37 Die Letzte Schlacht

An jenem Morgen brach die Dämmerung über die Polov-Anhöhe herein, aber die Sonne schien nicht für die Verteidiger des Lichts. Die Heere der Finsternis kamen aus dem Westen und aus dem Norden, um diese eine Letzte Schlacht zu gewinnen und einen Schatten auf das Land zu werfen, um ein Zeitalter einzuleiten, wo das Klagen der Leidenden ungehört verhallte.

– Aus dem Notizbuch von Loial,

Sohn von Arent, Sohn von Halan,

im Vierten Zeitalter

Lan galoppierte mit hocherhobenem Schwert auf Mandarb durch das Lager.

Oben am Himmel bluteten die Morgenwolken rot und spiegelten gewaltige Feuerbälle wider, die von dem riesigen Heer der Sharaner aufstiegen, das von Westen anrückte. Sie beschrieben anmutige Bögen und erschienen in weiter Ferne langsam.

Gruppen von Reitern strömten aus allen Teilen des Lagers herbei und schlossen sich Lan an. Die letzten Malkieri ritten dicht hinter ihm, aber seine Streitmacht war wie eine Woge angeschwollen. Andere gesellte sich zu ihm, und die Flagge von Malkier – der Goldene Kranich – diente als Banner für alle Grenzländer.

Man hatte sie blutig geschlagen, aber nicht besiegt. Einen Mann musste man zu Boden schicken, wenn man sehen wollte, aus welchem Holz er geschnitzt war. Möglicherweise ergriff dieser Mann die Flucht. Tat er das nicht, stand er mit Blut im Mundwinkel und Entschlossenheit im Blick wieder auf, dann wusste man Bescheid. Dieser Mann würde wirklich gefährlich werden.

Die Feuerbälle schienen an Geschwindigkeit zuzulegen, als sie in die Tiefe rasten und ungestüm im Lager einschlugen. Explosionen erschütterten den Boden. In der Nähe ertönten Schreie und untermalten das Donnern der Hufe. Und noch immer stießen weitere Männer dazu. Mat Cauthon hatte in allen Lagern die Nachricht verbreitet, dass Lans Vorstoß noch mehr Kavalleristen brauchte, um die Gefallenen zu ersetzen.

Er hatte auch enthüllt, welchen Preis sie dafür zahlen mussten. Die Kavallerie würde an vorderster Front kämpfen, die Linien der Trollocs und Sharaner aufbrechen und kaum eine Atempause haben. An diesem Tag würden sie die größten Verluste davontragen.

Trotzdem gesellten sich Männer zu ihm. Grenzländer, die eigentlich zu alt waren, um noch zu reiten. Kaufleute, die Handelsgüter gegen das Schwert getauscht hatten. Eine überraschend große Anzahl von Südländern, einschließlich vieler Frauen, die Harnische und Kappen aus Leder oder Stahl trugen und Speere hielten. Es gab nicht genug Lanzen für alle.

»Die Hälfte der Leute, die sich uns anschließen, sieht mehr wie Bauern als wie Soldaten aus!«, rief Andere ihm über das Hufgetrappel zu.

»Habt Ihr jemals Männer und Frauen von den Zwei Flüssen reiten gesehen, Andere?«, rief Lan zurück.

»Das könnte ich nicht behaupten.«

»Dann seht zu und lasst Euch überraschen.«

Lans Kavallerie erreichte den Mora, wo ein Mann mit langen Locken und einem schwarzen Mantel mit auf dem Rücken verschränkten Händen stand. Logain hatte vierzig Aes Sedai und Asha’man dabei. Er musterte Lans Streitmacht, dann streckte er eine Hand gen Himmel und zerknüllte einen gewaltigen herabstürzenden Feuerball wie ein Blatt Papier. Es krachte wie bei einem Blitzeinschlag, der auseinanderbrechende Feuerball versprühte Funken und Rauch nach allen Seiten. Ausgebrannte Asche rieselte auf den dahinströmenden Fluss und sprenkelte die Oberfläche mit einem Muster aus schwarzen und weißen Flocken.

Lan zügelte Mandarb, als er sich der Hawalfurt unmittelbar südlich der Polov-Anhöhe näherte. Logain stieß die andere Hand in Richtung Fluss. Das Wasser brodelte und bäumte sich dann hoch auf, als würde es über eine unsichtbare Rampe fließen. Auf der anderen Seite stürzte es dann als wilder Wasserfall wieder in die Tiefe, und ein Teil des Wassers trat über die Flussufer.

Lan nickte Logain zu und ritt weiter, führte Mandarb unter den Wasserfall und überquerte das noch immer feuchte Flussbett. Sonnenlicht durchdrang das in der Höhe fließende Wasser und funkelte auf Lan herab, als er gefolgt von Andere und den Malkieri durch den Tunnel preschte. Links von ihm rauschte die Gischt lautstark nach unten.

Lan fröstelte, als er wieder ins Licht kam, dann galoppierte er durch den Korridor auf die Sharaner zu. Zu seiner Rechten erhob sich die Anhöhe, zu seiner Linken wartete das Moor, aber hier gab es einen geraden und festen Weg. Oben auf dem Plateau bereiteten sich Bogenschützen, Armbrustmänner und Drachenmänner vor, den anrückenden Gegner mit Salven zu empfangen.

Sharaner an der Front, ein gewaltiges Trolloc-Heer dahinter, alle direkt westlich von der Anhöhe. Das Donnern des Drachenfeuers erschütterte auf dem Plateau die Luft, und bald hatten die Sharaner selbst mit Explosionen zu kämpfen.

Lan senkte die Lanze, zielte auf einen sharanischen Soldaten, der zur Polov-Anhöhe galoppierte, und bereitete sich auf den Zusammenprall vor.


Elaynes Kopf fuhr zur Seite. Dieses schreckliche Lied, wie ein Schlaflied, ein Summen, wunderschön und zugleich schrecklich. Sie trieb Mondschatten an, von der leisen Melodie angezogen. Wo kam sie nur her?

Sie ertönte irgendwo tiefer im seanchanischen Lager am Fuß des Dasharfelsens. Mat anzuschreien, weil er ihr seine Kriegspläne nicht verraten hatte, konnte warten. Sie musste die Quelle dieses Liedes finden, dieses wunderschönen Liedes, das …

»Elayne!«, rief Birgitte.

Elayne trieb ihr Pferd noch energischer an.

»Elayne! Draghkar!«

Draghkar. Elayne schüttelte sich, dann schaute sie nach oben und entdeckte die Kreaturen, die wie Regentropfen ins Lager fielen. Gardistinnen senkten mit weit aufgerissenen Augen die Schwerter, als das Summen weiterhin ertönte.

Elayne webte einen gewaltigen Donnerschlag. Er zerriss die Luft, hallte über die Gardistinnen und ließ sie aufschreien und die Ohren zuhalten. Schmerz stach durch Elaynes Kopf und sie fluchte, schloss unwillkürlich die Augen. Und dann … dann hörte sie nichts.

Darum ging es ja auch.

Sie zwang die Augen wieder auf und entdeckte überall um sich herum Draghkar mit ihren dürren Körpern und unmenschlichen Augen. Das Schattengezücht öffnete die Lippen, um zu singen, aber Elaynes taube Ohren konnten ihr Lied nicht hören. Lächelnd webte sie Feuerpeitschen und schlug die Kreaturen nieder. Ihre Schmerzensschreie konnte sie auch nicht hören, was eine echte Schande war.

Elaynes Gardistinnen kamen zu sich, erhoben sich von ihren Knien und nahmen die Hände von den Ohren. Ihre benommenen Mienen verrieten ihr, dass sie ebenfalls nichts mehr hören konnten. Im Handumdrehen hatte Birgitte dafür gesorgt, dass sie auf die überraschten Draghkar einschlugen. Drei der Kreaturen versuchten, sich in die Lüfte zu schwingen, aber Birgitte erwischte jede von ihnen mit einem weiß gefiederten Pfeil. Das letzte Ungeheuer krachte in ein nahe gelegenes Zelt.

Elayne winkte und erregte Birgittes Aufmerksamkeit. Die ersten Draghkar-Laute waren nicht vom Himmel gekommen, sondern aus dem Lager. Elayne zeigte in die Richtung, trieb Mondschatten an und führte ihre Truppe zwischen die Seanchaner. Überall lagen Männer am Boden und starrten mit offen stehendem Mund gen Himmel. Viele schienen zu atmen, aber sie starrten mit toten Augen. Die Draghkar hatten ihre Seelen verschlungen, die Körper aber am Leben gelassen; als würde man vom Brot eines reichen Mannes nur die Kruste abschneiden.

Schlampig. Diese Gruppe Draghkar – beim Licht, es waren mehr als hundert – hätte jeden Mann überwältigen, ihn töten und dann wieder verschwinden können, bevor man ihre Anwesenheit überhaupt entdeckte. Das ferne Grollen der Schlacht – die Signalhörner, die brüllenden Drachen, die zischenden Feuerbälle, was Elayne nun alles lediglich fühlte, aber dank ihrer zerstörten Trommelfelle nicht hören konnte – hatte den Angriff der Ungeheuer gedeckt. Sie hätten zuschlagen und fliehen können, aber sie waren gierig.

Die Königliche Garde schwärmte aus und hackte auf die überraschten Kreaturen ein – von denen viele noch Soldaten hielten. Wenn man nach der Kraft der Arme ging, waren die Bestien keine starken Kämpfer. Elayne wartete und bereitete Gewebe vor. Sie brannte die Draghkar, die zu fliehen versuchten, vom Himmel.

Sobald der Letzte von ihnen tot war – zumindest die, die sie gefunden hatten –, winkte Elayne ihre Behüterin zu sich. Die Luft stank nach verbranntem Fleisch. Elayne rümpfte die Nase und beugte sich vom Pferderücken herab, um Birgittes Kopf zwischen die Hände zu nehmen. Sie Heilte die Ohren der Frau. Dabei strampelten die Babys. Reagierten sie immer, wenn sie jemanden Heilte, oder bildete sie sich das ein? Elayne hielt sich den Leib mit einem Arm, während Birgitte zurücktrat und sich umsah.

Die Behüterin spannte einen Pfeil ein, und Elayne fühlte ihre Sorge. Birgitte schoss, und ein Draghkar taumelte aus der Deckung eines Zeltes. Ein Seanchaner stolperte mit glasigen Augen heraus. Das Seelensaugen war unterbrochen worden; der arme Kerl würde niemals wieder völlig bei Verstand sein.

Elayne wendete ihr Pferd und sah seanchanische Soldaten herbeistürmen. Birgitte redete mit ihnen, dann wandte sie sich an Elayne, um mit ihr zu sprechen. Aber Elayne schüttelte bloß den Kopf, und Birgitte zögerte, dann sagte sie etwas zu den Seanchanern.

Elaynes Leibwache sammelte sich wieder um sie, und sie eilten in die Richtung weiter, die sie ursprünglich eingeschlagen hatten. Da näherte sich eine Damane und ihre Sul’dam, die überraschenderweise vor Elayne einen Knicks machten. Vielleicht hatte diese Fortuona ihnen ja befohlen, fremden Monarchen Respekt zu erweisen.

Elayne zögerte, aber was sollte sie machen? Natürlich hätte sie zum Heilen in ihr eigenes Lager zurückkehren können, aber das würde Zeit in Anspruch nehmen, und sie musste dringend mit Mat sprechen. Was nutzte es, tagelang Schlachtpläne zu schmieden, wenn er sie dann einfach so verwarf? Sie vertraute ihm – beim Licht, sie hatte ja keine andere Wahl –, aber sie wollte dennoch wissen, was er beabsichtigte.

Sie seufzte, dann hielt sie der Damane ihren Fuß entgegen. Die Frau runzelte die Stirn, blickte die Sul’dam an. Beide schienen das als Beleidigung zu betrachten. Was Elayne auch genau so beabsichtigt hatte.

Die Sul’dam nickte, und ihre Damane berührte Elaynes Bein ein Stück über dem Stiefelrand. Die Stiefel waren nicht das Kleidungsstück einer Königin, sondern von Soldatenart, aber sie würde auf gar keinen Fall mit damenhaften Halbschuhen in die Schlacht reiten.

Ein kleiner, eisiger Stich des Heilens schoss durch ihren Körper, und langsam kehrte ihr Hörvermögen zurück. Die niedrigen Töne zuerst. Explosionen. Das ferne Dröhnen des Drachenfeuers, das Rauschen des Flusses in der Nähe. Mehrere Seanchaner, die sich unterhielten. Dann folgten die mittleren Töne, schließlich eine wahre Flut von Geräuschen. Zelteingänge raschelten, Soldaten schrien, Hörner wurden geblasen.

»Sag ihnen, sie sollen die anderen Heilen«, sagte Elayne zu Birgitte.

Birgitte hob eine Braue und fragte sich vermutlich, warum sie den Befehl nicht selbst gab. Nun, diese Seanchaner legten großen Wert darauf, welche Leute mit anderen reden durften. Sie würde ihnen nicht die Ehre geben, direkt mit ihnen zu sprechen.

Birgitte gab den Befehl weiter, und die Lippen der Sul’dam verzogen sich zu einem schmalen Strich. Sie hatte den Kopf zur Hälfte rasiert; sie war eine Adlige. Wenn das Licht auf ihrer Seite stand, hatte Elayne geschafft, sie erneut zu beleidigen.

»Ich werde es tun«, sagte die Frau. »Obwohl ich beim besten Willen nicht verstehen kann, warum eine von Euch von einem Tier Geheilt werden will.«

Seanchaner hielten nichts davon, Damane Heilen zu lassen. Zumindest behaupteten sie das. Allerdings hatte es sie keineswegs davon abgehalten, die Gewebe ihren gefangenen Frauen beizubringen, nachdem sie nun aus erster Hand gesehen hatten, welche Vorteile das in der Schlacht brachte. Allerdings akzeptierten die Hochgeborenen das Heilen nur selten, wie Elayne gehört hatte.

»Lass uns gehen«, sagte sie und trieb ihr Pferd an. Mit Gesten bedeutete sie ihren Soldaten, zurückzubleiben und sich Heilen zu lassen.

Birgitte musterte sie, widersprach aber nicht. Sie eilten weiter, Birgitte stieg auf ihr Pferd und ritt an Elaynes Seite auf das Befehlshaus der Seanchaner zu. Ungefähr von der Größe eines kleinen, einstöckigen Bauernhauses, hatte man es am südlichen Fuß des Dasharfelsens in eine große Felsspalte hineingebaut – man hatte es wieder von der Felssäule entfernt, weil Mat sich sorgte, es könnte ein zu leichtes Ziel darstellen. Den ebenen Gipfel würde man weiterhin dazu benutzen, die Schlacht in kurzen Abständen zu überwachen.

Elayne gestattete Birgitte, ihr beim Absteigen zu helfen – Licht, allmählich kam sie sich wirklich unbeholfen vor. Als wäre sie ein Schiff im Trockendock. Sie nahm sich einen kurzen Augenblick Zeit zur Vorbereitung. Reglose Züge, alle Gefühle unter Kontrolle. Sie zupfte an ihrer Frisur herum, glättete das Kleid, dann betrat sie das Gebäude.

»Was im Namen eines verfluchten, zweifingerigen, es im Heu treibenden Trollocs bildest du dir eigentlich ein, Matrim Cauthon?«, brüllte sie sofort beim Eintreten los.

Der Fluch ließ den Mann grinsend von seinem Kartentisch aufsehen, was wenig überraschte. Er trug Mantel und Hut über sehr adretter Seidenkleidung, die aussah, als wäre sie geschneidert, um zur Hutfarbe zu passen; am Kragen und an den Manschetten hatte man Leder aufgenäht, damit sie nicht völlig fehl am Platz wirkten. Es roch nach einem Kuhhandel. Aber warum trug sein Hut ein rosafarbenes Band?

»Hallo, Elayne«, erwiderte Mat. »Ich dachte mir schon, dass ich mich darauf freuen kann, dich bald zu begrüßen.« Er deutete auf einen Stuhl an der Seite des Raumes in den roten und goldenen Farben Andors. Er war zusätzlich gepolstert, und daneben stand eine Tasse mit heißem Tee auf einem Tischchen.

Sei verflucht, Matrim Cauthon, dachte sie. Wann bist du nur so clever geworden?

Die seanchanische Kaiserin saß an der Stirnseite des Raumes auf ihrem eigenen Thron, Min an der Seite, in genug grüne Seide gehüllt, um einem Laden in Caemlyn zwei Wochen lang als Ware zu reichen. Elayne entging keineswegs, dass Fortuonas Thron zwei Finger höher stand als ihrer. Verfluchte unerträgliche Frau. »Mat. In deinem Lager sind Draghkar.«

»Verdammt! Wo?«

»Ich sollte sagen, in deinem Lager waren Draghkar«, sagte Elayne. »Wir haben uns um sie gekümmert. Du solltest deine Bogenschützen anweisen, besser aufzupassen.«

»Ich habe es ihnen gesagt«, klagte Mat. »Verdammte Asche. Jemand soll die Bogenschützen überprüfen, ich …«

»Großer Prinz!« Ein Bote stürzte durch die Tür, warf sich auf die Knie und dann weiter auf den Boden, ohne dabei zu verstummen. »Das Bogenschützenufer ist gefallen! Es wurde von sharanischen Reitern getroffen – sie verbargen ihren Angriff durch den Rauch der Feuerbälle.«

»Blut und verfluchte Asche!«, sagte Mat. »Schickt sofort sechzehn Damane und Sul’dam da runter! Eine Nachricht an die nördlichen Bogenschützeneinheiten, die Abteilungen zweiundvierzig und fünfzig sollen dorthin. Und sagt den Kundschaftern, dass ich sie auspeitschen lasse, wenn sie so etwas noch einmal übersehen.«

»Höchsterlauchter«, sagte der Kundschafter, salutierte und sprang auf die Füße, dann ging er rückwärts hinaus, ohne aufzublicken, um ja nicht das Wagnis einzugehen, Mats Blick zu erwidern.

Eigentlich fand Elayne es ganz beeindruckend, wie mühelos der Kundschafter Bericht und Ehrerbietung vereint hatte. Außerdem war sie angewidert. Kein Herrscher sollte so etwas von seinen Untertanen verlangen. Die Stärke einer Nation kam durch die Stärke ihrer Menschen; brach man sie, brach man sich das eigene Kreuz.

