Epilog

Bento beendete 1670 im Alter von achtunddreißig Jahren seinen Theologisch-Politischen Traktat. Sein Verleger prophezeite völlig zu Recht, dass das Buch als aufrührerisch angesehen würde. Deshalb wurde es anonym veröffentlicht, unter der Imprimatur fiktiver Verlage in fiktiven Städten. Der Verkauf wurde von zivilen wie auch religiösen Autoritäten eilig verboten. Gleichwohl zirkulierten zahlreiche Exemplare im Untergrund.

Ein paar Monate später übersiedelte Spinoza von Voorburg nach Den Haag, wo er den Rest seines Lebens verbrachte. Zuerst mietete er eine bescheidene Dachkammer im Haus der Witwe van der Werve und dann, ein paar Monate später, sogar noch preiswertere Unterkünfte – ein einziges, großes Zimmer im Haus von Hendrik van der Spyck, einem Meistermaler von Innenräumen. Ein Leben der Beschaulichkeit – das war es, was Spinoza wollte und was er in Den Haag auch fand. Dort verbrachte er seine Tage damit, die großen Werke in seiner Bibliothek zu lesen, an der Ethik zu arbeiten und Linsen zu schleifen. An den Abenden rauchte er seine Pfeife und plauderte mit van der Spyck, dessen Frau und deren sieben Kindern, wenn er nicht zu sehr in seine Arbeit vertieft war, um sein Zimmer zu verlassen, was oft mehrere Tage hintereinander der Fall sein konnte. An Sonntagen begleitete er die Familie manchmal in die nahegelegene Nieuwe Kerk und lauschte der Predigt.

Ein Husten, der sich nie besserte und oft von blutigem Auswurf begleitet war, schwächte ihn von Jahr zu Jahr mehr. Vielleicht hatte das ständige Einatmen des Glasstaubs während seines optischen Arbeitens seine Lungen geschädigt, aber aller Wahrscheinlichkeit nach litt er wie seine Mutter und andere Familienmitglieder an Tuberkulose. Am zwanzigsten Februar 1677 fühlte er sich so schwach, dass er einen Arzt kommen ließ, der Frau van der Spyck anwies, ein altes Huhn zu kochen und Spinoza die fette Brühe einzuflößen. Sie folgte seinen Anweisungen, und am folgenden Morgen schien es ihm besser zu gehen. Die Familie ging am Nachmittag in die Kirche, und als sie zwei Stunden später zurückkehrte, war Spinoza im Alter von vierundvierzig Jahren gestorben.

Spinoza lebte seine Philosophie: Er erreichte Amor dei intellectualis, befreite sich von der Knechtschaft störender Leidenschaften und blickte seinem Lebensende mit heiterer Gelassenheit entgegen. Doch hinterließen dieses stille Leben und dieser stille Tod in ihrem Gefolge große Turbulenzen, die selbst bis zum heutigen Tag für Aufruhr sorgen: Viele verehren ihn und wollen ihn wiederauferstehen lassen, während andere ihn ausstoßen und auf das Schärfste kritisieren.

Obwohl er kein Testament hinterließ, war es ihm doch wichtig, seinen Vermieter anzuweisen, im Falle seines Todes seinen Schreibtisch und dessen Inhalt umgehend an seinen Verleger Rieuwertsz nach Amsterdam zu schicken. Van der Spyck kam Spinozas Wunsch nach: Er machte den Schreibtisch transportfertig und schickte ihn mit der Trekschuit nach Amsterdam, wo er unversehrt eintraf. Die versperrten Schubladen enthielten die Ethik und andere kostbare, noch unveröffentlichte Manuskripte sowie Korrespondenz.

Bentos Freunde machten sich sofort an die Arbeit, die Unterlagen zu editieren. Entsprechend Spinozas Anweisungen entfernten sie alle persönlichen Passagen aus den Briefen und bewahrten nur deren philosophische Inhalte.

Wenige Monate nach Spinozas Tod wurden seine Posthumen Werke (welche die Ethik, den unvollendeten Tractatus politicus und De Intellectus Emendatione, eine Auswahl aus dem Briefwechsel Spinozas sowie ein Kompendium der hebräischen Grammatik und den Traktat über den Regenbogen enthielten) sowohl auf Holländisch als auf Lateinisch veröffentlicht, wiederum ohne den Namen des Verfassers, mit einem fiktiven Verleger und einem falschen Veröffentlichungsort. Wie erwartet, ächtete der holländische Staat das Buch sofort per öffentlichen Erlass, in welchem er es der profanen Gotteslästerung und atheistischer Ansichten bezichtigte.

