5 Die Bitte um eine Gunst

Rand al’Thor erwachte und nahm einen tiefen Atemzug. Er schlüpfte unter den Decken hervor, ließ Aviendha schlafen und warf sich einen Mantel über. Die Luft roch feucht.

Unwillkürlich musste er an die Morgen in seiner Jugend denken, als er vor Tagesanbruch aufgestanden war, um die Kuh zu melken, die zweimal am Tag gemolken werden musste. Mit geschlossenen Augen erinnerte er sich an den Lärm, den Tam, der schon viel früher aufgestanden war, in der Scheune gemacht hatte, wo er neue Zaunlatten zurechtschnitt. Erinnerte sich an die kühle Luft, mit den Füßen aufzustampfen, damit die Stiefel richtig saßen, sich das Gesicht mit Wasser zu waschen, das neben dem Herd stand und noch warm war.

Ein Bauer konnte jeden Morgen die Tür öffnen und auf eine Welt hinausschauen, die noch neu war. Scharfer Frost. Die ersten zögerlichen Vogelstimmen. Sonnenlicht am Horizont, als würde die Welt am Morgen gähnen.

Rand ging zum Zelteingang und zog die Plane zur Seite, nickte Katerin zu, einer kleinen blonden Tochter, die auf ihrem Posten stand. Er schaute auf eine Welt hinaus, die alles andere als neu war. Diese Welt war alt und müde, wie ein Kesselflicker, der zu Fuß zum Rückgrat der Welt und zurück gelaufen war. Das Feld von Merrilor war voller Zelte, der Rauch von Kochfeuern wehte säulenförmig dem noch dunklen Morgenhimmel entgegen.

Überall arbeiteten Männer. Soldaten ölten Rüstungen. Schmiede schärften Speerspitzen. Frauen bereiteten Federn vor, um Pfeile zu befiedern. Küchenkarren servierten Männern Frühstück, die besser geschlafen haben mussten als er. Jeder wusste, dass das ihre letzten Augenblicke vor dem Sturm waren.

Rand schloss die Augen. Er konnte das Land selbst fühlen, als teilten sie einen schwachen Behüterbund. Unter seinen Füßen krochen Raupen durch das Erdreich. Graswurzeln breiteten sich ganz langsam aus und suchten Nahrung. Die skeletthaften Bäume waren nicht tot, denn Wasser sickerte durch ihr Inneres. Sie schlummerten. Rotkehlchen drängten sich auf einem Baum in der Nähe. Sie begrüßten die eintreffende Morgendämmerung nicht. Sie drängten sich aneinander, als suchten sie Wärme.

Noch lebte das Land. Aber es lebte wie ein Mann, der sich mit den Fingerspitzen am Rand des Abgrunds festklammerte.

Rand öffnete die Augen. »Sind meine Sekretäre aus Tear zurückgekehrt?«

»Ja, Rand al’Thor«, sagte Katerin.

»Schickt den Herrschern eine Botschaft. Ich treffe sie in einer Stunde in der Mitte des Feldes, wo laut meinem Befehl keine Zelte aufgeschlagen werden durften.«

Katerin lief los, um seine Befehle weiterzugeben; drei andere Töchter in der Nähe übernahmen die Wache. Rand schloss den Zelteingang und drehte sich um, dann zuckte er zusammen, als er Aviendha so nackt wie am Tag ihrer Geburt mitten im Zelt stehen sah.

»Es ist sehr schwer, sich an dich heranzuschleichen, Rand al’Thor«, verkündete sie mit einem Lächeln. »Der Bund verschafft dir viel zu viele Vorteile. Ich muss mich ganz langsam bewegen, wie eine Echse um Mitternacht, damit sich dein Eindruck, wo ich gerade bin, nicht zu schnell anpasst.«

»Licht, Aviendha! Warum musst du dich überhaupt an mich anschleichen?«

»Darum«, sagte sie, machte einen Satz nach vorn, packte seinen Kopf, küsste ihn und drückte ihren Körper an ihn.

Er entspannte sich und genoss den Kuss. »Eigentlich überrascht es nicht«, murmelte er um ihre Lippen herum, »dass das viel mehr Spaß macht, weil ich mir keine Sorgen machen muss, etwas abzufrieren, während ich es tue.«

Aviendha löste sich von ihm. »Du solltest diesen Vorfall nicht erwähnen, Rand al’Thor.«

»Aber …«

»Mein Toh ist bezahlt, und ich bin jetzt Elaynes Erstschwester. Erinnere mich nicht an eine Schande, die vergessen ist.«

Schande? Warum sollte sie sich deshalb schämen, wo sie doch gerade … Er schüttelte den Kopf. Er konnte das Land atmen hören, konnte einen Käfer auf einem meilenweit entfernten Blatt fühlen, nur Aiel konnte er manchmal nicht verstehen. Aber vielleicht galt das ja auch nur für Frauen.

In diesem Fall traf vermutlich beides zu.

Aviendha zögerte neben dem Fass mit frischem Wasser. »Ich nehme an, wir haben keine Zeit für ein Bad.«

»Ach, du badest jetzt gern?«

»Ich habe es als einen Teil meines Lebens akzeptiert«, sagte sie. »Wenn ich in den Feuchtländern leben muss, werde ich einige Bräuche der Feuchtländer annehmen. Wenn sie nicht albern sind.« Ihr Tonfall deutete an, dass das für die meisten zutraf.

»Was ist los?«, fragte Rand und trat zu ihr.

»Was soll los sein?«

»Etwas macht dir zu schaffen. Ich kann es dir ansehen, es in dir fühlen.«

Sie musterte ihn argwöhnisch. Licht, sie war so wunderschön.

»Mit dir konnte man wesentlich leichter umgehen, als du noch nicht die uralte Weisheit deines früheren Ichs hattest, Rand al’Thor.«

Er lächelte. »Tatsächlich? So hast du dich damals aber nicht verhalten.«

»Da war ich auch noch wie ein Kind, unerfahren in Rand al’Thors grenzenloser Fähigkeit, einen verrückt zu machen.« Sie tauchte die Hände ins Wasser und wusch sich das Gesicht. »Alles ist gut; hätte ich gewusst, was du alles mit dir bringst, hätte ich vielleicht freiwillig für immer das Weiß angezogen.«

Lächelnd griff er nach der Macht, webte Wasser und zog die Flüssigkeit in einer Säule aus dem Fass. Aviendha trat zurück und sah neugierig zu.

»Die Vorstellung, dass ein Mann die Macht lenkt, scheint dich nicht länger zu stören«, bemerkte er, während er das Wasser in der Luft ausbreitete und mit einem Strang Feuer erhitzte.

»Dazu gibt es keinen Grund mehr. Würde es mich stören, dass du die Macht lenkst, würde ich mich wie ein Mann benehmen, der sich weigert, die Schande einer Frau zu vergessen, nachdem ihr Toh erledigt ist.« Sie musterte ihn.

»Ich kann mir nicht vorstellen, dass jemand so unhöflich sein sollte«, meinte er, warf den Mantel zur Seite und stellte sich vor sie. »Hier, das ist ein Relikt dieser ›uralten Weisheit‹, die du anscheinend so nervenaufreibend findest.«

Er holte das auf perfekte Temperatur erwärmte Wasser heran und zerdrückte es zu einem dichten Sprühregen, der um sie herum fiel. Aviendha keuchte auf und packte seinen Arm. Die Bräuche der Feuchtländer mochten ihr ja immer vertrauter werden, aber Wasser bereitete ihr noch immer sowohl Unbehagen wie auch andächtiges Entzücken.

Rand ergriff mit Luft ein Stück Seife, zerteilte sie und mischte die Flocken ins Wasser, ließ einen Strom Seifenblasen um ihre Körper brausen. Ihre Haare wehten nach oben. Er wrang Aviendhas Haar wie zu einer Säule zusammen, bevor er es sanft wieder auf ihre Schultern fallen ließ.

Eine weitere Welle warmen Wassers spülte die Seife ab, dann entfernte er den größten Teils der Feuchtigkeit, was sie feucht, aber nicht klatschnass zurückließ. Das Wasser kam zurück in das Fass, und er ließ Saidin mit einem gewissen Bedauern los.

Aviendha keuchte. »Das … Das war völlig närrisch und verantwortungslos.«

»Danke«, sagte er, ergriff ein Handtuch und warf es ihr zu. »Du würdest das meiste von dem, was wir während des Zeitalters der Legenden taten, als närrisch und verantwortungslos bezeichnen. Das war eine andere Zeit, Aviendha. Es gab viel mehr Machtlenker, und wir wurden von Kindheit an darin unterrichtet. Wir mussten nicht wissen, was Krieg ist oder wie man tötet. Wir hatten Schmerz, Hunger, Leid und Krieg ausgemerzt. Stattdessen benutzten wir die Eine Macht für Dinge, die vielleicht ganz gewöhnlich erscheinen.«

»Ihr hattet bloß angenommen, den Krieg ausgemerzt zu haben.« Aviendha schnaubte. »Ihr habt euch geirrt. Eure Dummheit hat euch schwach gemacht.«

»Das tat sie. Aber ich weiß nicht, ob ich die Dinge geändert hätte. Da gab es so viele gute Jahre. Gute Jahrzehnte, gute Jahrhunderte. Wir glaubten, in einem Paradies zu leben. Vielleicht war das ja unser Niedergang. Wir wollten, dass unser Leben perfekt ist, also ignorierten wir die Dinge, die nicht perfekt waren. Mangelnde Aufmerksamkeit vergrößerte Probleme, und vielleicht wäre der Krieg auch ohne die Bohrung unausweichlich gewesen.« Er trocknete sich mit der Macht ab.

»Rand.« Aviendha trat dicht an ihn heran. »Ich werde heute eine Gunst von dir erbitten.« Sie legte ihm die Hand auf den Arm. Ihre Haut war von ihren Tagen als Tochter voller Schwielen. Aviendha würde niemals eine zarte Dame wie die von den Höfen von Cairhien und Tear sein. Rand mochte das. Sie hatte Hände, die wussten, wie man arbeitete.