»Du wusstest, dass ich komme,«, sagte Elayne, nachdem Mat seinen Adjutanten noch ein paar Befehle gegeben hatte. »Und du hast den Zorn erwartet, den deine Planänderungen auslösen würden. Soll man dich doch zu Asche verbrennen, Matrim Cauthon, warum hast du bloß das brennende Bedürfnis verspürt, das zu tun? Eigentlich dachte ich, wir hätten einen soliden Schlachtplan.«

»Das war er auch.«

»Warum ihn dann ändern!«

»Elayne.« Mat blickte sie an. »Jeder hat mir das Kommando übergeben, gegen meinen erklärten Willen, weil die Verlorenen meine Ansichten nicht ändern können, richtig?«

»Das war im Großen und Ganzen die allgemeine Ansicht«, erwiderte Elayne. »Obwohl das meiner Meinung nach weniger mit deinem Medaillon zu tun hatte als vielmehr mit der Tatsache, dass kein Zwang in deinen dicken, sturen Schädel eindringen kann.«

»Verdammt richtig«, sagte Mat. »Wie dem auch sei, wenn die Verlorenen Leute aus unserem Lager mit Zwang belegen, haben sie vermutlich auch ein paar Spione in unseren Besprechungen.«

»Ich schätze schon.«

»Also kennen sie unseren Plan. Unseren großen Plan, den wir so lange vorbereitet haben. Sie kennen ihn.«

Elayne zögerte.

»Licht!« Mat schüttelte den Kopf. »Die erste und wichtigste Regel, einen Krieg zu gewinnen, liegt darin, in Erfahrung zu bringen, was dein Feind tun wird.«

»Ich dachte immer, die erste Regel lautet, kenne dein Gelände«, erwiderte Elayne und verschränkte die Arme.

»Das auch. Aber wie dem auch sei, mir wurde Folgendes klar: Wenn der Feind genau weiß, was wir tun werden, müssen wir das ändern. Sofort. Schlechte Schlachtpläne sind besser als die, mit denen dein Feind rechnet.«

»Warum hast du nicht vorher geahnt, dass das passiert?«, verlangte Elayne zu wissen.

Ausdruckslos sah er sie an. Ein Mundwinkel zuckte, dann zog er den Hut tiefer und hüllte seine Augenklappe in Schatten.

»Beim Licht!«, stieß Elayne hervor.»Du hast es gewusst. Du hast diese ganze Woche damit verbracht, zusammen mit uns zu planen, und dabei hast du die ganze Zeit gewusst, dass du alles über den Haufen wirfst!«

»Das wäre zu viel der verdammten Ehre«, sagte Mat und schaute wieder auf seine Karten. »Ich glaube, ein Teil von mir hat das vielleicht die ganze Zeit über gewusst, aber es wurde mir erst einen Moment vor der Ankunft der Sharaner wirklich bewusst.«

»Wie sieht also der neue Plan aus?«

Er antwortete nicht.

»Du wirst ihn für dich behalten«, sagte Elayne und fühlte, wie ihre Beine nachzugeben drohten. »Du wirst die Schlacht anführen, und keiner von uns wird wissen, was du beim Licht planst, richtig? Sonst könnte es jemand mitbekommen, und die Neuigkeit würde den Schatten erreichen.«

Er nickte.

»Möge uns der Schöpfer behüten«, flüsterte sie.

Mat runzelte die Stirn. »Weißt du, genau das Gleiche hat Tuon auch gesagt.«


Auf dem Plateau hielt sich Uno die Ohren zu, als die Drachen in seiner Nähe den Trollocs und Sharanern westlich von ihnen ihr Feuer entgegenspuckten. Ein beißender Geruch brannte in der Luft, und der Drachendonner war so ohrenbetäubend, dass er nicht einmal seine eigenen verdammten Flüche hören konnte.

Unter ihnen griffen Lan Mandragorans Reiter die Flanken der Sturmtruppen an und versperrten ihnen den Weg, damit die Drachen mehr Schaden anrichten konnten. Die Sharaner hatten Trollocs dabei. Sie würden auch Machtlenker mit sich führen, sogar viele von ihnen. Weiter flussaufwärts rückte ein großes Trolloc-Heer – die Horde, die Dai Shans Streitmacht so große Verluste zugefügt hatte – aus dem Nordosten an und war nicht mehr weit vom Feld von Merrilor entfernt.

Die Drachen verstummten kurz, und die Drachenmänner stopften ihre Rachen mit dem Zeug, das sie antrieb, was auch immer das war. Uno würde ihnen auf keinen Fall zu nahe kommen. Das waren ganz üble Geräte, die nur Unheil bringen konnten. Davon war er fest überzeugt.

Der Anführer der Drachenmänner war ein drahtiger Cairhiener, für den Uno noch nie viel übriggehabt hatte. Für gewöhnlich starrte seinesgleichen ihn bloß immer finster an, wenn er den Mund aufmachte. Der da saß hochmütig auf seinem Pferd und zuckte nicht einmal zusammen, als die Drachen wieder feuerten.

Der Amyrlin-Sitz hatte sich mit diesen Männern verbündet und mit den Seanchanern auch. Darüber würde er sich bestimmt nicht beschweren. Sie brauchten jedes verfluchte Schwert, das sie kriegen konnten, cairhienische und verdammte seanchanische eingeschlossen.

»Gefallen Euch unsere Drachen, Hauptmann?«, rief ihm der Anführer – ein gewisser Talmanes – zu. Hauptmann. Idiotischerweise hatte man ihn befördert. Er führte nun eine Streitmacht aus frisch rekrutierten Pikenmännern der Burg und leichter Kavallerie an.

Er hätte über gar nichts den Befehl haben dürfen; er hatte sich als ganz gewöhnlicher Soldat wohlgefühlt. Aber er hatte sowohl die Ausbildung als auch Kampferfahrung, beides Dinge, die heutzutage eher rar geworden waren, zumindest hatte Königin Elayne das behauptet. Also war er jetzt ein lichtverfluchter Offizier und führte Kavallerie und Fußsoldaten an! Nun, mit einer Pike wusste er falls nötig umzugehen, obwohl er den Kampf vom Sattel aus bevorzugte.

Seine Männer standen bereit, die Anhöhe zu verteidigen, sollte es der Feind den Hang hinaufschaffen. Bis jetzt hatten die unterhalb der Drachen stationierten Bogenschützen das verhindert, aber sie würden sich bald zurückziehen müssen, und dann würden die stinknormalen Soldaten sich um den stinknormalen Kampf kümmern müssen. Unten wichen die Sharaner zur Seite, um Trollocs den langen Hang erstürmen zu lassen.

Die Pikenmänner würden vorrücken und den Angriff der Tiermenschen abwehren, und die Piken würden hier gute Dienste leisten, da die Trollocs bergauf mussten. Fügte man dann noch verfluchte Kavallerie an ihren Flanken und ein paar verdammte Bogenschützen hinzu, die durch diese hoch am Himmel gemachten Wegetore schossen, würden sie vermutlich tagelang hier aushalten können. Vielleicht sogar Wochen. Falls ein weit überlegener Feind anstürmte, würden sie einen Zoll nach dem anderen zurückweichen und sich an jedes Stück Boden festklammern.

Uno ging davon aus, dass er diese verkorkste Schlacht unmöglich überleben konnte. Er fand es schon überraschend, es bis jetzt geschafft zu haben. Im Ernst, eigentlich hätte sich schon der verrückte Masema seinen Kopf holen müssen, oder die Seanchaner in Falme, oder irgendein Trolloc. Er hatte sich bemüht, möglichst sehnig zu bleiben, damit er so widerwärtig wie möglich schmeckte, wenn sie ihn in einen ihrer abartigen Kochtöpfe steckten.

Die Drachen feuerten erneut und sprengten gewaltige Lücken in die Horden der vorrückenden Tiermenschen. Uno hielt sich die Ohren zu. »Warnt einen Mann gefälligst, bevor ihr das macht, ihr aus einem Ziegenhintern baumelnden …«

Der nächste Schuss übertönte ihn.

Unter ihnen schleuderte es Trollocs in die Luft, als die Drachen den Boden unter ihren Krallen pulverisierten. Diese Eier explodierten, sobald sie aus diesen verfluchten Rohren geschossen wurden. Was abgesehen von der Einen Macht konnte Eisen explodieren lassen? Uno war sich sicher, es niemals erfahren zu wollen.

Talmanes trat an den Rand der Anhöhe und begutachtete den Schaden. Eine Tarabonerin gesellte sich zu ihm, die Frau, die diese Waffen erfunden hatte. Sie sah nach hinten und erblickte Uno, dann warf sie ihm etwas zu. Ein Wachsklumpen. Sie tippte sich auf die Ohren, dann redete sie gestikulierend auf Talmanes ein. Zwar hatte er den Befehl über die Truppen, aber die Frau hatte das Kommando über die Geräte. Sie sagte den Männern, wo sie die Drachen für den Kampf hinzustellen hatten.

Uno knurrte, steckte das Wachs aber ein. Eine Faust Trollocs war durch die Salve hindurchgestürmt, etwa hundert Bestien, und er hatte jetzt wirklich keine Zeit, sich um seine beschissenen Ohren zu kümmern. Er schnappte sich eine Pike, legte sie an und bedeutete seinen Männern, seinem Beispiel zu folgen. Sie trugen alle das Weiß der Burg. Uno selbst trug einen weißen Wappenrock.

Er bellte Befehle, dann machte er seine Pike bereit, indem er sich ein Stück seitwärts am Hang aufstellte. Mit einer Hand packte er den Schaft vor seinem Körper, um den Stoß zu führen und zu verstärken; die andere Hand hielt ihn eine Armlänge vom Ende entfernt, um ihn nach vorn zu rammen, wenn die Trollocs in Reichweite kamen. Hinter ihm standen mehrere Reihen Pikenmänner bereit, um nach dem ersten Zusammenstoß vorzurücken.

»Die Piken ruhig halten, ihr dämlichen Schafhirten!«, brüllte Uno. »Ruhig!«

Die Tiermenschen eilten den Hang hinauf und krachten gegen die Pikenreihe. Die ersten Bestien versuchten die Piken mit ihren Waffen zur Seite zu schlagen, aber Unos Männer traten vor und spießten die Ungeheuer auf, manchmal sogar zwei Trollocs mit einer Waffe. Uno grunzte und zog seine Pike zurück in die Reihe, um einen Trolloc in den Hals zu stechen.

»Die erste Reihe, zurück!«, brüllte er und zerrte an der Waffe, um sie aus dem getöteten Trolloc zu lösen. Seine Kameraden verfuhren ebenso, lösten ihre Waffen und ließen die Leichen den Hang hinunterrollen.

Die Pikenmänner der Frontreihe fielen zurück, während die zweite Reihe zwischen ihnen vortrat und Piken in geifernde Trollocs stieß. Jede Reihe wechselte sich an der Front ab, bis die ganze Gruppe Tiermenschen tot war. »Gute Arbeit«, sagte Uno und stellte seine Waffe senkrecht auf. Stinkendes Trolloc-Blut rann von der Spitze den Schaft hinunter. »Gute Arbeit.«

Er warf einen Blick auf die Drachenmänner, die weitere Eier in die Rohre schoben. Eilig holte er das Wachs aus der Tasche. Ja, diese verdammte Position konnten sie halten. Sie konnten sie gut halten. Sie brauchten bloß …

Ein Kreischen aus der Höhe hielt ihn davon ab, sich das Wachs in die Ohren zu stopfen. Neben ihm schlug etwas auf dem Boden auf. Eine mit Wimpeln versehene Bleikugel, die vom Himmel gefallen war. »Stinkende seanchanische Ziege!«, brüllte Uno, legte den Kopf in den Nacken und drohte mit der Faust. »Das hat fast meinen Scheitel getroffen, du Wurmfresser!«

Der Raken flog weiter. Vermutlich hatte sein Reiter nicht ein Wort von dem verstanden, was Uno gebrüllt hatte. Verdammte Seanchaner. Er bückte sich und entfernte die Notiz aus der Kugel.

Zieht euch über den Südwesthang der Anhöhe zurück.

»Du willst mich doch wohl treten«, murmelte Uno. »Gegen den Kopf treten, während ich schlafe. Allin, verdammter Narr, könnt Ihr das lesen?«

Allin, ein dunkelhaariger Mann aus Andor, trug einen Bart, der die Wangen frei ließ. Uno war schon immer der Meinung gewesen, dass das einfach nur lächerlich aussah.

»Rückzug?«, sagte Allin. »Jetzt?«

»Die haben doch ihren winzigen Verstand verloren«, knurrte Uno.

In der Nähe empfingen Talmanes und die Tarabonerin eine Botin – und der finsteren Miene der Frau nach zu urteilen, überbrachte sie dieselbe Botschaft. Rückzug.

»Cauthon sollte besser verdammt noch mal wissen, was er da tut!« Uno schüttelte den Kopf. Es ging noch immer nicht in seinen Kopf, wie jemand Cauthon auch nur den Befehl über irgendetwas übergeben konnte. Er konnte sich noch gut an den Jungen erinnern, der mit eingefallenen Augen jeden anfauchte. Halb tot, dabei ziemlich verwöhnt. Uno schüttelte den Kopf.

Aber er würde es tun. Er hatte der verfluchten Weißen Burg einen Eid geleistet. Also würde er gehorchen.

»Gebt den Befehl weiter«, sagte er zu Allin und stopfte sich Wachs in die Ohren, denn Aludra bereitete an den Drachen eine letzte Salve vor dem Rückzug vor. »Wir verlassen diese verfluchte Stellung und …«

Ein Krachen traf Uno wie ein körperlicher Schlag, ließ sein ganzes Inneres erbeben und um ein Haar sein lausiges Herz stehen bleiben. Sein Kopf schlug auf dem Boden auf, bevor er überhaupt realisiert hatte, dass er gestürzt war.

Stöhnend blinzelte er Staub aus den Augen und rollte sich herum, als ein neuer Blitz den Standort der Drachen traf. Und da kam schon der nächste. Blitze! Seine Soldaten lagen auf den Knien, die Ohren zugehalten, die Augen zusammengekniffen. Aber Talmanes stand schon wieder und brüllte Befehle, die Uno kaum verstehen konnte, bedeutete seinen Leuten, sich zurückzuziehen.

Ein Dutzend riesige und unglaublich schnelle Feuerbälle stiegen aus dem sharanischen Heer hinter den Trollocs auf. Uno fluchte und warf sich Schutz suchend in eine Bodensenke, bevor die ganze Anhöhe nur Momente später wie bei einem Erdbeben erschüttert wurde. Erdklumpen regneten auf ihn herab und begruben ihn fast.

Alles kam auf sie herunter. Alles. Jeder lichtverfluchte sharanische Machtlenker des ganzen Heeres schien sich gleichzeitig auf diesen Teil des Plateaus zu konzentrieren. Seine Leute hatten Aes Sedai, die die Drachen beschützen sollten, aber allem Anschein nach würden sie große Schwierigkeiten haben, sich gegen das hier zu wehren!

Der Angriff schien eine Ewigkeit zu dauern. Als er nachließ, kroch Uno ins Freie. Ein paar der verdammten Drachen waren in ihre Einzelteile zerlegt worden, und Aludra bemühte sich mit ihren Männern, sie in Sicherheit zu bringen und den Rest zu schützen. Talmanes, der eine blutige Hand an den Kopf hielt, brüllte herum. Uno grub sich Wachs aus einem seiner Ohren – vermutlich hatte das sein Hörvermögen gerettet – und eilte geduckt zu Talmanes.

»Wo sind Eure verfluchten Aes Sedai?«, brüllte er. »Sie sollten so etwas doch verdammt noch mal unterbinden!«

Ihnen standen vier Dutzend zur Verfügung, die Gewebe aus der Luft schneiden oder sie zur Seite lenken sollten, um die Drachen zu beschützen. Sie hatten behauptet, die Polov-Anhöhe gegen alles verteidigen zu können, abgesehen vielleicht dem Kommen des Dunklen Königs. Jetzt waren sie völlig durcheinander; die Blitze waren in ihrer Mitte eingeschlagen.

Neue Trollocs kamen den Hang hinauf. Uno befahl Allin, eine Pikenmauer zu bilden und die Kreaturen fernzuhalten, dann rannte er mit ein paar Wächtern zu den Schwestern. Er stieß zu den Behütern, half Frauen auf die Füße, suchte dabei nach ihrer Anführerin.

»Kwamesa Sedai?«, fragte er, als er die tonangebende Aes Sedai fand, die sich den Dreck aus dem Gewand klopfte. Die schlanke, dunkelhäutige Arafelerin murmelte leise vor sich hin.

»Was war das denn?«, verlangte sie zu wissen.

»Äh …«, sagte Uno.

»Die Frage war nicht an Euch gerichtet«, fauchte sie und musterte den Himmel. »Einar! Warum habt Ihr diese Gewebe nicht gesehen?«

Ein Asha’man eilte herbei. »Sie kamen so schnell. Sie waren da, bevor ich eine Warnung rufen konnte. Und … beim Licht! Wer auch immer sie schickte, war stark. Stärker, als ich je gesehen habe, stärker als …«

Hinter ihnen zerschnitt ein Strich aus Licht die Luft. Er war gewaltig, hatte die Länge der Festung von Fal Dara. Um die eigene Achse rotierend, öffnete er ein riesiges Wegetor, das den Boden zerschnitt. Auf der anderen Seite stand ein Mann in funkelnder Rüstung aus münzenähnlichen Ringen ohne Helm, mit dunklen Haaren und einer ausgeprägten Nase. In der Hand hielt er ein goldenes Zepter, dessen Spitze wie ein Stundenglas oder ein edler Pokal geformt war.

Kwamesa reagierte sofort, riss die Hand hoch und schleuderte ein Gewebe Feuer. Der Mann machte eine Bewegung, und das Feuer wurde abgewehrt. Dann hob er beinahe schon gleichgültig den Arm, und etwas Dünnes, Heißes und Weißes verband ihn mit der Aes Sedai. Ihre Gestalt glühte auf, und dann war sie einfach verschwunden. Ein paar Flocken rieselten zu Boden.

Uno sprang zur Seite, und Einar machte es ihm nach, als er hinter einem zerstörten Drachen abtauchte.

»Ich komme für den Wiedergeborenen Drachen!«, verkündete die Gestalt in Silber. »Ihr werdet nach ihm schicken. Oder ich werde zusehen, wie eure Schreie ihn holen.«

Nur ein paar Schritte von Uno entfernt bäumte sich der Boden auf. Hastig riss er den Arm vors Gesicht, Erde und Holzsplitter flogen über ihn hinweg.

»Das Licht stehe uns bei«, sagte Einar. »Ich versuche ihn aufzuhalten, aber er ist mit einem Zirkel verknüpft. Einem vollen Zirkel. Zweiundsiebzig. Noch nie zuvor habe ich eine derartige Macht erlebt! Ich …«

Ein weiß glühender Lichtstrahl bohrte sich durch die Drachentrümmer, löste sie auf und traf dann den Asha’man. Der Mann verschwand übergangslos, und Uno krabbelte fluchend zurück. Mit eingezogenem Kopf eilte er weiter, während weitere Drachentrümmer um ihn herum zu Boden regneten.