Als sich die Nachricht von Spinozas Tod verbreitete, tauchte Rebecca, die ihn einundzwanzig Jahre lang gemieden hatte, plötzlich wieder aus der Versenkung auf und präsentierte sich und ihren Sohn Daniel als Bentos einzige gesetzliche Erben. Als van der Spyck ihr allerdings eine Aufstellung der Habseligkeiten und Schulden Spinozas aushändigte, überlegte sie es sich anders: Bentos Schulden aus Mietrückständen, die Beerdigungskosten, Außenstände für den Barbier und den Apotheker waren voraussichtlich höher als der Wert seines Besitzes. Acht Monate später wurde sein Besitz versteigert (hauptsächlich seine Bibliothek und die Gerätschaften für das Linsenschleifen), und in der Tat war der Erlös niedriger als der Betrag, den er schuldete. Um nicht die Schulden zu erben, widerrief Rebecca rechtskräftig alle Forderungen aus der Erbmasse und verschwand abermals aus der Geschichte. Bentos geringe Außenstände wurden vom Schwager seines Freundes Simon de Vries beglichen. (Simon, der zehn Jahre zuvor, 1667, gestorben war, hatte Bento angeboten, ihm seinen gesamten Besitz zu hinterlassen. Bento hatte abgelehnt und angemerkt, dass es Simons Familie gegenüber unfair wäre und Geld ihn darüber hinaus nur ablenken würde. Simons Familie bot Bento eine Jahresapanage in Höhe von fünfhundert Gulden an. Auch dies lehnte Spinoza ab und erklärte, dass es mehr sei, als er brauche. Schließlich war er mit einer kleinen Apanage von dreihundert Gulden einverstanden gewesen.)

Die Versteigerung von Simons Nachlass wurde von W. van den Hove, einem gewissenhaften Notar, geleitet, der ein detailliertes Inventar der einhundertneunundfünfzig Bücher in Spinozas Bibliothek mit genauen Informationen hinsichtlich des Erscheinungsjahres, des Verlages und des Formates jedes Werkes hinterließ. Im Jahre 1900 versuchte George Rosenthal, ein holländischer Geschäftsmann, die Büchersammlung des Philosophen anhand der Liste des Notars für das Spinoza-Haus in Rijnsburg wieder zusammenzustellen. Größte Sorgfalt wurde darauf verwandt, die gleichen Ausgaben mit den gleichen Daten und Erscheinungsorten aufzukaufen, aber natürlich waren es nicht dieselben Bücher, die Spinoza in Händen gehalten hatte. Schließlich gelang es George Rosenthal, hundertzehn der hundertneunundfünfzig Bücher aus Spinozas ursprünglicher Sammlung zusammenzustellen. Darüber hinaus spendete er weitere fünfunddreißig Bücher aus der Zeit vor dem siebzehnten Jahrhundert sowie Werke über Spinozas Leben und Philosophie.

Spinoza fand seine letzte Ruhestätte unter den Steinplatten der Nieuwe Kerk, was viele zu der Vermutung veranlasste, er sei in seinen letzten Jahren noch zum Christentum konvertiert. Dem steht allerdings Spinozas Bemerkung zu der von einigen Kirchen vertretenen Ansicht entgegen: »… daß Gott nämlich die Menschennatur angenommen hätte, … scheint mir … nicht weniger widersinnig zu sein, als wenn mir jemand sagte, der Kreis habe die Natur des Quadrats angenommen«, und daher ist eine Konversion höchst unwahrscheinlich. Im liberalen Holland des siebzehnten Jahrhunderts war die Beerdigung von Nichtprotestanten innerhalb der Kirchenmauern nicht unüblich. Selbst Katholiken, die im protestantischen Holland viel unbeliebter als die Juden waren, wurden gelegentlich innerhalb der Kirchenmauern beerdigt. (Im folgenden Jahrhundert änderte sich die Politik, und es wurden nur noch sehr Reiche und Berühmte dort bestattet.) Wie damals üblich, wurde Spinozas Grabstätte auf eine begrenzte Anzahl von Jahren gemietet, und als kein Geld mehr für deren Unterhalt zur Verfügung stand, vermutlich nach zehn Jahren, wurden seine Gebeine ausgegraben und in dem halben Morgen großen Friedhof neben der Kirche verstreut.