»Was für eine Gunst?«, fragte er. »Ich bin mir nicht sicher, dir heute überhaupt etwas abschlagen zu können.«

»Ich bin mir noch nicht sicher, was es sein wird.«

»Ich verstehe nicht.«

»Das musst du auch nicht«, sagte sie. »Und du brauchst mir auch nicht zu versprechen, dass du sie erfüllst. Ich fand, ich sollte dich vorher warnen, denn man greift seinen Geliebten nicht aus dem Hinterhalt an. Meine Gunst wird erfordern, dass du deine Pläne änderst, vielleicht sogar auf drastische Weise, und es wird wichtig sein.«

»Also gut …«

Sie nickte so geheimnisvoll wie immer und fing an, ihre Kleidung aufzusammeln, um sich für den Tag anzuziehen.


In ihrem Traum umrundete Egwene eine Glassäule. Sie erschien beinahe schon wie eine Säule aus Licht. Was hatte das zu bedeuten? Sie vermochte es nicht zu interpretieren.

Die Vision veränderte sich, und sie sah eine Kugel. Irgendwie war ihr klar, dass das die Welt war. Überall breiteten sich Sprünge aus. Mit fliegenden Fingern spannte sie Taue darum und strengte sich an, sie zusammenzuhalten. Es gelang ihr, ihre Zerstörung zu verhindern, aber es kostete so viel Kraft …

Sie verblich aus dem Traum und wachte ruckartig auf. Augenblicklich umarmte sie die Quelle und webte ein Licht. Wo war sie?

Sie trug ein Nachthemd und lag auf dem Bett in der Weißen Burg. Es handelte sich nicht um ihre eigenen Gemächer, die nach dem Angriff der Meuchelmörder noch immer nicht wieder bewohnbar waren. Ihr Arbeitszimmer verfügte über einen kleinen angrenzenden Schlafraum, und sie hatte sich dort hingelegt.

Ihr dröhnte der Schädel. Vage konnte sie sich daran erinnern, wie sie sich in der Nacht zuvor in ihrem Zelt auf dem Feld von Merrilor Berichte über den Untergang von Caemlyn angehört hatte, bis sie Mühe hatte, die Augen offen zu halten. Irgendwann zu später Stunde hatte Gawyn darauf bestanden, dass Nynaeve ein Wegetor zur Weißen Burg öffnete, damit sie in einem vernünftigen Bett und nicht auf einer Zeltpritsche schlafen konnte.

Murrend stand sie auf. Vermutlich hatte er recht gehabt, aber sie konnte sich deutlich daran erinnern, sich über seinen Tonfall geärgert zu haben. Niemand hatte ihn zurechtgewiesen, nicht einmal Nynaeve. Sie rieb sich die Schläfen. Die Kopfschmerzen waren bei Weitem nicht so schlimm wie damals, als sich Halima um sie »gekümmert« hatte, aber es reichte. Zweifellos gab ihr Körper seinem Unwillen darüber Ausdruck, wie wenig sie in den vergangenen Wochen geschlafen hatte.

Kurze Zeit später, nachdem sie sich angezogen und gewaschen hatte und sich etwas besser fühlte, verließ sie das Zimmer und fand Gawyn an Silvianas Schreibtisch sitzen. Er studierte einen Bericht und ignorierte eine Novizin, die neben der Tür stand.

»Wenn sie dich dabei erwischt, hängt sie dich an den Zehen aus dem Fenster«, meinte Egwene trocken.

Gawyn fuhr in die Höhe. »Das ist kein Bericht von ihrem Stapel«, protestierte er. »Das sind die neuesten Nachrichten von einer Schwester über Caemlyn. Sie kamen vor wenigen Minuten durch ein Wegetor.«

»Und du liest sie?«

Er errötete. »Verflucht, Egwene. Das ist mein Zuhause. Er war nicht versiegelt. Ich dachte …«

»Schon gut, Gawyn.« Sie seufzte. »Lass mal sehen.«

»Viel steht dort nicht«, sagte er mit einer Grimasse und gab ihr das Blatt. Ein Nicken von ihm ließ die Novizin aus dem Raum stürzen. Kurze Zeit später kam das Mädchen mit einem Tablett voller verschrumpelter Glockenfrüchte, Brot und einem Krug Milch zurück.

Egwene setzte sich an ihren Schreibtisch im Arbeitszimmer, um zu essen, und fühlte sich schuldig, als die Novizin ging. Der größte Teil der Aes Sedai aus der Burg und die Soldaten kampierten in Zelten auf dem Feld von Merrilor, während sie Obst aß – und es spielte keine Rolle, wie alt es war – und in einem bequemen Bett schlief.

Trotzdem hatten Gawyns Argumente Sinn gemacht. Wenn alle glaubten, sie sei in ihrem Zelt auf dem Feld, dann würden mögliche Attentäter dort zuschlagen. Nachdem die seanchanischen Meuchelmörder sie um ein Haar getötet hätten, war sie durchaus zu ein paar zusätzlichen Vorsichtsmaßnahmen bereit. Vor allem, wenn sie ihr halfen, etwas Schlaf zu finden.

»Diese Seanchanerin«, sagte sie und starrte in ihren Becher. »Die mit dem Illianer. Hast du mit ihr gesprochen?«

Er nickte. »Ich lasse die beiden von ein paar Burgwächtern bewachen. Nynaeve hat für sie gebürgt, gewissermaßen.«

»Wieso gewissermaßen?«

»Sie bezeichnete die Frau als wollköpfig, meinte aber, sie würde dir vermutlich nicht absichtlich schaden.«

»Großartig.« Nun, sie konnte eine Seanchanerin gebrauchen, die bereit war, zu reden. Beim Licht. Was, wenn sie zur gleichen Zeit gegen sie und die Trollocs kämpfen musste?

»Du hast dich nicht an deinen eigenen Rat gehalten«, sagte sie, als er sich auf einen der Stühle vor dem Tisch hinsetzte und sie seine geröteten Augen bemerkte.

»Jemand musste die Tür bewachen. Nachtwächter zu schicken hätte jedermann verraten, dass du nicht auf dem Feld bist.«

Sie nahm einen Bissen Brot – womit war das denn wohl gebacken? – und überflog den Bericht. Er hatte recht, aber ihr gefiel die Vorstellung nicht, dass er an einem Tag wie diesem nicht ausgeschlafen war. Der Behüterbund war auch nicht allmächtig.

»Also ist die Stadt tatsächlich verloren«, sagte sie. »Die Mauern haben Breschen, der Palast ist besetzt. Aber die Trollocs haben nicht die ganze Stadt niedergebrannt. Viele Viertel, aber nicht alles.«

»Ja«, erwiderte Gawyn. »Aber es ist offensichtlich, dass Caemlyn verloren ist.« Der Bund verriet ihr seine Anspannung.

»Es tut mir leid.«

»Viele sind entkommen, bei den vielen Flüchtlingen ist es jedoch schwer zu sagen, wie hoch die Stadtbevölkerung vor dem Angriff überhaupt war. Vermutlich sind Hunderttausende gestorben.«

Genug Menschen, um ein riesiges Heer aufzustellen, ausgelöscht in einer Nacht. Und das war vermutlich nur der Anfang der kommenden Gewalt. Wie viele waren bis jetzt in Kandor gestorben? Da konnte man nur schätzen.

In Caemlyn waren viele Vorräte des andoranischen Heeres gelagert gewesen. Egwene verspürte Übelkeit bei dem Gedanken, dass so viele Menschen, und zwar Hunderttausende, blindlings aus der brennenden Stadt ins Umland flüchteten. Und doch war dieser Gedanke weniger erschreckend als die Möglichkeit, dass Elaynes Truppen verhungerten. Vielleicht konnte sie mit Nahrung aushelfen, obwohl die Weiße Burg auch keine großen Reserven mehr hatte.

»Hast du die Bemerkung ganz unten gelesen?«, fragte Gawyn.

Das hatte sie nicht. Stirnrunzelnd suchte sie nach dem Satz, der ganz unten in Silvianas Handschrift stand. Rand al’Thor hatte verlangt, dass sich alle mit ihm trafen, und zwar um …

Sie schaute zu der alten Standuhr des Zimmers. Die Zusammenkunft war in einer halben Stunde. Sie stöhnte, dann schaufelte sie den Rest des Frühstücks in ihren Mund. Das war kein feines Benehmen, aber das Licht sollte sie verbrennen, wenn sie Rand mit leerem Magen gegenübertreten würde.

»Ich werde den Burschen erwürgen«, sagte sie und wischte sich das Gesicht ab. »Komm, los.«

»Wir können immer noch als Letzte kommen«, meinte Gawyn und stand auf. »Ihm zeigen, dass er uns keine Befehle geben kann.«

»Und ihm Gelegenheit geben, mit jedem zu sprechen, während ich nicht dabei bin, um für alles Gegenargumente zu bringen? Es gefällt mir nicht, aber im Augenblick hält Rand die Zügel. Alle sind viel zu neugierig, weil sie erfahren wollen, was er eigentlich plant.«

Sie webte ein Wegetor in ihr Zelt, in die Ecke, die sie für das Reisen reserviert hatte. Zusammen mit Gawyn trat sie hindurch und verließ das Zelt, betrat das Chaos auf dem Feld von Merrilor. Überall nur Gebrüll; in der Ferne donnerten Hufe, als Soldaten im Galopp ihre Positionen für die Zusammenkunft einnahmen. War Rand eigentlich klar, was er da getan hatte? Soldaten auf diese Weise zusammenzuziehen, sie nervös und voller Unsicherheit zurückzulassen, da konnte man auch direkt Feuerwerk in einen Topf packen und ihn auf den Herd stellen. Irgendwann würde schon etwas explodieren.

