30 BERLIN, 1936

»Der Mythus des zwanzigsten Jahrhunderts: Zeug, das niemand verstehen kann, geschrieben von einem engstirnigen Balten, der furchtbar kompliziert denkt.«

Adolf Hitler

»Die Hauptleserschaft dieses Rosenbergschen Werkes sind nicht die Altparteigenossen. Ich selbst habe es nämlich nur zum geringen Teil gelesen, da es meines Erachtens auch zu schwer verständlich ist.«

Adolf Hitler

»Sigmund Freud erhält den Goethe-Preis

Der Goethe-Preis der Stadt Frankfurt wurde diesmal Professor Sigmund Freud, dem weltberühmten Wiener Gelehrten und Schöpfer der Psychoanalyse, so jubelt mit Zinken und Posaunen die »Israel. Gemeindeztg.« In Nr. 10, verliehen. Der Goethe-Preis, der größte wissenschaftliche und literarische Preis Deutschlands, wird dem Ausgezeichneten am 28. August, dem Geburtstage Goethes, im Rahmen einer großen Feierlichkeit in Frankfurt a.M. überreicht werden. Die Preissumme beträgt 10000 Mark. – Daß von namhaften Gelehrten die ganze Psychoanalyse des Juden Sigmund Freud als höchst unwissenschaftliches Geschwafel und Geschwätz abgelehnt wird, weiß man. Der große Antisemit Goethe würde sich im Grabe umdrehen, wenn er erführe, daß ein Jude einen Preis bekommt, der seinen Namen trägt.«

Alfred Rosenberg im Völkischen Beobachter von 1930

»Mein Führer, bitte sehen Sie sich diesen Brief über Reichsleiter Rosenberg von Dr. Gebhardt, dem Chefarzt der HohenlychenKlinik, an.«

Hitler nahm den Brief von Rudolf Hess entgegen, überflog ihn und achtete besonders auf die Passagen, die Hess markiert hatte.

»Auch mir selbst ist es nicht geglückt, ihm im wesentlichen den Anschluss an mein Haus, an die Sportkameradschaft in Hohenlychen usw. zu vermitteln … Ich habe vor allem als Arzt den Eindruck, dass die verzögerte Heilung … weitgehend in dieser psychischen Einsamkeit begründet liegt … Trotz all meiner, wie ich sagen darf, taktvollen Bemühungen, einen gewissen Uebergang zu schaffen, missglückt dies … Der Reichsleiter bei seinem geistigen Format, in seiner einmaligen politischen Stellung ist … nur dann freizubekommen, wenn er zumindest mit Gleichberechtigten aus dem gleichen geistigen Wissen heraus sich freireden kann und dadurch wieder die Ruhe und Geschlossenheit zum Handeln und so auch zur Lebensführung im Alltag findet.

Vorige Woche erkundigte ich mich, ob er seine intimsten Gedanken jemals irgendeinem Menschen rückhaltlos mitgeteilt hätte. Vollkommen unerwartet antwortete er und nannte einen Friedrich Pfister, einen Freund aus seinen Kindertagen in Estland. Danach erfuhr ich, dass dieser Friedrich Pfister, mittlerweile Herr Oberleutnant Pfister, ein in Berlin stationierter, angesehener Militärarzt ist. Dürfte ich darum bitten, dass ihm augenblicklich befohlen wird, seine Tätigkeit als Arzt von Reichsleiter Rosenberg hier bei uns aufzunehmen?«

Hitler gab Hess den Brief zurück. »In diesem Brief steht nichts, was uns überrascht, aber sorgen Sie dafür, dass ihn sonst niemand zu Gesicht bekommt. Und geben Sie den Befehl aus, Herrn Oberleutnant Pfister sofort hierher zu überstellen. Rosenberg ist unerträglich. Das war er schon immer. Das wissen wir alle. Aber er ist loyal, und die Partei hat noch immer Bedarf an seinen Fähigkeiten.«

Die Hohenlychen-Klinik, einhundert Kilometer nördlich von Berlin gelegen, war von Himmler für die Betreuung leidender NS-Führer und hochrangiger SS-Offiziere ins Leben gerufen worden. Schon 1935 war Alfred dort wegen einer agitierten Depression drei Monate lang stationär behandelt worden. Und nun, 1936, zeigte er die gleichen Symptome, die ihm seine Arbeit unmöglich machten: Müdigkeit, Agitation und Depressionen. Er konnte sich nicht auf seine Arbeit als Herausgeber des Beobachters konzentrieren, hatte sich mehrere Wochen vollkommen in sich selbst zurückgezogen und sprach auch kaum mit seiner Frau und seiner Tochter.

Sobald er stationär aufgenommen worden war, hatte er sich einer gründlichen Untersuchung durch Dr. Gebhardt unterzogen, sich aber hartnäckig geweigert, Fragen zu seinem Geisteszustand oder seinem Privatleben zu beantworten. Karl Gebhardt war Himmlers Leibarzt und guter Freund und behandelte auch die anderen NS-Führer (bis auf Hitler, dessen eigener Leibarzt Theodor Morell immer für ihn greifbar war). Alfred zweifelte nicht daran, dass jedes Wort, das er zu Gebhardt sagte, bald an die ganze Brut seiner NS-Feinde hinausposaunt würde. Aus dem gleichen Grund wollte Alfred auch mit keinem Psychiater sprechen. Mattgesetzt, des schweigsamen Herumsitzens mit seinem Patienten müde, der ihn nur feindselig anstarrte, sehnte Dr. Gebhardt sich danach, seinen irritierenden Patienten an einen anderen Arzt zu überweisen, und gab sich größte Mühe, diesen sorgfältig formulierten Brief an Hitler zu verfassen, der aus Gründen, die niemand verstand, Rosenberg schätzte und sich von Zeit zu Zeit nach seinem Befinden erkundigte.

Dr. Gebhardt hatte keine psychologische Ausbildung und auch keine Neigung zur Psychologie, erkannte aber sofort Hinweise auf eine erhebliche Missstimmung in der Führungsriege – die nicht enden wollende Rivalität, die gegenseitige Missachtung, die erbarmungslosen Intrigen, den Konkurrenzkampf um Macht und Hitlers Anerkennung. Sie waren in allem unterschiedlicher Meinung, doch Gebhardt fand etwas heraus, was ihnen allen gemeinsam war: Alle hassten Alfred Rosenberg. Nachdem er Alfred mehrere Wochen lang täglich besucht hatte, wusste er auch, weshalb.

Auch wenn Alfred es gespürt haben mochte, schwieg er unverdrossen und verbrachte Woche um Woche in der Klinik von Hohenlychen mit der Lektüre deutscher und russischer Klassiker. Er weigerte sich, Gespräche mit den Angestellten oder den anderen Patienten zu führen. Eines Morgens, es war seine fünfte Woche in der Klinik, fühlte er sich extrem agitiert und beschloss, einen kleinen Spaziergang auf dem Klinikgelände zu unternehmen. Als er feststellte, dass er zu müde war, um sich die Schuhe zuzubinden, fluchte er und schlug sich heftig auf beide Wangen, um sich wachzurütteln. Er musste etwas unternehmen, um zu verhindern, dass er in eine unumkehrbare Verzweiflung rutschte.

In seiner Not rief er sich Friedrichs Gesicht ins Gedächtnis. Friedrich hätte gewusst, was zu tun war. Was hätte er vorgeschlagen? Zweifellos hätte er versucht, der Ursache dieser vermaledeiten Depression auf den Grund zu gehen. Alfred stellte sich Friedrichs Worte vor: »Wann fing das alles an? Lass deine Gedanken frei fließen und geh zurück an den Anfang deines Abstiegs. Beobachte einfach alle Gedanken, alle Bilder, die dir in den Kopf kommen. Nimm sie wahr. Schreib sie auf, wenn du kannst.«

Alfred versuchte es. Er schloss die Augen und beobachtete die vorbeiziehende Parade in seinem Kopf. Er ließ sich durch die Zeit zurücktreiben und beobachtete, wie sich ein Vorfall herausschälte.