Im Lauf der Jahre erhoben die Niederlande Anspruch auf ihn, und er wurde so prominent, dass sein Portrait bis zur Einführung des Euro im Jahr 2002 die holländische Tausend-Gulden-Banknote zierte. Wie alle Portraits von Spinoza beruhte das Portrait auf der Banknote auf dürftigen, schriftlichen Beschreibungen; zu Spinozas Lebzeiten entstanden keine Bildnisse von ihm.

1927 wurde auf dem Friedhof der Nieuwe Kerk eine Tafel zur Erinnerung an den zweihundertfünfzigsten Todestag Spinozas enthüllt. Einige seiner jüdischen Verehrer aus Palästina, die Baruch Spinoza gern wieder als Juden zurückgewinnen wollten, wirkten an der Gedenkveranstaltung mit. Die lateinische Inschrift besagt: »Diese Erde birgt die Gebeine Benedictus de Spinozas, die einst in der neuen Kirche beigesetzt waren.«

In Palästina hielt ungefähr zur selben Zeit, zu der diese Tafel enthüllt wurde, Joseph Klausner, der bekannte Historiker und spätere Kandidat der ersten Präsidentschaftswahl in Israel, eine Rede an der Hebräischen Universität, in welcher er erklärte, dass das jüdische Volk mit der Exkommunikation Spinozas eine schreckliche Sünde begangen habe. Er verlangte, dass die Vorstellung, Spinoza sei ein Ketzer gewesen, zurückgenommen werde. Er schloss mit den Worten: »Spinoza, dem Juden, rufen wir … vom Gipfel des Berges Scopus, von unserer neuen Zufluchtsstätte – der Hebräischen Universität Jerusalem –, zu: Der Bann ist aufgehoben! Das Unrecht des Judentums gegen dich ist hiermit aufgehoben, und deine Sünde, die du auch immer an ihm begangen haben magst, sei dir vergeben. Unser Bruder bist du, unser Bruder bist du, unser Bruder bist du.«

Im Jahr 1956, am dreihundertsten Jahrestag der Exkommunikation Spinozas, kam Heer H. F. K. Douglas, einer von Spinozas holländischen Bewunderern, auf die Idee, ein weiteres Denkmal neben der Gedenktafel von 1927 zu errichten. Da er wusste, dass Ben-Gurion, Israels Premierminister, ein großer Bewunderer Spinozas war, bat er ihn um seine Unterstützung. Ben-Gurion sagte sie ihm freudig zu, und als sich diese Nachricht in Israel herumsprach, erklärten sich Mitglieder einer humanistischen jüdischen Organisation in Haifa, die Spinoza als Stammvater des jüdischen Humanismus ansahen, bereit, eine schwarze Basaltplatte für dieses Denkmal beizusteuern. Die formelle Enthüllung des Denkmals war gut besucht, und unter den Anwesenden waren auch Regierungsvertreter aus Holland und Israel. Ben-Gurion selbst nahm an der Enthüllung nicht teil, besuchte die Gedenkstätte aber drei Jahre später im Rahmen einer offiziellen Zeremonie.

Die neue Tafel, die neben der Steinplatte aus dem Jahr 1927 aufgestellt wurde, enthielt ein Relief von Spinozas Kopf und darunter ein einziges Wort: Caute (Vorsicht), das man auf Spinozas Siegelring gefunden hatte, und darunter den schwarzen, israelischen Basalt mit dem hebräischen Wort (amcha), was so viel wie »Dein Volk« bedeutet.

Manche Israeli waren mit Ben-Gurions Anstrengungen, Spinoza zu rehabilitieren, nicht einverstanden. Orthodoxe Mitglieder der Knesset waren so außer sich über die Absicht, Spinoza zu ehren, dass sie einen Misstrauensantrag gegen Ben-Gurion und die Außenministerin Golda Meir stellten, welche den israelischen Botschafter in Holland zur Enthüllung des Denkmals entsandt hatten.

Zuvor schon hatte Ben-Gurion das Thema der Exkommunikation Spinozas in einem Artikel angesprochen: »Es ist schwierig, der jüdischen Gemeinde im Amsterdam des siebzehnten Jahrhunderts eine Schuld zuzuweisen. Ihre Position war gefährlich … und die traumatisierte jüdische Gemeinde hatte das Recht, ihren Zusammenhalt zu verteidigen. Aber heute hat das jüdische Volk nicht das Recht, Spinoza, den Unsterblichen, für alle Zeiten von der israelitischen Gemeinde auszuschließen.« Ben-Gurion betonte, dass die hebräische Sprache ohne die Werke Spinozas nicht vollständig sei. Und tatsächlich brachte die Hebräische Universität kurz nach der Veröffentlichung seines Artikels das Gesamtwerk Spinozas auf Hebräisch heraus.