Egwene musste das Chaos in geordnete Bahnen lenken. Sie eilte aus dem Zelt, Gawyn einen Schritt hinter sich auf ihrer linken Seite, glättete ihre Miene. Die Welt brauchte eine Amyrlin.

Silviana wartete schon. Sie war ganz formell mit Stola und Stab ausgerüstet, als würden sie zu einer Zusammenkunft im Saal der Burg gehen.

»Kümmert Euch darum, sobald die Versammlung beginnt«, sagte Egwene und gab ihr den Bericht.

»Ja, Mutter«, erwiderte die Frau und setzte sich dann einen Schritt hinter ihr auf die rechte Seite. Egwene brauchte nicht hinzusehen, um zu wissen, dass sich Silviana und Gawyn geflissentlich ignorierten.

An der Westseite ihres Lagers fand Egwene eine Gruppe Aes Sedai, die sich stritten. Sie bahnte sich ihren Weg durch sie hindurch und ließ Schweigen zurück. Ein Stallbursche brachte ihr Pferd Sieber, einen reizbaren Wallach mit fleckiger Haut, und als sie aufstieg, betrachtete sie die Aes Sedai. »Nur Sitzende.«

Das rief eine Flut gesitteter Beschwerden hervor, von denen jede mit der Autorität einer Aes Sedai vorgetragen wurde. Jede Frau glaubte, ein Recht zu haben, an der Zusammenkunft teilzunehmen. Egwene starrte sie finster an, und langsam gehorchten die Frauen. Sie waren Aes Sedai; kleinlicher Zank lag unter ihrer Würde.

Die Sitzenden versammelten sich, und Egwene betrachtete das Feld von Merrilor, während sie wartete. Es handelte sich um ein großes Gebiet aus shienarischem Grasland, das die Form eines Dreiecks aufwies. An zwei Seiten von den sich hier vereinigenden Flüssen Mora und Erinin begrenzt, bestand die dritte Seite aus Wald. An einer Stelle des ebenen Geländes ragte der Dasharfels empor, eine ungefähr hundert Fuß hohe runde Felserhebung mit steilen Wänden; gegenüber auf der arafelischen Seite des Mora erhob sich die Polov-Anhöhe, ein etwa vierzig Fuß hoher, weitläufiger Hügel mit flacher Oberseite, der auf drei Seiten sanfte Hänge und auf der Flussseite einen steilen Abhang aufwies. Südwestlich der Polov-Anhöhe gab es Moorland, in dessen Nähe Untiefen im Mora lauerten, die auch unter dem Namen Hawalfurt bekannt waren und als bequemer Grenzübertritt zwischen Arafel und Shienar benutzt wurden.

Weit im Nordosten des Feldes befand sich ein Stedding der Ogier, das ein paar alten Steinruinen gegenüberstand. Egwene hatte dort kurz nach ihrer Ankunft einen Höflichkeitsbesuch gemacht, aber Rand hatte die Ogier nicht zu seiner Zusammenkunft eingeladen.

Armeen versammelten sich. Aus dem Westen, wo auch Rand sein Lager aufgeschlagen hatte, rückten die Flaggen der Grenzländer an. Darunter flatterte auch Perrins eigenes Banner. Schon seltsam, dass Perrin ein Banner haben sollte.

Aus dem Süden schlängelte sich Elaynes Prozession dem Treffpunkt entgegen, der sich genau in der Feldmitte befand. Die Königin ritt an der Spitze. Ihr Palast war niedergebrannt worden, aber sie hielt den Blick nach vorn gerichtet. Zwischen Perrin und Elayne marschierten die Tairener und Illianer – Licht, wer hatte diese Heere so nahe nebeneinander lagern lassen? – in voneinander getrennten Marschkolonnen; sie brachten beinahe ihre vollständigen Streitkräfte mit.

Am besten beeilte sie sich. Ihre Anwesenheit würde die Herrscher beruhigen und vielleicht Streit verhindern. Es würde ihnen nicht gefallen, in der Nähe so vieler Aiel zu sein. Abgesehen von den Shaido war hier jeder Clan mit einer Abordnung vertreten. Sie wusste noch immer nicht, ob sie Rand unterstützen würden oder sie. Einige der Weisen Frauen schienen auf ihre Bitten gehört zu haben, aber sie hatte keinerlei Versprechen erhalten.

Saerin zügelte neben ihr das Pferd. »Seht doch«, sagte die Braune Sitzende. »Habt Ihr das Meervolk eingeladen?«

Egwene schüttelte den Kopf. »Nein. Ich hielt die Wahrscheinlichkeit für zu gering, dass sie gegen Rand sind.« In Wahrheit hatte sie nach ihrem Treffen mit den Windsucherinnen in Tel’aran’rhiod nicht wieder mit ihnen verhandeln wollen. Sie hatte befürchtet, aufzuwachen und herausfinden zu müssen, dass sie nicht nur ihr Erstgeborenes, sondern auch die Weiße Burg selbst weggegeben hatte.

Sie veranstalteten ein ziemliches Spektakel, kamen in ihrer farbenprächtigen Kleidung durch Wegetore in der Nähe von Rands Lager, die Herrinnen der Wogen und ihre Meister der Klingen so stolz wie Monarchen.

Beim Licht. Ich frage mich, wann es das letzte Mal eine Zusammenkunft dieser Größenordnung gegeben hat. Hier war fast jede Nation vertreten, dazu kamen noch andere Gruppen, wenn man das Meervolk und die Aiel mit hinzurechnete. Es fehlten nur Murandy, Arad Doman und die von den Seanchanern besetzten Länder.

Endlich waren die letzten Sitzenden aufgesessen und kamen an ihre Seite. Egwene konnte es kaum erwarten, dass es losging, wagte aber nicht, sich das anmerken zu lassen. Also ritt sie ganz langsam auf den Treffpunkt zu. Brynes Soldaten kamen dazu und bildeten eine Eskorte aus stampfenden Stiefeln und in die Höhe gehaltenen Piken. Ihre weißen Wappenröcke zeigten die Flamme von Tar Valon, aber sie überstrahlten die Aes Sedai nicht. Sie marschierten so, dass sie alle Blicke auf die Frauen in ihrer Mitte lenkten. Andere Heere verließen sich auf die Stärke ihrer Waffen. Die Weiße Burg hatte etwas Besseres.

Jedes Heer kam an dem Treffpunkt in der Mitte des Feldes zusammen, wo laut Rands Befehl keine Zelte errichtet worden waren. So viele Heere an einem Ort, der perfekte Voraussetzungen für einen Sturmangriff bot. Das hier durfte auf gar keinen Fall schiefgehen.

Elayne setzte ein Beispiel, indem sie den größten Teil ihrer Streitmacht auf halbem Weg anhalten ließ und nur mit einer kleineren Leibwache aus etwa hundert Männern weiterritt. Egwene tat das Gleiche. Andere Anführer traten vor, während ihr Gefolge einen großen Kreis um die Feldmitte bildete.

Sonnenlicht fiel auf Egwene, als sie sich der Mitte näherte. Das perfekte Loch in der Wolkendecke über dem Feld war ihr nicht entgangen. Rand beeinflusste die Dinge auf seltsame Weise. Er musste nicht verkünden lassen, dass er da war, benötigte kein Banner. Wenn er in der Nähe war, zogen sich die Wolken zurück und Sonnenlicht fiel zu Boden.

Dennoch hatte es nicht den Anschein, dass er das Zentrum bereits betreten hatte. Sie gesellte sich zu Elayne. »Elayne, es tut mir so leid«, sagte sie nicht zum ersten Mal.

Die blonde Frau hielt den Blick nach vorn gerichtet. »Die Stadt ist verloren, aber die Stadt ist nicht die Nation. Wir brauchen diese Zusammenkunft, aber wir müssen das schnell hinter uns bringen, damit ich nach Andor zurückkehren kann. Wo ist Rand?«

»Er lässt sich Zeit«, erwiderte Egwene. »So war er schon immer.«

»Ich habe mit Aviendha gesprochen«, sagte Elayne. Ihr Pferd tänzelte und schnaubte. »Sie hat die letzte Nacht mit ihm verbracht, aber er wollte ihr nicht sagen, was er heute vorhat.«

»Er hat etwas von Forderungen gesagt«, meinte Egwene und sah zu, wie sich die Herrscher mit ihrem Gefolge versammelten. Darlin Sisnera, der König von Tear, war der Erste. Er würde sie unterstützen, obwohl er Rand seine Krone verdankte. Die seanchanische Bedrohung bereitete ihm noch immer große Sorgen. Der Mann mittleren Alters mit dem dunklen Spitzbart war nicht besonders attraktiv, aber er war selbstsicher und selbstbeherrscht. Er verbeugte sich im Sattel vor Egwene, und sie hielt ihm ihren Ring entgegen.

Zuerst zögerte er, dann stieg er ab und kam heran, neigte den Kopf und küsste den Ring. »Das Licht erleuchte Euch, Mutter.«

»Ich bin froh, Euch hier zu sehen, Darlin.«

»Solange Euer Versprechen gilt. Wegetore in meine Heimat, sollte es erforderlich werden.«

»Es wird geschehen.«

Er verneigte sich erneut und betrachtete dann einen Mann, der von der anderen Seite auf Egwene zuritt. Gregorin, der Verwalter von Illian, war in vielerlei Hinsicht Darlin gleichwertig – aber nicht in allem. Rand hatte Darlin zum Verwalter von Tear ernannt, aber die Hochlords hatten darum gebeten, dass man ihn zum König krönte. Gregorin war bloß Verwalter geblieben. Der hochgewachsene Mann hatte in letzter Zeit an Gewicht verloren, sein rundes Gesicht mit dem üblichen illianischen Bart erschien eingefallen. Er wartete nicht auf Egwenes Aufforderung; er schwang sich vom Sattel, nahm ihre Hand, machte eine elegante Verbeugung und küsste den Ring.

