‹ Habe ich das richtig formuliert?«

»Ihr Erinnerungsvermögen ist ohne jeden Makel, Franco.«

»Danke. Dann wollen wir heute die gleiche, vernünftige Schlussfolgerung anwenden.«

»Sie wissen, dass ich diese Einladung nicht ablehnen kann, während ich gleichzeitig behaupte, dass der Sinn und Zweck meines Daseins im Streben nach Vernunft liegt.«

»Gut. Erinnern Sie sich an die Moral der Geschichte im Talmud über Rabbi Yohanan?«

Bento nickte. »Der Gefangene kann sich nicht selbst befreien. Zweifellos wollen Sie darauf hinaus, dass ich zwar andere befreien kann, aber nicht mich selbst?«

»Ganz genau. Vielleicht kann ich dies und das bei Bento Spinoza erkennen, was er selbst nicht entdecken kann?«

Bento lächelte. »Und warum ist Ihre Sicht schärfer als Bentos Sicht?«

»Genau aus dem Grund, den Sie vor ein paar Minuten beschrieben haben: Ihr eigenes Selbst steht Ihnen im Weg und behindert Ihre Sicht. Nehmen Sie beispielsweise Ihre barschen Bemerkungen zu den leichtgläubigen Narren in Amsterdam, die vom falschen Messias betrogen wurden. Ihr leidenschaftliches Vitriol und deren Leichtgläubigkeit sind notwendigerweise so. Es hätte nicht anders sein können. Und, Bento, ich habe die eine oder andere Idee, was den Ursprung von deren Verhalten und Ihrem Verhalten angeht.«

»Und? Fahren Sie fort.«

»Zu allererst ist es von Interesse, dass Sie und ich die gleichen Vorfälle erleben, aber wir reagieren unterschiedlich darauf. Um Sie zu zitieren: ›Es ist unser Geist, der das macht.‹ Richtig?«

»Wiederum richtig.«

»Ich persönlich bin nicht überrascht oder perplex von der Leichtgläubigkeit der Marranen in der Bevölkerung.« Franco sprach nun mit großer Leichtigkeit und Überzeugungskraft. »Sie glauben notwendigerweise an den Messias. Natürlich sind wir Marranen für messianisches Denken empfänglich. Schließlich waren wir im Rahmen unserer katholischen Indoktrinierung ständig mit der Vorstellung von Jesus als einem Menschen konfrontiert, der mehr als nur ein Mensch war, nämlich ein Mensch, der mit einer Mission auf die Erde gesandt wurde. Und natürlich hat die erzwungene Konversion Sabbatai Zevis die Marranen nicht empört. Haben wir Marranen die erzwungene Konversion nicht selbst hautnah erlebt? Und darüber hinaus machten viele von uns persönlich die Erfahrung, dass wir nach der abermaligen Konversion bessere Juden wurden.«

»Richtig, richtig und nochmals richtig, Franco. Sie sehen, wie mir die Gespräche mit Ihnen fehlen werden! Sie helfen mir, meine unfreien Bereiche aufzudecken. Sie haben Recht: Meine Worte über Sabbatai Zevi, Rabbi Aboab und leichtgläubige Narren stehen nicht im Einklang mit der Vernunft. Ein freier Mensch stört seinen Frieden nicht mit solchen Gefühlen von Zorn oder Entrüstung. Ich muss nach wie vor daran arbeiten, meine Leidenschaften zu kontrollieren.«

»Einmal sagten Sie zu mir, dass die Vernunft nicht in der Lage sei, der Leidenschaft Paroli zu bieten, und dass unsere einzige Möglichkeit, uns von Leidenschaft zu befreien, darin bestehe, die Vernunft zu einer Leidenschaft zu machen.«

»Aha, ich glaube, ich weiß jetzt, was Sie möglicherweise andeuten wollen – dass ich die Vernunft so transformiert habe, dass sie zeitweise nicht von Unvernunft zu unterscheiden ist.«

»Genau. Ich habe festgestellt, dass Ihre Wut und Ihre übellaunigen Anklagen nur dann zum Vorschein kommen, wenn die Vernunft in Gefahr ist.«

»Vernunft und Freiheit, alle beide«, fügte Bento hinzu.

Franco zögerte einen Augenblick. Er wählte seine Worte mit Bedacht: »Wenn ich es mir recht überlege, gab es noch einen anderen Vorfall, bei dem ich Ihre Leidenschaft aufflammen sah: als wir den Platz und die Rechte der Frau diskutierten. Ich glaube, dass Ihre Argumente, mit denen Sie die minderwertigere Intelligenz von Frauen beweisen wollten, Ihre sonst übliche Unerbittlichkeit vermissen ließen. Zum Beispiel behaupteten Sie, dass Frauen nicht in der Lage seien, die Macht zu teilen, aber Sie haben die Existenz mächtiger Königinnen vernachlässigt – beispielsweise Kleopatra von Ägypten, Elisabeth von England, Isabella von Spanien und …«

»Ja, ja, aber heute ist unsere Zeit kostbar, und wir können nicht auf alle Themen eingehen. Lassen Sie uns an der Vernunft und der Freiheit arbeiten. Ich bin gar nicht geneigt, mich jetzt mit dem Thema Frauen zu befassen.«

»Stimmen Sie mir nicht wenigstens zu, dass das ein weiteres Gebiet wäre, dem man in Zukunft Aufmerksamkeit schenken sollte?«

»Vielleicht. Ich bin nicht sicher.«

»Dann gestatten Sie mir eine abschließende Bemerkung, bevor wir zu anderen Themen übergehen.« Ohne auf eine Antwort zu warten, sprach Franco schnell weiter: »Es liegt auf der Hand, dass Sie und ich sehr unterschiedliche Ansichten zu Frauen haben, und ich glaube, ich habe eine Vorstellung von der Verknüpfung der Ursachen. Sind Sie interessiert?«

