8 Die schwelende Stadt

Elayne Trakand ritt auf Mondschatten, ihrer dunkelbraunen Stute aus den königlichen Ställen, durch ein Wegetor, das sie selbst erschaffen hatte.

Diese Ställe befanden sich jetzt in den Händen der Trollocs, und Mondschattens Stallgefährten waren mittlerweile zweifellos in einem Kochtopf gelandet. Elayne versuchte, nicht daran zu denken, was – oder wer – sonst noch in diesem Topf geendet hatte. Sie setzte eine entschlossene Miene auf. Ihre Truppen durften ihre Königin nicht verzagt sehen.

Sie hatte einen ungefähr tausend Schritt nordwestlich von Caemlyn entfernten Hügel gewählt, weit außer Bogenschussweite, aber nahe genug, um die Stadt sehen zu können. Während der Wochen nach dem Thronfolgekrieg hatten mehrere Söldnergruppen auf diesem Hügel ihre Lager aufgeschlagen. Nun hatten sie sich entweder den Heeren des Lichts angeschlossen oder sich aufgelöst, um zu umherstreifenden Dieben zu werden.

Die Vorhut hatte das Gebiet bereits gesichert, und Hauptmann Guybon salutierte, als Angehörige der Königlichen Leibwache – sie bestand nun aus Männern und Frauen – Elaynes Pferd umgaben. Unentwegt roch es nach Rauch, und Caemlyn wie den Drachenberg schwelen zu sehen warf eine Handvoll bitteres Pulver in den Kessel aufgewühlter Gefühle, die in ihr brodelten.

Die einst so stolze Stadt war tot, ein Scheiterhaufen, der hundert verschiedene Rauchsäulen zu den Sturmwolken am Himmel schickte. Der Qualm erinnerte sie an die Frühlingsfeuer, wenn die Bauern Felder abbrannten, um sie für die Neubepflanzung zu roden. Nicht einmal hundert Tage hatte ihre Herrschaft über Caemlyn gedauert, und nun war es schon verloren.

Wenn Drachen das einer Stadt antun können, dachte sie und betrachtete die Bresche, die Talmanes in die Stadtmauer geschossen hatte, dann muss sich die Welt verändern. Alles, was wir über die Kriegskunst wissen, wird sich verändern.

»Wie viele, was würdet Ihr sagen?«, fragte sie den Mann, der an ihrer Seite ritt. Talmanes hatte sich nur einen Tag von der Tortur erholen können, die ihn eigentlich das Leben hätte kosten müssen. Er wäre besser in Merrilor geblieben; mit Sicherheit würde er in absehbarer Zukunft nicht an der Front kämpfen.

»Es ist unmöglich, sie zu zählen, so verborgen sind sie in der Stadt, Euer Majestät«, sagte er mit einer respektvollen Verneigung. »Zehntausende, aber vermutlich keine Hunderttausende.«

Ihre Gegenwart machte den Burschen nervös, und das zeigte er auf eine sehr cairhienische Weise – er sprach mit blumigem Respekt. Angeblich sollte er einer von Mats vertrauenswürdigsten Offizieren sein; eigentlich wunderte sie sich, dass Mat ihn nicht mehr verdorben hatte. Er hatte nicht einmal geflucht. Schade.

In der Nähe öffneten sich weitere Wegetore auf dem vergilbten Gras, und ihre Streitkräfte traten hindurch, füllten Täler und Hügel. Sie hatte ein ordentliches Heer zusammengestellt, in dem sich unter anderem viele der Siswai’aman befanden, die ihre Leibwache und die regulären Andoraner unter dem Befehl von Birgitte und Hauptmann Guybon verstärkten. Ein zweites Kontingent Aiel – Töchter, Weise Frauen und Krieger – war zusammengestellt worden, um gemeinsam mit Rand nach Norden zum Shayol Ghul zu reisen.

