In der Lateinschule van den Endens wurde am folgenden Abend Clara Marias gewissenhafte Latein-Paukstunde von ihrem Vater unterbrochen. Er verbeugte sich förmlich vor seiner Tochter und sagte: »Vergeben Sie mir, dass ich störe, Mademoiselle van den Enden, aber ich muss Herrn Spinoza kurz etwas mitteilen.« An Bento gewandt, sagte er: »Bitte kommen Sie in einer Stunde in den großen Alkoven zum Griechisch-Unterricht. Wir werden ein paar Texte von Aristoteles und Epikur diskutieren. Obwohl Ihr Griechisch noch immer rudimentär ist, haben diese beide Herren Ihnen etwas Wichtiges zu sagen.« Und an Dirk gewandt, sagte er: »Ich weiß, dass Sie wenig Interesse am Griechischen haben, da es für das Medizinstudium unglücklicherweise keine Voraussetzung mehr ist, aber vielleicht werden Sie entdecken, dass einige Aspekte dieser Diskussion sich für Ihre zukünftige Arbeit mit Patienten als nützlich erweisen könnten.«
Van den Enden verbeugte sich abermals förmlich vor seiner Tochter: »Und nun, Mademoiselle, werde ich Sie verlassen, damit Sie Ihre Schüler weiterhin auf Herz und Nieren prüfen können.«
Clara Maria fuhr fort, kurze Passagen von Cicero zu lesen, die Bento und Dirk abwechselnd ins Holländische übersetzten. Manchmal klopfte sie mit dem Lineal auf den Tisch, um den geistesabwesenden Bento zur Ordnung zu rufen, der, statt sich auf Cicero zu konzentrieren, von den entzückenden Lippenbewegungen Clara Marias bei den »m«s und den »p«s von »multa«, »pater« und »puer« und ganz besonders »praestantissimum« hingerissen war.
»Wo ist heute nur Ihre Konzentration geblieben, Bento Spinoza?«, fragte Clara Maria, sichtlich bemüht, ihr überaus angenehmes, dreizehnjähriges, birnenförmiges Gesicht in strenge Falten zu legen.
»Entschuldigen Sie, ich war einen Augenblick lang in Gedanken versunken, Fräulein van den Enden.«
»Zweifellos waren Sie mit Ihren Gedanken beim Griechisch-Symposium meines Vaters, wie?«
»Zweifellos«, heuchelte Bento, dessen Gedanken sicherlich mehr bei der Tochter als beim Vater waren. Auch war er noch immer von Jacobs wütenden Worten ein paar Stunden zuvor aufgewühlt, der ihm das Schicksal eines einsamen, isolierten Mannes prophezeit hatte. Jacob war starrsinnig und engstirnig und irrte in so vielem, doch hier hatte er Recht: In Bentos Zukunft würde es keine Frau geben, keine Familie, keine Gemeinschaft. Die Vernunft sagte ihm, dass sein Ziel die Freiheit sein müsse und dass sein Kampf, sich von den Zwängen der abergläubischen jüdischen Gemeinschaft zu befreien, zur Farce verkäme, wenn er sie einfach gegen die Fesseln einer Ehefrau und einer Familie eintauschte. Die Freiheit war sein einziger Schatz: die Freiheit, zu denken, zu analysieren, die brausenden Gedanken, die ihm im Kopf herumschwirrten, niederzuschreiben. Aber es fiel schwer, so schwer, seinen Blick von den zauberhaften Lippen Clara Marias zu reißen.
Van den Enden begann die Diskussion mit seinen Griechisch-Schülern mit dem Ausruf: »Eudaimonia. Lassen Sie uns die beiden Wortstämme untersuchen: ›eu‹?« Er hielt eine Hand an sein Ohr und wartete. Die Schüler riefen zaghaft: »gut«, »normal«, »angenehm.« Van den Enden nickte, wiederholte die Übung mit »daimon« und hörte einen selbstbewussteren Chor aus »Dämon«, »Kobold« und »Nebengott«.
