Elayne verließ den Pavillon nach der Zusammenkunft – und betrat einen Hain aus vielleicht einem Dutzend Bäumen. Und es waren nicht irgendwelche Bäume: Es waren riesige gesunde, wunderschöne Bäume mit gewaltigem Astwerk, Hunderte Fuß hoch mit dicken Stämmen. Unwillkürlich blieb sie stehen und starrte sie auf eine Weise an, die wirklich peinlich gewesen wäre, hätte nicht jeder andere das Gleiche getan. Sie schaute zur Seite, wo Egwene mit offenem Mund stand und ebenfalls nach oben in die riesigen Baumkronen starrte. Darüber schien noch immer die Sonne, aber die grünen Blätter hüllten das ganze Gebiet in Schatten, was erklärte, warum es im Zelt so düster geworden war.
»Diese Bäume«, sagte Perrin, trat vor und legte eine Hand auf die dicke, knorrige Rinde. »Diese großen Bäume habe ich schon einmal gesehen. In einem Stedding.«
Elayne umarmte die Quelle. Das Glühen Saidars war da und wärmte neben der Sonne. Sie atmete die Macht ein und bemerkte amüsiert, dass die meisten der Frauen, die die Macht lenken konnten, ihrem Beispiel in dem Moment gefolgt waren, als das Wort Stedding fiel.
»Nun, was auch immer Rand nun darstellt«, sagte Egwene mit verschränkten Armen, »er kann nicht einfach ein Stedding erscheinen lassen.« Der Gedanke schien sie zu trösten.
»Wo ist er hin?«, fragte Elayne.
Perrin zeigte zu den Bäumen. »Er ist in diese Richtung gegangen. Und dann einfach verschwunden.«
Zwischen den gewaltigen Baumstämmen bewegten sich Soldaten der verschiedenen Lager und starrten in die Höhe. Elayne hörte, wie ein Shienarer in der Nähe zu Lord Agelmar sprach. »Wir konnten zusehen, wie sie wuchsen, mein Lord. Sie brachen aus dem Boden hervor; es dauerte keine fünf Minuten, bis sie so waren. Das schwöre ich, mein Lord, oder ich ziehe nie wieder meine Klinge.«
»Also gut«, verkündete Elayne und ließ die Quelle los. »Fangen wir an. Nationen stehen in Flammen. Karten! Wir brauchen Karten!«
Die anderen Herrscher wandten sich ihr zu. Bei der Zusammenkunft hatten nur wenige von ihnen Einwände gehabt, dass man sie zu ihrer Anführerin bestimmte. Aber da hatte Rand auch danebengestanden. So war das manchmal in seiner Nähe; man landete einfach im Gezeitensog seines Willens. Wenn er etwas sagte, erschienen die Dinge so logisch.
Aber jetzt schienen viele nicht unbedingt begeistert, dass sie über ihnen stand. Am besten ließ sie ihnen keine Zeit, darüber nachzugrübeln. »Wo ist Meister Norry?«, fragte sie Dyelin. »Könnte er …«
»Ich habe die Karten, Euer Majestät«, sagte Gareth Bryne, als er den Pavillon mit Siuan an seiner Seite verließ.
Er erschien grauer, als sie ihn in Erinnerung hatte; er trug einen steifen weißen Mantel und Hosen, auf der Brust die Flamme von Tar Valon. Er verneigte sich respektvoll, kam aber nicht zu nahe. Seine Uniform zeigte, wem seine Loyalität gehörte, genau wie Siuans besitzergreifende Hand auf seinem Arm.
Elayne erinnerte sich daran, wie er mit dieser gleichen ruhigen Miene hinter ihrer Mutter gestanden hatte. Niemals anmaßend, immer die Königin beschützend. Aber diese Königin hatte ihn verstoßen. Das war nicht Elaynes Schuld gewesen, aber sie konnte an Brynes Gesicht ablesen, dass er diesen Vertrauensbruch nie vergessen hatte.
Sie konnte nicht ändern, was geschehen war. Sie konnte nur nach vorn schauen. »Falls Ihr Karten dieses Gebiets und der möglichen Schlachtfelder habt, Lord Bryne, würden wir sie gerne sehen. Ich möchte Karten für das Gebiet zwischen hier und Caemlyn, eine detaillierte Karte von Kandor und Eure besten Karten der anderen Grenzländer.« Sie wandte sich an die Herrscher. »Holt Eure Generäle und Berater zusammen! Wir müssen uns sofort mit den anderen Großen Hauptmännern zusammensetzen, um unsere nächsten Züge zu besprechen.«
Es dauerte nicht lange, obwohl sich Verwirrung breitmachte, als sich zwei Dutzend verschiedene Fraktionen ans Werk begaben. Diener zogen die Seiten des Pavillons hoch, und Elayne befahl Sumeko, die Kusinen zusammenzuholen, und Wächtern, durch ein Wegetor Tische und Stühle aus ihrem Lager zu besorgen. Außerdem verlangte sie genaue Berichte, was dort im Tarwin-Pass geschah. Rand hatte darum gebeten, dass der größte Teil der Grenzländerheere dorthin aufbrach und Lan rettete. Die Herrscher und die Großen Hauptmänner waren für die Besprechung zurückgeblieben.
Kurze Zeit später studierten Elayne und Egwene die detaillierten Karten, die Bryne mitgebracht hatte. Sie lagen über vier Tische ausgebreitet. Die Herrscher hielten sich zurück und ließen ihre Befehlshaber diskutieren.
»Das ist gute Arbeit, Bryne«, lobte Lord Agelmar. Der Shienarer war einer der vier noch übrigen sogenannten Großen Hauptmänner. Bryne war ein anderer. Die letzten beiden von ihnen – Davram Bashere und Rodel Ituralde – standen Seite an Seite am Ende eines anderen Tisches und berichtigten eine Karte der westlichen Grenzländer. Ituralde hatte dicke Tränensäcke unter den Augen, und manchmal zitterten seine Hände. Elayne hatte gehört, dass er in Maradon viel mitgemacht hatte und erst kürzlich gerettet worden war. Ehrlich gesagt überraschte es sie, dass er überhaupt anwesend war.