Es ist mehrere Jahre her, und er ist in seinem Büro des VB. Er sitzt an dem Schreibtisch, den Hitler ihm gekauft hat. Er sitzt an der Schlussredaktion seines Meisterwerks Der Mythus des zwanzigsten Jahrhunderts. Auf der letzten Seite angekommen, legt er den Rotstift zur Seite, grinst triumphierend, schüttelt das siebenhundertseitige Manuskript zu einem ordentlichen Stapel zusammen, fixiert es mit zwei dicken Gummibändern und drückt es liebevoll an seine Brust.

Ja, die Erinnerung an seinen schönsten Moment lässt auch jetzt noch eine Träne, vielleicht auch deren zwei, über sein Gesicht laufen. Alfred empfand Zuneigung zu diesem jüngeren Selbst, zu diesem jungen Mann, der wusste, dass der Mythus die Welt in Erstaunen versetzen würde. Der Reifungsprozess war lang und mühsam gewesen – zehn Jahre lang jeden einzelnen Sonntag und dann noch jede Stunde an Wochentagen, die er abzwacken konnte – aber es war den Preis wert gewesen. Ja, ja – er wusste, er hatte seine Frau und seine Tochter vernachlässigt, aber was war das schon im Vergleich zu der Erschaffung eines Buches, das die Welt in Brand setzen würde, eines Buches, das eine neue Philosophie der Geschichte lieferte, basierend auf Blut, Rasse und Seele, eine neue Wertschätzung des Volkes, der völkischen Kunst, Architektur, Literatur und Musik und, am allerwichtigsten, ein neues Grundlagenwerk über die Werte des zukünftigen Reiches.

Alfred streckte die Hand zum Nachttisch aus, wo sein persönliches Exemplar des Mythus lag, und blätterte es wahllos durch. Bestimmte Passagen erinnerten ihn sofort an den Schauplatz seiner Inspiration. Als er den Kölner Dom besucht und die Kreuzigung Jesu und die Heerscharen ausgemergelter, geschwächter Märtyrer in den bunten Glasfenstern betrachtet hatte, entstand ein davon inspirierter Gedanke – die römisch-katholische Kirche stand nicht im Gegensatz zum Judentum. Obgleich die Kirche erklärte, antijüdisch zu sein, war sie in der Tat der wichtigste Kanal, durch den jüdische Gedanken den gesunden Körper deutschen Gedankenguts infizierten. Mit großem Vergnügen las er seine eigenen Worte:

»Abgeschafft werden muß danach ein für allemal das sogen. Alte Testament als Religionsbuch. Damit entfällt der mißlungene Versuch der letzten anderthalb Jahrtausende, uns geistig zu Juden zu machen. … Eine deutsche Kirche wird anstelle der Kreuzigung den lehrenden Feuergeist, den Helden im höchsten Sinn darstellen.«

Ja, dachte er, solche Passagen waren der Grund dafür, dass der Mythus im Jahr 1934 auf den katholischen Index verbotener Bücher gekommen war. Aber das war kein Unglück – es war ein Geschenk des Himmels, der die Verkaufszahlen in die Höhe trieb. Über dreihunderttausend Exemplare verkauft, und nun liegt mein Mythus direkt hinter Mein Kampf an zweiter Stelle. Und trotzdem sitze ich hier und bin emotional bankrott.

Alfred legte das Buch weg, bettete den Kopf auf das Kissen und versank in Meditation. Mein Mythus hat mir so viel Freude bereitet, aber auch so viele Qualen! Diese hohlköpfigen Literaturkritiker – jeder Einzelne von ihnen verwendete den Begriff unbegreiflich. Warum habe ich darauf nicht reagiert? Warum fragte ich sie nicht in einem offenen Brief, ob sie einmal daran gedacht haben, dass mein Schreibstil vielleicht zu scharfsinnig und komplex für Insektengehirne sein könnte? Warum erinnerte ich sie nicht an die Konsequenzen einer Kollision zwischen Durchschnittsgeistern und großen Werken: Die Unterlegenen attackieren zwangsläufig die überlegenen Denker. Was will die Öffentlichkeit? Sie ruft nach der dummen Vulgarität Julius Streichers. Selbst Hitler zieht Streichers Prosa vor. Jedes Mal dreht er mir das Messer in der Wunde um, wenn er mich daran erinnert, dass Streichers Revolverblatt Der Stürmer sich regelmäßig besser verkauft als mein Beobachter.

Und allein der Gedanke daran, dass kein Einziger in der NSDAP-Führungsriege meinen Mythus gelesen hat! Nur Hess war so aufrichtig gewesen, mir schuldbewusst zu gestehen, dass er es ernsthaft versucht hatte, aber mit der schwierigen Prosa nicht zurechtgekommen war. Die anderen sprachen mich kein einziges Mal auf das Buch an. Man stelle sich das vor – ein herausragender Bestseller, und diese neidischen Drecksäcke ignorieren mich einfach. Aber warum sollte ich mich darüber aufregen? Was konnte ich von diesem Haufen schon erwarten? Das Problem ist Hitler, es ist immer Hitler. Je länger ich darüber nachdenke, desto sicherer bin ich, dass mein Abstieg an dem Tag begann, an dem ich hörte, dass Goebbels jedem erzählte, dass Hitler den Mythus, nachdem er erst ein paar Seiten daraus gelesen hatte, zur Seite geworfen und gerufen hatte: »Wer kann dieses Zeug verstehen?« Ja, damit hat er mir den Todesstoß versetzt. Am Ende ist es nur Hitlers Urteil, das zählt. Aber wenn es ihm nicht gefiel, warum hat er es dann in jede Bücherei stellen lassen und es auf der offiziellen NSDAP-Parteikarte als notwendige Lektüre aufgelistet? Er befiehlt sogar der Hitlerjugend, es zu lesen. Warum tut er das und weigert sich gleichzeitig beharrlich, sich hinter mein Buch zu stellen?

Ich kann seine Haltung in der Öffentlichkeit verstehen. Ich weiß, dass die Unterstützung der Katholiken für seine Position als Führer noch immer unabdingbar ist, und natürlich kann er ein Werk nicht öffentlich unterstützen, das so unverhohlen antichristlich ist. In den zwanziger Jahren, als wir jung waren, war Hitler mit meiner antireligiösen Haltung vollkommen einverstanden gewesen. Und ich weiß, dass es noch immer so ist. Im privaten Bereich geht er sogar noch weiter als ich – wie oft hörte ich ihn sagen, dass er die Pfarrer gleich neben den Rabbis aufhängen wolle! Ich verstehe seine öffentliche Haltung. Aber warum sagt er mir kein Wort der Bestätigung, wenn wir unter uns sind? Warum lädt er mich nicht ein einziges Mal zum Mittagessen und zu einem privaten Gespräch ein? Hess erzählte mir, dass Hitler, als der Erzbischof von Köln sich bei ihm über den Mythus beschwerte, ihm geantwortet hatte: »Ich kann mit dem Buch nichts anfangen. Das weiß Rosenberg. Ich habe es ihm gesagt. Ich will nichts über heidnische Bräuche wie den Wotankult und so weiter hören.« Als der Erzbischof sich damit nicht zufriedengab, verkündete Hitler: »Rosenberg ist unser Parteidogmatiker«, und dann tadelte er den Erzbischof dafür, dass er die Verkaufszahlen des Mythus durch seine vehementen Attacken nur noch weiter in die Höhe treibe. Und als ich anbot, aus der Partei auszutreten, wenn mein Mythus ihn in Verlegenheit brächte, wischte er diesen Vorschlag einfach beiseite – und lud mich wiederum nicht zu einem Gespräch unter vier Augen ein. Und dabei trifft Hitler sich ständig privat mit Himmler, und Himmler ist noch unverblümter und aggressiver antikatholisch als ich.

Ich weiß, dass er in gewisser Hinsicht Respekt vor mir hat. Er hat mir einen wichtigen Posten nach dem anderen angeboten: diplomatische Aufgaben in London, dann in Norwegen, dann Chef der ideologischen Ausbildung der NSDAP und der Deutschen Arbeitsfront und aller ihr zugehörigen Organisationen. Wichtige Positionen. Aber warum erfuhr ich von meinen Ernennungen nur brieflich? Warum ruft er mich nicht in sein Büro, schüttelt mir die Hand, setzt sich mit mir zusammen und redet mit mir? Bin ich so abstoßend?