»Ich bin erfreut, dass Ihr beiden Eure Differenzen zur Seite legen konntet, um mich bei dieser Aufgabe zu unterstützen«, sagte Egwene und zog ihre Aufmerksamkeit von den gegenseitigen finsteren Blicken fort auf sie selbst.

»Die Absichten des Lord Drachen sind … besorgniserregend«, meinte Darlin. »Er erwählte mich zum Führer von Tear, weil ich ihm Widerstand leistete, als ich es für angebracht hielt. Ich glaube, er wird auf die Vernunft hören, wenn ich sie ihm darlege.«

Gregorin schnaubte. »Der Lord Drache werden die Vernunft selbst sein. Wir müssen gut argumentieren, und ich glauben, er werden dann zuhören.«

»Meine Bewahrerin der Chroniken hat jedem von Euch etwas zu sagen«, entgegnete Egwene. »Bitte hört auf das, was sie Euch mitteilt. Euer Beistand wird nicht in Vergessenheit geraten.«

Silviana ritt vor und nahm Gregorin zur Seite. Es gab nicht viel Wichtiges zu sagen, aber Egwene hatte die Befürchtung gehabt, dass die beiden Streit anfangen würden. Silviana hatte den Befehl, sie voneinander fernzuhalten.

Darlin warf Egwene einen prüfenden Blick zu. Er schien zu begreifen, was sie da tat, beschwerte sich aber nicht, als er wieder in den Sattel stieg.

»Ihr erscheint beunruhigt, König Darlin«, sagte sie.

»Manche alten Rivalitäten reichen tiefer als der Ozean, Mutter. Ich habe mich fast schon gefragt, ob diese Zusammenkunft das Werk des Dunklen Königs ist, in der Hoffnung, dass wir uns am Ende gegenseitig vernichten und ihm die Arbeit abnehmen.«

»Ich verstehe«, sagte Egwene. »Vielleicht wäre es besser, Ihr gebt Euren Männern zu verstehen – falls Ihr das nicht schon bereits getan habt –, dass es an diesem Tag keine ›Unfälle‹ geben soll.«

»Ein weiser Vorschlag.« Er verneigte sich und zog sich zurück.

Beide Männer standen auf ihrer Seite, genau wie Elayne. Ghealdan würde für Rand sein, wenn das stimmte, was Elayne über Königin Alliandre berichtet hatte. Ghealdan war nicht so mächtig, dass Alliandre ihr Sorgen bereitete – die Grenzländer waren da schon eine ganz andere Sache. Rand schien sie für sich gewonnen zu haben.

Jede ihrer Flaggen flatterte über dem jeweiligen Heer, und jeder Herrscher war anwesend. Abgesehen von Königin Ethenielle, die sich in Kandor aufhielt, um die aus ihrer Heimat flüchtenden Menschen zu unterstützen. Sie hatte ein beträchtliches Kontingent für die Versammlung zurückgelassen – einschließlich Antol, ihrem ältesten Sohn –, als wollte sie deutlich machen, dass das, was auch immer hier beschlossen wurde, für Kandors Überleben genauso wichtig war wie der Kampf an der Grenze.

Kandor. Das erste Opfer der Letzten Schlacht. Angeblich stand das ganze Land in Flammen. Würde Andor als Nächstes dran sein? Die Zwei Flüsse? Ganz ruhig, dachte Egwene.

Darüber nachzudenken, wer für »wen« war, kam ihr schrecklich vor, aber das war nun einmal ihre Pflicht. Rand konnte die Letzte Schlacht nicht persönlich befehligen, was er zweifellos beabsichtigte. Seine Aufgabe würde es sein, gegen den Dunklen König zu kämpfen; er würde weder die Konzentration noch die Zeit haben, um zugleich der befehlshabende General zu sein. Sie hatte die feste Absicht, dass die Weiße Burg aus dieser Zusammenkunft als Anführer der vereinten Streitkräfte gegen den Schatten hervorging, und sie würde nicht die Verantwortung für die Siegel aufgeben.

Wieweit konnte sie diesem Mann vertrauen, zu dem Rand geworden war? Er war nicht mehr der Rand, mit dem sie aufgewachsen war. Er ähnelte mehr dem Rand, wie sie ihn in der Aiel-Wüste kennengelernt hatte, nur selbstsicherer. Und vielleicht verschlagener. Im Spiel der Häuser war er wirklich sehr geschickt geworden.

Keine dieser Veränderungen war für sich genommen schrecklich, vorausgesetzt, er zeigte sich vernünftigen Argumenten noch zugänglich.

Ist das die Flagge von Arad Doman?, dachte sie überrascht. Es war nicht nur die Flagge, es war die Flagge des Königs, was bedeutete, dass er mit dieser Streitmacht kam, die gerade auf dem Feld eingetroffen war. Hatte Rodel Ituralde endlich den Thron bestiegen, oder hatte Rand jemand anders ausgesucht? Die königliche Flagge der Domani flatterte neben der von Davram Bashere, dem Onkel der Königin von Saldaea.

»Licht.« Gawyn lenkte sein Pferd neben Sieber. »Diese Flagge …«

»Ich sehe sie«, sagte Egwene. »Ich muss Siuan finden. Haben ihre Quellen erwähnt, wer auf den Thron gestiegen ist? Ich hatte befürchtet, die Domani würden ohne Anführer in die Schlacht reiten.«

»Die Domani? Ich meinte das da!«

Sie folgte seinem Blick. Eine neue Streitmacht näherte sich mit offensichtlicher Eile unter dem Banner des Roten Stiers. »Murandy«, sagte Egwene. »Merkwürdig. Roedran hat sich endlich entschlossen, sich dem Rest der Welt anzuschließen.«

Die gerade eingetroffenen Murandianer boten ein größeres Schauspiel, als sie vermutlich verdienten. Immerhin waren sie hübsch ausstaffiert: gelbe und rote Tuniken über Kettenhemden; Messinghelme mit breitem Schirm. Die roten Gürtel trugen das Symbol des angreifenden Stiers. Sie hielten Distanz zu den Andoranern, zogen hinter den Aiel-Truppen vorbei und kamen dann von Nordwesten.

Egwene warf einen Blick auf Rands Lager. Noch immer kein Zeichen des Wiedergeborenen Drachen.

»Kommt«, sagte sie und trieb Sieber in Richtung der Murandianer. Gawyn setzte sich an ihre Seite, und Chubain winkte eine Gruppe aus zwanzig Soldaten als Leibwache herbei.

Roedran war ein korpulenter Mann in Rot und Gold; Egwene vermeinte zu hören, wie das Pferd des Mannes bei jedem Schritt ächzte. Sein dünner werdendes Haar war mehr weiß als schwarz, und er musterte sie mit einem unerwartet scharfen Blick. Der König von Murandy war kaum mehr als der Herrscher der Stadt Lugard, aber Berichten zufolge war der Mann nicht schlecht darin, sein Herrschaftsgebiet zu vergrößern. Noch ein paar Jahre, und er würde tatsächlich ein richtiges Königreich besitzen.

Roedran hielt eine dicke Hand hoch und stoppte die Prozession. Egwene zügelte ihr Pferd und wartete darauf, dass er zu ihr kam, wie es der Brauch verlangte. Er tat es nicht.

Gawyn murmelte einen Fluch. Egwene musste ein Lächeln unterdrücken. Behüter konnten nützlich sein, wenn auch nur, um das auszudrücken, was sie nicht konnte. Schließlich trieb sie ihr Pferd wieder an.

»Also.« Roedran musterte sie von Kopf bis Fuß. »Ihr seid die neue Amyrlin. Eine Andoranerin.«

»Die Amyrlin hat keine Nationalität«, erwiderte Egwene kühl. »Es ist interessant, Euch hier zu sehen, Roedran. Wann hat Euch der Drache eingeladen?«

»Das hat er nicht.« Roedran winkte einen Mundschenk herbei, der ihm Wein brachte. »Ich fand es höchste Zeit, dass Murandy nicht länger von den Ereignissen ausgeschlossen wird.«

»Und durch wessen Wegetore seid Ihr eingetroffen? Sicherlich habt Ihr nicht Andor durchquert, um herzukommen.«

Roedran zögerte.

»Ihr kamt aus dem Süden«, fuhr Egwene fort und musterte ihn. »Andor. Elayne schickte nach Euch?«

»Sie schickte keineswegs nach mir«, fauchte Roedran. »Die verdammte Königin versprach mir die Proklamation einer Absichtserklärung, dass sie nicht in Murandy einmarschiert, wenn ich ihre Sache unterstütze.« Er zögerte. »Außerdem war ich neugierig, diesen falschen Drachen einmal zu sehen. Anscheinend hat jedermann auf der Welt den Verstand verloren, wenn es um ihn geht.«

»Ihr wisst, worum es bei dieser Zusammenkunft geht, oder?«

Er winkte ab. »Diesen Mann von seiner Eroberungslust abzubringen oder so etwas in der Art.«

»So ähnlich.« Egwene beugte sich vor. »Wie ich höre, festigt Ihr Eure Herrschaft nach Kräften, und dass Lugard tatsächlich ausnahmsweise einmal echte Autorität in Murandy hat.«

»Ja«, sagte Roedran und schien ein Stück zu wachsen. »Das ist wahr.«

Egwene beugte sich noch weiter vor. »Gern geschehen«, sagte sie leise und lächelte dann. Sie zog Sieber herum und führte ihr Gefolge fort.