Nur wenige Weise Frauen hatten Elayne begleitet, und zwar jene aus Perrins Gefolge. Sie hätte gern über mehr Machtlenker verfügt. Aber sie hatte die Bande und ihre Drachen, was wieder ausgleichen sollte, dass ihre einzigen anderen Machtlenkerinnen Kusinen waren, von denen viele nicht besonders stark in der Macht waren.

Perrin und seine Truppen begleiteten sie. Das schloss die Geflügelten Wächter von Mayene ein, die ghealdanische Kavallerie, die Weißmäntel – sie wusste noch immer nicht, was sie davon halten sollte – und eine Kompanie Bogenschützen aus den Zwei Flüssen unter dem Kommando von Tam al’Thor. Dann war da noch eine Gruppe, die sich selbst als Wolfsgarde bezeichnete; das waren größtenteils Flüchtlinge, die zu Soldaten geworden waren und von denen einige immerhin eine Kampfausbildung genossen hatten. Und natürlich hatte sie Hauptmann Bashere und seine Legion des Drachen.

Basheres Plan für die Schlacht um Caemlyn hatte sie akzeptiert. Wir werden den Kampf in die Wälder ziehen müssen, hatte er erklärt. Die Bogenschützen werden tödlich sein, sie können sich ihre Ziele aussuchen, wenn die Trollocs kommen. Wenn sich diese Jungs im Wald so gut bewegen können, wie man mir berichtet hat, werden sie auch nach ihrem Rückzug noch genauso gefährlich sein.

Auch die Aiel würden im Wald tödliche Kämpfer sein, wo die Trollocs ihre Gegner nicht mit ihren Massen überrennen konnten. Bashere ritt ganz in ihrer Nähe. Anscheinend hatte Rand ihm befohlen, auf sie aufzupassen, als würde nicht schon Birgitte bei jeder ihrer Bewegungen zusammenzucken.

Rand sollte besser auf sich aufpassen, damit ich ihm sagen kann, was ich von ihm halte, dachte sie, als Bashere, in eine leise Unterhaltung mit Birgitte vertieft, näher kam. Bashere war ein Mann mit krummen Beinen und einem dichten Schnauzbart. Elayne gegenüber verhielt er sich nicht so, wie es für einen Mann angesichts einer Königin angebracht gewesen wäre … andererseits war die Königin von Saldaea seine Nichte, also fühlte er sich in der Gegenwart von Königen vermutlich nicht gehemmt.

Er steht an erster Stelle in der Thronfolge, rief sich Elayne ins Gedächtnis zurück. Die Zusammenarbeit mit ihm würde genügend Gelegenheiten bieten, ihre Bindungen an Saldaea weiter zu vertiefen. Die Vorstellung, dass eines ihrer Kinder eines Tages auf diesem Thron saß, gefiel ihr noch immer. Sie legte eine Hand auf den Bauch. Die Babys traten nun immer häufiger. Niemand hatte ihr gesagt, dass es so viel Ähnlichkeit mit … nun ja, Verstopfung haben würde. Unglücklicherweise hatte Melfane entgegen jeder Wahrscheinlichkeit Ziegenmilch gefunden.

»Neuigkeiten?«, fragte Elayne, als Birgitte und Bashere eintrafen und Talmanes sein Pferd zur Seite lenkte, um Platz zu machen.

»Die Späherberichte über die Stadt sind da«, sagte Bashere.

»Der Hauptmann hatte recht«, sagte Birgitte. »Die Trollocs wurden an die Leine gelegt, und die Brände sind größtenteils erloschen. Gut die Hälfte der Stadt steht noch. Ein großer Teil des Rauchs, den wir sehen können, kommt von Kochfeuern und nicht von brennenden Häusern.«

»Trollocs sind dumm«, sagte Bashere, »aber Halbmenschen nicht. Die Trollocs hätten mit Begeisterung die Stadt verwüstet und überall Feuer gelegt, aber dann hätte das Risiko bestanden, dass ihnen die Brände entgleiten. Aber wie dem auch sei, die Wahrheit sieht nun einmal so aus, dass wir nicht wissen, was der Schatten dort plant, aber immerhin haben sie die Möglichkeit, die Stadt für eine Weile zu halten, sollten sie das wollen.«

»Und werden sie es versuchen?«, fragte Elayne.