Ja, es gibt keinen Zweifel: Hitler ist das Problem. Mehr als alles auf der Welt wünsche ich mir seine Zuwendung. Mehr als alles andere. Mir graut davor, ihn zu verdrießen. Ich führe die einflussreichste Zeitung in Deutschland; ich bin für die spirituelle und philosophische Ausbildung aller Nationalsozialisten zuständig. Aber schreibe ich die notwendigen Artikel? Gebe ich die notwendigen Vorlesungen? Plane ich die Curricula? Überwache ich die Ausbildung aller jungen Deutschen? Nein, Reichsleiter Rosenberg ist zu beschäftigt, um darüber zu brüten, weshalb er von Adolf Hitler kein liebevolles Lächeln, kein Nicken oder, Gott bewahre, eine Einladung zum Essen erhalten hat!

Ich widere mich an. Das muss endlich aufhören!

Alfred stand auf und ging an seinen Schreibtisch. Er griff in seinen Aktenkoffer und nahm seine »Nein«-Mappe heraus. (Er hatte zwei Mappen: eine »Ja«-Mappe, die positive Rezensionen, Fanpost und Zeitungsartikel enthielt, und eine »Nein«-Mappe, in der alle gegenteiligen Ansichten gesammelt wurden.) Die »Ja«-Mappe war schon ziemlich abgegriffen. Mehrmals pro Woche sah Alfred die schmeichelhaften Rezensionen und Briefe seiner Anhänger durch, die tägliches Stärkungsmittel für ihn waren – nicht anders als seine morgendliche Dosis Vitamine. Aber inzwischen ließ die Wirkung dieses Stärkungsmittels nach. Nun gingen ihm alle »Ja«-Kommentare kaum noch unter die Haut, höchstens einen Millimeter, und sie verflüchtigten sich schnell. Die »Nein«-Mappe andererseits war unbekanntes Terrain – eine Höhle, die selten aufgesucht wurde. Heute! Heute sollte der Wendepunkt sein! Er würde sich seinen Dämonen stellen. Als Alfred in die bisher unberührte Mappe griff, stellte er sich die überraschten Briefe und Artikel vor, die vor ihm Reißaus nehmen wollten. Ein Lächeln, das erste seit vielen Wochen, umspielte seine Lippen, als er sich zu seinem skurrilen Sinn für Humor gratulierte. Er nahm ein beliebiges Blatt heraus – es war an der Zeit, diese Torheit zu überwinden. Ein tapferer Mann zwingt sich dazu, täglich schmerzliche Dinge zu lesen, bis sie nicht mehr schmerzen. Er warf einen Blick darauf – ein Brief von Hitler mit dem Datum vom vierundzwanzigsten August 1931:

»Sehr geehrter Herr Rosenberg!

Ich lese soeben im Völkischen Beobachter Ausgabe 235/236, Seite l, einen Artikel ›Wirth will überlaufen?‹. Die Tendenz des Artikels ist, ein Abbröckeln der derzeitigen Regierungsform von uns aus zu verhindern. Ich selbst fahre nun kreuz und quer in Deutschland herum, um gerade das Gegenteil zu erreichen.

Ich darf daher bitten, daß mir meine eigene Zeitung durch taktisch unkluge Artikel nicht in den Rücken fällt. …

Mit deutschem Gruß!

Adolf Hitler«

Eine Welle von Verzweiflung schwappte über ihn. Der Brief war fünf Jahre alt, zeigte aber immer noch Wirkung, schmerzte noch immer. Schriftliche Wunden, von Hitler beigebracht, heilten nie. Durch heftiges Kopfschütteln versuchte Alfred, den Kopf freizubekommen. Denk über den Mann namens Hitler nach, sagte er zu sich. Er ist schließlich auch nur ein Mensch. Er schloss die Augen und ließ seinen Gedanken freien Lauf.

Ich führte Hitler des Langen und Breiten in die Geheimnisse der deutschen Kultur ein. Ich zeigte ihm die Unermesslichkeit der jüdischen Geißel. Ich schliff seine Gedanken hinsichtlich Rasse und Blut. Er und ich wanderten durch dieselben Straßen, saßen in denselben Kaffeehäusern, unterhielten uns ununterbrochen, arbeiteten gemeinsam an Artikeln für den Beobachter,und einmal zeichneten wir sogar gemeinsam. Aber das ist vorbei. Nun kann ich ihn nur mit Verwunderung beobachten und komme mir dabei wie eine Henne vor, die zu einem Habicht aufblickt. Ich war Zeuge, als er nach seiner Entlassung aus dem Gefängnis die in alle Winde zerstreuten Parteimitglieder wieder einsammelte, als er sich den Wahlen zum Parlament stellte, als er eine Propagandamaschinerie aufbaute, wie es sie bislang noch nie gab – eine Maschinerie, die die Postwurfsendung erfand und ständig Wahlkampf machte, auch wenn es keine Wahlen gab. Ich sah, wie er in den ersten paar Jahren Ergebnisse von unter fünf Prozent mit einem Schulterzucken abtat und immer mehr dazugewann, bis seine Partei 1930 mit achtzehn Prozent der Stimmen die zweitgrößte in Deutschland wurde. Und 1932 kündigte er mit riesigen Schlagzeilen an, dass die NSDAP mit achtunddreißig Prozent der Stimmen die größte Partei geworden war. Manche sagen, Goebbels sei das Superhirn gewesen, aber ich weiß, dass es Hitler war. Hinter allem stand Hitler. Ich dokumentierte jeden Schritt seines Weges für den Beobachter. Ich sah, wie er mit dem Flugzeug von Stadt zu Stadt reiste, sich an einem Tag überall im Land sehen ließ und die Bevölkerung davon überzeugte, dass er ein Übermensch war, fähig, überall zur gleichen Zeit zu sein. Ich bewunderte seine Furchtlosigkeit, als er bewusst Zusammenkünfte mitten in von Kommunisten kontrollierten Wohnvierteln organisierte und seinen Sturmtruppen befahl, die Bolschewisten auf den Straßen zu bekämpfen. Ich sah, wie er meinen Rat ausschlug und 1932 gegen Hindenburg antrat. Er erhielt nur siebenunddreißig Prozent der Stimmen, aber er zeigte mir, dass es richtig gewesen war, sich aufstellen zu lassen: Er wusste, dass niemand Hindenburg hätte schlagen können, aber die Wahl machte seinen Namen überall bekannt. Ein paar Monate später stimmte er einer Koalition einer Hitler/Papen-Regierung zu und war bald Kanzler. Ich verfolgte jeden einzelnen politischen Schritt und weiß immer noch nicht, wie er das angestellt hat.

Und der Reichstagsbrand. Ich erinnere mich, wie er um fünf Uhr früh mit wildem Blick in meinem Büro erschien: »Wo sind alle?«, brüllte und verlangte, in großer Aufmachung davon zu berichten, dass die Kommunisten den Reichstag in Brand gesetzt hätten. Ich glaube noch immer nicht, dass die Kommunisten etwas mit dem Brand zu tun hatten, aber egal – er nutzte den Brand als Geniestreich, um die Kommunistische Partei zu verbieten und selbst die absolute Macht zu ergreifen. Er erhielt nie die Stimmenmehrheit, nie mehr als achtunddreißig Prozent, und trotzdem hat er es geschafft – er ist der absolute Herrscher. Wie hat er das angestellt? Ich weiß es immer noch nicht!

Alfred wurde in seinen Tagträumen gestört, als es an der Tür klopfte und Dr. Gebhardt, gefolgt von Friedrich Pfister, eintrat. »Ich habe eine Überraschung für Sie, Reichsleiter Rosenberg. Ich bringe Ihnen einen alten Freund, der sich bei der Behandlung Ihres Zustandes vielleicht als nützlich erweisen könnte. Ich lasse Sie beide nun allein, damit Sie sich ungestört unterhalten können.«

Alfred starrte Friedrich lange an und sagte dann: »Du hast mich verraten. Du hast deinen Geheimhaltungsschwur gebrochen. Woher sonst hätte er wissen können, dass du und ich …«

Friedrich fuhr augenblicklich auf dem Absatz herum und verließ das Zimmer wortlos und ohne Alfred eines Blickes zu würdigen.