Einige Juden wünschten, dass Ben-Gurion an das Amsterdamer Rabbinat appellieren sollte, die Exkommunikation aufzuheben, aber er lehnte ab und schrieb: »Ich habe mich nicht darum bemüht, die Exkommunikation annullieren zu lassen, da ich es für selbstverständlich halte, dass die Exkommunikation null und nichtig ist … Es gibt eine Straße in Tel Aviv, die nach Spinoza benannt ist, und es gibt keine einzige vernünftige Person in diesem Land, die glaubt, dass die Exkommunikation noch immer in Kraft ist.«

Die Bibliothek von Spinoza in Rijnsburg wurde von der ERR im Jahre 1942 konfisziert. Oberbereichsleiter Schimmer, der Leiter des ERR in den Niederlanden, beschrieb die Beschlagnahme in seinem Bericht aus dem Jahr 1942 (der später als offizielles Dokument in den Nürnberger Prozessen Eingang fand): »Danach wurden die Bibliotheken der Societas Spinozana in Den Haag und des Spinozahauses in Rijnsburg verpackt. Auch diese Bibliotheken, die in 18 Kisten verpackt wurden, enthalten außerordentlich wertvolle frühe Werke, die zur Erforschung des Spinozaproblems von besonderer Bedeutung sind. Nicht ohne Grund versuchte der frühere Leiter der Societas Spinozana unter einer Tarnung, die wir entlarven konnten, uns die Bibliothek zu entziehen.«

Die gestohlene Bibliothek von Rijnsburg wurde zusammen mit dem in der Geschichte weltgrößten Lager erbeuteter Gegenstände in Frankfurt verwahrt. Unter Rosenbergs Leitung stahl der ERR über drei Millionen Bücher aus Tausenden von Bibliotheken. Als die Alliierten Frankfurt im Jahr 1944 unter schweres Bombardement nahmen, verlegten die Nazis ihre geplünderten Schätze eilig in unterirdische Lagerhallen. Spinozas Bibliothek wurde mit Tausenden anderer nicht katalogisierter Bücher in eine Salzmine nach Hungen transportiert. Bei Kriegsende wurden alle Schätze von Hungen in das amerikanische Zentraldepot nach Offenbach überführt, wo eine kleine Armee von Bibliothekaren und Historikern nach deren Besitzern forschte. Schließlich stieß Heer Graswinckel, ein holländischer Archivar, auf Spinozas Bücher und überstellte die gesamte Sammlung (bis auf nur eine Handvoll Bücher) auf der Mary Rotterdam, einem holländischen Schiff, in die Niederlande. Die Bücher erreichten Rijnsburg im März 1946 und wurden abermals im Spinoza-Museum ausgestellt, wo sie bis heute zu besichtigen sind.

In den Monaten bis zu seinem Prozess saß Alfred Rosenberg in Einzelhaft im Gefängnis von Nürnberg und bekam nur Besuch von seinem Anwalt, einem amerikanischen Militärarzt und Psychologen, der seine Verteidigung vorbereitete. Erst am zwanzigsten November 1945, am ersten Tag des Prozesses, sah er die anderen Angeklagten wieder, als sie sich vor der Spruchkammer und den Teams von Staatsanwälten aus den Vereinigten Staaten, Großbritannien, Russland und Frankreich versammelten. In den folgenden elf Monaten sollten sich alle Prozessbeteiligten zweihundertachtzehn Mal in demselben Raum versammeln.

Es gab vierundzwanzig Angeklagte, aber nur zweiundzwanzig von ihnen nahmen am Prozess teil. Ein dreiundzwanzigster, Robert Ley, hatte sich zwei Wochen zuvor mit einem Handtuch in seiner Zelle erhängt, und gegen den vierundzwanzigsten, Martin Bormann, den »Alleinherrscher in Hitlers Vorzimmer«, wurde in Abwesenheit verhandelt, obwohl weithin vermutet wurde, dass er beim Sturm der Russen auf Berlin ums Leben gekommen war. Die Angeklagten nahmen auf vier Holzbänken Platz, die in zwei Reihen aufgestellt waren. Hinter ihnen stand eine Reihe bewaffneter Soldaten. Alfred war der zweite in der ersten rechten Bank. In der vorderen linken Bank saßen Göring, Hess, Joachim von Ribbentrop, der Nazi-Minister für auswärtige Angelegenheiten, und Feldmarschall Wilhelm Keitel, der Oberkommandierende der Streitkräfte. In den Monaten der Haft, die dem Prozess vorausgegangen waren, wurde Göring von seiner Drogensucht befreit, verlor fünfundzwanzig Pfund und machte nun einen schlanken und aufgeräumten Eindruck.