»Ich sollte daran interessiert sein, aber ich verspüre einen gewissen Widerwillen, Ihnen zuzuhören.«

»Ich fahre dennoch fort – es dauert nicht lange. Ich glaube, das rührt von unseren unterschiedlichen Erfahrungen mit Frauen her. Ich hatte eine sehr liebevolle Beziehung zu meiner Mutter und jetzt zu meiner Frau und Tochter, und meine Vermutung ist, dass Ihre Einstellung zu Frauen aufgrund Ihrer früheren Kontakte mit ihnen notwendigerweise negativ ist. So viel Sie mir erzählten, sind Ihre Erfahrungen eher freudlos: Ihre Mutter starb, als Sie ein kleines Kind waren, und Ihre Mütter, die folgten – Ihre ältere Schwester und dann Ihre Stiefmutter –, starben ebenfalls. Die ganze Gemeinde weiß von der barschen Zurückweisung durch Ihre verbliebene Schwester Rebecca. Ich hörte, dass sie eine Klage gegen den letzten Willen Ihres Vaters eingereicht hat, damit Sie nicht seinen Besitz erben. Und dann gibt es noch Clara Maria, die einzige Frau, die Sie liebten, und diese verletzte Sie dadurch, dass sie einen anderen wählte. Abgesehen von ihr hörte ich von Ihnen von keinem einzigen positiven Erlebnis mit einer Frau.«

Bento blieb stumm, nickte einige Male, während er Francos Worte langsam verdaute, und sagte dann: »Nun zu den anderen Themen. Zunächst einmal gibt es etwas, das ich Ihnen noch nicht gesagt habe – und zwar, wie sehr ich Ihren Mut bewundere, Ihre Kongregation offen zur Mäßigung ermahnt zu haben. Ihre öffentliche Opposition zu Rabbi Aboab gründete auf dem, was ich ›adäquate Ideen‹ nannte – Ideen, die eher von der Vernunft als von den Leidenschaften getrieben sind. Auch würde ich gern mehr über Ihre Vision des neuen Judentums erfahren, das Sie zu schaffen hoffen. Vorhin habe ich vielleicht von dieser Diskussion abgelenkt.«

Beide wussten, dass ihnen die Zeit davonlief, und Franco sprach schnell: »Ich hoffe, eine andere Art von Judentum zu schaffen, die auf unserer Liebe zueinander und unserer gemeinsamen Tradition gründet. Ich beabsichtige, Gottesdienste abzuhalten, in denen das Übernatürliche keinen Raum findet und die auf Menschlichkeit gründen, die uns gemeinsam ist, wobei ich diejenigen Weisheiten aus der Thora und dem Talmud verwenden werde, die zu einem liebevollen und moralischen Leben führen. Und ja, wir werden die jüdischen Gesetze befolgen, aber im Dienste einer Verbindung und eines moralischen Lebens und nicht, weil es eine göttliche Anordnung ist. Und durchdrungen wird alles vom Geist meines Freundes Baruch Spinoza sein. Wenn ich für die Zukunft plane, stelle ich mir Sie manchmal als einen Vater vor. Mein Traum ist es, eine Synagoge zu errichten, in die Sie Ihren eigenen Sohn schicken würden.«

Bento wischte eine Träne fort, die über seine Wange rollte. »Ja, wir sind verwandte Seelen, wenn Sie glauben, dass wir gerade so viel Zeremonie zulassen sollten, um an den Teil unserer Natur zu appellieren, der sie immer noch braucht, andererseits aber nicht so viel, dass sie uns versklavt.«

»Genau das ist auch meine Ansicht. Und ist es nicht eine Ironie, dass über uns beide ein Cherem verhängt wird, obwohl Sie das Judentum von außen zu verändern suchen und ich von innen? Bei Ihnen wurde er schon verhängt, und bei mir steht er zweifellos kurz bevor.«

»Ich stimme dem zweiten Teil Ihrer Ausführungen zu – die Ironie, dass wir beide unter einem Cherem stehen oder stehen werden –, aber damit Sie mich nicht falsch verstehen, möchte ich noch einmal sagen, dass es nicht meine Absicht ist, das Judentum zu verändern. Es ist meine Hoffnung, dass eine lebenswichtige Hinwendung zur Vernunft alle Religionen, und dazu zähle ich auch das Judentum, ersetzen sollte.« Bento warf einen Blick auf die Uhr. »Du meine Güte, es ist Zeit, Franco, fast zwei Uhr, und die Trekschuit wird bald eintreffen.«

Während sie zum Anlegeplatz der Trekschuit schlenderten, sagte Franco: »Ich habe noch ein Letztes, was ich Ihnen sagen muss, dieses Buch, das Sie über Ihre Kritik an der Bibel schreiben wollen …?«

»Ja?«

»Ich bewundere Sie dafür, dass Sie es schreiben, aber seien Sie bitte vorsichtig, mein Freund. Setzen Sie Ihren Namen nicht unter dieses Buch. Nicht jetzt, nicht zu unseren Lebzeiten.«

Franco ging an Bord. Der Bootsmann löste die Leinen, die Pferde zerrten an ihren Seilen, und die Trekschuit legte ab. Bento sah dem Kahn noch lange hinterher. Je kleiner das Boot wurde, das sich zum Horizont entfernte, desto bedrohlicher lastete der Cherem auf ihm. Als er schließlich von Franco keine Spur mehr erkennen konnte, trat Bento langsam von der Anlegestelle zurück und begab sich wieder in die Arme der Einsamkeit.

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