In Panik warf sich Alfred auf das Bett zurück, schloss die Augen und bemühte sich, seine Atmung zu kontrollieren.

Ein paar Minuten später kam Friedrich mit Dr. Gebhardt zurück, der sagte: »Dr. Pfister bat mich, Ihnen zu sagen, wie ich dazu kam, ihn auszuwählen. Erinnern Sie sich nicht mehr an unsere Unterhaltung vor drei oder vier Wochen, Herr Reichsleiter Rosenberg, in der ich Sie gefragt habe, ob Sie sich jemals einem Menschen voll und ganz anvertraut hätten? Darauf antworteten Sie mir wörtlich: ›Einem Freund aus Estland, der hier lebt, Dr. Friedrich Pfister!‹«

Alfred wiegte den Kopf hin und her. »Ich erinnere mich vage an unser Gespräch, weiß aber nicht mehr, ob ich seinen Namen genannt habe.«

»Doch, das haben Sie. Woher sonst hätte ich es wissen sollen? Oder woher hätte ich wissen können, dass er in Deutschland lebt? Letzte Woche, als Ihre Depression sich verschlimmerte und Sie nicht mehr mit mir sprechen wollten, beschloss ich, Ihren Freund ausfindig zu machen, da ich vermutete, dass ein Besuch vielleicht heilsam sein könnte. Als ich erfuhr, dass er bei der Wehrmacht ist, bat ich den Führer, ihn in die Hohenlychen-Klinik überstellen zu lassen.«

»Macht es Ihnen etwas aus«, fragte Friedrich, »Herrn Reichsleiter Rosenberg meine Antwort wiederzugeben?«

»Sie sagten nur, dass Sie ihn aus Estland kannten, als Sie dort aufwuchsen.«

»Und …«, drängte Friedrich.

»Sonst war eigentlich nichts mehr … außer, dass es Ihnen leid täte, Ihre vielen Patienten im Stich lassen zu müssen, die von Ihnen abhängig seien, aber dass nichts wichtiger sei, als den Befehlen des Führers zu gehorchen.«

»Darf ich mich kurz mit Herrn Reichsleiter Rosenberg allein unterhalten, bevor Sie gleich die Station verlassen?«

»Natürlich. Ich werde im Schwesternzimmer auf Sie warten.«

Als die Tür ins Schloss fiel, sagte Friedrich: »Sonst noch Fragen, Herr Reichsleiter Rosenberg?«

»Alfred bitte, Friedrich. Ich bin Alfred. Nenne mich Alfred.«

»Nun gut. Sonst noch Fragen, Alfred? Er wartet.«

»Du sollst mein Arzt werden? Ich versichere dir, dass ich das unter den alten Bedingungen begrüßen würde. Aber wie kann ich jetzt noch mit dir sprechen? Du bist in der Wehrmacht und verpflichtet, ihm Bericht zu erstatten.«

»Ja, ich verstehe dein Dilemma. Mir würde es an deiner Stelle ebenso gehen.«

Friedrich setzte sich auf den Stuhl, der neben dem Bett stand, und dachte einige Augenblicke nach. Dann erhob er sich, ging zur Tür und sagte: »Ich bin gleich wieder zurück.«

Kurz danach kam er mit Dr. Gebhardt wieder.

»Herr Doktor«, sprach er Dr. Gebhardt an, »ich habe den Befehl, mich um Herrn Reichsleiter Rosenberg zu kümmern, und natürlich werde ich diesem Befehl nach bestem Wissen Folge leisten. Aber es gibt ein Hindernis. Er und ich sind alte Bekannte, und wir besprechen schon seit langem persönliche Dinge. Wenn ich ihm helfen soll, ist es unabdingbar, dass er und ich absolut vertraulich sprechen können. Ich muss in der Lage sein, ihm absolute Vertraulichkeit zu garantieren. Ich weiß, dass tägliche Aufzeichnungen in der Krankenakte Pflicht sind, und ich bitte um die Erlaubnis, meine Aufzeichnungen nur auf seinen medizinischen Zustand zu beschränken.«

»Ich bin kein Psychiater, Dr. Pfister, aber in diesem Fall verstehe ich die Notwendigkeit vertraulicher Gespräche. Es ist zwar nicht das übliche Vorgehen, aber nichts ist wichtiger als Reichsleiter Rosenbergs Genesung und Rückkehr zu seiner wichtigen Arbeit. Ich bin mit Ihrer Forderung einverstanden.« Er salutierte vor den beiden Männern und verließ das Zimmer.

»Bist du jetzt beruhigt, Alfred?«

Alfred nickte. »Ich bin beruhigt.«

»Und es gibt keine anderen Fragen?«

»Ich bin zufrieden. Trotz des unerfreulichen Ausgangs unseres letzten Treffens habe ich seltsamerweise noch immer Vertrauen zu dir. Ich sage ›seltsamerweise‹, weil ich eigentlich überhaupt niemandem traue. Und ich brauche deine Hilfe. Letztes Jahr schon wurde ich hier in einem ähnlichen Zustand drei Monate lang stationär behandelt – ein tiefes schwarzes Loch, aus dem ich nicht herauskam. Ich war erledigt. Ich konnte nicht schlafen. Ich war erschöpft, konnte aber auch nicht stillsitzen, fand keine Ruhe.«

»Dein Zustand – wir nennen ihn ›agitierte Depression‹ – verschwindet fast immer nach drei bis sechs Monaten. Ich kann dir helfen, das abzukürzen.«

»Ich wäre dir unendlich dankbar. Alles – mein ganzes Leben – steht auf dem Spiel.«

»Dann machen wir uns an die Arbeit. Du kennst meinen Ansatz und wirst vermutlich nicht überrascht sein, wenn ich dir sage, dass unsere erste Aufgabe darin besteht, alle Hindernisse aus dem Weg zu räumen, die unserer Zusammenarbeit entgegenstehen könnten. Wie du habe auch ich Bedenken. Ich will mich kurz konzentrieren.«

Friedrich schloss die Augen und begann: »Es ist am besten, wenn ich reinen Tisch mache und einfach sage, was mir in den Sinn kommt. Ich habe einige Zweifel, was unsere Zusammenarbeit angeht. Wir sind zu unterschiedlich. Ich neige dazu, verstehen zu wollen, die verborgenen Wurzeln von Schwierigkeiten aufzudecken – das ist der Grundgedanke der psychoanalytischen Methode. Umfassendes Wissen beseitigt Konflikte und fördert die Heilung. Aber mit dir, fürchte ich, kann ich diesen Weg nicht gehen. Das letzte Mal, als ich versuchte, die Quelle deiner Schwierigkeiten zu erforschen, wurdest du wütend und defensiv und ranntest aus meinem Sprechzimmer. Deshalb weiß ich nicht recht, ob ich oder ob wenigstens dieser Ansatz hilfreich für dich sein kann.«

Alfred stand auf und lief im Zimmer herum.

»Wühle ich dich mit meiner Offenheit auf?«

»Nein, es sind nur meine Nerven. Ich kann nicht allzu lange sitzen. Ich schätze deine Aufrichtigkeit. Niemand spricht so offen mit mir. Du bist mein einziger Freund, Friedrich.«

Friedrich versuchte, diese Worte zu verdauen. Ohne zu wollen, fühlte er sich berührt. Und er war wütend, dass er ohne Vorankündigung in die Hohenlychen-Klinik überstellt worden war. Seine plötzliche Überstellung bedeutete, dass er eine große Zahl von Patienten mitten in ihrer Behandlung im Stich lassen musste, ohne ihnen ein genaues Datum für seine Rückkehr nennen zu können. Auch war er nicht begeistert davon, Alfred Rosenberg wiederzusehen. Sechs Jahre zuvor hatte er Alfred Rosenbergs Rücken angestarrt, als dieser mit finsteren Drohungen über die jüdischen Wurzeln seines Berufes aus seinem Sprechzimmer gestürmt war, und er war erleichtert gewesen, ihn nicht mehr wiedersehen zu müssen. Darüber hinaus hatte er versucht, den Mythus des zwanzigsten Jahrhunderts zu lesen. Aber wie für alle anderen war er auch für ihn unverständlich gewesen. Das Buch gehörte zu den Bestsellern, die alle kauften, aber niemand las. Das Wenige aber, das er las, hatte ihn aufgeschreckt. Alfred leidet vielleicht wirklich, niedergeschlagen gesteht er, dass ich sein einziger Freund sei, aber er ist gefährlich – gefährlich für Deutschland, für alle.