Zur Rechten Alfreds saß Ernst Kaltenbrunner, der höchstrangige überlebende SS-Beamte. Zu seiner Linken saß Hans Frank, Generalgouverneur im besetzten Polen, Wilhelm Frick, Reichsprotektor von Böhmen und Mähren, und am Ende der Bank Julius Streicher, Herausgeber der Zeitung Der Stürmer. Rosenberg war vermutlich erleichtert, dass er nicht neben Streicher sitzen musste, den er als besonders widerwärtig empfand.

In der zweiten Reihe saßen Berühmtheiten wie Admiral Dönitz, Reichspräsident nach Hitlers Selbstmord und Befehlshaber der U-Boot-Flotte, sowie Feldmarschall Alfred Jodl. Beide bewahrten während des ganzen Prozesses ihre arrogante, militärische Haltung. Daneben saßen Fritz Sauckel, der Generalbevollmächtigte für das Zwangsarbeiterprogramm der Nazis, Arthur Seyß-Inquart, der Reichskommissar für die Niederlande, und dann Albert Speer, Hitlers enger Freund und Architekt – ein Mann, den Rosenberg fast so sehr verabscheute wie Goebbels. Anschließend kamen Walther Funk, der die Reichsbank zu einem Depot für Goldzähne und andere Wertgegenstände umfunktioniert hatte, welche von den Opfern in den Konzentrationslagern stammten, sowie Baldur von Schirach, Reichs-Jugendführer der Nazis.

Die Auswahl der wichtigsten Kriegsverbrecher hatte sich über Monate hingezogen. Es war natürlich nicht der ursprüngliche innere Zirkel, aber angesichts der Selbstmorde Hitlers, Goebbels’ und Himmlers repräsentierten diese Männer die bekanntesten Nazis. Endlich, endlich hatte Alfred Rosenberg den inneren Zirkel betreten. Getreu seinem Charakter versuchte Göring, der Stellvertreter Hitlers, mit verschwörerischem Zwinkern oder aggressiven Blicken die Kontrolle über die Gruppe zu übernehmen, und bald unterwarfen sich ihm viele der Angeklagten. Die Staatsanwälte, beunruhigt von der Aussicht darauf, Göring könnte die Aussagen der anderen Angeklagten beeinflussen, leiteten unverzüglich Maßnahmen ein, um Göring von ihnen zu trennen. Zunächst musste Göring die Mittagspause an den Verhandlungstagen allein verbringen, während die anderen Angeklagten zu dritt an einem Tisch saßen. Später setzten sie strengere Einzelhaftbedingungen für alle Angeklagten durch, um Görings Einfluss weiter zu verringern. Rosenberg lehnte es wie immer ab, sich an den wenigen verbliebenen gesellschaftlichen Möglichkeiten zu beteiligen – weder bei den Mahlzeiten noch beim Gang in den Gerichtssaal oder bei den Tuscheleien während der Verhandlung. Die anderen hielten mit ihrer Abneigung gegen ihn nicht hinter dem Berg, und er tat es ihnen gleich: Das waren die Männer, die er für das Scheitern des edlen ideologischen Fundaments verantwortlich machte, welches er und der Führer so sorgfältig ausgearbeitet hatten.

Nach wenigen Prozesstagen verfolgte das ganze Gericht einen erschütternden Film, den amerikanische Truppen anlässlich der Befreiung der Konzentrationslager gedreht hatten. Nichts, keine einzige schaurige Einzelheit, wurde unterschlagen: Im ganzen Gerichtssaal herrschte Entsetzen und Ekel über die Bilder der Gaskammern, die Öfen in den Krematorien, in denen halb verbrannte Leichen lagen, die Berge verwesender Toter, die Unmengen von Gegenständen, die den Toten abgenommen worden waren – Brillen, Babyschuhe, menschliche Haare. Ein amerikanischer Kameramann richtete sein Objektiv auf die Gesichter der Angeklagten, die den Film ebenfalls sahen. Rosenbergs bleiches Gesicht ließ auf Entsetzen schließen, und er wandte sofort den Blick ab. Nach dem Film behauptete er unisono mit allen anderen Nazi-Angeklagten, er habe nicht die blasseste Ahnung von der Existenz solcher Dinge gehabt.