Uno brüllte seinen Männern zu, sich zurückzuziehen, trieb sie an, verharrte nur lange genug, um einem Verletzten unter die Arme zu greifen und ihm wegzuhelfen. Den Rückzugsbefehl von der Anhöhe stellte er nicht länger infrage, das war der beste lichtverfluchte Befehl, der je erteilt worden war!


Logain Ablar ließ die Eine Macht los. Er stand unterhalb der Anhöhe am Mora und fühlte die Angriffe auf dem Plateau.

Die Eine Macht loszulassen gehörte mittlerweile zu den schwierigsten Dingen, die er je getan hatte. Schwieriger als die Entscheidung, den Namen Drachen anzunehmen, schwieriger als die Selbstbeherrschung, Taim während jener ersten gemeinsamen Tage in der Schwarzen Burg nicht zu erwürgen.

Die Macht floss aus ihm heraus, als hätten sich seine Adern geöffnet und das Blut würde sich auf den Boden ergießen. Er holte tief Luft. So viel Macht zu halten war berauschend gewesen – neununddreißig Männer und Frauen in einem Zirkel. Dies loszulassen hatte ihn an seine Dämpfung erinnert, als man ihm die Macht gestohlen hatte. Als ihn jeder Atemzug ermutigt hatte, sich ein Messer zu nehmen und die Kehle durchzuschneiden.

Vermutlich war das sein Wahnsinn; die entsetzliche Angst, die Eine Macht für alle Ewigkeit zu verlieren, wenn er sie losließ.

»Logain?«, fragte Androl.

Logain wandte sich dem kleinen Mann und seinen Gefährten zu. Sie waren loyal. Logain konnte sich das zwar nicht erklären, aber sie waren loyal. Der ganze Haufen. Narren. Treue Narren.

»Fühlt Ihr das?«, fragte Androl. Die anderen – Canler, Emarin, Jonneth – starrten die Anhöhe an. Die dort gelenkte Macht … es war erstaunlich.

»Demandred«, sagte Emarin. »Er muss es sein.«

Logain nickte langsam. Eine solche Macht … Selbst einer der Verlorenen konnte nicht so stark sein. Er musste ein Sa’angreal von unvorstellbarer Kraft mit sich führen.

Mit so einem Werkzeug könnte kein Mann und auch keine Frau dir jemals wieder die Macht wegnehmen, flüsterten Logains Gedanken.

Taim hatte das getan, während seiner Gefangenschaft. Hatte ihn eingesperrt, ihn von der Quelle abgeschirmt, ihn daran gehindert, die Eine Macht zu berühren. Die Versuche, ihn Umzudrehen, waren schmerzhaft gewesen. Aber ohne Saidin zu sein …

Stärker, dachte er und beobachtete das überwältigende Machtlenken. Das Verlangen nach einer solchen Stärke überragte beinahe seinen Hass auf Taim.

»Im Augenblick lassen wir ihn in Ruhe«, sagte Logain. »Teilt euch in die abgesprochenen Mannschaften auf.« Eine Frau und fünf oder sechs Männer in jeder Mannschaft. Die Frau konnte sich mit zwei Männern zu einem Zirkel verknüpfen, während die anderen beiden sie unterstützten. »Wir jagen die Verräter der Schwarzen Burg.«

Pevara, die an Androls Seite stand, hob eine Braue. »Ihr wollt jetzt schon Jagd auf Taim machen? Wollte Cauthon Euch nicht hier haben, um Männer zu transportieren?«

»Ich habe das Cauthon deutlich gemacht«, sagte Logain. »Diese Schlacht werde ich nicht damit verbringen, Soldaten auf dem Feld herumzuschieben. Was die Befehle angeht, haben wir eine Direktive des Wiedergeborenen Drachen.«

Rand al’Thor hatte sie als seinen »letzten« Befehl für sie bezeichnet, eine Notiz, die mit einem kleinen Angreal in Gestalt eines Mannes mit einem Schwert überbracht worden war. Der Schatten hat die Siegel des Kerkers des Dunklen Königs gestohlen. Findet sie. Bitte findet sie, wenn ihr könnt.

Während ihrer Gefangenschaft hatte Androl angeblich gehört, wie Taim über die Siegel prahlte. Es war ihr einziger Anhaltspunkt. Logain musterte die Gegend. Ihre Streitkräfte zogen sich von der Anhöhe zurück. Von seinem Standpunkt aus konnte er die aufgestellten Drachen nicht sehen, aber dicke Rauchwolken ließen nichts Gutes über ihren Zustand ahnen.

Und noch immer erteilt er Befehle, dachte Logain. Bin ich geneigt, ihnen noch länger zu gehorchen?

Für die Gelegenheit, sich an Taim rächen zu können? Ja, er würde Rand al’Thors Befehle befolgen. Einst hätte er das nicht so sehr infrage gestellt. Das war vor seiner Gefangenschaft und Folterung gewesen.

»Geht«, sagte Logain zu seinen Asha’man. »Ihr alle habt die Worte des Lord Drachen gelesen. Wir müssen die Siegel um jeden Preis zurückholen. Nichts ist wichtiger als das. Wir müssen hoffen, dass Taim sie in der Tat hat. Achtet auf Männer, die die Macht lenken, jagt sie, tötet sie.«

Es spielte keine Rolle, wenn diese Machtlenker Sharaner waren. Die Asha’man würden diese Schlacht unterstützen, indem sie jeden feindlichen Machtlenker ausschalteten. Diese Taktik hatten sie zuvor besprochen. Wenn sie Machtlenken von Männern spürten, konnten sie ihren genauen Standort mit Wegetorsprüngen ermitteln und dann versuchen, sie mit einem Angriff zu überraschen.

»Wenn ihr einen von Taims Männern seht, versucht ihn gefangen zu nehmen, damit wir aus ihm herauspressen können, wo Taim seinen Stützpunkt eingerichtet hat.« Logain hielt inne. »Wenn wir Glück haben, wird der M’Hael persönlich hier anwesend sein. Vergesst nicht, dass er die Siegel möglicherweise bei sich trägt; sie dürfen bei unserem Angriff nicht vernichtet werden. Wenn ihr ihn seht, kehrt zurück und unterrichtet mich über seinen Standort.«

Logains Mannschaften setzten sich in Bewegung. Sie ließen ihn mit Gabrelle, Arel Malevin und Karldin Manfor zurück. Gut, dass zumindest einige seiner begabteren Männer nicht während Taims Verrat in der Burg gewesen waren.

Gabrelle sah ihn nüchtern an. »Was ist mit Toveine?«, fragte sie.

»Wenn wir sie finden, töten wir sie.«

»Ist das so einfach für dich?«

»Ja.«

»Sie …«

»Würdest du an ihrer Stelle lieber überleben? Leben und ihm dienen?«

Sie schloss den Mund; ihre Lippen wurden zu einem blutleeren Strich. Sie fürchtete ihn noch immer; das konnte er fühlen. Gut.

Hast du dir das gewünscht, als du das Banner des Drachen aufzogst?, flüsterte ihm sein Verstand zu. Als du versucht hast, die Menschheit zu retten? Hast du das getan, um gefürchtet zu werden? Gehasst zu werden?

Er ignorierte die Stimme. Er hatte immer nur etwas erreicht, wenn man ihn gefürchtet hatte. Das war der einzige Vorteil gewesen, den er Siuan und Leane gegenüber gehabt hatte. Der primitive Logain, das Etwas tief in seinem Inneren, das ihn überhaupt nur weiterleben ließ, brauchte es, dass die Menschen ihn fürchteten.

»Kannst du sie fühlen?«, wollte Gabrelle wissen.

»Ich habe den Behüterbund aufgelöst.«

Ihr Neid kam scharf und unmittelbar. Das schockierte ihn. Er hatte angenommen, dass sie ihre Verbindung mittlerweile genoss oder zumindest ertrug.

Aber natürlich war das alles nur ein Schauspiel, damit sie versuchen konnte, ihn zu manipulieren. So waren Aes Sedai nun einmal. Ja, er hatte Lust von ihr verspürt, vielleicht sogar Zuneigung. Aber er war sich nicht sicher, dass er sich darauf verlassen konnte, was er von ihrer Seite aus glaubte gefühlt zu haben. Was er auch versucht hatte, um stark und frei zu sein, trotz allem blieb der Eindruck bestehen, dass man ihn seit seiner Jugend an unsichtbaren Fäden lenkte.

Demandreds Machtlenken pulsierte vor Kraft. Eine solche Macht.

Auf dem Plateau donnerte es ohrenbetäubend. Logain warf den Kopf in den Nacken und lachte. Körper wurden wie Blätter von der Anhöhe in die Luft geschleudert.

»Verknüpft euch mit mir«, befahl er jenen, die bei ihm geblieben waren. »Gesellt euch zu mir in einen Zirkel, und lasst uns ebenfalls den M’Hael und seine Männer suchen. Gebe das Licht, dass ich ihn finden kann – meine Tafel verdient das beste Fleisch, den Anführer des Rudels!«

Und danach … Wer wusste das schon? Schon immer hatte er sich einmal mit einem der Verlorenen messen wollen. Logain ergriff wieder die Quelle und hielt das sich aufbäumende Saidin fest, als wäre es eine sich windende Schlange, die ihn beißen wollte. Mit seinem Angreal zog er noch mehr in sich hinein, und dann strömte die Macht der anderen in ihn. Er lachte noch lauter.


Gawyn war schrecklich müde. Normalerweise hätte ihn diese Woche der Vorbereitungen erfrischen müssen, aber heute fühlte er sich, als wäre er meilenweit gelaufen.

Daran war nichts zu ändern. Er zwang seine Aufmerksamkeit wieder auf das Wegetor vor ihm auf dem Tisch, das das Schlachtfeld überblickte. »Seid Ihr sicher, dass sie es nicht sehen können?«, fragte er Yukiri.

»Ich bin sicher«, erwiderte sie. »Das ist erschöpfend überprüft worden.«

Sie wurde immer geschickter mit diesen Fenstertoren. Das hier hatte sie auf der Platte eines Tisches gewebt, den man aus Tar Valon ins Lager geschafft hatte. Er schaute auf das Schlachtfeld, als handelte es sich um eine Karte.

»Wenn Ihr die andere Seite tatsächlich unsichtbar gemacht habt«, sagte Egwene nachdenklich, »könnte dies in der Tat sehr nützlich werden …«

»Aus der Nähe wäre es leichter zu entdecken«, räumte Yukiri ein. »Das hier befindet sich aber so hoch oben am Himmel, dass es vom Boden einfach nicht zu sehen ist.«

Gawyn gefiel es nicht, dass sich Egwene so weit über das Schlachtfeld beugte. Er hielt den Mund; das Wegetor war so sicher, wie sie es weben konnten. Er konnte sie nicht vor allem beschützen.

»Beim Licht«, sagte Bryne leise, »sie hauen uns in Stücke.«

Gawyn musterte ihn. Der Mann hatte sich jeder Andeutung widersetzt, auf seine Güter zurückzukehren – selbst den weniger subtilen. Er hatte darauf bestanden, dass er noch immer ein Schwert führen konnte; man dürfte ihm nur nicht erlauben, die Führung zu übernehmen. Außerdem konnte jeder von ihnen unter einem Zwang stehen, gab er zu bedenken. In gewisser Weise bescherte ihnen das Wissen, dass er es tat, sogar einen Vorteil. Ihn konnten sie zumindest im Auge behalten.

Was Siuan auch tat. Sie hielt schützend seinen Arm. Sonst waren nur noch Silviana und Lelaine im Zelt anwesend.

Die Schlacht verlief nicht gut. Cauthon hatte bereits die Anhöhe verloren – ursprünglich hatte der Plan vorgesehen, sie so lange wie nur möglich zu halten –, und die Drachen waren zerstört. Demandreds Angriff mit der Einen Macht war viel stärker gewesen, als jeder von ihnen vorausgesehen hatte. Und aus dem Nordosten war die andere Trolloc-Horde eingetroffen und bedrängte Cauthons Verteidiger flussaufwärts.

»Was plant er nur?«, fragte Egwene und tippte auf den Tisch. Leises Geschrei drang aus der Öffnung. »Wenn er so weitermacht, wird man unsere Heere einkreisen.«

»Er versucht einen Köder für die Falle auszulegen«, sagte Bryne.

»Was für eine Falle denn?«

»Es ist nur eine Vermutung, und das Licht weiß, dass meine Einschätzung nicht mehr so vertrauenswürdig wie früher ist«, sagte Bryne. »Es sieht so aus, als wollte Cauthon alles in die Schlacht werfen, keine Verzögerungstaktik mehr, kein Versuch, die Trollocs zu erschöpfen. So, wie das hier abläuft, wird die Entscheidung in Tagen fallen. Vielleicht sogar nur in Stunden.«

»Das klingt genau wie etwas, das Mat versuchen würde«, erwiderte Egwene resigniert.

»Ich kann die Gewebe nicht sehen«, sagte Lelaine, »aber diese Macht …«

»Demandred ist mit einem Zirkel verknüpft«, erwiderte Egwene. »Augenzeugen zufolge ist es ein voller Zirkel. Etwas, das man seit dem Zeitalter der Legenden nicht mehr gesehen hat. Und er besitzt ein Sa’angreal. Einige der Soldaten sahen es – ein Zepter.«

Mit der Hand auf dem Schwertgriff beobachtete Gawyn die Kämpfe in der Tiefe. Er konnte Männer schrill schreien hören, als Demandred sie mit einer Woge Feuer nach der anderen eindeckte.

Plötzlich donnerte die Stimme des Verlorenen und hallte weit in die Luft. »Wo bist du, Lews Therin? Du bist auf jedem der anderen Schlachtfelder in Verkleidung gesehen worden. Bist du auch hier? Kämpfe gegen mich!«

Gawyns Hand umklammerte den Schwertgriff. Soldaten strömten die südwestliche Seite der Anhöhe hinunter, um die Furt zu überqueren. Ein paar kleine Gruppen hielten den Hang noch, und Drachenmänner, die aus Gawyns Perspektive so klein wie Insekten waren, zogen die noch funktionstüchtigen Drachen mit Maultiergespannen in Sicherheit.

Demandred regnete Zerstörung auf die fliehenden Truppen. Er war eine Ein-Mann-Armee und schleuderte Körper in die Luft, ließ Pferde explodieren, verbrannte und vernichtete. Um ihn herum nahmen seine Trollocs die erhöhte Stellung in Besitz. Ihr blökender Jubel stieg durch das Wegetor.

»Wir werden uns mit ihm auseinandersetzen müssen, Mutter«, sagte Silviana. »Bald.«

»Er will uns aus der Deckung locken«, meinte Egwene. »Er hat dieses Sa’angreal. Wir könnten ebenfalls einen Zirkel aus zweiundsiebzig bilden, und was dann? Ihm in die Falle gehen? Abgeschlachtet werden?«

»Welche Wahl bleibt uns denn, Mutter?«, wollte Lelaine wissen. »Licht! Er tötet Tausende.«

Er tötete Tausende. Und sie standen einfach hier herum.

Gawyn trat zurück.

Außer Yukiri, die begierig seinen Platz neben Egwene einnahm, schien niemand seinen Rückzug zu bemerken. Er schlüpfte aus dem Zelt, und als ihn die Wächter fragend ansahen, behauptete er, frische Luft zu brauchen. Egwene würde das befürworten. Sie fühlte, wie müde er in letzter Zeit war; sie hatte es ihm gegenüber schon mehrmals erwähnt. Seine Lider fühlten sich an, als würden sie Eisengewichte nach unten ziehen. Er schaute zu dem schwarzen Himmel empor. Er konnte das Donnern in der Ferne hören. Wie lange würde er wohl noch hier herumstehen und nichts tun, während andere Männer starben?

Du hast es versprochen, dachte er bei sich. Du hast gesagt, du wärst bereit, in ihrem Schatten zu stehen.

Aber das bedeutete nicht, dass er aufhören musste, wichtige Dinge zu vollbringen, oder? Er griff in die Tasche und holte einen Ring der Blutmesser hervor. Er steckte ihn auf den Finger, und augenblicklich kehrte seine Kraft zurück, verschwand seine Erschöpfung schlagartig.

Er zögerte, dann nahm er auch die anderen Ringe und steckte sie alle an.


Am Südufer des Mora rief Tam al’Thor vor den Ruinen nordöstlich vom Dasharfels das Nichts, wie es ihm Kimtin vor so vielen Jahren beigebracht hatte. Er stellte sich eine einzelne Flamme vor und ergoss seine Gefühle in sie hinein. Er wurde ganz ruhig, dann floh ihn diese Ruhe und ließ nichts zurück. Wie eine frisch gestrichene Wand, die wunderschön und weiß war. Alles schmolz dahin.

Tam war das Nichts. Er zog den Bogen, und das gute schwarze Eibenholz bog sich, der Pfeil berührte seine Wange. Er zielte, aber das war unerheblich. Wenn er so tief in die Leere eintauchte, würde der Pfeil genau das tun, was er befahl. Er wusste das nicht, genauso wenig wie die Sonne wusste, dass sie aufgehen würde, oder die Äste wussten, dass ihre Blätter fallen würden. Diese Dinge wusste man nicht; diese Dinge waren einfach.

Er ließ los, die Sehne schnappte, der Pfeil raste durch die Luft. Der nächste folgte ihm, dann der übernächste. Fünf hatte er gleichzeitig in der Luft, ein jeder in Erwartung des sich verändernden Windes gezielt.

Die ersten fünf Trollocs stürzten, als sie versuchten, über eine der Floßbrücken zu stürmen, die sie hier über den Fluss hatten schlagen können. Trollocs hassten Wasser; selbst niedriges Wasser schüchterte sie ein. Was auch immer Mat getan hatte, um den Fluss weiter aufwärts zu beschützen, es funktionierte, denn das Wasser floss noch. Der Schatten würde versuchen, das zu ändern. Versuchte es in diesem Augenblick. Gelegentlich trieb der Kadaver eines Trollocs oder Maultiers vorbei.

Tam schoss weiterhin seine Pfeile ab, und Abell und die anderen Männer von den Zwei Flüssen schlossen sich ihm an. Manchmal zielten sie einfach nur in die Masse, suchten sich keine individuellen Trollocs aus – aber das kam selten vor. Ein normaler Soldat würde vielleicht ohne zu zielen schießen, in der Annahme, dass sein Pfeil schon etwas treffen würde, aber kein guter Bogenschütze aus den Zwei Flüssen würde so handeln. Für Soldaten waren Pfeile Wegwerfgüter, aber nicht für Waldläufer.

Tiermenschen stürzten in Wellen. Außer Tam und seinen Männern spannten Armbrustmänner ihre Waffen und schossen eine Salve nach der anderen auf das Schattengezücht. Die hinten stehenden Blassen peitschten auf die Trollocs ein und versuchten, sie über den Fluss zu zwingen, aber ohne großen Erfolg.