»Nun gut«, sagte Elayne zu der Versammlung. »Wir müssen kämpfen. Aber wie? Wo?«
»Große Streitmächte Schattengezücht sind an drei Orten eingedrungen«, sagte Bryne. »In Caemlyn, Kandor und am Tarwin-Pass. Der Pass sollte nicht aufgegeben werden, vorausgesetzt, unsere Kräfte reichen, um Lord Mandragoran dabei zu helfen, die Lage zu stabilisieren. Vermutlich dürfte unser heutiger Vorstoß dazu führen, dass sich das Schattengezücht vom Pass zurückzieht. Dem Feind dort den Weg zu versperren ist eine Aufgabe, für die die schwere Kavallerie von Malkier nicht besonders geeignet ist. Vielleicht sollten wir ihm einige Pikenkompanien schicken. Wenn er diesen Pass weiterhin versperrt, können wir den größten Teil unserer Streitkräfte für den Kampf in Andor und Kandor einsetzen.«
Agelmar nickte. »Ja. Das sollte machbar sein, wenn wir dem Dai Shan die nötige Unterstützung zukommen lassen. Aber wir können nicht riskieren, dass Shienar genau wie Kandor überrannt wird. Sollten sie den Pass überwinden …«
»Wir sind auf eine längere Schlacht vorbereitet«, sagte König Easar. »Kandors Widerstand und Lans Kampf am Pass haben uns die nötige Zeit verschafft. Unsere Bürger ziehen sich in die Festungen zurück. Wir können standhalten, selbst wenn wir den Pass verlieren sollten.«
»Tapfere Worte, Euer Majestät«, sagte Gareth Bryne. »Aber es wäre besser, wir müssten die Shienarer nicht auf diese Weise auf die Probe stellen. Wir sollten den Pass auf jeden Fall halten, ganz egal, was dazu notwendig ist.«
»Und Caemlyn?«, fragte Elayne.
Ituralde nickte. »Ein Feind, der so tief hinter unseren eigenen Linien steht, mit einem Tor zu den Kurzen Wegen, um Verstärkung zu bringen … das ist schlimm.«
»Frühe Berichte von heute Morgen deuten darauf hin, dass die Trollocs im Moment an Ort und Stelle bleiben«, sagte Elayne. »Sie haben große Teile der Stadt niedergebrannt, andere Viertel aber in Ruhe gelassen – und jetzt, da ihnen die Stadt gehört, haben sie angefangen, die Brände zu löschen.«
»Irgendwann verlassen sie sie«, sagte Bryne. »Aber es ist besser, wenn wir sie dort bald vertreiben, statt zu lange damit zu warten.«
»Warum keine Belagerung in Betracht ziehen?«, fragte Agelmar. »Ich bin der Ansicht, dass der größte Teil unserer Truppen nach Kandor gehen sollte. Ich würde den Wolkenthron und die Drei Handelshallen nicht untergehen lassen wollen wie die Sieben Türme.«
»Kandor ist bereits gefallen«, sagte Prinz Antol leise.
Die Großen Hauptmänner richteten die Blicke auf den ältesten Sohn der kandorischen Königin. Er war ein großer Mann, der nicht viel sagte. Aber jetzt meldete er sich kühn zu Wort. »Meine Mutter kämpft für unser Land«, sagte er, »aber es ist ein Kampf der Rache und der Vergeltung. Kandor brennt, und das zerreißt mir das Herz, aber daran können wir nichts ändern. Wendet Andor den größten Teil Eurer Aufmerksamkeit zu; taktisch gesehen ist es viel zu wichtig, um ignoriert werden zu können, und ich will nicht erleben, dass noch ein Land auf die gleiche Weise untergeht wie das meine.«
Die anderen nickten. »Ein weiser Rat, Hoheit«, sagte Bashere. »Vielen Dank.«
»Vergesst aber nicht Shayol Ghul«, sagte Rhuarc, der an der Seite von Perrin, einigen Aes Sedai und ein paar anderen Häuptlingen der Aiel stand. Die Großen Hauptmänner wandten sich ihm zu, als hätten sie seine Anwesenheit völlig vergessen.
»Der Car’a’carn wird Shayol Ghul bald angreifen«, sagte Rhuarc. »Dann braucht er Speere in seinem Rücken.«
»Die wird er auch bekommen«, versprach Elayne. »Aber das bedeutet vier Fronten. Shayol Ghul, der Tarwin-Pass, Kandor und Caemlyn.«
»Lasst uns zuerst nach Caemlyn blicken«, sagte Ituralde. »Der Gedanke an eine Belagerung gefällt mir nicht. Wir müssen die Trollocs vertreiben. Wenn wir sie belagern, haben sie mehr Zeit, ihre Zahl durch die Kurzen Wege aufzustocken. Wir müssen sie jetzt erledigen, zu unseren Bedingungen.«
Agelmar nickte mit einem Grunzen, dann betrachtete er die Karte von Caemlyn, die ein Adjutant auf dem Tisch ausgebreitet hatte. »Können wir diesen Strom stoppen? Das Tor zu den Kurzen Wegen zurückerobern?«
»Das habe ich bereits versucht«, sagte Elayne. »Wir haben heute Morgen drei verschiedene Kompanien durch ein Wegetor in den Keller mit dem Tor geschickt, aber der Schatten ist vorbereitet und hat sich verbarrikadiert. Keine der Kompanien ist zurückgekehrt. Ich weiß nicht, ob wir das Tor überhaupt zurückerobern können, nicht einmal, ob wir es vernichten können.«
»Und wenn wir es von der anderen Seite aus versuchen?«, fragte Agelmar.
»Die andere Seite?«, fragte Elayne. »Ihr meint aus dem Inneren der Kurzen Wege?«
Agelmar nickte.
»Niemand reist durch die Wege«, sagte Ituralde entsetzt.
»Die Trollocs schon«, meinte Agelmar.