»Ich weiß es wahrhaftig nicht«, erwiderte Bashere. »Wir kennen ihre Ziele nicht. Sollte dieser Angriff auf Caemlyn Chaos bringen und unseren Armeen Furcht einjagen? Oder soll damit eine Festung erobert werden, die dann für längere Zeit als Basis dient, aus der man ständig unsere Streitkräfte angreift? Damals im Trolloc-Krieg haben die Blassen Städte aus diesem Grund gehalten.«

Elayne nickte.

»Entschuldigung, Euer Majestät?« Sie drehte sich um und sah einen der Männer von den Zwei Flüssen vortreten. Einer ihrer Anführer, Tams Stellvertreter. Dannil, dachte sie, das ist sein Name.

»Euer Majestät«, wiederholte Dannil. Er zeigte eine gewisse Unsicherheit, sprach aber nicht ungebildet. »Lord Goldauge hat seine Männer im Wald ihre Positionen einnehmen lassen.«

»Lord Talmanes, habt Ihr Eure Drachen in Position gebracht?«

»Fast«, sagte Talmanes. »Verzeihung, Euer Majestät, aber ich bin nicht davon überzeugt, dass die Bogen gebraucht werden, nachdem diese Waffen gefeuert haben. Seid Ihr sicher, dass Ihr nicht mit den Drachen anfangen wollt?«

»Wir müssen die Trollocs in den Kampf locken«, erwiderte Elayne. »Die Stellung, die ich skizzierte, wird am besten funktionieren. Bashere, was ist mit meinem Plan für die Stadt selbst?«

»Ich glaube, es ist fast alles fertig, aber ich will es noch einmal überprüfen«, sagte Bashere und rieb sich nachdenklich den Schnurrbart. »Eure Frauen haben gute Wegetore gemacht, und Mayene gab uns das Öl. Seid Ihr sicher, dass Ihr etwas so Drastisches tun wollt?«

»Ja.«

Bashere wartete auf eine ausführlichere Antwort, vielleicht sogar eine Erklärung. Als sie schwieg, trieb er sein Pferd an und gab die letzten Befehle. Elayne ritt auf Mondschatten die Reihen der Soldaten hier an der Frontlinie ab, wo sie sich in der Nähe der Wälder aufgestellt hatten. In diesen letzten Augenblicken, während ihre Befehlshaber Anweisungen gaben, konnte sie nicht viel tun, aber sie konnte sich sehen lassen, wie sie voller Zuversicht dort ritt. Wo sie vorbeikam, hoben die Männer ihre Piken höher und nahmen das Kinn hoch.

Elayne hielt den Blick auf die schwelende Stadt gerichtet. Sie würde nicht wegschauen, und sie würde sich nicht von ihrer Wut übermannen lassen. Sie würde diese Wut benutzen.

Kurze Zeit später kehrte Bashere zu ihr zurück. »Es ist getan. Die Keller vieler der noch stehenden Gebäude sind mit Öl gefüllt. Talmanes und die anderen haben ihre Plätze eingenommen. Sobald Eure Behüterin mit der Vollzugsmeldung zurückkehrt, dass die Kusinen für die nächste Runde Wegetore bereit sind, können wir weitermachen.«

Elayne nickte, dann nahm sie die Hand vom Bauch, als Bashere dorthin blickte. Sie war sich gar nicht bewusst gewesen, dass sie wieder hingefasst hatte. »Was haltet Ihr davon, dass ich schwanger in die Schlacht reite? Ist das ein Fehler?«

Er schüttelte den Kopf. »Nein. Es beweist nur, wie verzweifelt unsere Situation ist. Es wird die Soldaten nachdenklich machen. Wird sie ernster machen. Außerdem …«

»Was?«

Bashere zuckte mit den Schultern. »Vielleicht erinnert es sie daran, dass nicht alles auf der Welt stirbt.«

Elayne richtete den Blick wieder auf die ferne Stadt. Bauern brannten im Frühling ihre Felder ab, um sie für neues Leben vorzubereiten. Vielleicht machte Andor genau das gerade durch.