Tams Pfeil traf einen Blassen genau an der Stelle, wo die Augen hätten sein sollen. In der Nähe pfiff ein großer Mann namens Bayrd anerkennend, während er sich auf seine Axt stützte und dem Beschuss zusah. Er gehörte einer Gruppe Soldaten an, die die Bogenschützen beschützen sollten, sobald die Trollocs zur Flussüberquerung gezwungen wurden.

Bayrd gehörte zu den Söldnerführern, die eher zufällig zum Heer gestoßen waren, und obwohl er offensichtlich Andoraner war, wollten weder er noch die ungefähr hundert Männer in seiner Begleitung Auskunft geben, wo sie hergekommen waren. »Ich muss mir einen dieser Bögen besorgen«, sagte Bayrd zu seinen Gefährten. »Verflucht noch mal, habt ihr das gesehen?«

Abell und Azi lächelten und schossen weiter. Tam lächelte nicht. Die Leere besaß keinen Humor, obwohl sich außerhalb davon kurz ein Gedanke regte. Tam wusste, warum Abell und Azi gelächelt hatten. Einen Bogen aus den Zwei Flüssen zu haben machte einen noch lange nicht zu einem Bogenschützen aus den Zwei Flüssen.

»Ich glaube«, sagte Galad Damodred, der in der Nähe auf seinem Pferd saß, »Ihr würdet Euch selbst mehr Schaden zufügen als dem Feind, solltet Ihr versuchen, damit zu schießen. Al’Thor, wie lange noch?«

Tam ließ den nächsten Pfeil fliegen. »Noch fünf«, sagte er und griff nach dem nächsten Pfeil in dem Köcher an seinem Gürtel. Er spannte ihn ein, schoss ihn ab, machte weiter. Zwei, drei, vier, fünf.

Fünf weitere tote Trollocs. Insgesamt hatte er über dreißig Pfeile abgeschossen. Einmal hatte er verfehlt, aber das auch nur, weil Abell die Bestie getötet hatte, auf die er gezielt hatte.

»Bogenschützen, aufhören!«, rief Tam.

Die Männer zogen sich zurück, und Tam ließ das Nichts los, als eine Gruppe Ungeheuer ans Ufer stolperte. Noch immer führte Tam Perrins Truppen an, zumindest gewissermaßen. Weißmäntel, Ghealdaner und Wolfsgarde erwarteten alle die endgültige Einwilligung von ihm, aber jede Gruppe hatte ihre eigenen Anführer. Er persönlich befahl über die Bogenschützen.

Perrin, du solltest lieber schnell gesunden. Als Haral den Jungen am Vortag am Rand des Lagers im Gras liegend gefunden hatte, blutverschmiert und dem Tode nahe … Beim Licht, das hatte ihnen allen einen großen Schrecken eingejagt.

Perrin war sicher nach Mayene gebracht worden, wo er vermutlich den Rest der Letzten Schlacht verbringen würde. Kein Mann erholte sich schnell von der Art Verletzung, die der Junge davongetragen hatte, nicht einmal mit einer Heilung durch eine Aes Sedai. Den Kampf zu verpassen würde ihn in den Wahnsinn treiben, aber manchmal passierte so etwas eben. Das gehörte zum Soldatentum.

Tam und seine Leute zogen sich zu den Ruinen zurück, wo sie dem Kampf von erhöhtem Gelände aus zusehen konnten, und er organisierte seine Schützen für den Fall, dass sie gebraucht wurden; Läufer brachten neue Pfeile. Mat hatte Perrins Truppen an der Seite der Drachenverschworenen aufgestellt, die von Tinna angeführt wurden, einer statuesken Frau. Tam hatte nicht die geringste Ahnung, wo sie herkam oder warum gerade sie den Befehl hatte – sie hatte die Haltung einer Lady, den Körperbau einer Aiel und die Hautfarbe einer Saldaeanerin. Die anderen schienen auf sie zu hören. Tam hatte Drachenverschworene noch nie verstanden, also kam er ihnen nicht in die Quere.

Man hatte seinem Heer befohlen, die Stellung zu halten. Mat hatte erwartet, dass Sharaner und Trollocs im Westen am heftigsten angreifen würden; darum war Tam überrascht, dass Mat Verstärkung von der Furt flussaufwärts schickte. Die Weißmäntel waren erst kürzlich eingetroffen, und sie stürmten mit wehenden Uniformen das Ufer entlang und schnitten sich einen Weg durch die Bestien, die von ihren Behelfsbrücken an Land stolperten.

Vom anderen Ufer flogen Pfeile auf Galad und seine Männer zu. Die klirrenden Laute, die die Geschosse auf den Schilden und der Rüstung der Weißmäntel verursachten, klangen wie Hagel auf einem Dach. Tam befahl Arganda, die Fußsoldaten in Marsch zu setzen, und dazu gehörten auch Bayrd und die Söldner.

Ihnen standen nicht genügend Piken zur Verfügung, also hielten Argandas Männer Hellebarden und Speere. Soldaten fingen an zu brüllen und zu sterben, Trollocs heulten. Alliandre kam in der Nähe von Tams rückwärtiger Stellung angeritten, umgeben von gut bewaffneten Fußsoldaten. Tam grüßte sie mit dem Bogen, und sie nickte, bevor sie sich wieder ihrer Beobachtung des Schlachtgeschehens widmete. Sie hatte bei der Schlacht dabei sein wollen. Tam konnte es ihr nicht verdenken, genauso wenig, wie er es ihr verdenken konnte, dass sie ihren Soldaten befohlen hatte, sie beim ersten Anzeichen, dass sie überrannt werden würden, in Sicherheit zu bringen.

»Tam! Tam!« Dannil kam angerannt, und Tam bedeutete Abell, den Befehl über die Bogenschützen zu übernehmen. Er ging Dannil entgegen und traf den Jungen im Schatten der Ruinen.

Innerhalb der zerstörten Mauern verfolgte Tams Reserve nervös die Schlacht. Die meisten waren Bogenschützen aus den Söldnerkompanien und den Drachenverschworenen. Von der letzteren Gruppe hatten viele noch keinen Kampf erlebt. Nun, bis vor wenigen Monaten hatte das auch für die meisten Männer aus den Zwei Flüssen gegolten. Sie hatten schnell gelernt. Es bestand kein großer Unterschied darin, ob man mit dem Pfeil einen Hirsch oder Trolloc traf.

Andererseits schlitzte einem der Hirsch nicht ein paar Sekunden später mit dem Schwert den Bauch auf, wenn man ihn verfehlte.

»Was gibt es, Dannil?«, fragte Tam. »Eine Nachricht von Mat?«

»Er schickt Euch mehrere Banner Infanterie von der Legion des Drachen«, verkündete Dannil. »Er hat gesagt, dass wir den Fluss an dieser Stelle halten müssen, was es auch kosten mag.«

»Was hat der Junge bloß vor?« Tam sah zur Anhöhe hinüber. Die Legion des Drachen verfügte über gute Infanterie, ausgezeichnet ausgebildete Armbrustmänner, die hier sehr nützlich sein würden. Aber was geschah auf der Anhöhe?

Lichtblitze zeichneten sich vor den dicken schwarzen Rauchwolken ab, die vom Plateau zu den Wolken am Himmel aufstiegen. Dort tobte ein verbissener Kampf.

»Ich weiß es nicht«, sagte Dannil. »Mat … er hat sich verändert. Ich glaube, ich kenne ihn gar nicht mehr. Er hatte schon immer etwas von einem durchtriebenen Schurken an sich, aber jetzt … Licht, Tam. Er ist wie jemand aus den Heldensagen.«

Tam grunzte. »Wir alle haben uns verändert. Vermutlich würde Mat etwas Ähnliches über Euch sagen.«

Dannil lachte. »Ach, das bezweifle ich, Tam. Obwohl ich mich manchmal frage, was wohl geschehen wäre, hätte ich die drei damals begleitet. Ich meine, Moiraine Sedai suchte nach Jungen im richtigen Alter, und vermutlich war ich etwas zu alt …«

Dannil erschien etwas wehmütig. Er konnte sagen und glauben, was er wollte, aber Tam hatte seine Zweifel, ob es ihm gefallen hätte, einige der Dinge zu erdulden, die Mat, Perrin und Rand gezwungen hatten, zu den Menschen zu werden, die sie heute waren. »Übernehmt den Befehl über diesen Haufen da«, sagte er und deutete auf die Reserveschützen. »Ich sorge dafür, dass Arganda und Galad wissen, dass wir Verstärkung erhalten.«


Dicke Trolloc-Pfeile schlugen um Pevara herum ein, während sie verzweifelt Luft webte. Ihr Windstoß blies die Geschosse weg, wie ein wütender Spieler Steine vom Spielbrett fegt. Schwitzend klammerte sie sich an Saidar und webte einen stärkeren Schild aus Luft, den sie in den Himmel schob, um die nächsten Salven abzuwehren.

»Es ist sicher!«, rief sie. »Geht!«

Eine Gruppe Soldaten schoss unter einem Überhang an der steilen Flussseite der Anhöhe hervor. Von oben regneten noch mehr der schwarzen Geschosse in die Tiefe. Sie trafen ihren Schild; er raubte ihnen so viel Wucht, dass sie wie Federn nach unten trudelten, nachdem sie ihn durchschlagen hatten.

Die Soldaten, denen sie geholfen hatte, eilten auf den Sammelpunkt an der Hawalfurt zu. Andere entschieden sich zu bleiben und zu kämpfen, als Gruppen Schattengezücht die Hänge hinunterströmten. Die meisten Tiermenschen blieben oben, um ihre Stellung zu halten und die noch verbliebenen Menschen zu erledigen.

Wo? Androls hektischer Gedanke ertönte als leises Flüstern in ihrem Verstand.

Hier, antwortete sie. Es war kein vollendeter Gedanke, mehr ein Bild, ein Eindruck der Umgebung.

Neben ihr zerschnitt ein Wegetor die Luft, und er eilte gefolgt von Emarin hindurch. Beide Männer trugen Schwerter, aber Emarin fuhr herum und stieß die Hand nach vorn. Eine Feuerlanze raste durch das geöffnete Tor. Auf der anderen Seite ertönten Schreie. Die Schreie von Menschen.

»Ihr seid bis zur sharanischen Armee gegangen?«, verlangte Pevara zu wissen. »Logain wollte doch, dass wir zusammenbleiben!«

»Also interessiert Ihr Euch jetzt für seine Wünsche?« Androl grinste.

Ihr strapaziert meine Nerven, dachte sie. Um sie herum prasselten Pfeile zu Boden. In der Höhe heulten die Trollocs vor Wut.

»Hübsches Gewebe«, sagte Androl.

»Danke.« Sie warf einen Blick auf das Schwert.

»Ich bin jetzt Behüter.« Er zuckte mit den Schultern. »Da kann ich auch so aussehen, nicht wahr?«

Er konnte einen Trolloc auf dreihundert Schritte mit einem Wegetor in zwei Hälften teilen und Feuer aus dem Drachenberg holen, und trotzdem wollte er ein Schwert tragen. Das konnte bloß ein Männerding sein.

Das habe ich gehört, übermittelte Androl in Gedanken. »Emarin, zu mir. Pevara Sedai, wenn Ihr die Güte hättet, uns zu begleiten …«

Sie schnaubte, aber dann gesellte sie sich zu den beiden Männern, und sie eilten am südwestlichen Fuß der Anhöhe entlang, vorbei an einigen Verwundeten, die in Richtung Sammelpunkt stolperten. Androl warf ihnen einen Blick zu, dann webte er ein Wegetor zurück in ihr Lager. Die angeschlagenen Männer schrien völlig überrascht und dankbar auf, dann taumelten sie in Sicherheit.

Androl war gewachsen … er war viel selbstsicherer geworden, seit sie die Schwarze Burg verlassen hatten. Als sie ihn kennengelernt hatte, hatte er bei so ziemlich allem gezögert. Eine übertriebene nervöse Bescheidenheit. Das war vorbei.

»Androl …«, sagte Emarin und zeigte mit dem Schwert auf die Anhöhe.

»Ich sehe sie«, sagte Androl. Trollocs quollen über die Kante wie Pech aus einem überschäumenden Kessel. Das Wegetor schloss sich hinter den Soldaten; wieder eine Gruppe in Sicherheit. Andere schrien auf, als sie es sich schließen sahen.

Ihr könnt sie nicht alle retten, dachte Pevara streng, als sie seine aufsteigende Verzweiflung spürte. Konzentriert Euch auf die Arbeit.

Sie bewegten sich zwischen den Soldaten und näherten sich mehreren Machtlenkern, die sie vorausfühlte. Jonneth, Canler und Theodrin befanden sich dort und schleuderten Feuer auf die Bestien. Ihre Stellung wurde gerade überrannt.

»Jonneth, Canler, zu mir«, rief Androl, rannte an ihnen vorbei und öffnete ein Tor. Pevara und Emarin duckten sich hinter ihm hindurch und fanden sich ein paar Hundert Schritte von ihrer letzten Position entfernt auf dem Plateau wieder.

Jonneth und die anderen folgten ihnen, und sie rannten an einer Gruppe überraschter Tiermenschen vorbei.

»Machtlenken!«, brüllte Pevara. Beim Licht, es fiel schwer, mit diesen Röcken zu rennen. Wusste Androl das nicht?

Er öffnete ihnen ein neues Tor, als Feuerbälle aus der Richtung einiger Sharaner angeflogen kamen. Pevara rannte hinein und fing an zu keuchen. Auf der anderen Seite der Sharaner kamen sie wieder heraus; der Feind schoss sich auf die Position ein, an der sie sich gerade noch befunden hatten.

Sie öffnete ihre Sinne und versuchte ihr Ziel zu entdecken, es zu fühlen. Die Sharaner fuhren herum und zeigten auf sie, brüllten aber auf, als Androl aus einem Wegetor neben ihnen eine Schneelawine auf sie stürzen ließ. Er hatte damit experimentiert, diese Todestore zu weben, die die anderen Asha’man benutzten, aber anscheinend war das Gewebe gerade anders genug, dass es nicht so recht klappen wollte. Also blieb er bei dem, worin er gut war.

Noch immer kämpften vereinzelte Gruppen der Burgwache oben auf der Anhöhe und hielten befehlswidrig ihre Stellungen. Zwischen verbrannten Leichen lagen noch qualmende Trümmer von Drachen, einschließlich der großen Bronzerohre. Abertausende Trollocs heulten ihre wilde Freude heraus; die meisten standen jetzt am Plateaurand und schossen Pfeile in die Tiefe. Ihr Jubel entfachte neuen Grimm in Pevara, und sie webte Erde und schickte die Gewebe in den Boden neben einer Gruppe. Ein großes Stück Felsen erbebte, brach ab und schickte zwei Dutzend Bestien in die Tiefe.

»Wir erregen Aufmerksamkeit!«, sagte Emarin und setzte einen Myrddraal in Brand, der auf sie zugeschlichen war. In Flammen gehüllt zuckte und kreischte er und wollte einfach nicht sterben. Schwitzend unterstützte Pevara Emarins Feuer und verbrannte die Kreatur, bis sie nur noch aus geschwärzten Knochen bestand.

»Nun, das ist ja nicht schlecht!«, erwiderte Androl. »Wenn wir genug Aufmerksamkeit erregen, wird sich früher oder später eine der Schwarzen Ajah oder einer von Taims Männern um uns kümmern.«

Jonneth fluchte. »Das ist beinahe so, als würde man in einen Ameisenhaufen springen und darauf warten, dass sie einen beißen.«

»Das ist genauso«, erwiderte Androl. »Ihr haltet nach ihnen Ausschau. Ich kümmere mich um die Trollocs!«

Das ist aber ein kühnes Versprechen, dachte Pevara an ihn gerichtet.

Seine Antwort war so warm wie Hitze von einer Herdplatte. Es klang heroisch.

Ich nehme an, Ihr könntet etwas zusätzliche Kraft brauchen?

Ja, bitte.

Sie bot ihm die Verknüpfung. Er füllte sich mit ihrer Kraft und übernahm die Kontrolle des Zirkels. Wie immer war die Verknüpfung mit ihm eine überwältigende Erfahrung. Sie fühlte, wie ihre Empfindungen immer wieder zwischen ihnen beiden hin- und hergeschleudert wurden, was sie erröten ließ. Ob er wohl spürte, mit welchen Augen sie ihn langsam betrachtete?

So albern wie ein Mädchen im knielangen Rock, dachte sie im Stillen, wobei sie ihre Gedanken sorgfältig vor ihm abschirmte, das kaum alt genug ist, um den Unterschied zwischen Jungen und Mädchen zu kennen. Und dann auch noch mitten im Krieg.

Während der Verknüpfung mit ihm fiel es ihr schwer, ihre Gefühle so zu stählen, wie es eine Aes Sedai sollte. Ihre beiden Persönlichkeiten vermischten sich wie zwei Farben, die man in denselben Topf schüttete. Sie kämpfte dagegen an, entschlossen, ihre Identität zu bewahren. Bei einer Verknüpfung war das von entscheidender Bedeutung, was man ihr immer wieder eingehämmert hatte.

Androl zeigte auf eine Gruppe Ungeheuer, die angefangen hatten, ihn mit Pfeilen zu beschießen. Blitzartig öffnete sich das Wegetor und verschlang die Geschosse. Pevara blickte sich um und entdeckte, dass sie auf eine andere Gruppe Tiermenschen hagelten.

Wegetore öffneten sich im Boden, rissen die Trollocs von den Beinen und ließen sie Hunderte Fuß am Himmel wieder erscheinen. Ein winziges Wegetor schnitt einem Myrddraal den Kopf ab und ließ den Körper zappelnd tintenschwarzes Blut verspritzen. Androls Mannschaft stand jetzt in der Nähe des westlichen Abschnitts, wo einst die Drachenstellung gewesen war. Überall um sie herum befanden sich Schattengezücht und Sharaner.

Androl, Machtlenken! Sie konnte fühlen, wie es in die Höhe stieg. Etwas Mächtiges.

Taim! Androls sofort aufflammende Wut fühlte sich an, als würde sie Pevara gleich aus der Welt brennen. Darin verbarg sich der Verlust von Freunden und der Zorn über den Verrat eines Mannes, der sie doch hätte beschützen sollen.

Vorsichtig, mahnte sie. Wir wissen nicht, ob er es ist.

Der Angreifer befand sich in einem Zirkel aus Männern und Frauen, sonst hätte Pevara ihn nicht wahrnehmen können. Tatsächlich konnte sie die Gewebe nicht sehen. Aber sie sah die bedrohliche, fast einen Schritt breite Feuersäule, die auf sie zuschoss und heiß genug war, um den steinigen Boden rot glühen zu lassen.