»Ich kenne sie«, sagte Perrin und trat an den Tisch. »Und es tut mir leid, meine Lords, aber ich glaube nicht, dass man das Tor von der anderen Seite erobern könnte. So wie ich es verstanden habe, könnten wir es nicht vernichten – nicht einmal mit der Einen Macht. Und wir können es auch nicht von innen halten, das lässt der Schwarze Wind nicht zu. Unsere beste Möglichkeit besteht darin, die Trollocs irgendwie aus Caemlyn hinauszuwerfen und dann diese Seite des Tors zu halten. Richtig beschützt wird es der Schatten nie wieder gegen uns verwenden können.«
»Gut. Wir werden andere Möglichkeiten in Betracht ziehen«, sagte Elayne. »Obwohl mir da der Gedanke kommt, dass wir die Schwarze Burg benachrichtigen sollten, um ihre Asha’man zu bekommen. Wie viele von ihnen sind dort?«
Perrin räusperte sich. »Ich glaube, Ihr solltet Vorsicht walten lassen, was diesen Ort angeht, Euer Majestät. Dort geht etwas vor.«
Elayne runzelte die Stirn. »›Etwas‹?«
»Ich weiß nichts Genaues«, sagte Perrin. »Ich sprach mit Rand darüber, und er war sehr besorgt und sagte, er wollte sich darum kümmern. Wie dem auch sei … seid einfach nur vorsichtig.«
»Ich bin immer vorsichtig«, sagte Elayne nachdenklich. »Also, wie bekommen wir die Trollocs aus Caemlyn raus?«
»Wir könnten ja eine große Truppe im Breamwald verstecken; der ist beinahe fünfzig Meilen nördlich von Caemlyn.« Bryne zeigte auf die Karte. »Wenn eine kleine Kompanie als Köder für eine Falle an den Stadttoren aufmarschiert und die Trollocs dazu bringt, sie zurück in den Wald zu jagen … Ich war stets besorgt, dass ein Invasionsheer den Wald als Deckung für einen Angriff auf die Stadt benutzen könnte. Ich hätte nie gedacht, dass ich diese Möglichkeit selbst in Betracht ziehe.«
»Interessant«, sagte Agelmar und studierte eine Karte mit dem Umland von Caemlyn. »Das scheint ein guter Rat zu sein.«
»Aber was ist mit Kandor?«, fragte Bashere. »Der Prinz hat ja durchaus recht, dass das Land nicht mehr zu retten ist, aber wir können einfach nicht zulassen, dass die Trollocs von dort in andere Länder strömen.«
Ituralde rieb sich am Kinn. »Das wird alles sehr schwierig. Drei Trolloc-Heere, und wir werden dazu gezwungen, unsere Aufmerksamkeit zwischen ihnen zu teilen. Ja, ich komme zusehends zu dem Schluss, dass es der richtige Weg ist, sich auf eines von ihnen zu konzentrieren und den Vorstoß der anderen beiden nur zu behindern.«
»Die Armee des Schattens in Caemlyn ist vermutlich die kleinste von ihnen«, sagte Agelmar, »da die Größe des Tors ihren Zugang zur Stadt eingeschränkt hat.«
Bashere nickte. »Unsere beste Chance für einen schnellen Sieg an einer der Fronten liegt in Caemlyn. Wir sollten dort hart zuschlagen mit der größten unserer Streitmächte. Können wir in Andor siegen, wird das die Zahl unserer Fronten verringern – und das bringt uns erhebliche Vorteile.«
»Ja«, sagte Elayne. »Wir verstärken Lan, sagen aber, dass es seine Aufgabe sein wird, dort so lange durchzuhalten, wie er kann. Wir setzen eine zweite Streitmacht an der Grenze von Kandor ab, die den Vormarsch ebenfalls behindern soll – vielleicht ein langsamer Rückzug, der sich nach den Bedingungen richtet. Während diese beiden Fronten gehalten werden, gilt unsere wahre Aufmerksamkeit dem Ziel, mit unserem größten Heer die Trollocs in Caemlyn zu vernichten.«
»Gut«, meinte Agelmar. »Das gefällt mir. Aber welche Streitmacht nehmen wir für Kandor? Welches Heer kann die Trollocs behindern, ohne dafür eine große Truppenstärke zu brauchen?«
»Die Weiße Burg?«, fragte Elayne. »Wenn wir Aes Sedai nach Kandor schicken, können sie den Vorstoß der Trollocs über die Grenze verlangsamen. Dann kann sich der Rest von uns auf Caemlyn konzentrieren.«
»Ja«, sagte Bryne. »Das gefällt mir.«
»Und was ist mit der vierten Front?«, fragte Ituralde. »Shayol Ghul? Weiß jemand, was der Lord Drache dort plant?«
Niemand meldete sich zu Wort.
»Die Aiel werden sich um seine Bedürfnisse kümmern«, sagte Amys von ihrem Platz neben den Clanhäuptlingen. »Um uns braucht ihr euch keine Sorgen zu machen. Macht eure Schlachtpläne und wir machen die unseren.«
»Nein«, sagte Elayne.
»Elayne?«, meldete sich Aviendha zu Wort. »Wir …«
»Das ist genau das, was Rand vermeiden wollte«, verkündete Elayne energisch. »Die Aiel werden mit dem Rest von uns zusammenarbeiten. Die Schlacht am Shayol Ghul könnte die wichtigste von allen sein. Ich lasse nicht zu, dass eine Gruppe das Recht beansprucht, für sich zu bleiben und allein zu kämpfen. Ihr werdet unsere Hilfe annehmen.«
Und unsere Führung, fügte sie im Stillen hinzu. Die Aiel waren ausgezeichnete Krieger, aber es gab Dinge, die sie einfach nicht zugeben wollten. Wie zum Beispiel den Nutzen von Kavallerie.
Die Vorstellung, einen Feuchtländer als Befehlshaber zu haben, gefiel den Aiel keineswegs, wie man sehen konnte. Sie kniffen die Augen zusammen, bewegten sich unruhig.