»Egwene«, sagte Gawyn leise, der sein Pferd an ihre Seite lenkte, »hast du das wirklich gerade getan?«

»Sieht er beunruhigt aus?«

Gawyn schaute zurück. »Sehr sogar.«

»Ausgezeichnet.«

Gawyn ritt einen Moment weiter, dann grinste er breit. »Das war wirklich böse.«

»Er ist genauso grob und ungehobelt, wie es die Berichte behaupten«, sagte Egwene. »Er kann ein paar schlaflose Nächte verbringen und darüber grübeln, wie die Weiße Burg in seinem Reich ein paar Fäden ziehen konnte. Sollte ich mich besonders nachtragend fühlen, erfinde ich ein paar schöne Geheimnisse, die er dann ausgraben kann. Und wo steckt jetzt der Schafhirte? Er hat die Unverschämtheit zu verlangen, dass wir hier antanzen und dann …«

Sie verstummte, als sie ihn kommen sah. Rand schritt in Rot und Gold über das verwelkende Gras. Neben ihm schwebte ein gewaltiges Bündel in der Luft, das von für sie unsichtbaren Geweben gehalten wurde.

Wo er hintrat, wurde das Gras wieder grün.

Die Veränderung griff um sich. Wo immer er den Fuß hinsetzte, erholte sich der Boden. Es breitete sich von ihm aus wie ein weiches Licht, das durch aufgestoßene Fensterläden fiel. Männer traten zurück, Pferde scharrten mit den Hufen. Innerhalb weniger Minuten stand der ganze Kreis aus Soldaten auf Gras, das wieder lebte.

Wann hatte sie zuletzt ein schlichtes grünes Feld gesehen? Egwene atmete aus. Ein Teil des Zwielichts dieses Tages war wie weggeblasen. »Ich würde viel Geld dafür bezahlen, um zu wissen, wie er das angestellt hat«, murmelte sie kaum hörbar.

»Ein Gewebe?«, fragte Gawyn. »Ich habe gesehen, wie Aes Sedai im Winter Blumen blühen lassen.«

»Ich kenne kein Gewebe, das so groß wäre«, sagte Egwene. »Es fühlt sich so natürlich an. Sieh zu, ob du herausfinden kannst, wie er das macht. Vielleicht lässt es sich eine der Aes Sedai, die Asha’man-Behüter haben, entlocken.«

Gawyn nickte und ritt los.

Rand ging weiter, gefolgt von dem riesigen schwebenden Bündel, Asha’man in Schwarz und einer Ehrenwache Aiel. Die Aiel hielten nichts von geschlossenen Reihen und schwärmten aus. Selbst Soldaten, die Rand folgten, wichen vor den Aiel zurück. Für viele der älteren Soldaten bedeutete eine braune Welle wie die hier nur den Tod.

Rand ging ganz ruhig und zielstrebig. Das Bündel, das er mit einem Gewebe Luft getragen hatte, überholte ihn und entfaltete sich. Große Bahnen von Zeltplanen flatterten im Wind, wickelten sich umeinander und zogen lange Stöcke hinter sich her. Holzpfosten und Metallpflöcke fielen heraus, und Rand fing sie mit unsichtbaren Strömen Luft und ließ sie herumwirbeln.

Nicht ein Mal kam er dabei aus dem Tritt. Er sah nicht ein Mal zu dem Mahlstrom aus Stoff, Holz und Eisen hoch, während die Zeltplane vor ihm zappelte wie ein aus dem Meer gezogener Fisch. Kleine Erdklumpen brachen aus dem Boden. Einige Soldaten sprangen zur Seite.

Er ist wirklich zu einem Gaukler geworden, dachte Egwene, als sich die Pfosten drehten und in die frischen Löcher senkten. Zeltplanen wickelten sich darum und banden sich selbst fest. In wenigen Sekunden stand dort ein gewaltiger Pavillon, an dessen Ende das Drachenbanner flatterte, während auf der anderen Seite das Banner mit dem uralten Symbol der Aes Sedai wehte.

Rand wurde nicht langsamer, als er den Pavillon erreichte und sich der Eingang für ihn öffnete. »Jeder von Euch darf fünf mitbringen«, verkündete er, während er eintrat.

»Silviana«, sagte Egwene, »Saerin, Romanda, Lelaine. Gawyn wird der fünfte sein, wenn er zurückkehrt.«

Der Rest der Sitzenden ertrug die Entscheidung stumm. Sie konnten sich nicht darüber beschweren, dass sie ihren Behüter zum Schutz mitnahm oder ihre Bewahrerin der Chroniken zur Unterstützung. Die anderen drei, die sie ausgewählt hatte, wurden allgemein für die einflussreichsten Frauen in der Burg gehalten, und von den vier Schwestern gehörten je zwei Aes Sedai zu der ehemaligen Rebellenfraktion aus Salidar und zwei zu den Loyalisten aus der Weißen Burg.

Die anderen Herrscher ließen Egwene den Vortritt. Sie hatten alle begriffen, dass es bei dieser Konfrontation im Grunde um Rand und Egwene ging. Beziehungsweise um den Drachen und den Amyrlin-Sitz.

In dem Pavillon gab es keine Stühle, allerdings hatte Rand Saidin-Lichtkugeln in den Ecken aufgehängt, und ein Asha’man stellte in der Mitte einen kleinen Tisch auf. Egwene zählte schnell. Dreizehn Lichtkugeln.

Rand stand ihr gegenüber, die Arme auf dem Rücken verschränkt, die eine Hand hielt den Unterarm, wie es seine Gewohnheit geworden war. Min stand an seiner Seite, eine Hand auf seinen Arm gelegt.

»Mutter«, sagte er und nickte.

Also wollte er betont förmlich sein und Respekt vortäuschen? Egwene nickte zurück. »Lord Drache.«

Die anderen Herrscher traten mit ihrem kleinen Gefolge ein. Viele erschienen zaghaft, bis Elayne hineingerauscht kam. Die Trauer in ihrer Miene hellte sich auf, als Rand ihr voller Wärme zulächelte. Die wollköpfige Frau war noch immer von ihm beeindruckt, war erfreut, wie es ihm gelungen war, jeden so lange unter Druck zu setzen, bis er kam. Elayne war stolz auf ihn, wenn ihm etwas gut gelang.

Und du fühlst keinen Stolz?, fragte sich Egwene. Rand al’Thor, einst ein einfacher Bauernjunge und beinahe dein Verlobter, und nun ist er der mächtigste Mann auf der Welt. Bist du nicht stolz auf das, was er erreicht hat?

Vielleicht ein bisschen.

Die Grenzländer traten geführt von König Easar von Shienar ein, und an ihnen war gar nichts zaghaft. Die Domani wurden von einem älteren Mann geführt, der Egwene unbekannt war.

»Alsalam«, flüsterte Silviana und klang überrascht. »Er ist zurückgekehrt.«

Egwene runzelte die Stirn. Warum hatte ihr keiner ihrer Informanten mitgeteilt, dass er aufgetaucht war? Licht. Wusste Rand, dass die Weiße Burg versucht hatte, ihn gefangen zu nehmen? Sie hatte das selbst erst vor wenigen Tagen entdeckt; es war in Elaidas Papieren begraben gewesen.

Cadsuane trat ein, und Rand nickte ihr zu, als würde er ihr die Erlaubnis geben. Sie brachte keine fünf Leute mit, aber er schien auch nicht zu wollen, dass man sie zu dem Gefolge der Amyrlin zählte. Das empfand Egwene als beunruhigenden Präzedenzfall. Perrin trat mit seiner Ehefrau ein, und sie blieben an der Seite. Perrin verschränkte die baumstammähnlichen Arme vor der Brust; seinen neuen Hammer trug er am Gürtel. Er war viel leichter zu durchschauen als Rand. Er war besorgt, aber er vertraute Rand. Nynaeve tat das ebenfalls, sollte sie doch zu Asche verbrennen. Sie nahm ihre Position neben Perrin und Faile ein.

Die Clanhäuptlinge der Aiel und die Weisen Frauen kamen als große Gruppe; offensichtlich bedeutete Rands »bringt nur fünf«, dass jeder Clanhäuptling fünf Leute mitbrachte. Ein paar der Weisen Frauen, darunter Sorilea und Amys, begaben sich auf Egwenes Seite des Zeltes.

Das Licht segne sie, dachte Egwene und stieß die angehaltene Luft aus. Rands Blick huschte zu den Frauen, und Egwene entging nicht, wie sich seine Lippen kurz anspannten. Er war überrascht, dass ihn nicht jeder Aiel vorbehaltlos unterstützte.

König Roedran von Murandy war einer der Letzten, der den Pavillon betrat, und Egwene fiel dabei etwas Seltsames auf. Hinter Roedran kamen einige von Rands Asha’man – Narishma, Flinn und Naeff. Ein paar andere in seiner Nähe sahen so aufmerksam wie Katzen aus, die in der Nähe einen Wolf gesehen hatten.

Rand trat zu dem kleineren, korpulenten Mann und schaute ihm in die Augen. Roedran stotterte etwas, dann fing er an, sich die Stirn mit einem Taschentuch abzuwischen. Rand starrte ihn weiterhin an.

»Was soll das?«, verlangte Roedran zu wissen. »Ihr seid angeblich der Wiedergeborene Drache. Ich wüsste nicht, dass ich Euch erlaubt habe …«

»Ruhe«, sagte Rand und hob einen Finger.

Roedran verstummte wie abgeschnitten.

»Das Licht soll mich verbrennen«, sagte Rand. »Ihr seid gar nicht er, oder?«

»Wer?«, fragte Roedran.

Rand wandte sich von ihm ab und gab Narishma und den anderen mit der Hand ein Zeichen, dass sie sich entspannen sollten. Zögernd gehorchten sie. »Ich war mir so sicher …«, sagte Rand kopfschüttelnd. »Wo seid Ihr?«

»Wer?«, fragte Roedran laut. Es war fast ein Kreischen.