In letzter Sekunde konnte Androl ein Wegetor öffnen, das die Feuersäule abfing und zurück in die Richtung schickte, aus der sie gekommen war. Brausendes Feuer verbrannte Trolloc-Kadaver und entzündete Unkraut und Büsche.

Was dann geschah, bekam Pevara gar nicht bewusst mit. Androls Tor verschwand, als hätte man es ihm aus der Hand gerissen, dann schlugen direkt neben ihnen Blitze ein. Pevara krachte zu Boden, Androl landete schwer auf ihr.

In diesem Augenblick verlor sie sich.

Es geschah zufällig, ausgelöst von dem schweren Zusammenstoß. In den meisten Fällen wäre ihre Verknüpfung einfach entglitten, aber Androl hatte einen kräftigen Griff. Der Damm, der Pevaras Ich von dem seinen trennte, brach entzwei, und sie verschmolzen. Als würde man durch einen Spiegel treten und dann sich selbst betrachten.

Gewaltsam zog sie sich wieder heraus, tat das aber mit einer messerscharfen Wahrnehmung, die sie nicht beschreiben konnte. Wir müssen hier weg, dachte sie noch immer mit Androl verknüpft. Die anderen schienen noch alle am Leben zu sein, aber das würde nicht mehr von langer Dauer sein, falls ihr Feind die nächsten Blitze schickte. Instinktiv begann Pevara mit dem komplizierten Gewebe für ein Wegetor, obwohl das doch gar nichts bewirken würde. Androl führte den Zirkel an, also konnte bloß er …

Das Tor schnappte auf. Pevara keuchte. Sie hatte das getan, nicht er. Das gehörte zu den kompliziertesten, schwierigsten und machtintensivsten Geweben, die sie kannte, aber sie hatte das so mühelos geschafft, als würde sie jemandem zuwinken. In einem Zirkel, den ein anderer führte.

Theodrin stolperte als Erste hindurch. Die anmutige Domani zerrte einen benommenen Jonneth mit sich. Emarin folgte ihr hinkend; ein Arm baumelte nutzlos an seiner Seite.

Androl betrachtete staunend das Tor. »Ich glaubte, wenn man in einem Zirkel steckt, den ein anderer führt, könnte man unmöglich die Macht lenken.«

»Kann man auch nicht. Das ist mir zufällig gelungen.«

»Zufällig? Aber wieso …«

»Rein in das Tor, Klotzkopf«, befahl Pevara und stieß ihn darauf zu. Sie folgte ihm, dann brach sie auf der anderen Seite zusammen.


»Damodred, ich brauche Euch da, wo Ihr jetzt seid«, sagte Mat. Er machte sich nicht die Mühe aufzuschauen, konnte aber durch das geöffnete Tor Galads Pferd schnauben hören.

»Man muss sich unwillkürlich fragen, ob Ihr noch bei Verstand seid, Cauthon«, erwiderte Galad.

Schließlich sah Mat von seinen Karten auf. Er war nicht unbedingt davon überzeugt, sich jemals an diese Wegetore zu gewöhnen. Er stand im Befehlshaus, das Tuon in der Felsspalte im Dasharfels errichtet hatte, und in der Wand klaffte ein Wegetor. Auf der anderen Seite saß Galad in seiner weiß-goldenen Uniform der Kinder des Lichts auf seinem Pferd. Noch immer war er in der Nähe der Ruinen stationiert, wo sich ein Trolloc-Heer den Weg über den Mora erzwingen wollte.

Galad Damodred war ein Mann, der gut ein paar Becher Schnaps hätte vertragen können. Mit diesem hübschen Gesicht und dem immer gleichen Ausdruck hätte er genauso gut eine Statue sein können. Nein, Statuen waren lebendiger.

»Ihr tut, was man Euch befiehlt«, sagte Mat und blickte wieder auf die Karte. »Ihr sollt den Fluss an dieser Stelle halten und tun, was Euch Tam sagt. Es ist mir völlig gleichgültig, ob Ihr der Meinung seid, dass Eure Stellung nicht wichtig genug ist.«

»Nun gut«, erwiderte Galad mit einer Stimme, die so kalt wie die einer Leiche im Schnee war. Er wendete sein Pferd, und die Damane Mika schloss das Tor.

»Das da draußen ist ein Blutbad, Mat«, sagte Elayne. Beim Licht, ihr Tonfall war ja noch kälter als Galads!

»Ihr alle habt mir den Befehl übergeben. Lasst mich meine Arbeit machen.«

»Wir ernannten dich zum Befehlshaber der Heere«, erwiderte Elayne. »Du hast keineswegs den Oberbefehl.«

Das war typisch Aes Sedai, sich an jedem verdammten Wort aufzuhängen. Es … Stirnrunzelnd blickte er auf. Min hatte gerade leise etwas zu Tuon gesagt. »Was ist?«, wollte er wissen.

»Ich sah ihn allein auf einem Feld liegen«, sagte Min, »als wäre er tot.«

»Matrim«, ergriff Tuon das Wort. »Ich bin … besorgt.«

»Dieses eine Mal sind wir einer Meinung«, sagte Elayne von ihrem Thron auf der anderen Seite des Raumes. »Mat, ihr General manövriert dich aus.«

»So verflucht einfach ist das nicht«, erwiderte Mat und pochte mit dem Finger auf die Karten. »So verflucht einfach ist das nie.«

Der Mann, der den Schatten anführte, war gut. Sehr gut sogar. Es ist Demandred, dachte Mat. Ich kämpfe gegen einen der lichtverfluchten Verlorenen.

Gemeinsam erschufen sie ein grandioses Gemälde. Jeder reagierte mit subtiler Sorgfalt auf die Züge des anderen. Bloß dass Mat versuchte, etwas zu viel Rot in seine Farben zu mischen. Er wollte das falsche Bild zeichnen, aber es sollte überzeugend sein.

Das war schwer. Er musste genug Geschick beweisen, um Demandred zurückzuhalten, dabei aber schwach genug erscheinen, um Angriffslust zu wecken. Eine schrecklich subtile Finte. Es war gefährlich, möglicherweise sogar katastrophal. Gezwungenermaßen wandelte er auf der Rasierklinge. Unmöglich zu vermeiden, sich in die Füße zu schneiden. Die Frage lautete nicht, ob er bluten würde, sondern ob er es bis zur anderen Seite schaffte oder nicht.

»Setzt die Ogier in Marsch«, befahl er leise, wieder über die Karten gebeugt. »Sie sollen die Männer an der Furt verstärken.« Dort kämpften die Aiel und beschützten den Weg, während sich die Männer der Weißen Burg und der Bande der Roten Hand von der Anhöhe zurückzogen.

Der Befehl wurde an die Ogier weitergegeben. Pass auf dich auf, Loial, dachte Mat und machte eine Notiz auf die Karte, wo er die Ogier hingeschickt hatte. »Warnt Lan, er befindet sich noch immer an der Westseite der Anhöhe. Ich will, dass er sie umrundet, jetzt, wo die meisten Streitkräfte des Schattens oben sind, und dann wieder zurück zum Mora zieht, direkt in den Rücken des anderen Trolloc-Heeres, das in der Nähe der Ruinen über den Fluss will. Er soll sie nicht angreifen; er soll einfach außer Sicht bleiben und die Position halten.«

Die Boten liefen los, um seine Befehle zu überbringen, und er machte die nächste Notiz. Eine So’jhin brachte ihm einen Becher Kaf, die Süße mit den Sommersprossen. Er war viel zu sehr auf seine Schlacht konzentriert, um ihr zuzulächeln.

Er nippte an dem Gebräu und ließ sich von der Damane ein Wegetor auf der Tischplatte weben, damit er das Schlachtfeld selbst sehen konnte. Er beugte sich darüber, legte die freie Hand aber an die Tischkante. Nur ein verdammter Narr würde sich durch ein zweihundert Fuß über dem Boden befindliches Loch stoßen lassen.

Dann stellte er den Becher auf einem Seitentischchen ab und zückte das Fernrohr. Die Trollocs rückten von der Anhöhe in Richtung Moor. Ja, Demandred war wirklich gut. Die riesigen Bestien, die er losschickte, waren langsam, aber so mächtig wie ein Steinschlag. Eine Gruppe berittener Sharaner stand ebenfalls im Begriff, die Anhöhe zu verlassen. Leichte Kavallerie. Sie würde seine Truppen an der Furt angreifen und verhindern, dass sie gegen die linke Flanke der Bestien vorrückten.

Eine Schlacht war nichts anderes als ein Duell im großen Rahmen. Auf jede Bewegung folgte eine Gegenbewegung – oft auch drei oder vier. Man reagierte, indem man eine Abteilung hierhin und eine dorthin verlegte, versuchte die Bemühungen des Gegners zu vereiteln, während man Druck auf die Stellen ausübte, an denen er schlecht aufgestellt war. Hin und her, hin und her. Mat war zahlenmäßig unterlegen, aber das konnte er sich zunutze machen.

»Teilt Talmanes die folgenden Worte mit«, sagte er, während er noch immer durch das Fernrohr blickte. »›Erinnert Ihr Euch noch, wie Ihr mit mir gewettet habt, ich könnte keine Münze quer durch die ganze Schenke in einen Becher werfen?‹«

»Ja, Höchsterlauchter«, sagte der seanchanische Bote.

Mat hatte darauf entgegnet, dass er es versuchen würde, sobald er betrunkener war – sonst wäre es doch unfair. Dann hatte er so getan, als würde er sich betrinken, und Talmanes dazu verleitet, den Einsatz von Silber auf Gold zu erhöhen.

Talmanes war das aber keineswegs verborgen geblieben, und er hatte darauf bestanden, dass er wirklich trank. Dafür schulde ich ihm immer noch ein paar Mark, oder?, dachte Mat flüchtig.

Er richtete das Fernrohr auf den Norden des Plateaus. Eine Gruppe schwerer sharanischer Kavallerie hatte sich versammelt, um den Hang hinunterzureiten; er konnte ihre langen Lanzen erkennen.

Sie bereiteten sich darauf vor, nach unten zu stürmen, um Lans Männer abzufangen, wenn sie die Nordseite der Polov-Anhöhe passierten. Dabei hatte der Befehl Lan noch gar nicht erreicht.

Es bestätigte seinen Verdacht: Demandred hatte nicht nur Spione im Lager, er hatte sogar einen im oder in unmittelbarer Nähe des Befehlshauses. Jemand, der Botschaften schicken konnte, sobald Mat den Befehl erteilt hatte. Vermutlich also Machtlenker hier im Haus, die ihre Fähigkeiten verbargen.

Verfluchte Asche. Als wäre das alles nicht schon schwer genug.

Der Bote kehrte von Talmanes zurück. »Höchsterlauchter«, sagte er, warf sich zu Boden und berührte mit der Nase den Boden, »Euer Mann sagt, dass seine Streitkräfte völlig am Boden sind. Er will Eure Befehle befolgen, lässt aber mitteilen, dass die Drachen heute nicht mehr einsatzfähig sind. Es wird Wochen brauchen, um sie zu reparieren. Sie sind … ich bitte um Vergebung, Höchsterlauchter, aber so lauteten seine genauen Worte. Sie sind schlimmer dran als eine Schenkmagd in Sabinel. Ich weiß nicht, was das zu bedeuten hat.«

»Schenkmägde arbeiten dort für Trinkgeld«, sagte Mat mit einem Grunzen, »bloß dass die Leute in Sabinel kein Trinkgeld geben.«

Das war natürlich eine Lüge. In Sabinel hatte Mat versucht, Talmanes dazu zu bringen, ihm dabei zu helfen, ein paar Schenkmägde herumzukriegen. Talmanes hatte vorgeschlagen, er solle eine Kriegsverletzung vortäuschen, um Mitleid zu erringen.

Guter Mann. Die Drachen waren noch einsatzfähig, aber vermutlich ganz schön mitgenommen. Hier hatten sie einen Vorteil; mit Ausnahme von ihm und Aludra wusste niemand, wie sie genau funktionierten. Verdammte Asche, selbst er sorgte sich bei jedem Abschuss, dass ihnen die Dinger um die Ohren flogen.

Fünf oder sechs Drachen waren unbeschädigt; Mat hatte sie rechtzeitig durch ein Wegetor in Sicherheit gebracht. Aludra hatte sie südlich von der Furt aufgestellt, wo sie auf die Anhöhe zielten. Mat würde sie einsetzen, aber bei dem Spion den Eindruck erwecken, dass so gut wie alle vernichtet worden waren. Talmanes konnte sie aber zusammenflicken, damit er sie wieder benutzen konnte.

Aber in dem Augenblick, in dem ich das mache, wird ihnen Demandred alles entgegenschleudern, was er hat. Es musste einfach der richtige Augenblick sein. Verfluchte Asche, in letzter Zeit drehte sich sein Leben nur noch darum, den richtigen Augenblick zu finden. Und genau diese Augenblicke gingen ihm langsam aus. Jetzt befahl er Aludra erst einmal, die Trollocs, die den Südwesthang hinunterkamen, über den Fluss hinweg mit dem halben Dutzend noch funktionierender Drachen unter Feuer zu nehmen.

Sie war weit genug von der Anhöhe entfernt, und sie würde in Bewegung bleiben, damit Demandred keine Gelegenheit haben würde, ihren genauen Standort zu bestimmen und sie zu vernichten. Der von ihnen erzeugte Qualm würde ihre Position zusätzlich verbergen.

»Mat«, sagte Elayne von ihrem Thron. Amüsiert fiel ihm auf, dass sie, als sie ihn aus Gründen der »Bequemlichkeit« etwas zurechtgeschoben hatte, Birgitte irgendwie dazu gebracht hatte, ihn ein paar Zoll zu erhöhen, sodass sie jetzt genau auf gleicher Höhe mit Tuon saß. Vielleicht sogar einen Zoll höher. »Bitte. Kannst du wenigstens etwas von dem erklären, was du da tust?«

Nicht ohne dass es der Spion mitbekommt, dachte er und blickte sich im Raum um. Wer war es? Eine von den drei Paaren Damane und Sul’dam? Konnte eine Damane eine Schattenfreundin sein, ohne dass es ihre Sul’dam mitbekam? Was war mit den Leuten auf der anderen Seite? Diese Adlige mit der weißen Strähne im Haar sah verdächtig aus.

Oder war es einer der vielen Generäle? Galgan? Tylee? Bannergeneralin Gerisch? Sie stand da und starrte ihn finster an. Also ehrlich. Frauen. Sie hatte wirklich ein hübsches Hinterteil, aber er hatte es bloß erwähnt, um höflich zu sein. Schließlich war er ein verheirateter Mann.

Hier war einfach zu viel Betrieb, das war das Problem. Er hätte Hirse auf den Boden streuen können und am Ende des Tages Mehl gehabt. Angeblich waren sie alle überaus loyal und nicht einmal ansatzweise dazu fähig, die Kaiserin zu verraten, sollte sie ewig leben. Was sie natürlich nicht würde, wenn hier weiterhin Spione ein und aus gingen.

»Mat?«, sagte Elayne nun schon beharrlicher. »Jemand muss wissen, was du vorhast. Solltest du fallen, müssen wir deinen Plan weiter fortführen.«

Nun, gegen dieses Argument ließ sich schwerlich etwas einwenden. Er hatte selbst schon daran gedacht. Zuversichtlich, dass man seine neuen Befehle ausführte, trat er zu Elayne. Er schaute sich um, lächelte alle unschuldig an. Sie brauchten nicht zu wissen, dass er ihnen misstraute.

»Warum schaust du jeden anzüglich an?«, wollte Elayne leise wissen.

»Ich schaue überhaupt nicht anzüglich«, protestierte er. »Nach draußen. Ich will einen Spaziergang machen und frische Luft schnappen.«

»Knotai?«, fragte Tuon und stand auf.

Er sah nicht in ihre Richtung – dieser Blick konnte Stahl durchbohren. Stattdessen verließ er ohne jede Eile das Gebäude. Wenige Augenblicke später folgten Elayne und Birgitte.

»Was soll das?«, fragte Elayne leise.

»Da drinnen sind so viele Ohren.«

»Du glaubst, im Befehlshaus ist ein Spion …«

»Moment«, sagte Mat, nahm sie am Arm und zog sie mit sich. Freundlich nickte er ein paar Totenwächtern zu. Sie grunzten zur Erwiderung. Für Totenwächter war das richtig geschwätzig.

»Du kannst frei sprechen«, sagte Elayne. »Ich habe ein Gewebe gegen Lauscher gewebt.«

»Danke«, sagte Mat. »Ich wollte dich aus dem Befehlshaus raushaben. Ich sage dir, was ich tue. Sollte etwas schiefgehen, musst du einen neuen General aussuchen, richtig?«

»Mat, wenn du es für möglich hältst, dass da ein Spion …«

»Ich weiß es, also werde ich mir den Burschen zunutze machen. Das funktioniert schon. Vertrau mir.«

»Ja, und du bist so zuversichtlich, dass du bereits einen Ersatzplan für den Fall hast, dass du scheiterst.«

Er ignorierte die Bemerkung und nickte Birgitte zu. Sie sah sich unauffällig um und hielt nach Leuten Ausschau, die ihnen zu nahe kommen wollten.

»Wie gut spielst du Karten, Elayne?«, fragte er.

»Wie gut ich … Jetzt ist doch nicht die Zeit, um zu spielen!«

»Es ist genau der richtige Augenblick für ein Spiel. Ist dir eigentlich klar, wie sehr uns der Feind überlegen ist? Spürst du, wie sich bei Demandreds Angriffen der Boden bewegt? Wir können uns glücklich schätzen, dass er nicht in unser Befehlshaus Reist und uns angreift – ich vermute, er befürchtet, dass sich Rand irgendwo hier versteckt und er in einen Hinterhalt gerät. Aber Blut und verdammte Asche, er ist stark. Wenn wir nicht spielen, sind wir tot. Erledigt. Begraben.«

Sie verstummte.

»Mit Karten ist das so.« Mat hob einen Finger. »Karten sind nicht wie Würfel. Beim Würfeln will man so viele Würfe wie möglich gewinnen. Viele Würfe, viele Siege. Das ist allein vom Zufall bestimmt, verstehst du? Aber nicht bei den Karten. Bei einem Kartenspiel muss man die Gegner dazu verlocken, ihren Einsatz zu machen. Einen vernünftigen Einsatz. Das gelingt einem, indem man sie gelegentlich gewinnen lässt. Oder oft.