»Die Aiel sind ausgezeichnete Partisanenkämpfer«, sagte Bryne und sah sie an. »Ich stand euch im Blutschnee gegenüber, und ich weiß, wie tödlich ihr sein könnt. Aber wenn der Lord Drache den Shayol Ghul angreift, werden wir aller Voraussicht nach das Tal erobern und so lange halten müssen, wie sein Kampf mit dem Dunklen König eben dauert. Ich habe nicht die geringste Vorstellung, um welchen Zeitraum es da geht, aber es könnte Stunden in Anspruch nehmen. Tage. Sagt mir, habt ihr euch jemals verschanzen und einen langen Stellungskampf führen müssen?«
»Wir werden tun, was getan werden muss«, sagte Rhuarc.
»Rhuarc«, sagte Elayne. »Ihr habt aus eigenem Antrieb darauf bestanden, den Drachenfrieden zu unterzeichnen. Ihr selbst habt darauf bestanden, ein Teil unserer Allianz zu sein. Ich erwarte von Euch, dass Ihr Euch an Euer Wort haltet. Ihr tut, was man Euch sagt.«
Brynes und Ituraldes Fragen hatten sie aufgebracht, aber als man ihnen direkt sagte, was sie zu tun hatten, lenkten sie ein. Rhuarc nickte. »Natürlich«, sagte er. »Ich habe Toh.«
»Begegnet ihm, indem Ihr zuhört«, sagte Elayne, »und sagt Eure Meinung. Wenn wir zugleich an vier verschiedenen Fronten kämpfen müssen, muss viel koordiniert werden.« Sie richtete den Blick auf die versammelten Generäle. »Da kommt mir etwas in den Sinn. Wir haben vier Fronten und vier Große Hauptmänner …«
Bashere nickte. »Das ist kein Zufall.«
»Nun, könnte es aber sein.«
»Es gibt keine Zufälle, Hoheit«, sagte Bashere. »Wenn ich etwas bei meinen Reisen mit dem Lord Drachen gelernt habe, dann das. Vier von uns, vier Fronten. Jeder von uns übernimmt eine, Königin Elayne übernimmt die Koordination zwischen uns und überwacht die Kriegsanstrengungen als Ganzes.«
»Ich gehe zu den Malkieri«, sagte Agelmar. »Dort kämpfen jetzt die meisten Grenzländer.«
»Was ist mit Kandor?«, fragte Elayne.
»Wenn dort die Aes Sedai kämpfen«, sagte Bryne, »dann tue ich das auch. Mein Platz ist bei der Weißen Burg.«
Er will nicht in Andor kämpfen, dachte Elayne. Er will nicht an meiner Seite kämpfen. Er will, dass es ein sauberer Bruch ist. »Wer begleitet mich dann nach Andor?«
»Ich gehe«, meldete sich Bashere.
»Und ich gehe dann zum Shayol Ghul«, sagte Ituralde und nickte. »Um an der Seite von Aiel zu kämpfen. Ehrlich gesagt ein Tag, den ich nie zu erleben geglaubt hätte.«
»Gut.« Elayne zog sich einen Stuhl heran. »Dann wollen wir uns um die Einzelheiten kümmern. Wir brauchen einen geeigneten Ort, von dem aus ich arbeiten kann, und Caemlyn ist verloren. Für den Augenblick nehme ich Merrilor. Es ist zentral gelegen und bietet ausreichend Raum, um Truppen und Material zu bewegen. Perrin, glaubt Ihr, Ihr könntet die Führung dieses Lagers übernehmen? Ein Reisegelände aufbauen und die Machtlenker einteilen, damit sie bei Nachrichtenübermittlung und Truppenversorgung helfen?«
Perrin nickte.
»Und was den Rest von euch angeht«, sagte sie, »teilen wir die Streitkräfte auf und arbeiten die Pläne genauer aus. Wir brauchen eine klare Vorstellung, wie wir diese Trollocs aus Caemlyn locken, damit wir sie auf Augenhöhe bekämpfen können.«
Stunden später verließ Elayne den Pavillon, und in ihrem Kopf drehten sich Einzelheiten über Taktik, Proviantbeschaffung und Truppenaufstellung. Wenn sie blinzelte, sah sie Karten vor ihrem inneren Auge, die mit Gareth Brynes in kleiner Schrift erfolgten Anmerkungen übersät waren.
Die anderen Teilnehmer der Besprechung begaben sich zu ihren Lagern, um ihre Schlachtpläne in die Tat umzusetzen. Der dunkler werdende Himmel hatte Laternen im Pavillon erfordert. Undeutlich erinnerte sie sich daran, dass man Mittag- und Abendessen aufgetischt hatte. Sie hatte doch etwas gegessen, oder nicht? Es hatte einfach so viel zu tun gegeben.
Sie nickte den Herrschern zu, die sie passierten, und verabschiedete sich. Die meisten Einzelheiten für den Anfang waren ausgearbeitet worden. Morgen würde sie ihre Truppen nach Andor bringen und mit der ersten Phase des Gegenangriffs gegen den Schatten beginnen.
Der Boden war jetzt weich, voller dunkelgrünem Gras und federnd. Rands Einfluss war trotz seiner Abreise nicht verweht. Als Elayne die riesigen Bäume näher betrachtete, trat Gareth Bryne zu ihr.
Es überraschte sie, dass er nicht schon lange weg war. Hier befanden sich jetzt nur noch die Diener und ihre Leibwächter. »Lord Bryne?«
»Ich wollte nur sagen, dass ich stolz bin«, sagte Bryne leise zu ihr. »Ihr habt Euch gut geschlagen.«
»Ich hatte kaum etwas beizutragen.«
»Ihr habt die Führung beigetragen«, sagte Bryne. »Ihr seid keine Generalin, und das erwartet auch niemand von Euch. Aber als sich Tenobia beklagte, dass Saldaea entblößt ist, habt Ihr sie wieder zu den wichtigen Dingen gelenkt. Die Spannungen sind stark, aber Ihr habt uns zusammengehalten, habt Groll geglättet und uns daran gehindert, uns anzubrüllen. Gute Arbeit, Euer Majestät. Sehr gute Arbeit.«
Sie grinste. Beim Licht, es fiel wirklich schwer, bei seinen Worten nicht zu strahlen. Er war nicht ihr Vater, aber in vielerlei Weise kam er dem sehr nahe. »Danke. Und Bryne, die Krone entschuldigt sich für …«
»Kein Wort davon. Das Rad webt, wie es das Rad will. Ich mache Andor nicht für das verantwortlich, was mit mir passiert ist.« Er zögerte. »Ich werde trotzdem mit der Weißen Burg kämpfen, Elayne.«
»Ich verstehe das.«
Er verbeugte sich vor ihr und entfernte sich in die Richtung von Egwenes Lager.