Die Gedanken im Mythus und in Mein Kampf wiesen Parallelen auf – er erinnerte sich, dass Alfred gesagt hatte, Hitler habe ihm seine Ideen gestohlen. Beide Bücher drehten ihm den Magen um – so abscheulich, so gemein waren sie. Und so bedrohlich, dass er an Emigration gedacht und schon an Carl Gustav Jung und an Eugen Bleuler geschrieben hatte, um sich nach einer Stelle am Krankenhaus in Zürich zu erkundigen, wo er sein Praktikum absolviert hatte. Aber dann kam der verfluchte Einberufungsbrief, in dem man ihm zu seiner Ernennung zum Oberleutnant der Wehrmacht gratulierte. Er hätte früher handeln müssen. Sein Analytiker Hans Meyer hatte ihn bereits gewarnt; er hatte Mein Kampf schon mehrere Jahre zuvor an einem Wochenende gelesen, hatte die Katastrophe kommen sehen und anschließend jedem Einzelnen seiner jüdischen Patienten empfohlen, sofort das Land zu verlassen. Er selbst war innerhalb eines Monats nach London emigriert.

Was also tun? Friedrich hatte den naiven Gedanken verworfen, Alfred helfen zu können, ein besserer Mensch zu werden – diese Vorstellung verbuchte er auf seine jugendliche Torheit. Seiner eigenen Karriere (und dem Wohlergehen seiner Frau und seiner beiden kleinen Söhne) zuliebe gab es nur eine gangbare Möglichkeit: den Befehlen Folge zu leisten, sein Bestes zu tun, um Alfred so schnell wie möglich aus dem Krankenhaus zu holen und dann zurück zu seiner Familie und seinen Patienten an seinen Einsatzort in Berlin zu eilen. Er musste die Verachtung für seinen Patienten begraben und professionell arbeiten. Sein erster Schritt war die Konstruktion eines klaren Therapierahmens.

»Deine Bemerkung über unsere Freundschaft berührt mich«, sagte er. »Aber deine Feststellung, ich sei dein einziger Freund, macht mir auch Sorge. Jeder braucht Freunde und Vertraute. Wir sollten deine Isolation ansprechen: Es besteht kein Zweifel, dass sie eine Hauptrolle bei deiner Krankheit spielt. Was unsere Zusammenarbeit betrifft, will ich dir noch ein paar andere Bedenken mitteilen. Diese sind schwieriger auszudrücken, aber es ist notwendig, sie anzusprechen. Ich habe ebenfalls persönliche Anliegen. Wie du weißt, ist es mittlerweile ein Verbrechen, irgendwelche Standpunkte der Partei in Frage zu stellen. Alles, was man sagt, wird überwacht, und zweifellos wird diese Überwachung im Laufe der Zeit noch zunehmen. Das ist bei autoritären Regimes immer so. Ich bin wie die Mehrzahl der Deutschen nicht mit allen Lehren der NSDAP einverstanden. Du weißt natürlich selbst, dass Hitler nie eine Stimmenmehrheit bekommen hat. Das letzte Mal, als wir uns trafen – das ist jetzt viele Jahre her – sechs Jahre, glaube ich –, bist du aus meinem Sprechzimmer gestürmt, und zwar – erlaube mir, das zu sagen – vor Wut wie von Sinnen. In diesem Zustand könnte ich nicht darauf vertrauen, dass du meine Privatsphäre respektierst. Und das wird dazu führen, dass ich mich eingeschränkt fühle und meine Arbeit mit dir weniger effektiv sein wird. Das ist ziemlich wortreich ausgedrückt, aber ich glaube, du verstehst, was ich meine: Vertraulichkeit muss auf Gegenseitigkeit beruhen. Du hast mein persönliches und professionelles Wort, dass alles, was du sagst, hier in diesem Raum bleibt. Und ich brauche die gleiche Sicherheit.«

Beide Männer schwiegen eine Weile, bis Alfred sagte: »Ja, das verstehe ich. Ich gebe dir mein Wort, dass alle deine Bemerkungen vertraulich bleiben. Und ich verstehe auch, dass du dich nicht sicher fühlen kannst, wenn ich die Beherrschung verliere.«

»Richtig. Deshalb müssen wir in einem sichereren Rahmen arbeiten und danach trachten, uns beiden ein Gefühl von Sicherheit zu geben.«

Friedrich sah sich seinen Patienten genauer an. Alfred war unrasiert. Dunkle Säcke unter den Augen legten Zeugnis von schlaflosen Nächten ab, und seine kummervolle Miene appellierte an Friedrichs ärztliche Instinkte: Er verdrängte seine Antipathie und machte sich an die Arbeit. »Sag mir, Alfred, was ist unser Ziel? Ich möchte dir helfen. Was möchtest du von mir bekommen?«

Alfred zögerte einige Augenblicke lang und sagte dann: »Was hältst du von folgender Idee? In den letzten Wochen habe ich ziemlich viel gelesen.« Er zeigte auf den Stapel Bücher, der sich im Zimmer auftürmte. »Ich befasse mich wieder mit den Klassikern, insbesondere mit Goethe. Weißt du noch, dass ich dir von meinem Problemen mit dem stellvertretenden Direktor Epstein kurz vor meinem Schulabschluss erzählt habe?«

»Hilf mir auf die Sprünge.«

»Wegen einer antisemitischen Rede, die ich als Klassensprecher gehalten hatte, wurde von mir verlangt, einige Abschnitte aus Goethes Autobiographie auswendig zu lernen.«

»Ach ja, ja – jetzt fällt mir alles wieder ein. Ein paar Abschnitte über Spinoza. Sie gaben dir diese Aufgabe, weil Goethe Spinoza so sehr bewundert hat.«

»Ich hatte eine solche Angst, vielleicht keinen Abschluss zu erhalten, dass ich die Passagen damals auswendig gelernt habe. Ich könnte sie dir sogar jetzt noch herunterleiern, aber um es kurz zu machen, fasse ich nur die wichtigsten Punkte zusammen: Goethe schrieb, dass er in einer nervösen Gemütsverfassung gewesen sei und die Lektüre von Spinoza ihm eine erstaunliche Beruhigung seiner Leidenschaften vermittelt hätte. Spinozas mathematische Methode hätte ihm ein wunderbares Gleichgewicht zu seinen aufwühlenden Gedanken gegeben und zu Ruhe und einem disziplinierteren Denken geführt, wodurch es ihm gelungen war, seinen eigenen Schlussfolgerungen zu vertrauen und sich vom Einfluss anderer frei zu fühlen.«

»Gut gesagt, Alfred. Und im Hinblick auf dich und mich …?«

»Nun, das möchte ich von dir bekommen. Ich will das Gleiche, was Goethe von Spinoza bekommen hat. Das alles brauche ich auch. Ich möchte ein Beruhigungsmittel meiner Leidenschaften. Ich möchte …«

»Das ist gut. Sehr gut. Warte einen Augenblick. Das möchte ich kurz aufschreiben.« Friedrich schraubte seinen Füllfederhalter auf, ein Geschenk seines Supervisors, und schrieb: »Beruhigungsmittel der Leidenschaften«. Alfred fuhr fort, und Friedrich schrieb mit. »Freiheit vom Einfluss anderer. Gleichgewicht. Ruhiges, diszipliniertes Denken.«