Rand ignorierte ihn. Der Pavilloneingang kam zur Ruhe, da alle eingetreten waren. »Also«, sagte Rand. »Wir sind alle da. Danke, dass Ihr gekommen seid.«

»Es ist ja nicht so, als hätten wir gehabt die verdammte Wahl«, grollte Gregorin. Er hatte eine Handvoll illianische Adlige mitgebracht, alles Mitglieder des Rates der Neun. »Wir sein gefangen zwischen Euch und der Weißen Burg. Das Licht verbrenne uns.«

»Wie ihr mittlerweile wisst«, fuhr Rand ungerührt fort, »ist Kandor gefallen, und Caemlyn wurde vom Schatten erobert. Die Letzten der Malkieri werden am Tarwin-Pass angegriffen. Das Ende ist nah.«

»Warum stehen wir dann hier herum, Rand al’Thor?«, wollte König Paitar von Arafel wissen. Der alternde Mann hatte nur noch wenige graue Haare auf dem Kopf, war aber noch immer breitschultrig und einschüchternd. »Hören wir doch mit diesen Possen auf und kümmern uns darum, Mann! Der Kampf wartet.«

»Ich verspreche Euch, dass Ihr kämpfen könnt, Paitar«, sagte Rand leise. »So viel Ihr davon ertragt und dann noch mehr. Vor dreitausend Jahren stellte ich mich den Armeen des Dunklen Königs in der Schlacht. Uns standen die Wunder des Zeitalters der Legenden zur Verfügung, Aes Sedai, die Dinge vollbrachten, die Euch fassungslos machen würden, Ter’angreale, die Menschen fliegen lassen und gegen jeden Hieb unverwundbar machen konnten. Und trotzdem hätten wir um ein Haar verloren. Habt Ihr einmal darüber nachgedacht? Wir stehen dem Schatten gegenüber, der fast die gleiche Stärke wie damals hat, den Verlorenen, die keinen Tag gealtert sind. Aber wir sind nicht dieselben, nicht einmal annähernd.«

Stille breitete sich im Pavillon aus. Der Wind spielte mit dem Zelteingang.

»Was wollt Ihr damit sagen, Rand al’Thor?«, fragte Egwene und verschränkte die Arme. »Dass wir dem Untergang geweiht sind?«

»Ich sage, wir brauchen einen Plan«, sagte Rand, »und müssen gemeinsam angreifen. Dass wir es beim letzten Mal schlecht gemacht haben, hat uns fast die Niederlage gebracht. Jeder von uns glaubte die beste Strategie zu kennen.« Er erwiderte Egwenes Blick. »In jenen Tagen betrachtete sich jeder Mann und jede Frau auf dem Feld als Anführer. Eine Armee aus Generälen. Das ist der Grund, warum wir beinahe verloren haben. Das ist der Grund, der uns den Makel, die Zerstörung der Welt und den Wahnsinn brachte. Ich war dessen so schuldig wie jeder andere. Vielleicht trug ich sogar die Hauptschuld.

Ich lasse nicht zu, dass das wieder geschieht. Ich werde diese Welt nicht retten, nur damit sie ein zweites Mal zerstört wird! Ich werde nicht für die Nationen der Menschheit sterben, nur damit sie nach dem Tod des letzten Trollocs sofort übereinander herfallen. Das plant ihr alle. Soll mich das Licht verbrennen, ich weiß, dass ihr das tut!«

Man hätte leicht die Blicke übersehen können, die sich Gregorin und Darlin zuwarfen, oder wie begehrlich Roedran Elayne betrachtete. Welche Nationen würde dieser Kampf zerstören, und welche würden aus reinem Altruismus kommen und ihren Nachbarn helfen? Wie schnell würde sich Altruismus in Gier verwandeln, die Gelegenheit, sich einen weiteren Thron einzuverleiben?

Viele der hier anwesenden Herrscher waren anständige Menschen. Aber es brauchte mehr als einen anständigen Menschen, um so viel Macht zu haben und nicht begehrlich in andere Richtungen zu blicken. Als sich die Gelegenheit bot, hatte selbst Elayne sich ein anderes Land einverleibt. Und sie würde es wieder tun. Das war die Natur der Herrscher, die Natur der Nationen. In Elaynes Fall erschien es sogar angemessen, da es Cairhien unter ihrer Herrschaft garantiert besser gehen würde als zuvor.

Wie viele würden genauso denken? Dass sie selbstverständlich in einem anderen Land besser herrschen oder die Ordnung wiederherstellen würden?

»Niemand will Krieg«, sagte Egwene und zog die Aufmerksamkeit der Menge auf sich. »Aber ich glaube, dass das, was Ihr hier versucht, außerhalb Eurer Bestimmung liegt, Rand al’Thor. Die menschliche Natur könnt Ihr nicht verändern, und Ihr könnt die Welt auch nicht für Eure Launen zurechtbiegen. Lasst die Menschen ihr eigenes Leben leben und ihren eigenen Weg wählen.«

»Das werde ich nicht, Mutter«, sagte Rand. Leidenschaft brannte in seinen Augen, so wie damals, als sie Zeuge gewesen war, wie er die Aiel seiner Sache verschwören wollte. Ja, dieses Gefühl sah ihm sehr ähnlich – die Frustration darüber, dass andere Leute die Welt nicht so klar sahen, wie er sie zu sehen glaubte.

»Ich wüsste nicht, was Ihr da tun könntet«, erwiderte Egwene kühl. »Wollt Ihr einen Kaiser ernennen, jemanden, der über uns alle herrscht? Wollt Ihr zum Tyrannen werden, Rand al’Thor?«

Er sparte sich die Antwort. Er streckte die Hand aus, und einer seiner Asha’man drückte ihm ein zusammengerolltes Papier hinein. Rand nahm es und legte es auf den Tisch. Mit der Macht entrollte er es und hielt es flach.

Das große Dokument war eng beschrieben. »Ich nenne es den Drachenfrieden«, verkündete Rand leise. »Und das ist eines der drei Dinge, die ich von Euch allen verlange. Eure Bezahlung für mein Leben.«

»Lasst mich sehen.« Elayne griff danach, und offensichtlich ließ Rand es los, denn sie konnte es vor jedem anderen der überraschten Herrscher nehmen.

»Es legt die Grenzen Eurer Nationen auf ihren derzeitigen Verlauf fest«, sagte Rand und nahm wieder die Arme auf den Rücken. »Es verbietet Ländern, andere Länder anzugreifen, und es verlangt die Eröffnung einer großen Schule in jeder Hauptstadt – vom Staat bezahlt und mit offenen Türen für jeden, der lernen will.«

»Es tut aber mehr als das«, sagte Elayne und las. »Greift ein Land an oder beginnt einen Grenzdisput, haben die anderen Nationen der Welt die Verpflichtung, das angegriffene Land zu verteidigen. Beim Licht! Zollbeschränkungen, um die Zerstörung anderer Wirtschaften zu verhindern, Eheverbote zwischen Herrschern verschiedener Nationen, es sei denn, die beiden Herrschaftshäuser stammen eindeutig nicht aus derselben Linie. Vorkehrungen, einen Lord, der einen Konflikt vom Zaun bricht, zu enteignen … Lord Drache, erwartet Ihr ernsthaft von uns, das zu unterschreiben?«

»Ja.«

Die Empörung der Herrscher ließ nicht auf sich warten, aber Egwene stand ganz ruhig da und warf den anderen Aes Sedai ein paar Blicke zu. Sie erschienen besorgt. Was auch richtig so war – schließlich handelte es sich hier nur um einen Teil von Rands »Preis«.

Die Herrscher murmelten, jeder von ihnen wollte sich das Dokument ansehen, aber keiner wollte den anderen zur Seite stoßen und über Elaynes Schulter blicken. Glücklicherweise hatte Rand vorausgedacht, und Abschriften des Dokuments wurden verteilt.

»Aber manchmal gibt es sehr gute Gründe für einen Konflikt!«, sagte Darlin und überflog sein Blatt. »Wenn man zum Beispiel eine Pufferzone zwischen sich und einem aggressiven Nachbarn schaffen will.«

»Oder was sein, wenn Menschen aus deinem Land auf der anderen Grenzseite leben?«, fügte Gregorin hinzu. »Haben wir nicht das Mandat, einzugreifen und sie zu beschützen, wenn man sie unterdrückt? Oder wenn jemand wie die Seanchaner Land beanspruchen, das uns gehören? Den Krieg zu verbieten erscheinen lächerlich!«

»Ich stimme zu«, sagte Darlin. »Lord Drache, wir sollten das Mandat haben, Land zu verteidigen, das uns rechtmäßig gehört!«

»Ich bin viel mehr daran interessiert«, übertönte Egwene die Beschwerden, »seine anderen beiden Forderungen zu hören.«

»Eine davon kennt Ihr, Mutter«, sagte Rand.

»Die Siegel.«

»Dieses Dokument zu unterzeichnen hätte für die Weiße Burg keine Bedeutung«, sagte Rand und ignorierte die Bemerkung anscheinend. »Ich kann euch schlecht verbieten, andere zu beeinflussen; das wäre Irrsinn.«

»Das hier ist bereits Irrsinn«, fauchte Elayne.

Jetzt ist sie nicht mehr so stolz auf ihn. Den Gedanken konnte sich Egwene nicht verkneifen.