»Verratet mir eines«, sagte Bashere. »Werdet Ihr den Männern sagen, dass Ihr das Kind des Lord Drachen tragt?«

Kinder, korrigierte Elayne in Gedanken. »Ihr glaubt etwas zu wissen, das vielleicht stimmt, vielleicht aber auch nicht, Lord Bashere.«

»Ich habe eine Frau und eine Tochter. Ich erkenne den Blick in Euren Augen, wenn Ihr den Lord Drachen anseht. Keine schwangere Frau berührt ihren Bauch so andächtig, wenn sie einen Mann ansieht, der nicht der Vater ist.«

Elaynes Lippen verzogen sich zu einem schmalen Strich.

»Warum verbergt Ihr das?«, wollte Bashere wissen. »Ich habe gehört, was einige der Männer denken. Sie sprechen von einem anderen Mann, einem Schattenfreund namens Mellar, der einst der Hauptmann Eurer Gardistinnen war. Ich erkenne, dass die Gerüchte falsch sind, aber andere sind nicht so klug. Ihr könntet diesen Gerüchten ganz leicht ein Ende bereiten.«

»Rands Kinder werden Zielscheiben sein«, sagte sie.

»Ah …«, erwiderte er. Er bearbeitete wieder den Schnurrbart.

»Falls Ihr diesem Schluss nicht zustimmt, Bashere, dann sagt es. Ich ertrage keine Kriecher.«

»Ich bin kein Kriecher, Frau«, sagte er eingeschnappt. »Aber ich bezweifle doch sehr, dass Euer Kind kein größeres Ziel sein könnte, als es das bereits ist. Ihr seid die Befehlshaberin der Armeen des Lichts! Ich glaube, Eure Männer verdienen zu wissen, wofür genau sie kämpfen.«

»Das geht Euch nichts an«, erwiderte Elayne, »und sie auch nicht.«

Bashere hob eine Braue. »Der Erbe des Reiches«, sagte er trocken, »geht seine Untertanen nichts an?«

»Ich glaube, Ihr überschreitet Eure Grenzen, General

»Schon möglich«, sagte er. »Vielleicht hat die viele Zeit, die ich mit dem Lord Drachen verbrachte, mein Benehmen verzerrt. Dieser Mann … man kann nie sagen, was er gerade denkt. Die Hälfte der Zeit hatte es den Anschein, als würde er mich gleich in zwei Stücke hauen, bloß weil ich die Bemerkung gewagt hatte, dass der Himmel ziemlich dunkel aussieht.« Bashere schüttelte den Kopf. »Denkt einfach darüber nach, Euer Majestät. Ihr erinnert mich an meine Tochter. Sie hätte etwas Ähnliches getan, und das ist der Rat, den ich ihr geben würde. Eure Männer werden tapferer kämpfen, wenn sie wissen, dass Ihr den Erben des Wiedergeborenen Drachen zur Welt bringt.«

Männer, dachte Elayne. Die Jungen wollen mich mit jeder albernen Tat beeindrucken, die ihnen in den närrischen Sinn kommt. Die Alten gehen davon aus, dass jede junge Frau einen Vortrag braucht.

Sie richtete den Blick wieder auf die Stadt, als Birgitte heranritt und ihr zunickte. Die Keller waren mit Öl und Pech gefüllt.

»Brennt sie nieder«, sagte Elayne laut.