Birgitte trat heran. »Zurück in unser Lager?«
»Ich …« Elayne zögerte, weil sie etwas gehört hatte. Ein leiser Laut, aber irgendwie war er mächtig. Stirnrunzelnd ging sie ihm entgegen und hielt die Hand hoch, als Birgitte fragen wollte, was los war.
Sie umrundeten den Pavillon, überquerten grünes Gras und blühende Blumen und gingen auf die Klänge zu, die immer lauter wurden. Ein Lied. Ein wunderschönes Lied, wie sie es noch nie gehört hatte und das sie mit seiner eindrucksvollen Klangfülle erzittern ließ.
Es schlug über ihr zusammen, hüllte sie ein, vibrierte in ihr. Ein fröhliches Lied, ein Lied voller Ehrfurcht und Staunen, das war ganz offensichtlich, obwohl sie die Worte nicht verstehen konnte. Sie näherte sich einer Gruppe riesiger Geschöpfe, die selbst an Bäume erinnerten und ihre Hände mit geschlossenen Augen auf die knorrigen Stämme der Bäume gelegt hatten, die Rand hatte wachsen lassen.
Drei Dutzend Ogier verschiedenen Alters, einige mit Augenbrauen so weiß wie Schnee, andere so jung wie Loial. Er stand unter ihnen, und er sang mit einem Lächeln.
In der Nähe standen Perrin mit verschränkten Armen und seine Frau. »Was Ihr da über die Asha’man sagtet, hat mich nachdenklich gemacht – wenn wir Verbündete brauchen, was ist mit den Ogiern? Ich wollte mich darum kümmern, Loial zu suchen, aber bevor ich das tun konnte, fand ich sie hier bereits zwischen den Bäumen.«
Elayne nickte und hörte zu, wie das Lied der Ogier seinen Höhepunkt erreichte und ausklang, während die Sänger die Köpfe senkten. Einen Augenblick lang war alles friedlich.
Schließlich öffnete ein alter Ogier die Augen und wandte sich Elayne zu. Sein weißer Bart ragte bis zur Brust, der weiße Schnurrbart hatte die gleiche Länge. Die anderen Alten, sowohl Männer wie auch Frauen, schlossen sich ihm an. Loial begleitete sie.
»Ihr seid die Königin«, sagte der Alte und verbeugte sich vor ihr. »Die, die diese Reise anführt. Ich bin Haman, Sohn von Dal, Sohn von Morel. Wir sind gekommen, um Euch unsere Äxte für Euren Kampf zu leihen.«
»Ich freue mich«, erwiderte Elayne und nickte ihm zu. »Drei Dutzend Ogier werden unserer Schlacht zusätzliche Kraft verleihen.«
»Drei Dutzend, junge Menschenfrau?« Haman lachte grollend. »Der Große Stumpf ist nicht zusammengetreten und hat auch nicht so lange debattiert, um Euch drei Dutzend von uns zu schicken. Die Ogier werden an der Seite der Menschen kämpfen. Wir alle. Jeder von uns, der eine Axt oder ein langes Messer halten kann.«
»Wunderbar!«, rief Elayne aus. »Ich werde großen Nutzen aus euch ziehen.«
Eine ältere Ogierfrau schüttelte den Kopf. »So eilig. So schnell. Wisset, junge Menschenfrau. Es gab einige unter uns, die Euch und die Welt dem Schatten überlassen hätten.«
Elayne blinzelte entsetzt. »Ihr hättet das tatsächlich getan? Uns einfach … alleingelassen? Damit wir kämpfen?«
»Einige sprachen sich dafür aus«, sagte Haman.
»Ich vertrat selbst diese Position«, sagte die Frau. »Ich sprach dafür, obwohl ich eigentlich nicht davon überzeugt war, dass das richtig ist.«
»Was?« Loial kam näher heran. Offensichtlich war ihm das neu. »Du warst nicht dieser Überzeugung?«
Die Frau richtete den Blick auf ihn. »Wenn der Dunkle König diese Welt beansprucht, werden keine Bäume wachsen.«
Loial sah überrascht aus. »Aber warum hast du …«
»Ein Argument braucht eine gegensätzliche Meinung, wenn es sich beweisen soll, mein Sohn«, sagte sie. »Ein Sprecher lernt das wahre Ausmaß seiner Hingabe durch Widerspruch. Hast du nicht gelernt, dass Bäume stärkere Wurzeln bekommen, wenn der Wind an ihnen rüttelt?« Sie schüttelte den Kopf, schien es aber nicht besonders streng zu meinen. »Das heißt nicht, dass du das Stedding so einfach hättest verlassen sollen, wie du es tatest. Nicht allein. Glücklicherweise ist das ja geregelt.«
»Das ist geregelt?«, fragte Perrin.