»Ja, ja und ja. Alles ist richtig, aber wenn sich ›eu‹ dazugesellt, verschiebt sich die Bedeutung zu ›glückliche Fügung‹, und deshalb konnotiert eudaimonia normalerweise ›Wohlbefinden‹ oder ›Glückseligkeit‹ oder ›Wohlergehen‹. Sind diese drei Begriffe Synonyme? Zunächst scheint es so, aber in der Tat haben sich zahllose Philosophen mit deren Unterscheidungsnuancen beschäftigt. Ist eudaimonia ein Geisteszustand? Eine Lebensform?« Ohne auf eine Antwort zu warten, fügte van den Enden hinzu: »Oder ist es ein rein hedonistisches Vergnügen? Oder könnte es mit dem Begriff arete in Zusammenhang stehen, welcher was bedeutet?« Wiederum wartete er mit der Hand am Ohr, bis zwei Schüler gleichzeitig »Tugend« riefen.
»Ja, genau, und viele Philosophen der griechischen Antike beziehen Tugend in den Begriff eudaimonia ein, womit sie es vielleicht vom subjektiven Zustand, sich glücklich zu fühlen, zu einer höheren Würdigung hinführen, nämlich ein moralisches, tugendhaftes, wünschenswertes Leben zu führen. Sokrates war es damit besonders ernst: Erinnern Sie sich an unsere Lesung von letzter Woche aus Platons Apologia, in welcher er einen Athener Mitbürger anpöbelt und die Frage von arete mit diesen Worten aufwirft …« An dieser Stelle nahm van den Enden eine theatralische Pose ein, rezitierte Platon auf Griechisch und übersetzte dann den Text langsam für Dirk und Bento ins Lateinische: »›Schämst du dich nicht, für Geld zwar zu sorgen, wie du dessen aufs meiste erlangst, und für Ruhm und Ehre, für Einsicht aber und Wahrheit und für deine Seele, daß sie sich aufs beste befindet, sorgst du nicht, und hieran willst du nicht denken?‹
Und nun berücksichtigen Sie, dass Platons frühes Werk die Gedanken seines Lehrers Sokrates widerspiegelt, während wir in seinem späteren Werk, wie etwa Die Republik, das Auftauchen von Platons eigenen Gedanken sehen, welche absolute Standards für Gerechtigkeit und andere Tugenden auf dem Gebiet der Metaphysik betonen. Was ist Platons Vorstellung von unserem grundlegenden Lebensziel? Sie besteht darin, die höchste Form von Wissen zu erlangen, und das war seiner Ansicht nach die Idee des ›Guten‹, aus dem alles andere seinen Wert schöpft. Erst dann, sagt Platon, sind wir in der Lage, eudaimonia zu erlangen – seiner Vorstellung nach ein Zustand der Harmonie der Seele. Lassen Sie mich diesen Begriff ›Harmonie der Seele‹ wiederholen. Es lohnt sich, ihn sich zu merken: Er könnte Ihnen für Ihr weiteres Leben sehr nützlich sein.
Wenden wir uns nun dem nächsten großen Philosophen, Aristoteles, zu, der vielleicht zwanzig Jahre lang mit Platon gemeinsam studierte. Zwanzig Jahre. Das sollen vor allem diejenigen unter Ihnen nicht vergessen, die über meinen Lehrplan stöhnten, ihn als zu schwierig und zu umfangreich empfanden.
»In den Abschnitten der Nikomachischen Ethik, die Sie in dieser Woche lesen werden, werden Sie feststellen, dass auch Aristoteles feste Ansichten zum guten Leben hatte. Er war überzeugt davon, dass es nicht aus Sinnenlust oder Ehre oder Reichtum besteht. Was aber war für Aristoteles der Sinn unseres Lebens? Für ihn lag er darin, unsere innerste, einzigartige Funktion zu erfüllen. ›Was ist es‹, fragt er, ›was uns von anderen Lebensformen abhebt?‹ Diese Frage gebe ich an Sie weiter.«
Keine sofortigen Antworten von den Schülern. Schließlich sagte ein Schüler: »Wir können lachen. Das können andere Tiere nicht«, womit er bei seinen Klassenkameraden unterdrücktes Kichern erntete.