»Und solange politische Spielchen gespielt werden können«, führte Rand an Egwene gerichtet fort, »werden die Aes Sedai sie meistern. Tatsächlich kommt Euch der Vertrag zupass. Die Weiße Burg war schon immer der Ansicht, dass Krieg kurzsichtig ist. Stattdessen verlange ich etwas anderes von Euch. Die Siegel.«

»Ich bin ihre Wächterin.«

»Nur dem Namen nach. Sie wurden erst kürzlich entdeckt, und ich besitze sie. Ich bin an Euch herangetreten und habe Euch aus Respekt vor Eurem traditionellen Titel darum gebeten.«

»Ihr seid an mich herangetreten? Ihr habt keine Bitte geäußert«, sagte sie. »Ihr habt nicht einmal eine Forderung gestellt. Ihr seid vorbeigekommen, habt mir mitgeteilt, was Ihr zu tun beabsichtigt, und seid wieder verschwunden.«

»Ich besitze die Siegel«, wiederholte er. »Und ich werde sie brechen. Ich erlaube niemandem, nicht einmal Euch, sich zwischen mich und den Schutz dieser Welt zu stellen.«

Um sie herum wurde weiterhin über das Dokument debattiert, die Herrscher murmelten mit ihren Vertrauten und Nachbarn. Egwene trat vor und starrte Rand auf der anderen Seite des kleinen Tisches an; im Augenblick ignorierte man sie größtenteils. »Ihr werdet sie nicht brechen, wenn ich Euch daran hindere, Rand al’Thor.«

»Warum solltet Ihr mich aufhalten wollen? Nennt mir nur einen einzigen Grund, warum das eine schlechte Idee ist.«

»Einen anderen Grund, als dass es den Dunklen König auf die Welt loslässt?«

»Im Krieg der Macht war er nicht frei«, sagte Rand. »Er konnte die Welt berühren, aber den Stollen zu öffnen wird ihn nicht befreien. Nicht sofort.«

»Und was für einen Preis müssten wir bezahlen, wenn er die Welt berührt? Wie hoch ist er denn jetzt schon? Schrecken, Terror, Zerstörung. Ihr wisst genau, was mit dem Land passiert. Die Toten wandeln, das Muster wird auf diese seltsame Weise verzerrt. Und das passiert bereits, wo die Siegel bloß geschwächt sind! Was passiert, wenn wir sie brechen? Das weiß das Licht allein.«

»Das ist ein Risiko, das wir eingehen müssen.«

»Dem stimme ich nicht zu. Ihr wisst nicht, was passiert, wenn man die Siegel zerstört – Ihr wisst nicht, ob er dann entkommt. Ihr wisst nicht, wie nahe er davorstand, als der Stollen das letzte Mal versiegelt wurde. Die Zerstörung dieser Siegel könnte die ganze Welt zerstören! Was ist, wenn unsere einzige Hoffnung in der Tatsache liegt, dass er dieses Mal Einschränkungen unterliegt, dass er nicht völlig frei ist?«

»So funktioniert das nicht.«

»Das wisst Ihr nicht. Wie könntet Ihr auch?«

Er zögerte. »Viele Dinge im Leben sind ungewiss.«

»Also wisst Ihr es tatsächlich nicht«, sagte sie. »Nun, ich habe geforscht, gelesen, zugehört. Habt Ihr die Werke jener gelesen, die das studiert, darüber nachgedacht haben?«

»Spekulationen von Aes Sedai.«

»Die einzigen Informationen, die wir haben! Öffnet den Kerker des Dunklen Königs, und alles könnte verloren sein. Wir müssen vorsichtiger sein. Zu diesem Zweck existiert der Amyrlin-Sitz, nicht zuletzt aus diesem Grund wurde die Weiße Burg überhaupt erst gegründet!«

Er zögerte. Tatsächlich. Beim Licht, er dachte nach. Konnte sie zu ihm durchdringen?

»Es gefällt mir nicht, Egwene«, sagte er dann leise. »Wenn ich mich ihm stelle und die Siegel sind nicht gebrochen, bleibt mir nur die Möglichkeit, eine weitere unzulängliche Lösung zu finden. Ein Flicken, der noch schlimmer als beim letzten Mal ist – denn mit den alten, geschwächten Siegeln schmiere ich bloß neuen Gips in tiefe Risse. Wer weiß, wie lange sie dieses Mal halten? In ein paar Jahrhunderten könnten wir wieder vor dem gleichen Kampf stehen.«

»Wäre das so schlimm?«, meinte Egwene. »Zumindest ist das sicher. Ihr habt den Stollen das letzte Mal versiegelt. Ihr wisst, wie man es macht.«

»Am Ende haben wir wieder den Makel.«

»Diesmal sind wir darauf vorbereitet. Nein, ideal wäre es nicht. Aber Rand … Wollt Ihr das wirklich riskieren? Das Schicksal eines jeden lebenden Wesens aufs Spiel setzen? Warum nicht den einfachen Weg nehmen, den bekannten Weg? Repariert die Siegel. Verstärkt den Kerker.«

»Nein, Egwene.« Rand wich einen Schritt zurück. »Beim Licht! Geht es darum? Ihr wollt, dass Saidin wieder makelbehaftet ist. Ihr Aes Sedai … ihr fühlt euch von der Vorstellung bedroht, dass Männer, die die Macht lenken können, eure Autorität untergraben!«

»Rand al’Thor, wagt es ja nicht, ein solcher Narr zu sein.«

Er erwiderte ihren Blick. Die Herrscher schienen der Unterhaltung nur wenig Aufmerksamkeit zu schenken, obwohl das Schicksal der Welt davon abhing. Sie hatten die Köpfe über Rands Dokument gesenkt und murmelten zornig. Vielleicht war das ja sogar seine Absicht gewesen, sie mit dem Dokument abzulenken und dann die eigentliche Schlacht zu schlagen.

Langsam wich der Zorn aus seiner Miene, er hob die Hand an die Schläfe. »Beim Licht, Egwene. Du schaffst es noch immer, wie die Schwester, die ich nie hatte – machst mir einen Knoten ins Hirn, und ich muss dich zugleich anbrüllen und doch lieben.«

»Zumindest bin ich konsequent«, sagte sie. Sie sprachen jetzt sehr leise, beugten sich über den Tisch nahe aneinander. Perrin und Nynaeve standen an der Seite, möglicherweise nahe genug, um sie zu verstehen, und Min hatte sich zu ihnen gesellt. Gawyn war zurückgekehrt, hielt aber Abstand. Cadsuane ging im Raum umher und schaute in die andere Richtung – viel zu auffällig. Sie hörte auch zu.

»Ich sage das doch nicht, weil ich den Makel zurückholen will! Das ist doch albern!«, sagte Egwene. »So kleinlich bin ich nicht, und das weißt du auch. Hier geht es darum, die ganze Menschheit zu beschützen. Ich kann einfach nicht glauben, dass du aufgrund einer vagen Möglichkeit alles aufs Spiel setzen willst.«

»Eine vage Möglichkeit?«, wiederholte Rand. »Wir sprechen davon, in die Finsternis zu treten, statt ein weiteres Zeitalter der Legenden zu begründen. Wir könnten Frieden haben, das Leid beenden. Oder wir könnten eine weitere Zerstörung der Welt erleben. Beim Licht, Egwene. Ich bin mir nicht sicher, ob ich die Siegel überhaupt reparieren oder auf die gleiche Weise neue herstellen kann. Der Dunkle König wird auf diesen Plan vorbereitet sein.«

»Hast du denn einen anderen?«

»Davon rede ich doch. Ich breche die Siegel, um den alten unzuverlässigen Flicken loszuwerden, und versuche es auf eine neue Weise.«

»Der Preis für ein Scheitern wäre die Welt selbst, Rand.« Sie dachte kurz nach. »Da steckt doch mehr dahinter. Warum sagst du es mir nicht?«

Rand sah zögerlich aus, und einen Augenblick lang kam er ihr wie der kleine Junge vor, den sie zusammen mit Mat dabei erwischt hatte, wie sie heimlich an Frau Cauthons Kuchen naschten. »Ich werde ihn töten, Egwene.«

»Wen? Moridin?«

»Den Dunklen König.«

Entsetzt wich sie zurück. »Entschuldigung. Was hast du gesagt …?«

»Ich werde ihn töten«, sagte Rand leidenschaftlich und beugte sich weiter vor. »Ich werde dem Dunklen König ein Ende bereiten. Solange es ihn gibt und er im Hintergrund lauert, werden wir niemals echten Frieden haben. Ich werde den Kerker aufreißen, ihn betreten und ihm entgegentreten. Falls nötig werde ich einen neuen Kerker bauen, aber zuerst werde ich versuchen, dem allen ein Ende zu bereiten. Das Muster und das Rad für alle Ewigkeit beschützen.«

»Beim Licht, Rand, du bist wahnsinnig!«

»Ja. Das ist ein Teil des Preises, den ich gezahlt habe. Glücklicherweise. Nur ein Mann mit erschüttertem Verstand wäre wagemutig genug, um das zu versuchen.«

»Ich bekämpfe dich, Rand«, flüsterte sie hitzig. »Ich lasse nicht zu, dass du uns da reinziehst. Hör auf die Vernunft. Die Weiße Burg sollte dich leiten.«

»Ich habe die Anleitung der Weißen Burg kennengelernt«, erwiderte er. »In einer Kiste. Jeden Tag Schläge.«

Keiner von ihnen senkte den Blick. Um sie herum ging die Debatte weiter und wurde lauter, verschaffte ihnen eine Atempause.

»Ich habe nichts dagegen, das zu unterschreiben«, sagte Tenobia. »Das sieht gut aus.«

»Bah!«, knurrte Gregorin. »Ihr Grenzländer haben Euch nie für die Politik im Süden interessiert. Ihr unterschreibt das? Nun, schön für Euch. Ich werden mein Land jedenfalls nicht in Ketten legen.«

»Merkwürdig«, meinte Easar. Der ruhige Mann schüttelte den Kopf und ließ den weißen Haarknoten wackeln. »So wie ich das verstanden habe, ist das nicht Euer Land, Gregorin. Es sei denn, Ihr geht davon aus, dass der Lord Drache stirbt und Mattin Stepaneos seinen Thron nicht zurückverlangt. Er mag ja damit einverstanden sein, dass der Lord Drache die Lorbeerkrone trägt, aber ich bin sicher, dass das für Euch nicht gilt.«

»Ist das nicht alles bedeutungslos?«, fragte Alliandre. »Die Seanchaner sind doch jetzt unsere dringlichste Sorge, oder nicht? Solange sie hier sind, kann es keinen Frieden geben.«

»Ja«, bekräftigte Gregorin. »Die Seanchaner und die verfluchten Weißmäntel.«

»Wir unterschreiben das«, sagte Galad. Irgendwie hatte der Kommandierende Lordhauptmann der Kinder des Lichts das offizielle Exemplar des Dokumentes in die Hand bekommen. Egwene sah ihn nicht an. Ihn nicht anzustarren fiel schwer. Sie liebte Gawyn und nicht Galad, aber … nun … nicht hinzustarren fiel schwer.