Entsprach das der Wahrheit? Wie viel wusste er von den Massenexekutionen an Juden in Osteuropa? Was wusste er über die Todeslager? Rosenberg nahm dieses Geheimnis mit ins Grab. Er hinterließ nichts Schriftliches, keinen eindeutigen Beweis. (Selbst Hitlers Unterschrift tauchte niemals auf einem Dokument auf, in dem es um die Lager ging.) Und natürlich schrieb Alfred im Völkischen Beobachter niemals über die Lager, zumal nach den Richtlinien der NSDAP jede öffentliche Diskussion über die Lager ausdrücklich verboten war. Rosenberg wies das Gericht augenblicklich darauf hin, dass er eine Teilnahme an der folgenschweren Wannsee-Konferenz im Januar 1942 abgelehnt hatte, welche von den Größen der NS-Bürokratie wahrgenommen wurde und auf der Reinhard Heydrich mit lebhaften Worten die Pläne für die Endlösung beschrieben hatte. An seiner Stelle hatte Rosenberg seinen Assistenten Alfred Meyer entsandt. Meyer war über viele Jahre sein enger Mitarbeiter gewesen, und es ist unvorstellbar, dass die beiden nie über die Wannsee-Konferenz gesprochen haben sollten.

Am siebzehnten Tag des Prozesses präsentierte die Staatsanwaltschaft als Beweismittel einen vierstündigen amerikanischen Film mit dem Titel The Nazi Plan, zusammengeschnitten aus verschiedenen NS-Propagandafilmen und Wochenschaumaterial. Der Film begann mit Ausschnitten aus dem Film Der Triumph des Willens von Leni Riefenstahl, in dem Rosenberg, herausgeputzt in seiner prächtigen Parteiuniform, als aufgeblasener Erzähler auftrat. Alfred und die anderen Angeklagten zeigten ungeniert ihre Freude über diese kurze Rückschau auf ihre glorreiche Zeit.

Sobald andere Angeklagte im Gerichtssaal ins Kreuzverhör genommen wurden, war Alfred unaufmerksam. Manchmal zeichnete er Gesichter der Menschen im Gerichtssaal, manchmal wählte er auf seinen Kopfhörern die russische Übersetzung der Verhandlung, grinste und schüttelte den Kopf ob der Vielzahl von Übersetzungsfehlern. Selbst während seines eigenen Kreuzverhörs lauschte er der russischen Übersetzung und protestierte öffentlich gegen die vielen Übersetzungsfehler.

Im Verlauf des Prozesses nahm das Gericht Rosenberg viel ernster, als es die Nazis jemals getan hatten. Oft bezeichnete das Gericht ihn als den führenden Ideologen der NSDAP, als den Mann, der die Blaupause der europäischen Zerstörung gezeichnet hatte, und Rosenberg widersprach kein einziges Mal diesen Anklagepunkten. Man darf sich Görings gemischte Gefühle vorstellen: Einerseits ärgerte er sich über die Rosenberg zugeschriebene führende Rolle im Dritten Reich, und andererseits lachte er sich ins Fäustchen, weil es Rosenberg anscheinend nie in den Sinn kam, dass er damit sein eigenes Grab schaufelte.

Während seiner ausführlichen Verteidigungsrede strapazierte Rosenberg mit seiner ausweichenden Art, seinem pedantischen Tonfall und seiner komplexen Sprache die Nerven der Staatsanwälte bis zum Zerreißen. Sie waren von seiner vorgeblichen Tiefgründigkeit nicht beeindruckt, wie es Hitler einst gewesen war, vielleicht weil die Juristen in Nürnberg den Vorteil hatten, die Resultate der IQ-Tests des amerikanischen Psychologen Lieutenant G. M. Gilbert zu kennen. Mit einem IQ von 124 bewegte sich Rosenberg unter den einundzwanzig Angeklagten im Mittelfeld. (Julius Streicher, der Herausgeber der Lieblingszeitung Hitlers, rangierte mit einem IQ von 106 an letzter Stelle.) Obwohl Rosenberg sein einstudiertes, überlegenes Grinsen beibehielt, konnte er niemanden mehr glauben machen, er verfolge tiefere Gedanken, als sie verstehen konnten.