Birgitte schwenkte die Hand. Die Kusinen öffneten nacheinander ihre Wegetore, und Männer schleuderten durch sie Fackeln in die Keller von Caemlyn. Es dauerte nicht lange, bis der Rauch über der Stadt dunkler und unheilvoller wurde.

»Das werden sie nicht wieder so schnell löschen«, sagte Birgitte leise. »Nicht bei dem trockenen Wetter, das wir haben. Die ganze Stadt wird wie ein Heuhaufen brennen.«

Die versammelte Armee starrte die Stadt an, vor allem die Angehörigen der Königlichen Leibgarde und das andoranische Militär. Einige von ihnen salutierten, wie man vielleicht dem Scheiterhaufen eines gefallenen Helden salutierte.

Elayne biss die Zähne zusammen, dann sagte sie: »Birgitte, verbreite das unter der Garde. Die Kinder, die ich unter dem Herzen trage, wurden vom Wiedergeborenen Drachen gezeugt.«

Basheres Lächeln wurde breiter. Unerträglicher Mann! Birgitte lächelte, als sie loszog, die Nachricht zu verbreiten. Sie war genauso unerträglich.

Die Männer von Andor schienen größer und irgendwie stolzer dazustehen, als sie zusahen, wie ihre Hauptstadt brannte. Bald strömten Trollocs von den Flammen vertrieben aus den Toren. Elayne vergewisserte sich, dass die Tiermenschen ihr Heer sahen, dann verkündete sie: »Nach Norden!« Sie wendete Mondschatten. »Caemlyn ist tot! Wir ziehen in die Wälder; soll uns das Schattengezücht folgen!«


Androl erwachte mit Erde im Mund. Er stöhnte, versuchte sich auf die Seite zu drehen, war aber irgendwie festgebunden. Er spuckte aus, befeuchtete sich die Lippen und blinzelte mit den verklebten Augen.

Mit Seilen gefesselt lag er zusammen mit Jonneth und Emarin an einer Wand aus Erde. Er erinnerte sich … Licht! Die Decke war eingestürzt.

Pevara?, dachte er angestrengt. Es war unglaublich, wie natürlich sich diese Art der Kommunikation mittlerweile anfühlte.

Ein Gefühl der Benommenheit war die Belohnung. Der Bund ließ ihn wissen, dass sie in der Nähe war, vermutlich ebenfalls gefesselt. Die Eine Macht blieb ihm ebenfalls vorenthalten; er griff danach, prallte aber gegen eine Abschirmung. Seine Fesseln waren an irgendeiner Art Haken im Boden festgemacht, der seine Bewegungen einschränkte.

Mit einiger Mühe bezwang Androl seine Panik. Er konnte Nalaam nirgendwo sehen. Wo war er? Sie lagen alle gefesselt in einem großen Raum, und die Luft roch nach feuchter Erde. Sie befanden sich noch immer im Untergrund, irgendwo in Taims geheimem Stützpunkt.

Wenn die Decke eingestürzt ist, dachte er, wurden die Zellen möglicherweise dabei zerstört. Das erklärte, warum er und die anderen gefesselt, aber nicht eingesperrt waren.

Jemand schluchzte.

Mühsam schaute er zur anderen Seite und entdeckte den gefesselten Evin in der Nähe. Der junge Mann zitterte am ganzen Leib und weinte.

»Schon gut, Evin«, flüsterte er. »Wir finden einen Ausweg.«

Evin starrte ihn entsetzt an. Der Junge war auf andere Weise gefesselt, die Hände auf dem Rücken, in aufrecht sitzender Position. »Androl? Androl, es tut mir so leid

Androl verspürte ein Unbehagen in der Magengrube. »Was denn?«

»Sie kamen, nachdem der Rest von euch gerade gegangen war. Ich glaube, sie wollten Emarin holen. Um ihn Umzudrehen. Als er nicht da war, fingen sie an, Fragen zu stellen, Forderungen. Sie brachen mich, Androl. Ich knickte so schnell ein. Es tut mir leid …«