Ein weiterer Schüler: »Wir laufen auf zwei Beinen.«
»Lachen und Beine – ist das alles, was Ihnen einfällt?«, rief van den Enden. »Solche närrischen Antworten trivialisieren diese Diskussion. Denken Sie nach! Was ist das hauptsächliche Attribut, das uns von niedrigeren Lebensformen abhebt?« Plötzlich wandte er sich Bento zu: »Diese Frage stelle ich Ihnen, Bento Spinoza.«
Ohne zu überlegen sagte Bento: »Ich glaube, unsere einzigartige Fähigkeit ist es, logisch zu denken.«
»Ganz genau. Und demzufolge behauptete Aristoteles, dass der glücklichste Mensch derjenige ist, der genau diese Funktion am besten erfüllt.«
»Dann besteht also das höchste und glücklichste Streben darin, ein Philosoph zu sein?«, fragte Alphonse, der intelligenteste Schüler im Griechischunterricht, den Bentos wie aus der Pistole geschossene Antwort geärgert hatte. »Liegt es nicht im Eigeninteresse eines jeden Philosophen, diese Behauptung aufzustellen?«
»Ja, Alphonse, und Sie sind nicht der erste Denker, der diesen Schluss gezogen hat. Und genau diese Beobachtung leitet uns zu Epikur über, einem weiteren wichtigen griechischen Denker, der sich mit radikal unterschiedlichen Gedanken zur eudaimonia und zur Mission des Philosophen geäußert hat. Wenn Sie in zwei Wochen etwas von Epikur lesen werden, werden Sie feststellen, dass auch er vom guten Leben sprach, dafür aber ein vollkommen anderes Wort benutzte. Er spricht viel von ataraxia, was übersetzt so viel bedeutet wie …«, und wieder hielt van den Enden eine Hand an sein Ohr.
Alphonse meldete sich sofort mit »Stille«, und bald fügten andere »Ruhe« und »Seelenfrieden« hinzu.
»Ja, ja und ja«, sagte van den Enden, der an den Leistungen seiner Klasse offenkundig zunehmend Gefallen fand. »Für Epikur war ataraxia das einzig wahre Glück. Und wie erreichen wir es? Weder durch Platons Harmonie der Seele noch durch Aristoteles’ Erlangen von Vernunft, sondern schlicht durch das Ausschalten von Sorge und Furcht. Sollte Epikur in diesem Augenblick zu Ihnen sprechen, würde er Sie dazu anhalten, Ihr Leben zu vereinfachen. Sollte er heute hier stehen, würde er es etwa so formulieren …«
Van den Enden räusperte sich und sprach in kollegialem Ton: »Ihr jungen Leute, eure Bedürfnisse sind gering, sie sind einfach zu erlangen, und jedes notwendige Leiden kann leicht erduldet werden. Beschwert euer Leben nicht mit trivialen Zielen wie Reichtum und Ruhm: Sie sind die Feinde der ataraxia. Ruhm, zum Beispiel, besteht aus den Meinungen anderer und verlangt, dass wir unser Leben so leben müssen, wie andere es wünschen. Um Ruhm zu erlangen und zu bewahren, müssen wir mögen, was andere mögen, und das meiden, was immer sie meiden. Folglich ein Leben des Ruhms oder ein Leben in der Politik? Nehmt Reißaus davor. Und Reichtum? Meidet ihn! Er ist eine Falle. Je mehr wir erlangen, desto mehr begehren wir, und desto tiefer wird unsere Traurigkeit, wenn unsere Sehnsucht nicht erfüllt wird. Ihr jungen Leute, hört auf mich: Wenn ihr Glückseligkeit begehrt, verschwendet euer Leben nicht damit, um das zu kämpfen, was ihr gar nicht braucht.