Loial errötete. »Nun, du musst wissen, Perrin, ich bin jetzt verheiratet.«
»Das hast du aber nicht erwähnt!«
»Alles ist so schnell gegangen. Ich bin mit Erith verheiratet. Da drüben ist sie. Hast du sie singen hören? Ist ihr Lied nicht wunderschön? Verheiratet zu sein ist gar nicht so übel, Perrin. Warum hast du mir nicht gesagt, dass es gar nicht so übel ist? Ich glaube, es gefällt mir ziemlich gut.«
»Ich freue mich für Euch, Loial«, unterbrach Elayne ihn. Ogier konnten ziemlich ausführlich über Nebensächlichkeiten sprechen, wenn man nicht aufpasste. »Und ich bin euch allen sehr dankbar, dass ihr euch uns anschließt.«
»Vielleicht ist es den Preis allein schon wert, um diese Bäume zu sehen«, meinte Haman. »Mein ganzes Leben lang haben die Menschen die Großen Bäume nur gefällt. Nun sehen zu können, wie sie jemand wachsen lässt … Wir trafen die richtige Entscheidung. Ja, ja, das taten wir. Die anderen werden das hier sehen müssen …«
Loial gab Perrin Handzeichen, weil er ihm offensichtlich alles erzählen wollte. »Erlaubt mir, ihn einen Moment auszuborgen, Loial«, sagte Elayne und steuerte Perrin auf die Hainmitte zu.
Faile und Birgitte schlossen sich ihr an, und Loial wartete hinter ihnen. Die Großen Bäume schienen ihn abzulenken.
»Ich habe eine Aufgabe, die ich Euch übertragen möchte«, sagte Elayne leise zu Perrin. »Der Verlust von Caemlyn könnte für unsere Truppen eine ernsthafte Versorgungskrise bedeuten. Auch wenn sich alle über die Lebensmittelpreise aufregen, konnten wir doch jeden satt machen und Vorräte für die kommende Schlacht sammeln. Diese Vorräte sind jetzt verloren.«
»Was ist mit Cairhien?«
»Dort gibt es noch Lebensmittel«, sagte Elayne. »Genau wie in der Weißen Burg und in Tear. Baerlon hat ordentliche Bestände von Metall und Pulver – ich muss noch herausfinden, was wir von den anderen Nationen bekommen können und wie es um ihre Getreidevorräte bestellt ist. Es wird eine gewaltige Aufgabe sein, Nachschub und Rationen für alle Heere zu organisieren. Ich möchte diese Aufgabe einer Person anvertrauen.«
»Und da habt Ihr an mich gedacht?«, fragte Perrin.
»Ja.«
»Es tut mir leid«, erwiderte er. »Elayne, Rand braucht mich.«
»Rand braucht uns alle.«
»Mich braucht er mehr.« Perrin nickte. »Min hat das in einer Vision gesehen, hat er gesagt. Ohne mich an seiner Seite wird er in der Letzten Schlacht sterben. Außerdem muss auch ich noch ein paar Kämpfe zu Ende bringen.«
»Ich mache es«, sagte da Faile.
Stirnrunzelnd drehte sich Elayne zu ihr um.
»Es ist meine Pflicht, sich um die Armee meines Gemahls zu kümmern«, sagte Faile. »Ihr seid seine Lehnsherrin, Euer Majestät, also sind Eure Bedürfnisse seine Bedürfnisse. Wenn Andor den Befehl über die Letzte Schlacht hat, dann werden die Zwei Flüsse dafür sorgen, dass es ernährt wird. Überlasst mir den Zugang zu Wegetoren, die groß genug für Wagen sind, gebt mir Truppen, die meine Wege beschützen können, und verschafft mir den Zugang zu sämtlichen Quartiermeisterunterlagen, die ich brauche. Ich werde es erledigen.«
Es war logisch und rational, aber nicht das, was Elayne brauchte. Wieweit konnte sie dieser Frau vertrauen? Faile hatte sich in politischen Dingen als sehr geschickt erwiesen. Das war nützlich, aber betrachtete sie sich wirklich als ein Teil von Andor? Elayne musterte die Frau.
»Ihr könntet diese Aufgabe niemand Besserem anvertrauen, Elayne«, sagte Perrin. »Faile wird sie erledigen.«
»Perrin«, sagte Elayne. »Da gibt es in diesem Zusammenhang noch eine andere Sache. Können wir kurz unter vier Augen sprechen?«
»Ich werde es ihr sowieso erzählen, wenn wir fertig sind, Euer Majestät«, sagte Perrin. »Vor meiner Gemahlin habe ich keine Geheimnisse.«
Faile lächelte.
Elayne musterte die beiden, dann seufzte sie leise. »Egwene kam während unseres Kriegsrats kurz zu mir. Es gibt da einen gewissen … wichtigen Gegenstand für die Letzte Schlacht, den sie noch überbringen lassen muss.«
»Das Horn von Valere«, sagte Perrin. »Ich hoffe, Ihr habt es noch.«
»O ja. Es liegt versteckt in der Burg. Wir haben es gerade noch rechtzeitig aus seinem Lagerraum geholt. Letzte Nacht wurde in den Raum eingebrochen. Ich weiß das nur, weil wir ihn mit gewissen Geweben sicherten. Der Schatten weiß, dass wir das Horn haben, Perrin, und die Gehilfen des Dunklen Königs suchen danach. Sie können es nicht benutzen; es ist an Mat gebunden, bis er stirbt. Aber wenn es die Helfer des Schattens erbeuten können, kann er Mat daran hindern, es zu benutzen. Oder noch schlimmer – ihn töten und es dann selbst benutzen.«
»Ihr wollt seine Verlegung verschleiern«, sagte Faile, »die Nachschubtransporte sollen verbergen, wo Ihr es hinbringt.«
»Wir würden es lieber Mat direkt übergeben«, sagte Elayne. »Aber er kann manchmal … nun, schwierig sein. Ich hatte gehofft, dass er an der Zusammenkunft teilnimmt.«
»Er ist in Ebou Dar«, verkündete Perrin. »Macht irgendetwas mit den Seanchanern.«
»Das hat er Euch gesagt?«
»Nicht direkt.« Die Frage schien Perrin Unbehagen zu bereiten. »Wir … wir haben eine Art von Verbindung. Manchmal sehe ich, wo er ist und was er tut.«
»Dieser Mann ist nie da, wo er sein sollte«, klagte Elayne.
»Und doch trifft er schließlich immer dort ein«, hielt Perrin dagegen.