Also hatte Taim die getöteten Wächter gar nicht entdeckt. »Das ist nicht Eure Schuld, Evin.«

In der Nähe ertönten Schritte. Androl täuschte Besinnungslosigkeit vor, aber jemand versetzte ihm einen Tritt. »Ich hab dich reden sehen, Page«, sagte Mishraile und beugte sich mit seinem blonden Kopf nach unten. »Ich werde es genießen, dich zu töten, für das, was du mit Coteren gemacht hast.«

Androl machte die Augen auf und sah den zusammengesunkenen Logain, der von Mezar und Welyn gehalten wurde. Sie schleiften ihn weiter und warfen ihn grob zu Boden. Logain regte sich und stöhnte, als sie ihn fesselten. Dann richteten sie sich wieder auf, und einer spuckte Androl an, bevor er sich Emarin zuwandte.

»Nein«, sagte Taim. Er war ebenfalls irgendwo hier. »Der Junge kommt als Nächster. Der Große Herr will Resultate sehen. Logain braucht zu lange.«

Evins Schluchzen wurde lauter, als Mezar und Welyn ihn unter den Armen packten.

»Nein!«, stieß Androl hervor und wand sich. »Nein! Taim, soll man Euch verbrennen! Lasst ihn in Ruhe! Nehmt mich!«

Taim stand mit auf dem Rücken gehaltenen Händen in der Nähe; er trug eine schneidige schwarze Uniform, die denen der Asha’man ähnelte, aber mit Silber abgesetzt war. Der Kragen wies keinerlei Anstecknadeln auf. Er wandte sich Androl zu, dann verzog er höhnisch das Gesicht. »Dich nehmen? Soll ich dem Großen Herrn einen Mann präsentieren, der nicht einmal genug Macht lenken kann, um ein Steinchen zu zerquetschen? Dich hätte ich schon vor langer Zeit aussortieren sollen.«

Taim folgte den anderen beiden, die den sich verzweifelt wehrenden Evin wegschleiften. Androl schrie sie an und brüllte, bis er heiser war. Sie brachten Evin auf die andere Seite des Raums – er war außerordentlich groß –, und Androl konnte sie dank seiner gefesselten Position nicht länger sehen. Er ließ den Kopf auf den Boden sinken und schloss die Augen. Das verhinderte nicht, dass er die Entsetzensschreie des armen Evin hörte.

»Androl?«, flüsterte Pevara.

»Ruhe.« Mishrailes Stimme folgte ein dumpfes Klatschen und ein Stöhnen der Aes Sedai.

Ich fange wirklich langsam an, diesen hier zu hassen, übermittelte Pevara.

Androl gab keine Antwort.

Sie haben sich die Mühe gemacht, uns aus dem eingestürzten Raum zu graben, fuhr Pevara fort. Ich erinnere mich an ein paar Bruchstücke, bevor sie mich abschirmten und bewusstlos schlugen. Anscheinend ist seitdem nicht einmal ein Tag vergangen. Ich vermute, Taim hat noch nicht seine Quote von Schattenlords zusammen, die man für den Schatten Umgedreht hat.

Sie schickte ihre Gedanken völlig ungezwungen.

Hinter ihnen verstummten Evins Schreie.

Oh, beim Licht! War das Evin? Aus ihrem Ton verschwand sämtliche Unbekümmertheit. Was geschieht mit ihm?

Sie nehmen ihn sich vor, erwiderte Androl. Widerstand hat etwas mit Willenskraft zu tun. Darum ist Logain auch noch nicht Umgedreht.

Pevaras Sorge strömte wie Wärme durch den Bund. Waren alle Aes Sedai so wie sie? Er war immer davon ausgegangen, dass sie keine Gefühle hatten, aber bei Pevara war das ganze Spektrum zu sehen – obwohl bei ihr eine beinahe unmenschliche Kontrolle über diese Gefühle hinzukam. Ein weiteres Resultat jahrzehntelanger Übung?