Nun«, fuhr van den Enden fort und sprach mit normaler Stimme weiter, »merken Sie sich den Unterschied zwischen Epikur und seinen Vorgängern. Epikur glaubt, das höchste Gut bestehe darin, ataraxia durch Freiheit von aller Furcht zu erlangen. Irgendwelche Kommentare und Fragen dazu? Ah, ja, Herr Spinoza. Eine Frage?«
»Schlägt Epikur nur eine negative Herangehensweise vor? Ich meine, sagt er, dass es nur der Beseitigung aller Drangsal bedarf und dass der Mensch ohne belanglose Sorgen perfekt ist, naturgemäß gut, glücklich? Gibt es keine positiven Attribute, nach denen wir streben sollten?«
»Ausgezeichnete Frage. Und die Literatur, die ich ausgewählt habe, wird seine Antwort erhellen. Glücklicherweise werden Sie, Herr Spinoza, nicht darauf warten müssen, bis Sie Ihr Griechisch perfektioniert haben, denn Sie können die Gedanken Epikurs auf Latein lesen. Der römische Dichter Lucretius, der etwa zweihundert Jahre nach Epikur lebte, schrieb seine Gedanken auf. Ich werde Ihnen die entsprechenden Seiten baldmöglich heraussuchen. Heute wollte ich nur den zentralen Gedanken berühren, der ihn von anderen unterscheidet, dass nämlich das gute Leben aus der Beseitigung von Furcht besteht. Aber selbst ein kleiner Einblick in sein Werk wird zeigen, dass Epikur viel komplexer ist. Er ermuntert zu Erkenntnis, zu Freundschaft und zu einem tugendhaften, gemäßigten Leben. Ja. Dirk, Sie haben eine Frage? Mir scheint, meine Lateinschüler wollen mehr über die Griechen wissen als meine Griechischschüler.«
»In Hamburg«, sagte Dirk, »kenne ich ein Wirtshaus, das ›Die Epikurischen Wonnen‹ heißt. Demnach gehören guter Wein und gutes Bier also auch zu einem guten Leben?«
»Auf diese Frage habe ich gewartet – sie musste kommen. Viele verwenden seinen Namen fälschlicherweise, um auf gutes Essen oder guten Wein hinzuweisen. Wenn Epikur das wüsste, wäre er erstaunt. Ich glaube, dass dieser eigenartige Irrtum von seinem strikten Materialismus herrührt. Er glaubte, dass es kein Leben nach dem Tod gibt, und da demnach dieses Leben alles ist, was es gibt, sollten wir nach weltlichem Glück streben. Aber unterliegen Sie nicht dem Irrtum, daraus zu folgern, Epikur schlüge vor, wir sollten unser Leben mit sinnlichen oder lustvollen Handlungen verbringen. Ganz und gar nicht – er lebte und verfocht ein fast asketisches Leben. Ich wiederhole: Er glaubte, dass wir ein Maximum an Lebensfreude am besten durch eine Minimierung von Schmerz erlangen können. Eine seiner wichtigsten Schlussfolgerungen war, dass die Furcht vor dem Tod eine der wichtigsten Ursachen von Schmerz ist, und er verbrachte einen großen Teil seines Lebens damit, nach philosophischen Methoden zu suchen, um die Furcht vor dem Tod zu verringern. Weitere Fragen bitte.«
»Erwähnt er den Dienst an anderen und an seiner eigenen Gemeinde, oder erwähnt er die Liebe?«, fragte Dirk.
»Eine passende Frage von einem zukünftigen Arzt. Es wird Sie interessieren zu erfahren, dass er sich selbst als medizinischen Philosophen sah, der sich der Leiden der Seele genauso annimmt, wie ein Arzt sich der Leiden des Körpers annimmt. Er sagte einmal, dass eine Philosophie, die nicht in der Lage sei, die Seele zu heilen, so wenig Wert habe wie eine Medizin, die nicht in der Lage sei, den Körper zu heilen. Ich erwähnte bereits einige der seelischen Leiden, die aus dem Streben nach Ruhm, Macht, Reichtum und sexueller Lust entstehen, aber diese waren für ihn nur zweitrangig. Der Behemoth der Ängste, der allen anderen Sorgen zugrunde liegt und der sie nährt, ist die Furcht vor dem Tod und vor dem Leben nach dem Tod. Tatsächlich ist eines der ersten Prinzipien in dem ›Katechismus‹, den seine Schüler lernen mussten, dass wir sterblich sind, dass es kein Leben nach dem Tod gibt und wir daher nach dem Tod von den Göttern nichts zu befürchten haben. Sie werden sehr bald noch mehr darüber bei Lucretius lesen, Dirk. Jetzt habe ich vergessen, was Ihre andere Frage war.«
»Zunächst«, sagte Dirk, »muss ich sagen, dass ich das Wort ›Behemoth‹ nicht kenne.«
»Gute Frage. Wer hier kennt dieses Wort?«
Nur Bento meldete sich.