Das fällt hier nicht schwer, da wir in der Unterzahl und unterlegen sind. Die einzige Möglichkeit auf einen Sieg besteht darin, alles auf das richtige Blatt zu setzen. Beim Kartenspiel kann man neunundneunzigmal verlieren und trotzdem mit dem richtigen Blatt gewinnen. Jedenfalls solange der Gegner anfängt, leichtsinnig zu werden. Solange man sich die Verluste leisten kann.«

»Und das tust du? Du gibst vor, dass wir verlieren?«

»Natürlich nicht, verflucht.« Mat schüttelte den Kopf. »Das kann ich nicht vortäuschen. Das würde er sofort durchschauen. Ich verliere tatsächlich, aber ich behalte auch alles im Auge. Halte mich für diesen letzten Einsatz bereit, das Blatt, das noch alles gewinnen könnte.«

»Also wann schlagen wir zu?«

»Wenn die richtigen Karten kommen.« Mat hob die Hand und wehrte ihren Einspruch ab. »Elayne, ich werde es wissen. Ich werde es verflucht noch eins wissen. Mehr kann ich dazu nicht sagen.«

Sie verschränkte die Arme über dem dicken Bauch. Beim Licht, er schien jeden Tag größer zu werden. »Schön. Wie sehen deine Pläne für Andors Heer aus?«

»Ich habe Tam und seine Männer bereits am Fluss bei den Ruinen aufgestellt. Was den Rest deiner Streitkräfte angeht, möchte ich, dass du bei der Furt hilfst. Vermutlich geht Demandred davon aus, dass diese Trollocs dort oben im Norden den Fluss überqueren und unsere Verteidiger auf der shienarischen Seite flussabwärts treiben, während der Rest der Trollocs und die Sharaner die Anhöhe verlassen, um die Furt zu überqueren und uns dann flussaufwärts zu treiben.

Sie werden versuchen, uns einzukreisen, und das wird es dann gewesen sein. Aber Demandred hat eine Streitmacht den Mora hinaufgeschickt, um dem Fluss das Wasser mit einem Damm abzugraben, und das wird bald so weit sein. Wir werden sehen, ob wir das für uns in einen Vorteil verwandeln können. Aber sobald der Fluss versiegt, brauchen wir eine starke Verteidigung an Ort und Stelle, um die Trollocs aufzuhalten, wenn sie durch das Flussbett kommen. Dafür sind deine Streitkräfte da.«

»Wir gehen«, sagte Elayne.

»Wir?«, bellte Birgitte.

»Ich reite mit meinen Truppen«, verkündete Elayne und setzte sich in Richtung Pferdeseile in Bewegung. »Es ist offensichtlich, dass ich hier nichts ausrichten kann, und Mat will mich nicht im Befehlshaus haben. Also gehe ich verdammt noch mal zu dieser Furt.«

»In die Schlacht?«, sagte Birgitte.

»Wir stecken bereits mitten in der Schlacht«, erwiderte Elayne. »Die sharanischen Machtlenker könnten den Dasharfels und diese Felsspalte hier in der nächsten Minute mit zehntausend Männern angreifen. Komm schon. Ich verspreche auch, dass ich dich so viele Gardistinnen um mich herum aufstellen lasse, dass ich nicht einmal niesen kann, ohne Dutzende von ihnen nass zu machen.«

Birgitte seufzte, und Mat schenkte ihr einen tröstenden Blick. Sie nickte ihm zum Abschied zu, dann schloss sie sich Elayne an.

Also gut, dachte Mat und wandte sich wieder dem Befehlshaus zu. Elayne tat, was sie tun musste, und Talmanes hatte sein Signal begriffen. Jetzt konnte er sich der wahren Herausforderung zuwenden.

Konnte er Tuon dazu verleiten, das zu tun, was er wollte?


Galad führte die Kavallerie der Kinder des Lichts unweit der Ruinen zu einem breit gefächerten Angriff am Mora entlang. Das Schattengezücht hatte noch mehr Pontonbrücken angelegt, und Kadaver trieben hier so dicht wie Herbstblätter auf einem Teich. Die Bogenschützen hatten gute Arbeit geleistet.

Die Kreaturen, die den Übergang geschafft hatten, gaben nun den Kindern zu tun. Mit festgehaltener Lanze beugte sich Galad vor und durchtrennte den Hals eines riesigen bärgesichtigen Ungeheuers; er galoppierte mit bluttriefender Lanze weiter, während der Trolloc hinter ihm auf die Knie sackte.

Er führte seinen Hengst Sidama in die Masse der Tiermenschen, stieß sie von den Beinen oder ließ sie aus dem Weg springen. Die Macht eines Kavallerieangriffs lag in der Anzahl seiner Reiter begründet, und die von ihm zur Seite gezwungenen Feinde konnten von den nachfolgenden Pferden niedergemacht werden.

Seinem Sturmangriff folgte eine Salve von Tams Männern, die auf die Hauptgruppe der Trollocs schossen, die sich das Ufer emporkämpfte. Die nächsten strömten einfach über sie hinweg und trampelten die Verletzten noch tiefer in den Schlamm.

Golever und andere Kinder gesellten sich zu Galad, als ihrem Sturm – der über die ersten Reihen der Tiermenschen hinwegfegte – die Gegner ausgingen. Er und seine Männer zügelten scharf die Pferde, wandten sich mit erhobenen Lanzen um und galoppierten zurück, um kleine Gruppen von Reitern zu erreichen, die von der Hauptgruppe getrennt worden waren und nun allein kämpften.

Das Schlachtfeld war gewaltig. Galad verbrachte fast eine ganze Stunde damit, solche Gruppen zu suchen, sie zu retten und zurück zu den Ruinen zu befehlen, damit Tam oder einer seiner Hauptleute sie zu neuen Bannern formieren konnten. Während ihre Verlustzahlen stetig stiegen, vermengten sich die ursprünglichen Formationen mit anderen Männern. Nun ritten nicht nur Söldner mit den Kindern. Galad hatte Ghealdaner, Geflügelte Wachen und sogar zwei Behüter unter seinem Kommando. Kline und Alix. Beide hatten ihre Aes Sedai verloren. Galad rechnete nicht damit, dass sie lange überleben würden, aber sie kämpften mit furchterregender Wildheit.

Nachdem er wieder eine Gruppe Überlebende zu den Ruinen zurückgeschickt hatte, ließ er Sidama langsamer gehen und lauschte dem angestrengten Atem des Hengstes. Das Flussufer war hier zu einem blutigen Matsch aus Schlamm und Leichen geworden. Cauthon hatte recht gehabt, die Kinder hier zu belassen. Vielleicht traute er ihm ja einfach nur zu wenig zu.

»Wie lange kämpfen wir schon, was meint Ihr?«, fragte Golever neben ihm. Der Wappenrock des Kindes war zerfetzt worden und das darunterliegende Kettenhemd zum Vorschein gekommen. Eine feindliche Klinge hatte an der Seite einen Teil der Eisenringe zerschmettert. Der Schutz hatte gehalten, aber die Blutflecken waren ein deutlicher Hinweis, dass viele der Ringe durch das darunterliegende Wams in sein Fleisch getrieben worden waren. Es schien nicht zu schlimm zu bluten, also hielt Galad den Mund.

»Wir griffen gegen Mittag an«, schätzte Galad, obwohl er wegen der Wolken die Sonne nicht sehen konnte. Aber er war sich ziemlich sicher, dass sie mittlerweile seit vier oder fünf Stunden kämpften.

»Glaubt Ihr, sie hören für die Nacht auf?«

»Wohl kaum«, meinte er. »Falls diese Schlacht überhaupt so lange dauert.«

Golever sah ihn beunruhigt an. »Ihr glaubt …«

»Ich habe keinen Überblick. Cauthon schickt so viele Truppen hierher, und soweit ich das beurteilen kann, hat er jeden von der Anhöhe abgezogen. Ich verstehe den Grund nicht. Und der Fluss … findet Ihr nicht, dass das Wasser nicht mehr gleichmäßig fließt? Der Kampf flussaufwärts muss schlecht laufen …« Er schüttelte den Kopf. »Vielleicht würde ich ja Cauthons Plan verstehen, könnte ich mehr vom Schlachtfeld sehen.«

Er war Soldat. Ein Soldat brauchte den Schlachtplan nicht zu verstehen, um seine Befehle zu befolgen. Aber für gewöhnlich konnte Galad wenigstens anhand der erfolgten Befehle die Strategie der eigenen Seite erschließen.

»Habt Ihr Euch je eine so große Schlacht vorgestellt?«, fragte Golever und wandte den Kopf. Am Fluss krachte Argandas Infanterie in den Feind. Immer mehr Schattengezücht gelang der Übergang – alarmiert registrierte Galad, dass das Wasser versiegte.

In der letzten Stunde hatten sich die Tiermenschen einen Brückenkopf erkämpft. Es würde ein harter Kampf werden, aber wenigstens war das Kräfteverhältnis nun etwas ausgeglichener, da zuvor so viele Trollocs getötet worden waren. Cauthon hatte gewusst, dass der Fluss versiegen würde. Darum hatte er so viele Truppen zu dieser Stelle geschickt, um sich dem Ansturm von der anderen Seite entgegenzustemmen.

Licht, dachte Galad. Ich bin Zeuge des Spiels der Häuser auf einem Schlachtfeld. Ja, er hatte Cauthon wirklich nicht genug zugetraut.

Ungefähr zwanzig Schritte voraus fiel eine Bleikugel mit Wimpel vom Himmel und prallte vom Schädel einer toten Bestie ab. Weit über ihnen kreischte der Raken und flog weiter. Galad stieß Sidama die Absätze in die Flanken, und Golever stieg aus dem Sattel, um den Brief aufzuheben. Wegetore waren nützlich, aber Raken konnten das ganze Schlachtfeld überblicken, Banner nach bestimmten Männern absuchen und Befehle überbringen.

Golever überreichte ihm den Brief, und Galad zog seine Entschlüsselungsliste aus der Ledermappe, die er in den Stiefelschaft gesteckt hatte. Der Schlüssel war schlicht – eine Reihe Zahlen mit Worten daneben. Stimmte in Befehlen das richtige Wort nicht mit der richtigen Zahl überein, dann waren sie verdächtig.

Damodred, begann der Befehl, nehmt ein Dutzend Eurer besten Männer von Eurem Zweiundzwanzigsten Regiment und reitet am Fluss entlang auf die Hawalfurt zu. Haltet an, wenn Ihr Elaynes Banner seht, und wartet dort auf Befehle. PS: Sollten Euch Trollocs mit Bauernspießen begegnen, schlage ich vor, Ihr überlasst Golever den Kampf, denn ich weiß ja, wie sehr Euch solche Leute zu schaffen machen. Mat.

Galad seufzte und reichte den Brief Golever. Der Schlüssel authentifizierte ihn; das Wort »Bauernspieß« stimmte mit der Zahl auf der Liste überein.

»Was will er bloß von uns?«, fragte Golever.

»Ich wünschte, ich wüsste es«, antwortete Galad. Das tat er wirklich.

»Ich sammle ein paar Männer ein«, sagte Golever. »Ich nehme an, Ihr wollt Harnesh, Mallone, Brokel …« Er stellte die ganze Liste zusammen.

Galad nickte. »Eine gute Auswahl. Nun, ich kann nicht behaupten, dass mir der Befehl widerstrebt. Anscheinend hat sich meine Schwester aufs Schlachtfeld begeben. Ich sollte auf sie aufpassen.« Außerdem wollte er einen anderen Teil des Schlachtfeldes sehen. Vielleicht konnte er dann verstehen, was Cauthon vorhatte.

»Wie Ihr befehlt, Kommandierender Lordhauptmann«, sagte Golever.


Der Dunkle König griff an.

Es war der Versuch, Rand in Stücke zu reißen, ihn Stück für Stück zu vernichten. Der Dunkle König wollte die Bestandteile nehmen, die Rands Wesen ursächlich ausmachten, und sie dann einfach auflösen.

Rand konnte weder nach Luft schnappen noch aufschreien. Dieser Angriff richtete sich nicht gegen seinen Körper, denn an diesem Ort hatte er keinen echten Körper, sondern nur die Erinnerung daran.

Er verteidigte seine Persönlichkeit. Mühsam. Angesichts dieses ungeheuerlichen Angriffs verschwand jede Absicht, den Dunklen König zu besiegen oder gar zu töten. Er vermochte sich kaum zu behaupten.

Aber dieses Gefühl hätte er nicht zu beschreiben vermocht, selbst wenn er es versucht hätte. Als würde der Dunkle König ihn in kleine Fetzen reißen, während er ihn zugleich zerquetschte, ihn gleichzeitig aus unendlichen Richtungen angriff.

Rand sackte auf die Knie. Es war nur seine Projektion, aber für ihn war das alles völlig real.

Eine Ewigkeit verstrich.

Rand erlitt sie. Den zermalmenden Druck, die lähmende Vernichtung. Er ertrug sie auf den Knien, die Finger zu Krallen verzerrt, während ihm der Schweiß von der Stirn troff. Er erduldete sie und schaute auf.

»Mehr bringst du nicht zustande?«, knurrte er.

ICH SIEGE.

»Du machtest mich stark«, erwiderte Rand mit rauer Stimme. »Bei jedem Versuch von dir oder deinen Speichelleckern, mich zu vernichten, war dein Scheitern wie der Schlag eines Schmiedehammers auf Eisen. Dieser Versuch …« Rand holte tief Luft. »Das hier war gar nichts. Du kannst mich nicht brechen.«

DU IRRST. DAS IST KEIN VERSUCH, DICH ZU VERNICHTEN. DAS IST VORBEREITUNG.

»Wozu?«

UM DIR DIE WAHRHEIT ZU ZEIGEN.

Plötzlich wirbelten Fragmente des Musters … Fäden … vor Rand, trennten sich in winzigen fließenden Strömen vom Hauptkörper des Lichts. Er wusste, dass es sich hier nicht um das echte Muster handelte, genauso wenig, wie das hier sein Körper war. Um etwas so unermesslich Großes wie das Gewebe der Schöpfung erfassen zu können, erschuf sein Verstand irgendwelche Bilder. Und das war seine Wahl gewesen.

Die Fäden wanden sich so ähnlich wie bei einem Gewebe der Einen Macht, nur dass es Abertausende davon waren, und es gab viel mehr Farben, und alles war viel lebendiger. Diese Fäden waren ganz gerade, wie eine straff gespannte Saite. Oder ein Lichtstrahl.

Sie kamen zusammen wie das Produkt eines Webstuhls und erschufen eine Vision um Rand. Ein Boden aus schleimiger Erde, mit schwarzen Flecken übersäte Pflanzen, Bäume mit herabhängenden Ästen wie kraftlose Arme.

Alles verfestigte sich zu einem Ort. Einer Realität. Rand stand mühsam auf und konnte die Erde fühlen. Er konnte Rauch riechen. Hörte ein … Schluchzen. Er drehte sich um und entdeckte, dass er auf einem fast kargen Hang über einer schwarzen Stadt mit schwarzen Steinmauern stand. Gedrungene, leblos wirkende Häuser, von denen jedes wie eine kleine Festung wirkte.

»Was ist das?«, flüsterte Rand. Etwas an dem Ort kam ihm vertraut vor. Er blickte in den Himmel, aber eine undurchdringliche Wolkenschicht verdeckte die Sonne.

DAS, WAS SEIN WIRD.

Rand tastete nach der Einen Macht, zuckte aber angeekelt zurück. Der Makel war zurückgekehrt, aber er war schlimmer geworden – viel schlimmer. Wo er das geschmolzene Licht Saidins einst wie eine dunkle Schicht umgeben hatte, war er nun wie der Schlamm aus einem Abwasserkanal, so dick, dass Rand ihn nicht durchdringen konnte. Um an die darunterliegende Eine Macht zu gelangen, würde er diese Dunkelheit trinken müssen, sich darin kleiden – falls sich die Macht überhaupt noch dort befand. Allein schon die Vorstellung ließ seinen Mageninhalt emporsteigen, und er musste mit aller Kraft darum kämpfen, sich nicht zu übergeben.

Die Festung in der Nähe zog ihn magisch an. Warum hatte er nur das Gefühl, diesen Ort zu kennen? Er befand sich in der Fäule, das bewiesen schon die Pflanzen. Davon abgesehen konnte er die Fäulnis in der Luft riechen. Die Hitze war wie in einem Sumpf im Sommer – trotz der Wolken erdrückend und atemraubend.

Er ging den Hügel hinunter und entdeckte in der Nähe ein paar Gestalten bei der Arbeit. Männer hackten mit Äxten auf Bäume ein. Es waren vielleicht ein Dutzend. Auf dem Weg sah Rand zur Seite und erblickte in der Ferne die Leere, die der Dunkle König war, als wäre sie eine Grube am Horizont, die einen Teil der Landschaft verschlang. Eine Erinnerung, dass das, was Rand hier sah, nicht real war?

Er passierte ein paar Baumstümpfe. Sammelten die Männer Feuerholz? Der dumpfe Schlag der Äxte und die Haltung der Arbeiter wiesen nichts von der unerschütterlichen Stärke auf, die typisch für die Waldläufer war. Die Schläge kamen schleppend, die Männer arbeiteten mit hängenden Schultern.

Der Mann auf der linken Seite … Als Rand näher kam, erkannte er ihn trotz seiner gebückten Haltung und der faltigen Haut. Licht! Tam musste mindestens siebzig sein, vielleicht auch achtzig. Warum war er hier draußen und schuftete so schwer?

Es ist eine Vision. Ein Albtraum. Die Schöpfung des Dunklen Königs. Nicht real.

Aber da er sich jetzt mittendrin befand, fiel es ihm schwer, nicht so zu reagieren, als wäre es in der Tat real. Und auf gewisse Weise war es das auch. Der Dunkle König benutzte schattenhafte Fäden des Musters für diese Schöpfung – potenzielle Möglichkeiten, die sich wie die von einem Stein verursachten Wellen auf einem Teich in der Schöpfung ausbreiteten.

»Vater?«, fragte er.

Tam drehte sich um, aber sein Blick konzentrierte sich nicht auf Rand.

Rand berührte seine Schulter. »Vater!«

Einen Augenblick lang stand Tam wie benommen da, dann machte er sich wieder an die Arbeit und hob die Axt. In der Nähe hackten Dannil und Jori auf einen Baumstumpf ein. Auch sie waren gealtert und jetzt Männer in ihren mittleren Jahren. Dannil schien eine schlimme Krankheit zu haben, sein Gesicht war leichenblass, seine Haut war mit irgendwelchen Geschwüren übersät.

Joris Axt biss tief in die bittere Erde, und eine schwarze Flut quoll aus dem Untergrund – Insekten aus dem Fuß des Stumpfes. Die Klinge hatte ihren Bau durchbohrt.

Die Insekten schwärmten aus, krabbelten in Windeseile den Axtschaft hinauf und bedeckten Jori. Schreiend schlug er darauf ein, aber sein aufgerissener Mund bot ihnen einen Weg hinein. Rand hatte schon von solchen Dingen gehört, ein Todesschwarm, eine der vielen Gefahren der Fäule. Er streckte die Hand nach Jori aus, aber der Mann sackte zur Seite, so schnell tot, wie ein anderer Mann atmen konnte.