»Die Seanchaner sind der Feind«, sagte Elayne. »Das scheint Mat nicht zu begreifen, wenn man einmal in Betracht zieht, was er getan hat. Beim Licht, ich hoffe, dieser Mann bringt sich nicht in Schwierigkeiten …«
»Ich mache es«, sagte Faile. »Ich kümmere mich um das Horn von Valere. Ich sorge dafür, dass Mat es bekommt, und beschütze es.«
»Ich will Euch nicht zu nahetreten«, sagte Elayne zu den beiden, »aber ich zögere, es jemandem anzuvertrauen, den ich nicht gut kenne. Darum kam ich zu Euch, Perrin.«
»Das wird schwierig«, sagte Perrin. »Wenn sie wirklich das Horn suchen, dann erwarten sie, dass Ihr und Egwene es jemandem gebt, den Ihr gut kennt. Nehmt Faile. Niemandem vertraue ich mehr als ihr, aber auf sie wird kein Verdacht fallen, denn sie hat keine direkte Beziehung zur Weißen Burg.«
Elayne nickte langsam. »Sehr gut. Ich schicke Euch eine Nachricht, wie es überbracht wird. Jetzt transportiert erst einmal den Nachschub, damit das bekannt wird. Zu viele Menschen wissen über das Horn Bescheid. Nachdem Ihr es habt, schicke ich fünf verdächtige Boten aus der Weißen Burg und streue die nötigen Gerüchte. Hoffen wir, dass der Schatten annimmt, dass das Horn von einem dieser Boten überbracht wird. Ich will, dass es an einem Ort ist, mit dem niemand rechnet, zumindest so lange, bis wir es Matrim übergeben.«
»Vier Fronten, Lord Mandragoran«, wiederholte Bulen. »Das berichten die Boten. Caemlyn, Shayol Ghul, Kandor und hier. Sie wollen versuchen, den Trollocs hier und in Kandor den Weg zu versperren, während sie alle Kräfte darauf konzentrieren, jene in Andor zuerst zu besiegen.«
Lan grunzte und lenkte Mandarb um den stinkenden Haufen toter Trollocs. Die Kadaver dienten nun als Bollwerk; seine fünf Asha’man hatten sie zu Hügeln aufgeschichtet, kleine blutige Kegel vor der Fäule, wo sich das Schattengezücht sammelte.
Der Gestank war natürlich fürchterlich. Viele der Wächter, die er auf seinen Runden passierte, hatten Zweigblätter in ihr Feuer geworfen, um den Geruch zu überdecken.
Der Abend näherte sich und brachte damit die gefährlichsten Stunden. Glücklicherweise machten die schwarzen Wolken am Himmel die Nächte so dunkel, dass die Trollocs nicht viel sehen konnten. Aber in der Abenddämmerung erstarkten sie – eine Zeit, in der Menschenaugen behindert waren, aber die Augen des Schattengezüchts nicht.
Die Kraft des Angriffs der vereinigten Grenzländer hatte die Kreaturen zurück zum Pass-Eingang getrieben. Lan erhielt jede Stunde weitere Verstärkungen durch Pikenträger und andere Soldaten, die ihm helfen sollten, die Position zu halten. Alles in allem sah es jetzt viel besser aus als noch einen Tag zuvor.
Aber es war noch immer schlimm. Wenn stimmte, was Bulen sagte, dann würde sein Heer hier stationiert, um den Weg zu versperren. Das bedeutete, er bekam weniger Truppen, als er gern gehabt hätte. Allerdings konnte er nichts gegen die Taktik einwenden.
Lan kam zu der Stelle, wo die shienarischen Lanzenträger sich um ihre Pferde kümmerten. Eine Gestalt löste sich von ihnen und ritt neben Lan heran. König Easar war ein stämmiger Mann mit weißem Haarknoten, der erst kürzlich vom Feld von Merrilor eingetroffen war und dann einen langen Tag mit der Vorbereitung von Schlachtplänen verbracht hatte. Lan setzte zu einer Verneigung im Sattel an, erstarrte aber, als König Easar sich vor ihm verneigte.
»Euer Majestät?«, fragte Lan.
»Agelmar hat seine Pläne für diese Front mitgebracht, Dai Shan«, sagte der König und setzte sich an seine Seite. »Er würde sie gern mit uns durchgehen. Es ist wichtig, dass Ihr dabei seid; wir kämpfen unter dem Banner Malkiers. Darauf haben wir uns alle geeinigt.«
»Tenobia auch?« Lan war ehrlich überrascht.
»In ihrem Fall war eine kleine Ermutigung nötig. Sie zeigte sich einsichtig. Ich habe auch die Nachricht bekommen, dass Königin Ethenielle Kandor verlassen hat und herkommen wird. In dieser Schlacht kämpfen die Grenzländer gemeinsam, und wir werden es mit Euch an der Spitze tun.«
Im schwindenden Licht ritten sie weiter, und eine Reihe Lanzenreiter nach der anderen salutierte Easar. Die Shienarer waren die besten Kavalleristen der Welt, und sie hatten zahllose Male auf diesen Felsen gekämpft und waren auch dort gestorben, als sie die fruchtbaren Länder des Südens verteidigt hatten.