»Herr Spinoza, klären Sie uns auf.«
»Ein Gigant, ein Riesentier«, sagte Bento. »Aus dem Hebräischen b‘hëmãh, das in der Schöpfungsgeschichte und auch bei Hiob vorkommt.«
»Hiob, ach so. Das wusste selbst ich nicht. Danke. Aber nun zurück zu Ihrer Frage, Dirk.«
»Ich fragte nach Liebe und dem Dienst an der Gemeinschaft.«
»Soviel ich weiß, war Epikur nicht verheiratet, aber er glaubte an die Ehe und an Familie für manche Menschen – für diejenigen, die zu dieser Verantwortung bereit sind. Aber die vernunftwidrige leidenschaftliche Liebe lehnte er vehement ab, da sie den Liebenden versklave und am Ende zu mehr Schmerz als Freude führe. Er sagt, dass der Liebende, sobald seine lustvolle Verliebtheit gestillt wäre, Langeweile, Eifersucht oder beides empfände. Aber er legte großes Gewicht auf eine höhere Liebe, auf die Liebe unter Freunden, welche uns in einen Zustand der Glückseligkeit versetzt. Es ist von Interesse zu wissen, dass er aufgeschlossen war und alle menschlichen Wesen gleich behandelte: Seine Schule war die einzige in Athen, die auch Frauen und Sklaven aufnahm. Aber Ihre Frage nach dem Dienst am Nächsten ist wichtig, Dirk. Er vertrat die Ansicht, dass wir ein ruhiges, zurückgezogenes Leben führen, öffentliche Verantwortung meiden, keine Ämter bekleiden und auch keine andere Art von Verantwortung übernehmen sollten, welche unsere ataraxia bedrohen könnte.«
»Ich höre nichts über Religion«, sagte Edward, ein katholischer Schüler, dessen Großvater Bischof von Antwerpen gewesen war. »Ich höre von der Liebe unter Freunden, aber nichts von der Liebe Gottes oder von Gottes Rolle in seiner Vorstellung von Glück.«
»Du hast den Finger auf einen wichtigen Punkt gelegt, Edward. Epikur wirkt auf die Leser von heute verstörend, weil seine Formel für Glück so wenig Augenmerk auf das Göttliche legt. Er glaubte, dass Glück nur aus unserem eigenen Geist entspringt, und misst unserer Beziehung zu irgendwelchen übernatürlichen Dingen keine Bedeutung zu.«
»Wollen Sie damit sagen«, fragte Edward, »dass er die Existenz Gottes leugnete?«
»Sie meinen Götter, im Plural? Denken Sie an die damalige Zeit, Edward. Es war das vierte Jahrhundert vor Christus, und die griechische Kultur war, abgesehen von der hebräischen, wie jede frühe Kultur polytheistisch«, sagte van den Enden.
Edward nickte und formulierte seine Frage um: »Leugnete Epikur das Göttliche?«
»Nein, er war zwar kühn, aber er war nicht vermessen. Er wurde sechzig Jahre nach der Hinrichtung von Sokrates geboren, der sich der Ketzerei schuldig gemacht hatte, und er wusste, dass es der Gesundheit schadete, wenn man nicht an die Götter glaubte. Er entschied sich für eine sicherere Position und erklärte, dass die Götter existierten, glückselig auf dem Olymp wohnten, sich aber um das Leben der Menschen nicht kümmerten.«
»Aber was für ein Gott ist das? Wie kann sich jemand vorstellen, dass Gott nicht möchte, dass wir nach seinem Willen leben?«, fragte Edward. »Es ist unvorstellbar, dass ein Gott, der seinen eigenen Sohn für uns opferte, nicht von uns erwartet, unser Leben auf eine bestimmte, gottgefällige Art zu führen.«
»Es gibt viele Auffassungen des Göttlichen in den verschiedensten Kulturen«, warf Bento ein.
»Aber ich weiß aus tiefster Überzeugung, dass Christus, unser Herr, uns liebt, dass er einen Platz für uns in seinem Herzen hat und eine Absicht mit uns verfolgt«, sagte Edward und richtete den Blick himmelwärts.
»Die Stärke eines Glaubens steht in keiner Beziehung zu seiner Wahrhaftigkeit«, schoss Bento zurück. »Jeder Gott hat inbrünstige und erbitterte Gläubige.«
»Meine Herren, meine Herren«, intervenierte van den Enden, »lassen Sie uns diese Diskussion verschieben, bis wir die Texte gelesen haben und beherrschen. Aber Ihnen, Edward, möchte ich sagen, dass Epikur die Götter durchaus nicht auf die leichte Schulter nahm: Er baute sie in seine Definition der ataraxia ein und mahnte uns, die Götter in unseren Herzen zu behalten, ihnen nachzueifern und sie als Vorbild für ein Leben in seliger Gelassenheit zu nehmen. Und darüber hinaus legte er seinen Jüngern ans Herz« – und hier warf van den Enden einen kurzen Blick in Bentos Richtung –, »sich zur Vermeidung von Unstimmigkeiten unbeschwert an allen Aktivitäten der Gemeinde und damit auch an religiösen Zeremonien zu beteiligen.«
Edward war nicht besänftigt. »Aber zu beten, nur um Unstimmigkeiten zu vermeiden, ist für mich eine scheinheilige Observanz.«
»Diese Ansicht haben viele geäußert, Edward, doch Epikur schreibt auch, dass wir die Götter als perfekte Wesen verehren sollen. Darüber hinaus erlangen wir aus dem Nachsinnen über ihre perfekte Existenz ästhetische Wonnen. Es ist spät geworden, meine Herren. Das alles sind famose Fragen, und wir werden jede einzelne betrachten, während wir sein Werk studieren.«
Der Tag endete damit, dass Bento und seine Lehrer die Rollen tauschten. Er gab Vater und Tochter einen halbstündigen Hebräischunterricht, nach welchem van den Enden ihn bat, noch ein wenig länger zu einer privaten Unterredung zu bleiben.