Tam schrie entsetzt auf und rannte los. Rand fuhr herum, als sein Vater auf der Flucht vor dem Todesschwarm in ein Gebüsch krachte. Etwas flog so schnell wie ein Peitschenschlag von einem Zweig, schlang sich um Tams Hals und brachte ihn ruckartig zum Stehen.

»Nein!«, rief Rand. Es war nicht real. Trotzdem konnte er seinen Vater nicht sterben sehen. Er ergriff die Quelle und durchschlug die krankhafte Dunkelheit des Makels. Er schien ihn zu ersticken, und er verbrachte eine quälende Zeit damit, Saidin zu finden. Als er es endlich umfasste, kam bloß ein Tröpfeln.

Mit einem Aufschrei webte er trotzdem und schickte einen Flammenstrahl, um die Schlingpflanze zu vernichten, die seinen Vater gepackt hielt. Tam stürzte aus ihrem Griff, während sie zuckend verendete.

Tam bewegte sich nicht. Seine Augen starrten tot zum Himmel.

»Nein!« Rand wandte sich dem Todesschwarm zu. Mit einem Gewebe Feuer vernichtete er ihn. Nur Sekunden waren verstrichen, aber von Jori waren nur noch Knochen übrig.

Die Insekten zerplatzten, als er sie verbrannte.

»Ein Machtlenker«, hauchte Dannil, der in der Nähe kauerte und Rand mit weit aufgerissenen Augen anstarrte. Andere Waldarbeiter waren in die Wildnis geflohen. Rand vernahm mehrere Schreie. Er konnte einfach nicht aufhören zu würgen. Der Makel … er war so schrecklich, so faulig. Er konnte die Quelle einfach nicht länger halten.

»Kommt«, sagte Dannil und fasste Rands Arm. »Kommt, ich brauche Euch!«

»Dannil«, krächzte Rand und richtete sich auf. »Erkennt Ihr mich denn nicht?«

»Kommt!«, wiederholte Dannil und zerrte Rand auf die Festung zu.

»Ich bin Rand, Dannil. Der Wiedergeborene Drache.«

In Dannils Augen zeigte sich kein Verstehen.

»Was hat er dir angetan?«, flüsterte Rand.

SIE KENNEN DICH NICHT, WIDERSACHER. ICH ERSCHUF SIE NEU. ALLE DINGE GEHÖREN MIR. SIE WERDEN NICHT WISSEN, DASS SIE VERLOREN HABEN. SIE KENNEN NUR NOCH MICH.

»Ich erkenne deine Macht nicht an«, flüsterte Rand. »Ich erkenne dich nicht an!«

DIE EXISTENZ DER SONNE ZU VERLEUGNEN LÄSST SIE NICHT UNTERGEHEN. MICH ZU VERLEUGNEN VERHINDERT NICHT MEINEN SIEG.

»Kommt«, sagte Dannil und zerrte an Rand. »Bitte! Ihr müsst mich retten!«

»Beende das«, sagte Rand.

ES BEENDEN? ES GIBT KEIN ENDE, WIDERSACHER. DAS IST DIE REALITÄT. ICH HABE SIE ERSCHAFFEN.

»So stellst du sie dir vor.«

»Bitte«, beharrte Dannil.

Rand ließ es geschehen, zu der dunklen Festung gezerrt zu werden. »Was habt Ihr hier draußen gemacht, Dannil?«, wollte er wissen. »Warum in der Fäule Holz sammeln? Hier ist es nicht sicher.«

»Das war unsere Strafe«, flüsterte Dannil. »Diejenigen von uns, die unseren Herrn enttäuschen, schickt man hinaus, damit sie einen Baum zurückbringen, den sie mit den eigenen Händen gefällt haben. Falls einen die Todesschwärme oder die Zweige nicht erwischen, zieht der Lärm der Äxte andere Dinge an …«

Sie betraten die Straße, die zur Stadt und ihrer dunklen Festung führte, und Rand runzelte die Stirn. Ja, dieser Ort war in der Tat vertraut. Der Steinbruchweg, dachte er überrascht. Und das da vorn … Die Festung überragte, was einst die Dorfwiese von Emondsfelde gewesen war.

Die Fäule hatte die Zwei Flüsse verschlungen.

Die Wolken am Himmel schienen Rand zerquetschen zu wollen, und in Gedanken hörte er wieder Joris Schreie. Erneut stiegen die Bilder in ihm auf, wie Tam gekämpft hatte, als man ihn erwürgt hatte.

Das ist nicht real.

Genau das hier würde passieren, wenn er versagte. Das Schicksal so vieler Menschen hing von ihm ab … so schrecklich vieler. Einige hatte er bereits im Stich gelassen. Nur mühsam konnte er sich davon abhalten, in Gedanken die Liste derjenigen durchzugehen, die in seinen Diensten gestorben waren. Selbst wenn er andere gerettet hatte, sie hatte er nicht beschützen können.

Dieser Angriff unterschied sich von dem, der versucht hatte, das zu vernichten, was sein Wesen, seine Essenz ausmachte. Er konnte fühlen, wie der Dunkle König seine Fühler in ihn hineinbohrte und sein Bewusstsein mit Sorge, Selbstzweifeln und Furcht verpestete.

Dannil führte ihn zur Dorfmauer, wo zwei Myrddraal mit unbeweglichen Umhängen das Tor bewachten. Sie glitten heran. »Du solltest Holz sammeln«, wisperte der eine mit viel zu weißen Lippen.

»Ich … ich brachte den hier mit!«, stieß Dannil hervor und stolperte zur Seite. »Ein Geschenk für unseren Herrn! Er kann die Macht lenken. Ich habe ihn für Euch gefunden!«

Rand knurrte, dann stürzte er sich wieder in die Eine Macht und schwamm durch den Unrat. Er erreichte das tröpfelnde Saidin und ergriff es.

Augenblicklich wurde es ihm aus dem Griff geschlagen. Eine Abschirmung schnappte zwischen ihn und die Quelle.

»Es ist nicht real«, flüsterte er, als er sich umdrehte, um zu sehen, wer da die Macht gelenkt hatte.

Nynaeve eilte aus dem Stadttor. Sie trug Schwarz. »Ein Wilder?«, fragte sie. »Ein unentdeckter Wilder? Wie konnte er so lange überleben? Das hast du gut gemacht, Dannil. Ich gebe dir dein Leben zurück. Enttäusche uns nicht noch einmal.«

Dannil schluchzte vor Freude, dann rannte er an Nynaeve vorbei in die Stadt.

»Es ist nicht real«, sagte Rand, als Nynaeve ihn mit Strängen aus Luft fesselte und dann in die Version des Dunklen Königs von Emondsfelde zerrte. Die beiden Myrddraal eilten ihr voraus. Aus dem Dorf war eine große Stadt geworden. Die Häuser vermittelten den Eindruck von Mäusen, die sich vor einer Katze zusammenduckten, jedes von ihnen wies die gleiche Eintönigkeit auf. Menschen huschten mit zu Boden gerichteten Blicken durch die Gassen.

Eilig machten sie Nynaeve den Weg frei und nannten sie manchmal »Herrin«. Andere nannten sie »Auserwählte«. Die beiden Myrddraal rasten wie Schatten durch die Stadt. Als Rand und Nynaeve die Festung erreichten, hatte sich auf ihrem Hof eine kleine Gruppe versammelt. Zwölf Menschen – Rand konnte spüren, dass die vier Männer alle Saidin hielten, obwohl ihm von ihnen allein Damer Flinn bekannt war. Ein paar der Frauen hatte er als Mädchen in den Zwei Flüssen gekannt.

Mit Nynaeve waren es dreizehn. Und dreizehn Myrddraal, die sich unter dem bewölkten Himmel versammelten. Zum ersten Mal seit Beginn der Vision verspürte Rand Furcht. Nicht das. Alles, aber nicht das.

Und wenn sie ihn Umdrehten? Das hier war nicht die Realität, aber es war eine Version davon. Der Dunkle König hatte eine Spiegelwelt erschaffen. Welche Auswirkungen würde es wohl haben, wenn man ihn hier Umdrehte? War es so einfach gewesen, ihn in die Falle zu locken?

Panisch fing er an, sich gegen die Fesseln aus Luft zu wehren. Natürlich war das völlig sinnlos.

»Du bist wirklich interessant«, sagte Nynaeve und wandte sich ihm zu. Sie sah keinen Tag älter aus als in dem Moment, in dem er sie in der Höhle zurückgelassen hatte, aber es gab andere Unterschiede. Ihr Haar war wieder zu einem Zopf geflochten, aber dafür war ihr Gesicht viel schmaler … ihre Miene unversöhnlich. Und diese Augen.

Die Augen waren völlig falsch.

»Wie hast du da draußen überlebt? Wie bist du so lange der Entdeckung entgangen?«

»Ich komme von einem Ort, an dem der Dunkle König nicht herrscht.«

Nynaeve lachte. »Lächerlich. Ein Kindermärchen. Der Große Herr hat schon immer geherrscht.«

Rand konnte es sich vorstellen. Dafür sorgte seine Verbindung mit dem Muster, das Funkeln von Halbwahrheiten und im Schatten liegenden Möglichkeiten. Diese Version … Sie konnte Wahrheit werden. Es war ein Weg, den die Welt einschlagen konnte. Hier hatte der Dunkle König die Letzte Schlacht gewonnen und das Rad der Zeit zerbrochen.

Das hatte ihm erlaubt, es neu zu erschaffen und das Muster auf eine andere Weise zu weben. Jeder lebende Mensch hatte die Vergangenheit vergessen und wusste jetzt nur noch das, was der Dunkle König in seinen Verstand gepflanzt hatte. Weil Rand die Fäden des Musters vorher berührt hatte, vermochte er die Wahrheit und die Geschichte dieses Ortes zu lesen.

Nynaeve, Egwene, Logain und Cadsuane gehörten jetzt zu den Verlorenen, waren gegen ihren Willen zum Schatten Umgedreht worden. Moiraine war hingerichtet worden, weil sie zu schwach war.

Elayne, Min, Aviendha … sie wurden für alle Ewigkeit im Shayol Ghul gefoltert.

Die Welt war ein lebender Albtraum. Jeder der Verlorenen herrschte als Despot über seinen eigenen kleinen Teil der Welt. In einem endlosen Herbst hetzten sie Armeen, Schattenlords und Fraktionen gegeneinander. Eine Ewige Schlacht.

Die Fäule hatte sich bis zu jedem Ozean ausgebreitet. Seanchan gab es nicht mehr, es war so gründlich zerstört und verbrannt worden, dass dort nicht einmal mehr Ratten und Krähen überleben konnten. Jeder potenzielle Machtlenker wurde in seiner Jugend entdeckt und Umgedreht. Der Dunkle König wollte das Risiko ausmerzen, dass jemals jemand wieder Hoffnung in die Welt brachte.

Und das würde auch niemals geschehen.

Rand schrie auf, als die Dreizehn anfingen, die Macht zu lenken.

»Das ist das Schlimmste, das ihr zustande bringt?«, brüllte er.

Sie stemmten sich mit ihrem Willen gegen ihn. Sie waren wie Nägel, die man ihm in den Schädel hämmerte. Er wehrte sich mit allem, was er hatte, aber die anderen bauten einen pulsierenden Druck auf. Jeder dumpfe Schlag kam wie der Hieb einer Axt näher daran, sich in ihn hineinzubohren.

UND SO SIEGE ICH.

Die Niederlage traf Rand schwer – das Wissen, dass das, was hier geschah, sein Fehler war. Nynaeve, Egwene, allein wegen ihm Umgedreht zum Schatten. Alle von ihm geliebten Menschen waren zu Spielzeugen des Schattens geworden.

Er hätte sie beschützen müssen.

ICH SIEGE. WIEDER EINMAL.

»Hältst du mich für den gleichen Jungen, den zu erschrecken sich Ishamael so viel Mühe gegeben hat?«, brüllte Rand und kämpfte sein Entsetzen und seine Scham nieder.

DER KAMPF IST VORBEI.

»ER HAT NOCH NICHT EINMAL ANGEFANGEN!«, schrie Rand.

Um ihn herum zersplitterte die Realität wieder zu Lichtfäden. Nynaeves Gesicht zerfetzte und löste sich auf wie ein Spitzentuch, das man an einem losen Faden aufzog. Der Boden verblich, und die Festung hörte auf zu existieren.

Rand fiel aus den Fesseln aus Luft, die es eigentlich nie richtig gegeben hatte. Die zerbrechliche Realität des Dunklen Königs zerfaserte in ihre Einzelteile. Lichtfäden breiteten sich spiralenförmig in alle Richtungen aus und bebten wie Harfensaiten.

Sie warteten darauf, verwoben zu werden.

Rand sog zischend den Atem ein und schaute zu der Finsternis jenseits der Fäden hoch. »Dieses Mal sitze ich nicht wehrlos da und lasse alles stumm über mich ergehen, Shai’tan. Ich werde nicht zu einem Gefangenen deiner Albträume. Ich bin zu etwas Größerem geworden, als ich einst war.«

Er ergriff die um ihn herumwirbelnden Fäden. Es waren Hunderttausende. Feuer, Luft, Erde, Wasser oder Geist gab es hier nicht … irgendwie waren diese Fäden hier ursprünglicher, irgendwie bedeutend vielfältiger. Jeder von ihnen war einzigartig und individuell. Anstelle der Fünf Mächte gab es Tausende.

Rand sammelte sie ein und hielt die Schöpfung selbst in der Hand.

Dann webte er sie zu einer anderen Möglichkeit.

»Und jetzt«, sagte er, holte tief Luft und bemühte sich, den Schrecken des vorangegangenen Anblicks zu verbannen, »jetzt zeige ich dir, was geschehen wird.«


Bryne verneigte sich. »Die Männer sind auf Position, Mutter.«

Egwene holte tief Luft. Mat hatte die Truppen der Weißen Burg unterhalb der Furt über das ausgetrocknete Flussbett geschickt, vorbei an der Westseite des Moores. Es war Zeit, dass sie sich zu ihnen gesellte. Einen Augenblick zögernd sah sie durch das Wegetor zu Mats Befehlshaus. Sie erwiderte den Blick der Seanchanerin, die hinter dem Tisch majestätisch auf ihrem Thron saß.

Mit dir bin ich noch nicht fertig, dachte sie.

»Gehen wir«, sagte sie, wandte sich ab und bedeutete Yukiri, das Tor zu Mats Haus zu schließen. In der einen Hand hielt sie Voras Sa’angreal, als sie aus dem Zelt schritt.

Etwas ließ sie innehalten. Etwas am Boden. Winzige, spinnwebenartige Risse im Stein. Sie bückte sich.

»Davon gibt es immer mehr, Mutter«, meinte Yukiri und beugte sich ebenfalls vor. »Wir glauben, dass sich die Risse ausbreiten, wenn Schattenlords die Macht lenken. Vor allem bei der Benutzung von Baalsfeuer …«

Egwene strich darüber. Obwohl sie sich wie ganz normale Bodenspalten anfühlten, schienen sie doch ins Nichts zu führen. Die Dunkelheit war viel zu dicht, um in Rissen durch die Abwesenheit von Licht verursacht zu werden.

Sie webte. Alle Fünf Mächte, die die Spalten abtasteten. Ja …

Sie war sich nicht ganz sicher, was sie da eigentlich tat, aber das neue Gewebe legte sich wie ein Verband auf die Spalten. Die Dunkelheit verblich und ließ ganz normale Erdrisse zurück – und einen schmalen Überzug aus Kristallen.

»Interessant«, sagte Yukiri. »Was war das für ein Gewebe?«

»Ich weiß es nicht«, erwiderte Egwene nachdenklich. »Es fühlte sich richtig an. Gawyn, hast du …« Sie verstummte.

Gawyn.

Ruckartig richtete sie sich wieder auf. Da war eine undeutliche Erinnerung, dass er das Zelt verlassen hatte, um Luft zu schnappen. Wie lange war das jetzt her? Langsam drehte sie sich um die eigene Achse und tastete mit den Gedanken nach ihm. Der Behüterbund zeigte ihr die Richtung, in die er gegangen war. Als sie sie gefunden hatte, blieb sie stehen.

Sie schaute direkt auf das Flussbett, ein Stück oberhalb der Furt, wo Mat Elaynes Truppen versammelt hatte.

O beim Licht …

»Was ist?«, fragte Silviana.

»Gawyn ist in den Kampf gezogen.« Mühsam kontrollierte Egwene ihre Stimme. Dieser wollköpfige Narr von Mann! Hätte er nicht eine Stunde oder zwei warten können, bis ihre Truppen in Position waren? Sie wusste, dass er sich nach einem Kampf sehnte, aber er hätte sie zumindest fragen können!

Bryne stöhnte leise.

»Schickt jemanden los, um ihn zu holen«, befahl Egwene. Jetzt war ihre Stimme kalt und wütend. Sie konnte nicht anders. »Anscheinend hat er sich den Andoranern angeschlossen.«

»Ich erledige das«, sagte Bryne, eine Hand auf den Schwertgriff gelegt, mit der anderen einem Pferdeburschen zuwinkend. »Die Führung eines Heeres kann man mir nicht anvertrauen. Aber wenigstens das kann ich tun.«

Es war vernünftig. »Nehmt Yukiri mit«, sagte Egwene. »Sobald ihr meinen verrückten Behüter gefunden habt, Reist ihr westlich vom Moor zu uns.«

Bryne verneigte sich, dann ging er los. Zögernd blickte ihm Siuan hinterher.

»Ihr dürft ihn begleiten.«

»Braucht Ihr mich dort?«, fragte Siuan.

»Eigentlich …« Egwene senkte die Stimme. »Ich will, dass sich jemand Mat und der Kaiserin anschließt und mit Ohren zuhört, die darin geschult sind, alles nicht Ausgesprochene zu verstehen.«

Siuan nickte. Ihre Miene verriet Zustimmung – und sogar Stolz. Egwene war die Amyrlin; sie brauchte beides nicht von Siuan, und doch nahm ihr das ein bisschen von ihrer zermürbenden Erschöpfung.

»Ihr seht amüsiert aus«, sagte sie.

»Als Moiraine und ich beschlossen, den Jungen zu finden, hatte ich nicht die geringste Ahnung, dass uns das Muster auch Euch schicken würde«, meinte Siuan.

»Eure Nachfolgerin?«

»Wenn eine Königin in die Jahre kommt«, sagte Siuan, »dann fängt sie an, über ihr Vermächtnis nachzudenken. Licht, vermutlich gilt das für jede Frau. Wird sie einen Erben haben, der das bewahrt, was sie erschuf? Gewinnt eine Frau an Weisheit, wird ihr irgendwann klar, dass das, was sie allein erschaffen kann, verglichen mit den Erfolgen ihres Vermächtnisses völlig verblasst.