»Gut, Alfred. Es wäre für uns beide gut, uns wieder Spinoza zuzuwenden. Und wenn wir obendrein versuchen, seine Ideen anzuwenden, könnte das einem philosophisch geneigten Geist wie dem deinen entgegenkommen. Vielleicht hält uns dieses Vorgehen auch von strittigen Themen ab. Treffen wir uns doch morgen zur selben Zeit, und inzwischen mache ich mich an die Arbeit und werde in Spinozas Werk schmökern. Darf ich mir deine Autobiographie von Goethe ausleihen? Und hast du noch dein Exemplar der Ethik

»Es ist noch dasselbe Exemplar, das ich gekauft habe, als ich zwanzig war. Übrigens soll Goethe die Ethik ein ganzes Jahr lang in seiner Tasche mit sich herumgetragen haben. Ich habe das nicht getan. Ehrlich gesagt, habe ich sie seit Jahren nicht mehr in die Hand genommen. Und trotzdem bringe ich es nicht über mich, sie loszuwerden.«

Obwohl Friedrich ein paar Minuten zuvor noch unbedingt gehen wollte, setzte er sich nun wieder hin. »Ich weiß, was ich machen werde. Ich werde versuchen, die Passagen und Gedanken zu lokalisieren, die Goethe geholfen haben und die dir vielleicht auch helfen werden. Aber ich glaube, ich muss mehr darüber erfahren, was diesen jetzigen Depressionsschub ausgelöst hat.«

Alfred erzählte von seiner Selbstanalyse, die er vorhin durchgeführt hatte. Er erzählte Friedrich von seiner fehlenden Freude an seinen Erfolgen und dass der Mythus, seine größte Errungenschaft, ihm dermaßen zugesetzt hatte. Er schüttete ihm sein Herz aus, insbesondere dahingehend, dass alles unvermeidlich immer wieder bei Hitler endete. Alfred schloss seine Ausführungen mit: »Ich erkenne jetzt deutlicher denn je, dass mein ganzes Selbstwertgefühl von Hitlers Meinung von mir abhängt. Darüber muss ich hinwegkommen. Ich bin ein Sklave der Sehnsucht nach seiner Anerkennung.«

»Ich erinnere mich an deinen inneren Kampf mit diesem Thema in unserem letzten Gespräch. Du erzähltest mir, dass Hitler immer die Gesellschaft anderer bevorzugte und dich nie in den inneren Kreis einbezog.«

»Nimm jetzt das Gefühl, das ich damals hatte, multipliziere es mit zehn oder auch mit hundert. Es ist ein Fluch; es hat sich in jeden Winkel meiner Seele eingenistet. Ich muss es austreiben.«

»Ich werde mein Bestes geben. Mal sehen, was Benedictus Spinoza uns anzubieten hat.«

Am folgenden Nachmittag betrat Friedrich Alfreds Zimmer und wurde von einem besser rasierten und besser gekleideten Patienten empfangen, der flott aufstand und sagte: »Ah, Friedrich, ich brenne darauf anzufangen. Die letzten vierundzwanzig Stunden habe ich an kaum etwas anderes gedacht als an unser heutiges Treffen.«

»Du siehst besser aus.«

»So fühle ich mich auch. Es geht mir so gut wie seit Wochen nicht mehr. Wie ist das möglich? Obwohl zwei unserer Treffen im Bösen endeten, habe ich trotzdem davon profitiert, dich zu sehen. Wie machst du das, Friedrich?«

»Vielleicht bringe ich Hoffnung?«

»Teilweise ist es so. Aber da ist noch etwas anderes.«

»Ich glaube, es hat viel mit deinem sehr menschlichen Bedürfnis nach Aufmerksamkeit und Beziehung zu tun. Das müssen wir auf unserer Agenda behalten – es ist wichtig. Aber im Augenblick wollen wir uns wir uns erst einmal auf unseren Aktionsplan konzentrieren. Ich habe ein paar Passagen bei Spinoza herausgesucht, die mir relevant erscheinen. Fangen wir mit diesen beiden Sätzen an.«

Er schlug die Ethik auf und las:

»Verschiedene Menschen können von einem und demselben

Objekt auf verschiedene Weise erregt werden …

derselbe Mensch kann von einem und demselben

Objekt zu verschiedenen Zeiten auf verschiedene

Weise erregt werden.«

Als er Alfreds verwirrten Blick bemerkte, erklärte Friedrich: »Ich zitiere das nur als Ausgangspunkt für unsere Arbeit. Spinoza sagt einfach, dass jeder von uns von einem identischen, äußeren Objekt unterschiedlich beeinflusst werden kann. Deine Reaktion auf Hitler mag sich von der Reaktion anderer Menschen sehr unterscheiden. Andere mögen ihn so lieben und verehren wie du, hingegen hängt ihr ganzes Wohlbefinden und Selbstbewusstsein vielleicht nicht so ausschließlich davon ab, wie sie ihn erleben. Könnte das nicht so sein?«

»Vielleicht. Aber ich kann nicht wissen, welche inneren Erfahrungswerte andere Leute haben.«

»Ich verbringe einen großen Teil meines Lebens mit der Erforschung dieses Gebietes und bekomme viele Anhaltspunkte, die Spinozas Postulat unterstützen. So reagieren meine Patienten sogar bei ihrer allerersten Sitzung durchaus unterschiedlich auf mich. Manche misstrauen mir, während andere vielleicht sofort Vertrauen zu mir fassen, und wieder andere meinen, ich sei darauf aus, ihnen Schaden zuzufügen. Und dabei glaube ich, dass ich mit jedem Einzelnen von ihnen gleich umgehe. Wie ist das zu erklären? Nur durch die Annahme, dass es unterschiedliche innere Wahrnehmungen auf ein und dasselbe Ereignis gibt.«

Alfred nickte. »Aber was hat das mit meiner Situation zu tun?«

»Gut. Lass uns beim Punkt bleiben. Ich will damit nur sagen, dass deine Beziehung zu Hitler auf gewisse Weise eine Funktion deiner eigenen Seele ist. Meine Argumentation ist einfach. Wir müssen mit dem Ziel beginnen, dich zu ändern, statt zu versuchen, Hitlers Verhalten zu ändern.«

»Das akzeptiere ich, aber ich bin froh, dass du ›auf gewisse Weise‹ gesagt hast, denn Hitler wirkt auf alle einschüchternd. Sogar Göring sagte einmal in einem Anfall von Offenheit zu mir, dass ›alle in Hitlers Nähe Jasager sind, weil alle Neinsager sich inzwischen die Radieschen von unten anschauen.‹«

Friedrich nickte.

»Aber du hast mich davon überzeugt, dass er mich ganz besonders einschüchtert«, fuhr Alfred fort, »und ich möchte, dass du mir hilfst, das zu ändern. Hat Spinoza einen Vorschlag, wie man vorgehen könnte?«

»Sehen wir uns an, was er darüber sagt, wie man sich vom Einfluss anderer befreit«, sagte Friedrich und ging seine Aufzeichnungen durch. »Das gehört zu den Dingen, die Goethe von Spinoza lernte. Hier gibt es eine Passage in Teil Vier Über die menschliche Unfreiheit oder die Macht der Affekte: ›Denn der den Affekten unterworfene Mensch steht nicht unter seinen eigenen Gesetzen, sondern unter denen des Schicksals …‹ Das beschreibt, was mit dir geschieht, Alfred. Du bist deinen Affekten unterworfen, Du wirst von Wellen der Besorgnis, Angst und Selbstverachtung hin- und hergeworfen. Hört sich das vertraut an?«

Alfred nickte.