»Erinnern Sie sich noch an unser Gespräch bei unserem ersten Treffen?«
»Ich erinnere mich noch sehr gut daran, und ich lerne bei Ihnen tatsächlich gleichgesinnte Gefährten kennen.«
»Zweifellos haben Sie bemerkt, dass einige der Kommentare Epikurs sehr gut zu Ihrem derzeitigen Dilemma mit Ihrer Gemeinde passen.«
»Ich habe mich schon gefragt, ob manche seiner Bemerkungen, wie diese, unbeschwert an den religiösen Zeremonien der Gemeinde teilzunehmen, auf mich abzielten.«
»So ist es. Und, haben sie ihr Ziel erreicht?«
»Beinahe, aber sie waren so von Widersprüchen belastet, dass sie nicht ins Schwarze trafen.«
»Wie das?«
»Ich kann mir für mich selbst nicht vorstellen, wie Gelassenheit aus dem Boden von Heuchelei sprießen sollte.«
»Sie spielen, wie ich annehme, auf Epikurs Rat an, alles Notwendige zu tun, um sich in eine Gemeinde einzufügen und folglich auch an öffentlichen Andachten teilzunehmen.«
»Ja, das nenne ich Heuchelei. Selbst Edward reagierte darauf. Wie kann innere Harmonie vorherrschen, wenn man sich selbst untreu ist?«
»Eigentlich wollte ich mich mit Ihnen hauptsächlich über Edward unterhalten. Was glauben Sie, wie er zu unserer Diskussion und zu Ihnen steht?«
Überrascht von dieser Frage, stutzte Bento. »Darauf habe ich keine Antwort.«
»Ich bitte um eine Vermutung.«
»Nun, er ist nicht glücklich mit mir. Er ist wütend, nehme ich an. Vielleicht fühlt er sich bedroht.«
»Ja, gut geraten. Höchst zutreffend, würde ich sagen. Und nun beantworten sie mir diese Frage: Ist es das, was Sie wollen?«
Bento schüttelte den Kopf.
»Und würde Epikur denken, dass Sie sich auf eine Art und Weise verhalten haben, die zum guten Leben hinführt?«
»Ich muss zugeben, dass er das nicht denken würde. In jenem Augenblick glaubte ich allerdings, dass ich klug daran tat, mich weiterer Äußerungen zu enthalten.«
»Welcher zum Beispiel?«
»Dass Gott uns nicht nach seinem Ebenbild geschaffen hat – wir haben ihn nach unserem Ebenbild geschaffen. Wir stellen uns vor, dass er ein Wesen ist wie wir, dass er unsere gemurmelten Gebete hört und dass es ihn interessiert, was wir uns wünschen …«
»Gütiger Gott! Wenn es das ist, was Sie fast ausgesprochen hätten, verstehe ich Ihren Standpunkt. Dann wollen wir sagen, dass Sie zwar unklug, aber nicht vollkommen töricht gehandelt haben. Edward ist strenger Katholik. Sein Onkel war katholischer Bischof. Von ihm zu erwarten, seinen Glauben auf der Grundlage von wenigen Bemerkungen abzulegen, auch wenn es vernünftige Bemerkungen sind, ist höchst irrational und vielleicht sogar gefährlich. Amsterdam genießt im Moment den Ruf, die toleranteste Stadt Europas zu sein. Aber denken Sie an die Bedeutung des Wortes ›tolerant‹ – es konnotiert, dass wir allen anderen Glaubensrichtungen gegenüber tolerant sind, auch wenn wir sie für irrational halten.«
»Ich komme immer mehr zu der Überzeugung«, sagte Bento, »dass jemand, der unter Menschen mit stark unterschiedlichen Glaubensrichtungen lebt, ihnen nur dann gerecht werden kann, wenn er sich selbst stark verändert.«
»Nun beginne ich, den Bericht meines Spions über den Aufruhr in der jüdischen Gemeinde über Sie zu verstehen. Erzählen Sie anderen Juden alle Ihre Gedanken?«