»Ich werde da sein«, willigte Lan ein. »Die Last, die Ihr mir auferlegt habt, fühlt sich wie drei Berge an.«
»Ich weiß«, sagte Easar. »Aber wir werden Euch folgen, Dai Shan. Bis der Himmel zerrissen wird, bis der Stein unter unseren Füßen zerbricht und bis das Rad selbst aufhört, sich zu drehen. Oder, wenn es das Licht will, bis jedes Schwert den Frieden kennenlernt.«
»Was ist mit Kandor? Wenn die Königin herkommt, wer führt dann diese Schlacht an?«
»Die Weiße Burg reitet, um dort das Schattengezücht zu bekämpfen. Ihr habt den Goldenen Kranich gehisst. Wir hatten geschworen, Euch zu Hilfe zu kommen, also taten wir es.« Easar zögerte und sein Tonfall wurde grimmig. »Kandor kann nicht zurückerobert werden, Dai Shan. Die Königin gibt es zu. Die Weiße Burg hat nicht die Aufgabe, das Land zurückzuerobern, sondern das Schattengezücht daran zu hindern, noch mehr Land an sich zu reißen.«
Sie drehten und ritten durch die Reihen der Lanzenträger. Von den Männern wurde verlangt, die Abenddämmerung nur wenige Schritte von ihren Pferden entfernt zu verbringen, und sie beschäftigten sich, kümmerten sich um ihre Rüstung, um die Waffen und die Pferde. Jeder Mann trug ein Langschwert auf den Rücken geschnallt, manchmal auch zwei, und alle hatten Hämmer und Streitkolben an die Gürtel geschnallt. Die Shienarer verließen sich nicht allein auf ihre Lanzen; ein Feind, der glaubte, sie in die Enge getrieben und den Raum für einen Sturmangriff genommen zu haben, entdeckte bald, dass sie auch auf engem Raum sehr gefährlich sein konnten.
Die meisten Männer trugen gelbe Waffenröcke mit dem Schwarzen Falken über ihren Harnischen und den Kettenhemden. Sie salutierten steif mit ernsten Mienen. Shienarer waren in der Tat ernsthafte Leute. Dafür sorgte das Leben in den Grenzlanden.
Lan zögerte, dann sprach er mit lauter Stimme. »Warum wird getrauert?«
Die Soldaten in der Nähe wandten sich ihm zu.
»Sind wir nicht hierfür gedrillt worden?«, rief Lan. »Ist das nicht unser Daseinszweck, sogar unser Leben? Dieser Krieg ist keine Sache, die man betrauern sollte. Andere Männer mögen lasch gewesen sein, aber wir nicht. Wir sind vorbereitet, also ist das eine Zeit des Ruhms.
Es soll gelacht werden! Es soll Freude herrschen! Lassen wir die Gefallenen hochleben und auf unsere Vorväter anstoßen, die uns gut gelehrt haben. Solltet ihr morgen sterben und auf eure Wiedergeburt warten, seid stolz. Die Letzte Schlacht ist da, und wir sind bereit!«
Lan wusste eigentlich nicht, was ihn dazu gebracht hatte, das zu sagen. Seine Worte riefen Rufe wie »Dai Shan! Dai Shan! Der Goldene Kranich nach vorn!« hervor. Er sah, dass einige Männer die Rede aufschrieben, um sie an andere weiterzugeben.
»Ihr habt die Seele eines Anführers, Dai Shan«, sagte Easar, als sie weiterritten.
»Das ist es nicht«, erwiderte Lan mit nach vorn gerichtetem Blick. »Ich ertrage kein Selbstmitleid. Zu viele der Männer sahen aus, als würden sie ihr eigenes Leichentuch vorbereiten.«
»Eine Trommel ohne Fell«, sagte Easar leise und schnippte mit den Zügeln seines Pferdes. »Eine Wasserpumpe ohne Schwengel. Ein Lied ohne Stimme. Trotzdem gehört es mir. Trotzdem gehört es mir.«
Stirnrunzelnd sah Lan ihn an, aber der König erklärte das Gedicht nicht. Waren seine Untertanen ernsthafte Leute, dann galt das für ihren König erst recht. Tief in seinem Inneren verbarg Easar Wunden, die er mit niemandem teilte. Lan machte ihm das nicht zum Vorwurf. Er hatte das Gleiche getan.
Aber an diesem Abend erwischte er Easar mit einem Lächeln auf den Lippen, während er darüber nachdachte, was ihn wohl an dieses Gedicht erinnert hatte.
»War das Anasai von Ryddingwald?«, fragte er.
Easar sah überrascht aus. »Ihr kennt Anasais Werk?«
»Sie war eine von Moiraine Sedais Lieblingsdichterinnen. Es klang, als könnte es von ihr sein.«
»Jedes ihrer Gedichte war als Elegie geschrieben«, sagte Easar. »Dies war für ihren Vater. Sie hinterließ Instruktionen; es kann gelesen werden, sollte aber nicht laut ausgesprochen werden außer im richtigen Augenblick. Sie erklärte nicht, wann der sein würde.«
Sie kamen zu den Kriegszelten und stiegen ab. Aber genau in diesem Augenblick ertönten die Alarmhörner. Beide Männer fuhren herum, und Lan griff nach dem Schwert an seiner Hüfte.
»Lasst uns zu Lord Agelmar gehen«, rief Lan, als Befehle gebrüllt wurden und Ausrüstung klirrte. »Wenn ihr unter meinem Banner kämpft, akzeptiere ich die Rolle des Anführers mit Freuden.«
»Ohne zu zögern?«, wollte Easar wissen.
»Wer bin ich denn?«, erwiderte Lan, als er sich in den Sattel schwang. »Irgendein Schafhirte aus einem vergessenen Dorf? Ich werde meine Pflicht erfüllen. Wenn Männer so dumm sind, mich zu ihrem Anführer zu bestimmen, erinnere ich sie an die ihre.«
Easar nickte, dann salutierte er, während sich seine Mundwinkel zu einem neuen Lächeln verzogen. Lan erwiderte den Salut, dann galoppierte er auf Mandarb durch die Lagermitte. Die Männer an den Außenrändern entzündeten Signalfeuer. Asha’man hatten Wegetore zu einem der vielen sterbenden Wälder im Süden geöffnet, damit die Soldaten dort Holz holen konnten. Solange es nach Lans Willen ging, würden diese fünf Machtlenker niemals ihre Kraft dafür verschwenden, Trollocs zu töten. Sie waren viel zu nützlich für andere Dinge.
Narishma salutierte Lan, als er ihn passierte. Lan konnte nicht sicher sein, dass der Große Hauptmann absichtlich Asha’man aus den Grenzlanden ausgewählt hatte, aber es schien kein Zufall zu sein. Er hatte immerhin einen aus jeder Grenzlandnation – selbst einen, der Malkieri als Eltern gehabt hatte.
Wir kämpfen gemeinsam.