»Spinoza sagt weiterhin ungefähr Folgendes: Wenn deine Zufriedenheit mit dir selbst von der Liebe der Menge genährt wird, wirst du immer besorgt sein, denn eine solche Liebe der Menge ist wankelmütig. Er nennt das ›eitle Zufriedenheit‹, weil sie in Wirklichkeit gar keine ist.«

»Im Gegensatz zu was? Was wäre dann volle Zufriedenheit?«

»Sowohl Goethe als auch Spinoza postulierten, dass wir unser Schicksal niemals an etwas Bestechlichem oder Wankelmütigem festmachen sollen. Spinoza mahnt uns vielmehr, etwas Unbestechliches und ewig Gültiges zu lieben.«

»Was bedeutet?«

»Was bedeutet, dass Gott oder vielmehr Spinozas Verständnis von Gott identisch mit der Natur ist. Erinnere dich an Spinozas Worte, die Goethe so sehr beeinflussten: ›Wer Gott liebt, kann nicht wünschen, daß Gott ihn wiederliebt.‹

Er sagt, dass wir in Torheit leben, wenn wir Gott in der Erwartung lieben, dass wir dafür auch die Liebe Gottes bekommen. Spinozas Gott ist kein empfindendes Wesen. Wenn wir Gott lieben, können wir keine Liebe zurückbekommen, aber wir erhalten andere Segnungen.«

»Welche anderen Segnungen?«

»Etwas, das Spinoza als die höchste Form der Seligkeit bezeichnet – Amor dei intellectualis. Hier höre dir die entsprechende Passage in der Ethik an:

›Nützlich fürs Leben ist daher vor allem, den Verstand oder die Vernunft, soviel als möglich zu vervollkommnen. Darin allein besteht des Menschen höchstes Glück oder die Glückseligkeit. Denn die Glückseligkeit ist nichts anderes als die Zufriedenheit des Geistes, welche aus der intuitiven Erkenntnis Gottes entspringt.‹

»Wie du siehst«, fuhr Friedrich fort, »besteht Spinozas religiöses Empfinden anscheinend aus der Ehrfurcht, die jemand empfindet, wenn er die großen Zusammenhänge der Naturgesetze wahrnimmt. Diese Idee machte Goethe sich voll und ganz zu eigen.«

»Ich versuche, dir zu folgen, Friedrich, aber ich brauche etwas Greifbares, etwas, womit ich arbeiten kann.«

»Ich glaube, ich bin kein guter Lehrmeister. Kehren wir zu deiner ursprünglichen Forderung zurück: ›Ich will das Gleiche, das Goethe von Spinoza bekommen hat.‹«

Friedrich warf einen Blick in seine Aufzeichnungen. »Hier steht, was du bekommen wolltest: ›Seelenfrieden, Gleichgewicht, Freiheit vom Einfluss anderer und ein ruhiges, diszipliniertes Denken‹, um zu einer klaren Weltsicht zu gelangen. Dein Gedächtnis ist übrigens ausgezeichnet. Gestern Abend las ich nochmals Goethes Bemerkungen zu Spinoza durch: Du hast ihn sehr präzise zitiert. Obwohl er Spinoza als edlen, bemerkenswerten Menschen betrachtete, der ein beispielhaftes Leben führte, und obwohl er Spinoza zugutehielt, dass er sein Leben änderte, gibt er uns unglücklicherweise keine für uns nützliche, genauere Auskunft darüber, auf welche Art und Weise Spinoza ihm geholfen hat.«

»Und was machen wir jetzt?«

»Nun, ich schlage folgendes vor: Ich gebe dir ein paar informative Vermutungen darüber, auf welche Weise Spinoza ihn beeinflusste. Beachte zunächst, dass Goethe bestimmte Spinoza-ähnliche Gedanken schon formuliert hatte, bevor er überhaupt mit Spinoza in Berührung kam – dass alles in der Natur zusammenhängt, die Vorstellung, dass die Natur selbstregulierend ist, mit nichts außerhalb von ihr oder über ihr. Aus diesem Grund fand Goethe viel Zustimmung, als er Spinoza las. Beide Männer erfuhren einen Zustand extremer Freude, als sie das Zusammenspiel aller Dinge in der Natur begriffen. Und denke daran, dass Gott für Spinoza identisch mit der Natur war. Er verweist nicht auf den christlichen oder jüdischen Gott, sondern auf eine allgemein gültige Religion der Vernunft, in welcher es keine Christen, Juden, Muslime oder Hindus mehr gibt.«

»Hmm. Mir war nicht bewusst, dass er alle Religionen beseitigen wollte. Interessant.«

»Er war ein Universalist. Er rechnete damit, dass konventionelle Religionen in dem Maße verschwinden, in dem immer mehr Menschen sich auf die Suche nach einem möglichst umfassenden Verständnis des Kosmos machen. Ein wenig sind wir schon vor ein paar Jahren darauf eingegangen. Spinoza war der überragende Rationalist. Er sah einen endlosen Strom von Kausalität auf der Welt. Für ihn gibt es keine Entität wie Wille oder Willenskraft. Nichts geschieht aus einer Laune heraus. Alles wird von etwas Vorausgegangenem verursacht, und je mehr wir uns dem Verständnis dieser Verknüpfung von Ursachen widmen, desto freier werden wir sein. Es war diese Sicht eines geordneten Universums mit vorhersehbaren, mathematisch abgeleiteten Gesetzen, eine Welt mit einer unendlichen erklärenden Macht, die Goethe ein Gefühl von Ruhe vermittelte.«

»Genug, Friedrich, in meinem Kopf dreht sich alles. Diese natürliche Planmäßigkeit lässt mich allerdings nur schaudern. Das ist so abstrus.«

»Ich gehe nur deiner Anfrage nach, auf welche Weise Goethe Hilfe von Spinoza bekam, und deinem Wunsch, die gleichen Segnungen zu erhalten. In Spinozas Werk gibt es nicht nur eine einzige Technik. Er bietet nicht nur eine einzige Übung wie Bekenntnis, Katharsis oder Psychoanalyse an. Man muss ihm Schritt für Schritt folgen, um zu seiner allumfassenden Ansicht über die Welt, das Verhalten und die Moral zu gelangen.«

»Ich leide Qualen wegen Hitler. Was würde er vorschlagen, wie ich sie lindern könnte?«

»Spinoza vertrat die Auffassung, dass wir Qualen und alle menschlichen Leidenschaften dadurch überwinden können, dass wir zu dem Verständnis gelangen, dass die Welt aus Logik gewebt ist. Sein Glaube daran ist so stark, dass er sagt …«, Friedrich blätterte in dem Buch, »… er werde ›die menschlichen Handlungen und Begierden geradeso betrachten, als handelte es sich um Linien, Flächen oder Körper‹.«

»Und was mich und Hitler betrifft?«

»Er hätte bestimmt gesagt, dass du Leidenschaften ausgesetzt bist, die eher von unangemessenen Ideen gesteuert werden als von Ideen, die aus einer aufrichtigen Suche nach dem Verständnis des Wesens der Realität fließen.«

»Und wie befreit man sich von diesen unangemessenen Ideen?«

»Er legt explizit dar, dass eine Leidenschaft aufhört, eine Leidenschaft zu sein, sobald wir eine klarere und feinere Vorstellung davon bilden – und zwar das kausative Gefüge, das der Leidenschaft zugrunde liegt.«

Alfred sagte nichts mehr, sank in seinem Stuhl zusammen und machte ein verkniffenes Gesicht, als habe er geronnene Milch getrunken. »Das hat etwas sehr Beunruhigendes an sich. Sehr beunruhigend. Ich glaube, ich beginne, den Juden in Spinoza zu sehen – er hat etwas Schlaffes, Blasses, Schwaches und Antideutsches. Er lehnt den Willen ab und stempelt Leidenschaft als minderwertig ab, während wir modernen Deutschen den genau gegenteiligen Standpunkt vertreten. Leidenschaft und Wille sind keine Merkmale, die beseitigt werden müssen. Die Leidenschaft ist das Herz und die Seele des Volkes, deren Trinität Mut, Loyalität und physische Kraft ist. Ja, es besteht kein Zweifel: Spinoza hat etwas Antideutsches an sich.«

»Alfred, du lässt dich zu schnell zu Schlussfolgerungen hinreißen. Weißt du noch, dass du damals die Ethik hingeworfen hast, weil die ersten paar Seiten mit abstrusen Axiomen und Definitionen vollgepflastert waren? Um Spinoza so zu verstehen, wie Goethe es tat, müssen wir uns mit seiner Sprache vertraut machen und Schritt für Schritt, Lehrsatz für Lehrsatz der Konstruktion seines Weltbildes folgen. Du bist Wissenschaftler. Ich bin sicher, dass du Jahre mit geschichtlichen Recherchen für deinen Mythus zugebracht hast. Und dennoch weigerst du dich, Spinoza, einem der größten Denker in der Geschichte, mehr als einen flüchtigen Blick auf seine Kapitelüberschriften zuzugestehen. Die großen deutschen Intellektuellen haben sich tief in sein Werk vergraben. Gib ihm die Zeit, die er verdient.«