Der amerikanische Chefankläger und Richter am Obersten Gerichtshof der USA, Robert H. Jackson sagte: »Es war Rosenberg, der geistige Prister der ›Herrenrasse‹, der die Lehre des Hasses schuf, die den Anstoß zur Vernichtung des Judentums gab, und der seine gottlosen Theorien gegen die besetzten Ostgebiete in die Tat umsetzte. Seine verschwommene Philosophie fügte zur umfangreichen Liste der Greueltaten der Nazis noch die Langweile hinzu.«

In seinen gesammelten Briefen enthüllte Thomas Dodd, amerikanischer Ankläger (und Vater des Senators Christopher Dodd), seine Gefühle über Rosenberg: »Zwei weitere Tage sind vorüber. Heute Vormittag nahm ich Alfred Rosenberg ins Kreuzverhör, und ich glaube, es ist mir recht gut gelungen … Er war äußerst schwierig zu verhören – der Inbegriff eines sich ständig windenden, lügenden Schlaumeiers. Ich kann ihn wirklich nicht leiden – er ist ein solcher Blender, ein so ausgewachsener Heuchler.«

Sir David Maxwell, der Chefankläger der Briten, bemerkte, dass der einzige vorgelegte Beweis die Behauptung ist, dass Rosenberg keiner Fliege etwas zuleide tun würde und dass die Zeugen sahen, dass er keiner Fliege etwas zuleide tat. Rosenberg sei ein Meister des Euphemismus, ein bürokratischer Pedant, dessen endlos scheinenden Sätze sich schlängelten, ineinander verflochten und wie zu lange gekochte Spaghetti aneinander kleben blieben.

Und das Schlussplädoyer des russischen Chefanklägers, General Rudenko, endete mit folgenden Worten: »Wie sehr … Rosenberg … sich auch bemühen mag, historische Tatsachen und Ereignisse zu verfälschen, so wenig kann er ableugnen, der offizielle Ideologe der nationalsozialistischen Partei gewesen zu sein und bereits vor einem Vierteljahrhundert die ›theoretischen‹ Grundlagen des faschistischen Hitler-Reiches, welche im Laufe dieser Zeitspanne Millionen von Deutschen moralisch zersetzten, gegründet und dabei ›ideologisch‹ jene in der Geschichte einmaligen unmenschlichen Verbrechen der Hitleristen … vorbereitet zu haben.«

Rosenberg hatte nur eine einzige wirksame Verteidigung – dass seine Nazi-Kollegen ihn nie ernst genommen hatten und dass alle Strategien, die er für die besetzten Ostgebiete vorschlug, in Bausch und Bogen ignoriert worden waren. Aber seine allzu aufgeblasene Vorstellung von seinem eigenen Wert erlaubte es ihm nicht, seine eigene Bedeutungslosigkeit öffentlich einzugestehen. Stattdessen verlegte er sich darauf, Stunde um Stunde mit immer neuen Ausweichmanövern herumzumäandern. Wie ein Beobachter in Nürnberg es ausdrückte: »Das, was er sagte, konnte man ebenso wenig greifen wie eine Hand voll Wolken.«

Anders als die anderen Angeklagten widerrief Rosenberg niemals. Am Ende blieb er der einzige wahre Überzeugte. Niemals distanzierte er sich von Hitler und seiner Rassenideologie. »… ich habe in Adolf Hitler keinen Tyrannen gesehen«, sagte Rosenberg vor Gericht aus, »sondern habe, wie viele Millionen Nationalsozialisten, ihm persönlich vertraut auf Grund der Erfahrungen eines vierzehnjährigen Kampfes … Adolf Hitler habe ich mit Loyalität gedient, und was von der Partei geschehen ist in diesen Jahren, das wurde von mir auch unterstützt.« In einem Gespräch mit einem anderen Angeklagten verteidigte er Hitler sogar noch nachdrücklicher: »Auch wenn ich mir alles noch so oft durch den Kopf gehen lasse, kann ich noch immer nicht glauben, dass der Charakter dieses Mannes auch nur den geringsten Makel aufwies.« Er beharrte weiterhin auf der Richtigkeit seiner Ideologie: «Was mich in den letzten fünfundzwanzig Jahren motivierte, war der Gedanke, nicht nur dem deutschen Volke dienen zu wollen, sondern ganz Europa – eigentlich der ganzen weißen Rasse.« Und kurz vor seinem Tod drückte er die Hoffnung aus, dass die Idee des Nationalsozialismus niemals vergessen und von einer neuen Generation, gestählt durch Leiden, wiedergeboren werde. Der erste Oktober 1946 war der Tag der Urteilsverkündung. Das Gericht war 218 Mal zusammengekommen und hatte sich danach sechs Wochen vertagt, währenddessen sich die Juristen zu ausgedehnten Beratungen zurückzogen. Am Morgen des ersten Oktober hörte jeder Angeklagte in der Reihenfolge ihrer Sitzordnung die Verkündung seines Urteils. Drei Angeklagte – Schacht, von Papen und Fritzsche – wurden freigesprochen und noch im Gerichtssaal freigesetzt. Der Rest wurde in einigen oder allen Anklagepunkten schuldig gesprochen.