»Vor etwa einem Jahr beschloss ich, in meinen Meditationen immer wahrheitsgetreu …«
»Ah«, unterbrach van den Enden, »nun verstehe ich, weshalb Ihre Geschäfte so schlecht laufen. Ein Geschäftsmann, der die Wahrheit sagt, ist ein Oxymoron.«
Bento schüttelte den Kopf: »Oxymoron?«
»Aus dem Griechischen. Oxys bedeutet schlau; moros bedeutet töricht. Demnach bezieht sich Oxymoron auf ein Paradox in sich. Stellen Sie sich einmal vor, was ein wahrheitsliebender Kaufmann zu seinem Kunden sagen könnte: ›Bitte kaufen Sie diese Rosinen hier – Sie würden mir damit einen großen Gefallen tun. Sie sind schon Jahre alt, verschrumpelt, und ich muss sie loswerden, bevor nächste Woche die Lieferung mit den saftigen Rosinen kommt.‹«
Als van den Enden nicht das geringste Anzeichen von Heiterkeit bei Bento entdeckte, dachte er an etwas, was er schon früher festgestellt hatte: Bento hatte keinerlei Sinn für Humor. Er ruderte zurück: »Aber ich wollte damit nicht die ernsten Dinge herunterspielen, die Sie mir erzählen.«
»Sie fragten mich nach meiner Diskretion innerhalb der Gemeinde. Abgesehen von meinem Bruder und diesen beiden Fremden aus Portugal, die bei mir Rat suchten, habe ich meine Ansichten immer für mich behalten. Die beiden traf ich übrigens erst vor wenigen Stunden und gab ihnen freimütig Auskunft über meine Ansichten zu abergläubischen Überzeugungen, um dem einen zu helfen, der vorgab, in einer spirituellen Krise zu stecken. Ich ließ mich mit den beiden Besuchern auf eine kritische Lesung der hebräischen Bibel ein. Seit ich mich ihnen gegenüber offenbart habe, weiß ich nun, was es ist, was Sie ›innere Harmonie‹ nannten.«
»Sie hören sich so an, als hätten Sie sich lange Zeit Stillschweigen verordnet.«
»Nicht konsequent genug in den Augen meiner Familie oder meines Rabbiners, der ausgesprochen verärgert über mich ist. Ich sehne mich nach einer Gemeinschaft, die sich nicht sklavisch an falsche Überzeugungen klammert.«
»Und auch wenn Sie auf der ganzen Welt danach suchen, werden Sie doch keine Gemeinschaft finden, die nicht abergläubisch ist. Solange es Unwissen gibt, solange wird es ein Festhalten am Aberglauben geben. Unwissen zu beseitigen ist die einzige Lösung. Das ist der Grund, weshalb ich unterrichte.«
»Ich fürchte, das ist ein verlorener Kampf«, antwortete Bento. »Unwissenheit und abergläubische Überzeugungen breiten sich wie Flächenbrände aus, und ich glaube, dass religiöse Führer dieses Feuer nähren, um ihre Stellung zu sichern.«
»Das sind gefährliche Worte, die Ihr jugendliches Alter Lügen strafen. Ich sage Ihnen noch einmal, dass Verschwiegenheit vonnöten ist, um in irgendeiner Gemeinschaft bleiben zu können.«
»Ich bin überzeugt davon, dass ich frei sein muss. Wenn eine solche Gemeinschaft sich nicht finden lässt, dann muss ich vielleicht ohne sie leben.«
»Erinnern Sie sich daran, was ich zu ›caute‹ sagte? Wenn Sie nicht auf der Hut sind, könnte es sein, dass Ihre Wünsche, aber vielleicht auch Ihre Ängste in Erfüllung gehen.«
»Diesen Status ›könnte‹ habe ich bereits überschritten. Ich glaube, dass ich den Stein bereits ins Rollen gebracht habe«, antwortete Bento.