»Ständig verteidigst du die Juden.«

»Er repräsentiert nicht die Juden. Er tritt für die reine Vernunft ein. Die Juden haben ihn verstoßen.«

»Seit langem habe dich schon davor gewarnt, mit Juden zusammen zu studieren. Ich habe dich davor gewarnt, dieses jüdische Gebiet zu betreten. Ich habe dich vor der großen Gefahr gewarnt, in der du dich befindest.«

»Du kannst dich entspannen. Die Gefahr ist vorüber. Alle Juden im Psychoanalytischen Institut haben das Land verlassen. Darunter auch Albert Einstein. Und all die anderen großen jüdisch-deutschen Wissenschaftler. Und auch die großen deutschen, nichtjüdischen Schriftsteller – wie Thomas Mann und zweihundertfünfzig unserer begnadetsten Schriftsteller. Glaubst du wirklich, dass das unser Land stärkt?«

»Mit jedem Juden oder Judenfreund, der das Land verlässt, wird Deutschland stärker und reiner.«

»Glaubst du, ein solcher Hass …«

»Es geht nicht um Hass. Es geht darum, die Rasse zu bewahren. Für Deutschland ist die Judenfrage erst dann gelöst, wenn der letzte Jude den großdeutschen Raum verlassen hat. Ich wünsche ihnen nichts Schlimmes. Ich will nur, dass sie woanders leben.«

Friedrich hatte gehofft, Alfred zu zwingen, die Konsequenzen seiner Ziele zu betrachten. Er spürte die Sinnlosigkeit, diesen Pfad weiter zu beschreiten, konnte sich aber nicht beherrschen. »Empfindest du es nicht als schlimm, Millionen von Menschen zu entwurzeln und mit ihnen – ja was eigentlich – zu machen?«

»Die müssen woandershin – nach Russland, Madagaskar, was weiß ich.«

»Benutze deine Vernunft! Du hältst dich für einen Philosophen …«

»Es gibt höhere Werte als Vernunft. Nämlich Ehre, Blut, Mut.«

»Überlege dir die Konsequenzen dessen, was du vorschlägst, Alfred. Ich bitte dich dringend, den Mut aufzubringen, dir die menschlichen Konsequenzen deiner Vorschläge anzusehen, und zwar genau anzusehen. Aber vielleicht kennst du sie ja bis zu einem gewissen Grad schon. Vielleicht stammt deine beträchtliche Unruhe aus dem Teil deines Gehirns, das um das Grauen weiß …«

Es klopfte. Alfred stand auf, ging zur Tür, öffnete sie und erschrak, als er Rudolf Hess sah.

»Heil Hitler, Reichsleiter Rosenberg. Der Führer ist hier und will Sie besuchen. Er hat Neuigkeiten für Sie und erwartet Ihr Erscheinen im Konferenzraum. Ich werde draußen warten und Sie begleiten.«

Alfred erstarrte einen Augenblick lang. Dann streckte er sich, ging zu seinem Schrank und nahm seine Uniform heraus. Er drehte sich zu Friedrich um – und sah fast überrascht aus, dass er noch immer da war. »Herr Oberleutnant Pfister, begeben Sie sich auf Ihr Zimmer. Warten Sie dort auf mich.«

Schnell legte er die Uniform an, stieg in die Stiefel und ging zu Hess hinaus. Schweigend marschierten die beiden auf den Raum zu, in dem Hitler sie erwartete.

Hitler stand auf, um Alfred zu begrüßen, erwiderte dessen militärischen Gruß, zeigte auf einen Stuhl und bedeutete Hess, draußen zu warten.

»Gut sehen Sie aus, Rosenberg. Ganz und gar nicht wie ein Krankenhauspatient. Ich bin erleichtert.«

Alfred, von Hitlers Leutseligkeit geschmeichelt, murmelte ein Dankeschön.

»Gerade habe ich Ihren Artikel im Völkischen Beobachter vom letzten Jahr über die Verleihung des Nobelpreises an Carl von Ossietzky noch einmal gelesen. Hervorragende journalistische Arbeit, Rosenberg. Weit besser als der farblose Kram, der während Ihrer Abwesenheit in unserer Zeitung veröffentlicht wird. Genau der richtige Ton von Würde und Aufschrei gegenüber dem Nobelkomitee, das den Friedenspreis einem Bürger verleiht, der in seinem eigenen Land wegen Hochverrats hinter Gittern sitzt. Ich bin mit Ihrer Auffassung voll und ganz einverstanden. Es ist wirklich eine Beleidigung und ein Frontalangriff gegen das souveräne Reich. Bitte bereiten Sie den Nachruf auf Ossietzky vor. Er verträgt das Konzentrationslager nicht sehr gut, und vielleicht haben wir Glück, und wir können schon bald seinen Tod melden.

Aber ich bin heute nicht nur gekommen, um mich nach Ihrem Befinden zu erkundigen und Ihnen meine Grüße zu überbringen, sondern um Ihnen auch Neuigkeiten mitzuteilen. Mir hat Ihr Vorschlag in dem Artikel ausgesprochen gut gefallen, dass Deutschland die Arroganz von Stockholm nicht mehr tolerieren sollte und wir unser eigenes Gegenstück zum mittlerweile anrüchigen Nobelpreis ins Leben rufen sollten. Ich bin aktiv geworden und habe ein Auswahlkomitee geschaffen, das Kandidaten für den deutschen Nationalpreis für Kunst und Wissenschaft in Erwägung ziehen soll. Ich habe Müller-Erfurt beauftragt, ein aufwendiges, diamantbesetztes Pendant zu entwerfen. Es wird einen Preis in Höhe von hunderttausend Reichsmark geben. Ich möchte, dass Sie als Erster erfahren, dass ich Sie für den ersten Deutschen Nationalpreis vorgeschlagen habe. Hier ist ein Exemplar der öffentlichen Verlautbarung, die ich in Kürze herausgeben werde.«

Alfred nahm das Blatt in die Hand und las begierig:

»Die nationalsozialistische Bewegung und darüber hinaus das ganze deutsche Volk werden es mit tiefer Genugtuung begrüßen, daß der Führer in Alfred Rosenberg einen seiner ältesten und treuesten Mitkämpfer durch Verleihung des Deutschen Nationalpreises auszeichnet.«

»Danke. Danke, mein Führer. Danke für den stolzesten Augenblick in meinem Leben.«

»Und wann werden Sie wieder an Ihre Arbeit gehen? Der Völkische Beobachter braucht Sie.«

»Morgen. Ich bin jetzt vollkommen einsatzfähig.«

»Der neue Arzt, dieser Freund von Ihnen, muss ein Wunderarzt sein. Wir sollten ihn belobigen und befördern.«

»Nein, nein – ich gesundete bereits, bevor er eintraf. Er verdient keine Belobigung. Übrigens wurde er in diesem Freud-Institut in Berlin ausgebildet, das von Juden geführt wurde, und vergießt bittere Tränen darüber, dass die jüdischen Psychiater allesamt das Land verlassen haben. Ich habe es versucht, aber ich glaube nicht, dass ich den Juden in ihm austreiben kann. Wir sollten ein Auge auf ihn haben. Vielleicht hat er ein wenig Resozialisierung nötig. Und nun mache ich mich an die Arbeit. Heil, mein Führer!«

Aufgekratzt marschierte Alfred in sein Zimmer und begann sogleich zu packen. Ein paar Minuten später klopfte Friedrich an seine Tür.

»Alfred, du reist ab?«

»Ja, ich reise ab.«

»Was ist geschehen?«

»Was geschehen ist, ist, dass ich keinen Bedarf mehr an Ihren Diensten habe, Herr Oberleutnant Pfister. Kehren Sie augenblicklich auf Ihren Posten nach Berlin zurück.«

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