Wie entkommen wir?, dachte sie.

Ich versuche meine Fesseln zu lösen. Meine Finger sind steif.

Ich kann den Knoten sehen. Er sitzt fest, aber ich könnte Euch vielleicht führen.

Er nickte, und sie fingen an. Pevara beschrieb die Windungen des Knotens, während Androl versuchte, sie mit den Fingern zu erwischen. Aber es gelang ihm nicht, kräftig genug zugreifen zu können; er versuchte, seine Hände herauszuziehen, aber das Seil saß zu fest.

Als er endlich seine Niederlage akzeptierte, waren seine Finger von der mangelnden Durchblutung ganz taub. Das funktioniert nicht, übermittelte er.

Ich habe versucht, aus dieser Abschirmung zu schlüpfen, erwiderte Pevara. Es ist möglich, und ich glaube, unsere Abschirmungen könnten verknotet sein. Verknotete Abschirmungen können versagen.

Androl antwortete mit Zustimmung, konnte seine Frustration aber nicht unterdrücken. Wie lange hielt Evin wohl durch?

Die Stille verhöhnte ihn. Warum konnte er nichts hören? Dann fühlte er etwas. Die Macht wurde gelenkt. Konnten das dreizehn Männer sein? Beim Licht. Falls dort auch dreizehn Myrddraal waren, war die Situation so gut wie hoffnungslos. Was sollten sie tun, falls sie entkamen? Gegen so viele konnten sie nicht kämpfen.

Welche Klippe habt Ihr gewählt?, wollte Pevara wissen.

Was?

Ihr habt doch gesagt, dass das Meervolk von Klippen sprang, um seinen Mut zu beweisen. Je höher die Klippe, umso mutiger der Springer. Welche Klippe habt Ihr gewählt?

Die höchste, gab er zu.

Warum?

Ich fand, wenn man sich schon dazu entscheidet, von einer Klippe zu springen, kann man auch die höchste wählen. Warum das Risiko eingehen, wenn man nicht den größten Preis erringt?

Pevara übermittelte Zustimmung. Wir werden entkommen, Androl. Irgendwie.

Er nickte, hauptsächlich um sich selbst Mut zu machen, und nestelte wieder an dem Knoten herum.

Ein paar Augenblicke später kehrten Taims Komplizen zurück. Evin ging neben Androl in die Hocke. Hinter seinen Augen lauerte etwas anderes, etwas Schreckliches. Er lächelte. »Nun, das war gar nicht so schlimm, wie ich es mir vorgestellt hatte, Androl.«

»Ach, Evin …«

»Sorge dich nicht um mich«, sagte der Junge und legte Androl die Hand auf die Schulter. »Ich fühle mich großartig. Keine Ängste mehr, keine Sorgen. Wir hätten uns nicht die ganze Zeit über streiten sollen. Wir sind die Schwarze Burg. Wir müssen zusammenarbeiten.«

Du bist nicht mein Freund, dachte Androl. Du hast ja vielleicht sein Gesicht, aber Evin … Oh, Licht. Evin ist tot.

»Wo ist Nalaam?«, fragte er.

»Ich fürchte, bei dem Einsturz gestorben.« Evin schüttelte den Kopf. Er beugte sich vor. »Sie wollen dich töten, Androl, aber ich glaube, dass ich sie davon überzeugen kann, dass du es durchaus wert bist, Umgedreht zu werden. Du wirst mir am Ende danken.«

Das schreckliche Ding in Evins Augen lächelte, klopfte Androl auf die Schulter, erhob sich dann und fing an, mit Mezar und Welyn zu plaudern.

Nur mühsam vermochte Androl die dreizehn Schatten auszumachen, die kamen, um Emarin zu nehmen und ihn wegzuzerren, um ihn als Nächsten Umzudrehen. Blasse, mit Umhängen, die sich nicht bewegten.

Nalaam hatte wirklich Glück gehabt, bei dem Einsturz zu sterben.

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