Fakt oder Fiktion? Historisches und Erfundenes auf dem Prüfstand

Ich habe versucht, einen Roman darüber zu schreiben, wie es sich hätte abspielen können. Ich hielt mich so nah wie möglich an historische Ereignisse und stützte mich auf meinen beruflichen Hintergrund, während ich mir das Innenleben meiner Protagonisten Bento Spinoza und Alfred Rosenberg vorstellte. Zwei Charaktere habe ich erfunden, um mir Zugang zur Psyche meiner Protagonisten zu verschaffen: Franco Benitez und Friedrich Pfister. Alle Szenen, in denen diese beiden auftreten, sind selbstverständlich fiktiv.

Vielleicht wissen wir deshalb so erstaunlich wenig über Spinozas Leben, weil er beschloss, unsichtbar zu bleiben. Die Geschichte seiner beiden jüdischen Besucher, Franco und Jacob, basiert auf einer kurzen Beschreibung in einer der frühesten Biographien Spinozas, in welcher von zwei jungen, nicht näher genannten Männern berichtet wird, die Spinoza mit dem einzigen Ziel in ein Gespräch verwickelten, um ihm seine ketzerischen Ansichten zu entlocken. Nach kurzer Zeit brach Spinoza den Kontakt mit ihnen ab, woraufhin sie ihn bei Rabbi Mortera und der jüdischen Gemeinde denunzierten. Sonst ist nichts über diese beiden Männer bekannt – kein unwillkommener Sachverhalt für einen Romanschreiber –, und einige Spinoza-Gelehrte bezweifeln sogar den Wahrheitsgehalt des gesamten Vorfalls. Aber er könnte sich so abgespielt haben. Der habgierige Duarte Gonzalez, den ich als deren Onkel portraitiere und der mit Spinoza noch eine Rechnung offen hat, ist tatsächlich eine historische Figur.

Spinozas Worte und Gedanken, die er in seinem Streitgespräch mit Jacob und Franco äußert, entstammen zum großen Teil seinem Theologisch-Politischen Traktat. Tatsächlich beziehen sich viele seiner Worte im Laufe dieses Romans auf diese Schrift, auf die Ethik und auf seine Korrespondenz. Spinoza als Besitzer eines Handelsgeschäfts ist ein Produkt meiner Phantasie; es darf bezweifelt werden, ob Spinoza überhaupt jemals ein Einzelhandelsgeschäft führte. Sein Vater Michael Spinoza hatte zwar ein erfolgreiches Handelsgeschäft aufgebaut, das zu der Zeit, als Spinoza erwachsen wurde, aber schlechte Zeiten erlebte.

Spinozas Lehrer Franciscus van den Enden war ein bemerkenswert engagierter, energiegeladener Freidenker, der später nach Paris übersiedelte und schließlich unter Ludwig XIV. wegen eines Umsturzversuchs gegen die Monarchie hingerichtet wurde. Seine Tochter Clara Maria wird in fast allen Spinoza-Biographien als bezauberndes Wunderkind beschrieben, die später Dirk Kerckrinck, Spinozas Klassenkameraden in van den Endens Lateinschule, heiratete.

Von den wenigen Fakten, die über Spinoza bekannt sind, ist seine Exkommunikation am sichersten belegt, und ich habe den offiziellen Text der Proklamation im Wortlaut wiedergegeben. Aller Wahrscheinlichkeit nach hatte Spinoza danach keinen Kontakt mehr zu Juden, und natürlich ist seine fortdauernde Freundschaft mit dem Juden Franco frei erfunden. Ich stellte mir Franco als einen Mann vor, der seiner Zeit weit voraus war, eine Präinkarnation Mordechai Kaplans, eines Pioniers des zwanzigsten Jahrhunderts, was die Modernisierung und Säkularisation des Judentums anbelangt. Spinozas zwei überlebende Geschwister hielten sich an den Bann und mieden jeden Kontakt zu ihrem Bruder. Rebecca tauchte, wie von mir beschrieben, kurz nach seinem Tod tatsächlich wieder auf und versuchte, ihren Anspruch auf den Besitz ihres Bruders geltend zu machen. Gabriel emigrierte auf eine karibische Insel und starb dort an Gelbfieber. Rabbi Mortera war eine imposante Erscheinung in der jüdischen Gemeinde des siebzehnten Jahrhunderts, und viele seiner Predigten gibt es immer noch.