»Mayene wird ebenfalls unterzeichnen«, sagte Berelain. »Ich finde den Willen des Lord Drachen völlig gerecht.«

»Natürlich würdet Ihr unterzeichnen«, schnaubte Darlin. »Mein Lord Drache, dieses Dokument scheint die Interessen einiger Nationen bedeutend mehr zu schützen als die anderer.«

»Ich will die dritte Forderung hören«, sagte Roedran. »Das ganze Gerede wegen des Siegels ist mir egal; das ist Sache der Aes Sedai. Er hat von drei Forderungen gesprochen, und wir haben erst zwei gehört.«

Rand hob eine Braue. »Der dritte und letzte Preis, die letzte Sache, die Ihr mir für das Ende meines Lebens auf den Hängen des Shayol Ghul geben werdet, ist Folgendes: Ich befehlige Eure Heere in der Letzten Schlacht. Und zwar ohne jede Einschränkung. Ihr tut, was ich sage, geht dorthin, wohin ich sage, und kämpft, wo ich es sage.«

Das rief eine noch lautere Debatte hervor. Offensichtlich handelte es sich dabei um die am wenigsten unverschämte der drei Forderungen, obwohl sie aus Gründen, die sich Egwene bereits zurechtgelegt hatte, völlig unmöglich war.

Aber die Herrscher betrachteten sie als Angriff auf ihre Souveränität. Gregorin starrte Rand durch den Lärm finster an und zügelte sich noch so gerade eben. Dabei hatte er von allen witzigerweise die geringste Autorität vorzuweisen. Darlin schüttelte bloß den Kopf, und Elaynes Miene zeigte offene Entrüstung.

Die auf Rands Seite argumentierten dagegen, vor allem die Grenzländer. Sie sind verzweifelt, dachte Egwene. Sie werden überrannt. Vermutlich glaubten sie, dass der Drache auf der Stelle zur Verteidigung der Grenzländer marschierte, wenn der Befehl an ihn übertragen würde. Darlin und Gregorin würden dem niemals zustimmen. Nicht, solange sie die Seanchaner im Nacken sitzen hatten.

Licht, was für ein Schlamassel.

Egwene hörte sich die Argumente an und hoffte, dass sie Rand nervös machten. Einst wäre das vielleicht der Fall gewesen. Aber er stand einfach da und sah mit auf dem Rücken verschränkten Armen zu. Seine Miene war völlig gelassen, obwohl sie sich zusehends sicher war, dass es sich dabei um eine Maske handelte. Sie hatte sein Temperament kennengelernt. Zweifellos hatte er sich nun besser im Griff, aber er war alles andere als gefühllos.

Schließlich musste sie wider Willen lächeln. Trotz seiner ständigen Klagen über die Aes Sedai, seines sturen Beharrens, dass er sich niemals von ihnen kontrollieren lassen würde, benahm er sich doch immer mehr genau wie sie. Sie holte Luft, um das Wort zu ergreifen und die Kontrolle zu übernehmen, aber etwas im Zelt veränderte sich. Ein … Gefühl, das in der Luft lag. Ihr Blick schien von Rand angezogen zu werden. Von draußen ertönten Laute, Laute, die sie nicht zuordnen konnte. Knackte da etwas leise? Was tat er da?

Die Einwände verstummten. Ein Herrscher nach dem anderen wandte sich dem Wiedergeborenen Drachen zu. Draußen verblasste das Sonnenlicht, und Egwene war froh, dass er diese Lichtkugeln im Zelt gemacht hatte.

»Ich brauche euch«, sagte Rand leise und eindringlich zu der Versammlung. »Das Land selbst braucht euch. Ihr streitet; mir war völlig klar, dass ihr das tun würdet, aber wir haben keine Zeit mehr für Streit. Wisset also dies. Ihr könnt mir meine Pläne nicht ausreden. Ihr könnt mich nicht dazu zwingen, euch zu gehorchen. Keine Streitmacht und auch kein Gewebe der Einen Macht kann mich zwingen, dass ich für euch dem Dunklen König gegenübertrete. Ich muss das aus freiem Willen tun.«

»Ihr würdet dafür wirklich um die Welt würfeln, Lord Drache?«, fragte Berelain.

Egwene lächelte. Das Leichtgewicht schien sich plötzlich ihrer gewählten Seite nicht mehr ganz so sicher zu sein.

»Das wird nicht nötig sein«, antwortete Rand. »Ihr werdet unterschreiben. Es nicht zu tun bedeutet den Tod.«

»Also geht es hier um Erpressung«, fauchte Darlin.

»Nein.« Rand lächelte dem Meervolk zu, das sich neben Perrin aufgebaut und kaum ein Wort gesagt hatte. Sie hatten das Dokument einfach gelesen und genickt, als seien sie beeindruckt. »Nein, Darlin. Das ist keine Erpressung … das ist eine Vereinbarung. Ich habe etwas, das ihr wollt, das ihr sogar braucht. Mich. Mein Blut. Ich werde sterben. Das haben wir alle von Anfang an gewusst; die Prophezeiungen erfordern es. Da ihr das von mir wünscht, verkaufe ich es euch im Tausch gegen ein Vermächtnis des Friedens, um das Vermächtnis der Zerstörung, die ich der Welt beim letzten Mal hinterließ, wieder auszugleichen.«

Er sah nacheinander jeden Herrscher an. Egwene fühlte seine Entschlossenheit beinahe körperlich. Vielleicht war es seine Natur als Ta’veren, vielleicht war es auch nur der Augenblick. In dem Pavillon stieg ein Druck, der das Atmen erschwerte.

Er wird es schaffen, dachte Egwene. Sie beschweren sich, aber sie werden sich ihm beugen.

»Nein«, rief sie laut, ganz die Amyrlin. »Nein, Rand al’Thor, wir lassen uns nicht einschüchtern und zwingen, Euer Dokument zu unterzeichnen, Euch den Oberbefehl dieser Schlacht zu überlassen. Und Ihr seid wirklich ein Narr, wenn Ihr glaubt, dass ich Euch auch nur einen Moment abnehme, Ihr würdet die Welt – Euren Vater, Eure Freunde, alle die Ihr liebt, die ganze Menschheit – von Trollocs abschlachten lassen, wenn wir Euch trotzen.«

Er erwiderte ihren Blick, und plötzlich war sie sich gar nicht mehr so sicher. Beim Licht, er würde sich doch nicht tatsächlich weigern, oder? Würde er tatsächlich die Welt opfern?

»Ihr wagt es, den Lord Drachen als Narren zu bezeichnen?«, empörte sich Narishma.

»Keiner spricht auf diese Weise mit der Amyrlin«, sagte Silviana und stellte sich an Egwenes Seite.

Wieder begann der Streit, dieses Mal nur lauter. Rand erwiderte Egwenes Blick, und nun sah sie, wie Zorn in ihm aufstieg. Die Worte wurden immer hitziger, die Anspannung stieg. Chaos. Zorn. Alter Hass flammte erneut auf, genährt von der Angst.

Rand legte die Hand auf das Schwert, das er neuerdings trug – das mit den Drachen auf der Scheide –, den anderen Arm hielt er hinter dem Rücken angewinkelt.

»Ich bekomme meinen Preis, Egwene«, knurrte er.

»Ihr könnt verlangen, was Ihr wollt. Ihr seid nicht der Schöpfer. Wenn Ihr mit diesen schwachsinnigen Ideen in die Letzte Schlacht zieht, sind wir sowieso alle tot. Wenn ich Euch entgegentrete, dann besteht die Möglichkeit, dass ich Eure Meinung ändern kann.«

»Immer war die Weiße Burg ein Speer an meinem Hals«, fauchte Rand. »Immer, Egwene. Und du bist jetzt wirklich eine von ihnen geworden.«

Sie erwiderte seinen stechenden Blick. Tief in ihrem Inneren fing sie allerdings an, ihre Sicherheit zu verlieren. Was, wenn diese Verhandlungen wirklich scheiterten? Würde sie wirklich ihren Soldaten befehlen, Rands Leute zu bekämpfen?

Sie hatte das Gefühl, als wäre sie oben auf einer Klippe über einen Stein gestolpert und stünde im Begriff, in den Abgrund zu stürzen. Es musste eine Möglichkeit geben, das hier aufzuhalten, es zu retten!

Rand machte Anstalten, sich abzuwenden. Verließ er den Pavillon, dann war das das Ende.

»Rand!«, rief sie.

Er erstarrte. »Ich gebe nicht nach, Egwene.«

»Tu das nicht«, beschwor sie ihn. »Wirf nicht alles weg.«

»Es geht nicht anders.«

»Doch, das tut es! Du musst bloß ein einziges Mal kein vom Licht verbrannter, wollköpfiger, sturer Narr sein!«

Egwene hielt inne. Wie hatte sie nur zulassen können, mit ihm zu sprechen, als seien sie wieder in Emondsfelde, ganz am Anfang?

Rand starrte sie einen Moment lang an. »Nun, und du könntest dich ein einziges Mal nicht wie eine verwöhnte, selbstsüchtige Göre benehmen, Egwene.« Er warf die Arme in die Höhe. »Blut und Asche! Das hier war reine Zeitverschwendung.«

Beinahe hätte er recht gehabt. Egwene bemerkte nicht, wie jemand den Pavillon betrat. Rand schon, und er fuhr herum, als sich der Eingang teilte und Licht einließ. Stirnrunzelnd blickte er dem Störenfried entgegen.

Das Stirnrunzeln verschwand wie weggewischt, als er den Eintretenden erkannte.

Moiraine.

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