An jenem Nachmittag erfuhr jeder Angeklagte von seinem Schicksal. Alfred war der sechste Angeklagte, dem sein Urteil verkündet wurde: »Angeklagter Alfred Rosenberg! Gemäß den Punkten der Anklageschrift, unter welchen Sie schuldig befunden wurden, verurteilt Sie der Internationale Militärgerichtshof zum Tode durch den Strang.«

Zehn weitere Angeklagte hörten dieselben Worte: Göring, Ribbentrop, Keitel, Kaltenbrunner, Jodl, Frank, Frick, Streicher, Seyß-Inquart und Sauckel. Martin Bormann wurde in Abwesenheit zum Tode verurteilt und die restlichen sieben Angeklagten zu unterschiedlich langen Gefängnisstrafen.

Die Hinrichtungen wurden auf den frühen Morgen des sechzehnten Oktober 1946 festgesetzt. Nach der Urteilsverkündung nahm eine Militärwache vor jeder Zelle Aufstellung, um die Gefangenen rund um die Uhr durch ein kleines Loch in der Zellentür zu beobachten. Am Tag vor den Hinrichtungen konnten die Angeklagten die Hammerschläge hören, mit denen die drei Galgen im Hof des Gefängnisses errichtet wurden.

Am fünfzehnten Oktober um dreiundzwanzig Uhr, in der Nacht vor den geplanten Hinrichtungen, hörte die Wache vor Görings Zelle ein Stöhnen und sah ihn in Krämpfen auf seiner Pritsche liegen. Der Gefängnisdirektor und der Arzt eilten in seine Zelle, doch Göring war bereits tot. Glasteilchen in seinem Mund wiesen darauf hin, dass er eine Zyanidkapsel zerbissen hatte. Hunderte solcher Selbstmordkapseln waren an die Nazi-Führer verteilt worden, aber es bleibt ein Geheimnis, wie es Göring trotz mehrfacher sorgfältiger Leibesvisitationen und der Durchsuchung seiner Habseligkeiten gelungen war, diese eine Kapsel zu verbergen, die seinem Leben ein Ende setzte. Die anderen Angeklagten wurden von Görings Tod nicht in Kenntnis gesetzt. Ribbentrop wurde an Görings Stelle als erster aufgerufen. Die Wachleute betraten nacheinander jede Zelle, verkündeten den Namen des Häftlings und begleiteten den Verurteilten in die Sporthalle, die wenige Tage zuvor noch von amerikanischen Sicherheitsbeamten für ein Basketballspiel genutzt worden war. Am sechzehnten Oktober standen drei schwarz gestrichene Holzgerüste im Saal. Zwei Galgen wurden abwechselnd verwendet. Der dritte war unbenutzt und stand nur für den Notfall bereit. Der untere Teil des Gerüsts war mit Holzbrettern verkleidet, damit die Zuschauer den Gehenkten, nachdem er durch die Falltür gefallen war, nicht am Ende des Stricks zappeln sehen konnten.

Rosenberg, der vierte Verurteilte, wurde mit Handschellen gefesselt zum Gerüst geführt und nach seinem Namen gefragt. Mit leiser Stimme antwortete er: »Rosenberg«, und dann stieg er die dreizehn Stufen zum Galgen hinauf, zu beiden Seiten von einem Sergeant der U.S. Armee gestützt. Als er gefragt wurde, ob er noch etwas sagen wolle, schaute er einen Augenblick lang verwirrt aus schwarz umschatteten Augen zum Henker und schüttelte heftig den Kopf. Alle anderen neun Nazis sprachen ein letztes Wort. Streicher rief: »Eines Tages werden die Bolschewiken euch aufhängen.« Aber Rosenberg ging still in den Tod. Wie eine Sphinx.

Die sterblichen Überreste Görings und der neun gehenkten Männer wurden in Särge gelegt und fotografiert, um jeden Zweifel auszuräumen, dass sie wirklich tot waren. Im Schutz der Nacht wurden die zehn Leichen nach Dachau gebracht, wo die Öfen ein letztes Mal angeheizt wurden, um ihre Schöpfer einzuäschern. Zweiundzwanzig Kilogramm Asche, alles, was von den Nazi-Führern übrig blieb, wurde in einen Fluss gestreut und trieb bald in die Isar, die durch München fließt, wo diese traurigste und dunkelste aller Geschichten ihren Anfang genommen hatte.

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