So gut wie nichts ist über Spinozas emotionale Reaktion auf die Verbannung aus seiner Gemeinde bekannt. Meine Vorstellung von seiner Reaktion ist ganz und gar fiktiv, doch, wie ich vermute, eine wahrscheinliche Reaktion auf die radikale Trennung von allen Menschen, die er jemals gekannt hatte. Die Städte und Häuser, die Spinoza bewohnte, seine Linsenschleiferei, seine Verbindung zu den Kollegianten, seine Freundschaft mit Simon de Vries, seine anonymen Veröffentlichungen, seine Bibliothek und schließlich die Umstände seines Todes und seiner Beerdigung – all dies beruht auf historischen Belegen.

Mehr historische Sicherheit gibt es in den Abschnitten des Romans, die im zwanzigsten Jahrhundert spielen. Friedrich Pfister ist jedoch frei erfunden, und alle Interaktionen zwischen ihm und Alfred Rosenberg sind Produkte meiner Phantasie. Nichtsdestoweniger könnten sich alle Rosenberg-Pfister-Interaktionen aufgrund meines Verständnisses von Rosenbergs Charakterstruktur und dem Stand der Psychotherapie im frühen zwanzigsten Jahrhundert so zugetragen haben. Wie André Gide schon sagte: »Geschichte ist Dichtung, die stattgefunden hat. Dichtung ist Geschichte, die hätte stattfinden können.«

Wie schon im Prolog erwähnt, gibt es eine Bemerkung in einem Dokument von Oberbereichsleiter Schimmer, einem Beamten des Einsatzstabs Reichsleiter Rosenberg (ERR), der die Spinoza-Bibliothek konfiszierte, wonach die Bibliothek den Nationalsozialisten helfen würde, das »Spinoza-Problem« zu erforschen. Ich konnte keinen anderen Beleg für eine Verbindung zwischen Rosenberg und Spinoza finden. Aber es könnte sich so abgespielt haben: Rosenberg sah sich gern als Philosophen, und er wusste zweifellos, dass viele große deutsche Denker Spinoza verehrten. Daher sind alle Passagen fiktiv, die Spinoza mit Rosenberg in Verbindung bringen (so auch die beiden Besuche Rosenbergs im Spinoza-Museum in Rijnsburg). In allen anderen Belangen habe ich versucht, die wichtigsten Einzelheiten von Rosenbergs Leben akkurat wiederzugeben. Wir wissen aus seinen Memoiren (die er während seiner Haft anlässlich des Nürnberger Prozesses schrieb), dass er tatsächlich im Alter von sechzehn vom antisemitischen Schriftsteller Houston Stewart Chamberlain »entflammt« worden war. Diese Tatsache war Inspiration für die fiktive Unterredung zwischen dem heranwachsenden Rosenberg und Direktor Epstein sowie Herrn Schäfer.

Die einzelnen Stationen in Rosenbergs späterem Leben beruhen auf historischen Belegen: seine Familie, seine Ausbildung, die Eheschließungen, seine künstlerischen Ambitionen, seine Erlebnisse in Russland, der Versuch, sich den deutschen Streitkräften anzuschließen, die Flucht aus Estland nach Berlin und schließlich München, seine Lehrzeit bei Dietrich Eckart, sein Werdegang zum Hauptschriftleiter, seine Beziehung zu Hitler, seine Rolle beim Münchner Putsch, das Dreier-Treffen mit Hitler und Houston Stewart Chamberlain, verschiedene Posten bei den Nazis, seine Schriften, der Nationalpreis und seine Rolle während des Nürnberger Prozesses.

Ich habe mehr Vertrauen zu meiner Darstellung von Rosenbergs Innenleben als zu dem von Spinoza, da ich weit mehr Daten aus Rosenbergs Reden, seinen eigenen autobiographischen Schriften und aus den Beobachtungen anderer heranziehen konnte. Er war tatsächlich zweimal stationär in der Hohenlychen-Klinik untergebracht, drei Wochen im Jahr 1935 und sechs Wochen im Jahr 1936 – aus zumindest zum Teil psychiatrischen Gründen. Ich habe den Brief des Psychiaters Dr. Gebhardt an Hitler akkurat wiedergegeben, in welchem er Rosenbergs Persönlichkeitsprobleme beschreibt (bis auf den fiktiven letzten Absatz, in dem es um Friedrich Pfister geht). Dr. Gebhardt wurde übrigens 1948 wegen seiner medizinischen Experimente in den Konzentrationslagern als Kriegsverbrecher gehenkt. Der Brief von Chamberlain an Hitler wurde wortwörtlich zitiert. Alle Zeitungsschlagzeilen, die Erlasse und Reden, wurden nach treuem Glauben wiedergegeben. Friedrichs Ansätze zu einer Psychotherapie mit Alfred Rosenberg basieren darauf, wie ich persönlich die Aufgabe in Angriff genommen hätte, mit einem Mann wie Rosenberg zu arbeiten.

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