Nun, vermutlich kann ich Euch mir nicht völlig zurechnen, und ich war nicht gerade begeistert, ersetzt zu werden. Aber es ist … tröstlich zu wissen, dass ich einen Anteil an der Gestaltung der kommenden Dinge hatte. Und wenn sich eine Frau ein Vermächtnis wünscht, könnte sie von keinem größeren träumen, als Ihr es seid. Danke. Ich behalte diese Seanchanerin für Euch im Auge. Vielleicht kann ich ja der armen Min helfen, sich aus diesem Netz zu befreien, in dem sie sich verfangen hat.«

Siuan wandte sich ab und befahl Yukiri, ihr ein Wegetor zu machen, bevor sie mit Bryne loszog. Egwene sah lächelnd zu, wie sie ihren General küsste. Siuan. Die in aller Öffentlichkeit einen Mann küsste.

Silviana lenkte die Macht, und Egwene stieg auf Daishars Sattel, während sich ihr Tor öffnete. Sie umarmte ebenfalls die Quelle, hielt Voras Sa’angreal vor sich und marschierte hinter einer Gruppe von Burgwächtern durch die Öffnung. Augenblicklich roch sie den Rauch.

Auf der anderen Seite erwartete sie Wachhauptmann Chubain. Sie hatte den dunkelhaarigen Mann immer zu jung für seine Position gefunden, aber vermutlich konnte nicht jeder Kommandant so graue Haare wie Bryne haben. Davon abgesehen vertrauten sie diese Schlacht jemandem an, der nur etwas älter als sie war, und sie selbst war die jüngste Amyrlin in der Geschichte.

Sie wandte sich der Polov-Anhöhe zu und konnte sie kaum erkennen, weil am östlichen Rand des Moores und auf dem Hang der Anhöhe Feuer brannten.

»Was ist passiert?«, fragte sie.

»Brandpfeile von unseren Truppen am Fluss«, erklärte Chubain. »Zuerst hielt ich Cauthon für verrückt, aber jetzt kann ich seine Gründe verstehen. Er schoss auf die Trollocs, um den Bewuchs auf dem Plateau und am Hang in Brand zu setzen. Und es sollte uns Deckung geben. Das Unterholz ist dort drüben so trocken wie Zunder. Das Feuer trieb Tiermenschen und die Kavallerie der Sharaner für den Augenblick zurück. Und ich glaube, dass Cauthon darauf zählt, dass der Qualm unseren Weg um das Moor herum verdeckt.«

Der Schatten würde wissen, dass dort jemand vorrückte, aber wie viele Männer und in welcher Zusammensetzung … der Feind würde sich auf Kundschafter verlassen müssen, statt auf den ansonsten überlegenen Aussichtspunkt auf dem Plateau.

»Eure Befehle?«, fragte Chubain.

»Er hat es Euch nicht mitgeteilt?«, fragte Egwene.

Der Hauptmann schüttelte den Kopf. »Er hat uns hier nur Stellung beziehen lassen.«

»Wir marschieren an der Westseite des Moores vorbei und setzen uns in den Rücken der Sharaner.«

Chubain grunzte. »Das reißt unsere Truppen ziemlich auseinander. Und jetzt greift er sie auf der Anhöhe an, nachdem er sie ihnen überließ?«

Darauf wusste Egwene keine Antwort. Nun, sie war hauptsächlich dafür verantwortlich gewesen, Mat den Befehl zu übergeben. Sie warf noch einen Blick über das Moor, in die Richtung, wo sie Gawyn spürte. Er würde kämpfen …

Sie zögerte. Vorhin hatte sie Gawyn am Fluss vermutet, aber nach dem Schritt durch das Tor konnte sie seine Position genauer ausmachen. Er war gar nicht bei Elaynes Heer am Fluss.

Gawyn hielt sich auf der Anhöhe auf, wo der Schatten am stärksten war.

Beim Licht!, dachte sie. Gawyn … Was tust du bloß?


Gawyn schlich durch den Rauch. Schwarze Schwaden schlängelten sich um seinen Körper, und die Hitze des qualmenden Grases wärmte seine Stiefel, aber hier oben war das Feuer größtenteils niedergebrannt und hatte nur dunkle Asche hinterlassen.

Leichen und ein paar zerstörte Drachen lagen herum, geschwärzt wie Schlackehaufen. Gawyn wusste, dass Bauern manchmal Felder abbrannten, um sie neu zu beleben. Jetzt stand die Welt selbst in Flammen. Als er durch den wogenden Qualm schlich – ein nasses Tuch vor das Gesicht gebunden –, betete er für eine Erneuerung.

Überall breiteten sich spinnwebartige Risse auf dem Boden aus. Der Schatten zerstörte dieses Land.

Viele Trollocs versammelten sich an der Stelle, von der man die Hawalfurt überblicken konnte, aber eine Handvoll beschäftigte sich mit den Leichen auf dem Hang. Vielleicht hatte sie der Gestank von verbranntem Fleisch angezogen. Ein Myrddraal trat aus dem Rauch und beschimpfte sie in einer Sprache, die Gawyn nicht verstand. Dann schlug er mit der Peitsche auf die Rücken der Tiermenschen ein.

Gawyn erstarrte, aber der Halbmensch bemerkte ihn nicht. Er trieb die Nachzügler zu den restlichen Trollocs. Gawyn wartete, atmete leise durch das Tuch und fühlte, wie ihn die Schatten der Blutmesser einhüllten. Die drei Ringe hatten etwas mit ihm angestellt. Er fühlte sich berauscht, und seine Glieder bewegten sich bei jedem Schritt zu schnell. Es hatte einige Zeit gedauert, sich an die Veränderungen zu gewöhnen, bei jeder Bewegung das Gleichgewicht zu bewahren.

Hinter einem Erdhügel erhob sich unversehens ein Wolfskopf-Trolloc, witterte und sah dem Blassen hinterher. Dann verließ die Kreatur ihr Versteck; sie hatte sich eine Leiche über die Schulter geworfen. Sie trabte keine fünf Schritte von Gawyn entfernt an ihm vorbei, blieb dann stehen und schnüffelte wieder. Die Leiche auf ihrer Schulter schleifte einen Behüterumhang hinter sich her. Armer Symon. Er würde nie wieder Karten spielen. Gawyn knurrte leise und machte einen Satz, bevor er sich wieder im Griff hatte. Er glitt in »Die Natter küssen« und erleichterte den Trolloc um seinen Kopf.

Der Kadaver krachte zu Boden. Mit dem Schwert in der Hand stand Gawyn da, dann verfluchte er sich, duckte sich und zog sich in den Qualm zurück. Der würde seinen Geruch und die sich windende Finsternis um seine verschwommene Gestalt verbergen. Wie dumm, sich zu zeigen, um einen Trolloc zu töten. Symons Leiche würde sowieso in einem Kochtopf enden. Gawyn konnte nicht das ganze Heer umbringen. Er war nur für einen Mann hier.

Geduckt wartete er ab, ob sein Angriff aufgefallen war. Vielleicht konnte man ihn nicht sehen – er war sich nicht sicher, wie sehr ihn die Ringe verbargen –, den stürzenden Trolloc aber schon.

Keiner schlug Alarm. Gawyn setzte sich wieder in Bewegung. Erst da fiel ihm auf, dass seine Finger rot durch die schwarze Asche schimmerten. Er hatte sie verbrannt. Den Schmerz nahm er nur undeutlich wahr. Die Ringe. Klare Gedanken fielen ihm schwer, aber das behinderte glücklicherweise nicht sein Geschick im Kampf. Wenn überhaupt war sein Instinkt jetzt viel ausgeprägter.

Demandred. Wo war Demandred? Gawyn eilte kreuz und quer über das Plateau. Cauthon hatte in der Nähe der Furt Truppen stationiert, aber der Rauch machte jeden genauen Blick unmöglich. Auf der anderen Seite kämpften die Grenzländer gegen eine Kavallerieeinheit der Sharaner. Aber hier oben war es trotz des Schattengezüchts und der Sharaner friedlich. Jetzt schlich Gawyn an den hinteren Linien des Schattengezüchts vorbei und nutzte Büsche und totes Holz als Deckung. Keiner schien ihn zu bemerken. Hier gab es Schatten, und Schatten boten Sicherheit. Unten im Korridor zwischen Anhöhe und Moor erloschen die Brände. Es schien zu wenig Zeit vergangen zu sein, als dass sie sich ausgebrannt haben konnten. Machtlenken?

Er hatte Demandred finden wollen, indem er den Ausgangsort der Angriffe des Mannes aufspürte, aber wenn er bloß die Macht lenkte, um Feuer zu löschen, dann …

Plötzlich stürmte das Schattenheer den Hang hinunter in Richtung Hawalfurt. Zwar blieben die Sharaner zurück, aber die Mehrzahl der Trollocs war in Bewegung. Offensichtlich wollten sie das trockengelegte Flussbett durchschreiten und Cauthons Heer angreifen.

Falls Cauthon beabsichtigt hatte, Demandreds ganze Streitmacht von der Polov-Anhöhe zu locken, dann war er gescheitert. Viele Sharaner blieben zurück, Infanterie wie auch Kavallerie, und schauten gleichgültig zu, wie die Trollocs in die Schlacht donnerten.

Einschläge trafen den Hang und schleuderten Trollocs wie Staub aus einem ausgeklopften Teppich in die Luft. Gawyn zögerte und ging in die Hocke. Drachen, die wenigen, die noch funktionierten. Mat hatte sie irgendwo auf der anderen Flussseite aufgestellt; wegen des ganzen Rauchs fiel es schwer, ihre genaue Position auszumachen. Dem Lärm nach zu urteilen, waren es bloß ein halbes Dutzend, aber sie richteten gewaltigen Schaden an, vor allem wenn man die Entfernung bedachte.

Auf der Anhöhe blitzte es rot auf, und das Licht schoss auf den Qualm der Drachen zu. Gawyn lächelte. Vielen Dank. Er legte die Hand auf das Schwert. Der Augenblick war gekommen, herauszufinden, was diese Ringe tatsächlich vermochten.

Geduckt eilte er aus der Deckung. Die meisten Trollocs trabten den Hügel hinunter auf das trockene Flussbett zu. Armbrustbolzen und Pfeile flogen ihnen entgegen, gefolgt von einer weiteren Runde Drachenfeuer von einer leicht veränderten Position. Cauthon hielt die Drachen in Bewegung, und Demandred hatte Schwierigkeiten, sie zu finden.

Gawyn lief zwischen heulendem Schattengezücht. Die Treffer hinter ihm ließen den Boden wie ein pochendes Herz beben. Rauch peitschte an ihm vorbei, legte sich schwer auf seine Lunge. Seine Hände waren geschwärzt, und vermutlich galt das auch für sein Gesicht. Er hoffte, dass das dabei half, ihn zu verbergen.

Kreischend oder grunzend fuhren Trollocs herum, aber keiner konnte ihn sehen. Sie wussten, dass etwas an ihnen vorbeigekommen war, aber für sie war er bloß ein Schemen.

Egwenes Zorn strömte durch den Behüterbund. Gawyn lächelte. Er hatte auch nicht damit gerechnet, dass sie erfreut sein würde. Pfeile schlitzten um ihn herum den Boden auf, aber während er rannte, fand er Frieden in seiner Entscheidung. Einst hätte er das vielleicht für den Stolz der Schlacht und die Gelegenheit, sich mit Demandred messen zu können, getan.

Nichts davon beherrschte jetzt sein Herz. In seinem Herzen war nur Notwendigkeit. Jemand musste diese Kreatur bekämpfen, jemand musste sie töten, oder sie würden diese Schlacht verlieren. Das war allen klar. Egwene oder Logain dafür zu riskieren war ein zu gewagtes Spiel.

Er hingegen war entbehrlich. Niemand würde ihn dafür ausschicken – das würde niemand wagen –, aber es war nötig. Er hatte eine Chance, die Dinge zu ändern, tatsächlich von Bedeutung zu sein. Er tat es für Andor, für Egwene, für die Welt selbst.

Voraus brüllte Demandred seine mittlerweile vertraute Herausforderung. »Schickt mir al’Thor und nicht diese sogenannten Drachen!« Eine weitere Feuerlanze löste sich von ihm.

Gawyn passierte die vorwärtsstürmenden Trollocs und näherte sich einer zahlenmäßig starken Gruppe Sharaner mit seltsamen Bögen, die beinahe so groß wie die Waffen aus den Zwei Flüssen waren. Sie umringten einen Mann auf einem Pferd in einer Rüstung aus Münzen, die durch die Löcher in ihrer Mitte befestigt waren; sie verfügte über Armschienen und eine Halsberge. Das Visier seines furchterregenden Helms stand geöffnet. Dieses stolze Gesicht, so ansehnlich und herrisch, kam Gawyn auf unheimliche Weise vertraut vor.

Das wird schnell gehen müssen, dachte er. Und beim Licht, ich sollte ihm keine Gelegenheit geben, die Macht zu lenken.

Die sharanischen Bogenschützen hielten sich bereit, aber nur zwei von ihnen drehten sich um, als sich Gawyn zwischen sie schob. Er zog das Messer aus der Gürtelscheide. Er würde Demandred vom Pferd zerren und dann mit dem Messer auf sein Gesicht einstechen müssen. Es erschien wie der Angriff eines Feiglings, aber das war die beste Möglichkeit. Ihn zu Fall bringen, und dann …

Plötzlich fuhr Demandred herum und blickte in Gawyns Richtung. In der nächsten Sekunde stieß der Mann die Hand nach vorn, und ein lodernder Feuerstrahl von der Dicke eines Zweiges raste Gawyn entgegen.

Er verfehlte, weil Gawyn einen Sprung zur Seite machte. Rund um den Einschlag breiteten sich Risse im Boden aus. Tiefe schwarze Risse, die in die Ewigkeit selbst zu führen schienen.

Einen Satz nach vorn, einen Hieb auf Demandreds Sattelriemen. So schnell. Diese Ringe ließen ihn bereits reagieren, während sich der Verlorene noch immer verwirrt umschaute.

Der Sattel löste sich, und Gawyn rammte dem Pferd das Messer in die Seite. Das Tier stieg kreischend auf die Hinterhand und warf Demandred zusammen mit dem Sattel nach hinten.

Mit dem blutigen Messer in der Hand sprang Gawyn zurück, während das Pferd scheute und die sharanischen Bogenschützen aufschrien. Die Klinge mit beiden Händen haltend, erhob er sich über Demandred.

Da ging ein Ruck durch den Körper des Verlorenen, der Mann wurde zur Seite geschoben. Ein Windstoß ließ Asche vom geschwärzten Boden aufwirbeln, als Stränge Luft Demandred packten und herumwirbelten, ihn mit gezogenem Schwert auf den Füßen abstellten. Der Verlorene kauerte sich zusammen und schleuderte das nächste Gewebe – Gawyn spürte den Luftzug neben sich, als hätten ihn unsichtbare Ströme packen wollen. Aber er war zu schnell, und Demandred konnte ihn wegen der Ringe nicht genau ausmachen.

Gawyn wich zurück, wechselte das Messer in die linke Hand und zog mit der anderen das Schwert.

»Aha, ein Meuchelmörder«, verkündete Demandred. »Und Lews Therin redete stets von der ›Ehre‹, einem Mann von Angesicht zu Angesicht gegenüberzutreten.«

»Mich schickt nicht der Wiedergeborene Drache.«

»Wo dich der Nachtschatten umgibt, ein Gewebe, das in diesem Zeitalter unbekannt ist? Ist dir eigentlich klar, dass dir das, was Lews Therin mit dir gemacht hat, dein Leben aussaugen wird? Du bist schon tot, kleiner Mann.«

»Dann kannst du ja mit in mein Grab kommen«, erwiderte Gawyn.

Demandred richtete sich auf und fasste das Schwert mit beiden Händen in einer unbekannten Fechtstellung. Trotz der Ringe schien er Gawyn irgendwie folgen zu können, aber seine Reaktionen waren um Haaresbreite langsamer, als sie hätten sein sollen.

Drei schnelle Schläge ›Apfelblüten im Wind‹ zwangen den Verlorenen zurück. Mehrere Sharaner kamen mit blankgezogenen Klingen näher, aber Demandred hob die Hand im Panzerhandschuh, damit sie wegblieben. Er lächelte Gawyn nicht an – dieser Mann sah nicht so aus, als würde er jemals lächeln –, führte aber etwas aus, das ›Dreizackiger Blitz‹ ähnelte. Gawyn parierte mit ›Der Keiler stürmt bergab‹.

Demandred war gut. Mit dem durch die Ringe gewährten Vorteil entkam Gawyn knapp seiner Riposte. Die beiden tänzelten durch den kleinen Kreis, der aus zusehenden Sharanern gebildet wurde. Donner aus der Ferne schleuderte Eisenkugeln auf den Hügel, die den Boden erbeben ließen. Nur noch wenige Drachen feuerten, aber sie schienen sich auf diese Position zu konzentrieren.

Gawyn grunzte und warf sich in ›Sturm rüttelt am Ast‹, versuchte sich damit in Demandreds Deckung zu drängen. Er musste nahe heran, wenn er das Schwert in die Achsel des Gegners oder zwischen die Säume der Münzrüstung stoßen wollte.

Demandred reagierte mit Können und Finesse. Schon bald schwitzte Gawyn unter seiner Rüstung. Er fühlte sich schneller als je zuvor, seine Reaktionen waren wie die flinken Bewegungen eines Kolibris. Aber sosehr er sich auch anstrengte, er konnte keinen Treffer landen.

»Wer bist du, kleiner Mann?«, knurrte Demandred und ging mit waagerecht vom Körper abgespreizter Klinge ein paar Schritte zurück. »Du kämpfst gut.«

»Gawyn Trakand.«

»Der kleine Bruder der Königin. Du weißt schon, wer ich bin?«

»Ein Mörder.«

»Und hat dein Drache nicht gemordet? Hat deine Schwester niemals getötet, um ihren Thron zu behalten? Oder ihn sich zu nehmen

»Das ist etwas anderes.«

»Das sagen sie immer.« Demandred trat vor. Seine Fechthaltung war mustergültig, sein Rücken war stets kerzengerade, aber entspannt, und er bewegte sich mit den breiten, weitläufigen Bewegungen eines Tänzers. Er hatte die völlige Kontrolle über sein Schwert; Gawyn hatte nie gehört, dass er für seine Fechtkunst bekannt war, aber er war genauso gut wie jeder andere Gegner, der Gawyn je gegenübergestanden hatte. Tatsächlich sogar besser.

Gawyn vollzog ›Die Katze tanzt auf der Mauer‹, eine wunderschön anzusehende, schwungvolle Fechtform, die Demandreds gleichkam. Dann duckte er sich in der Hoffnung, dass die vorherige Figur Demandred ausreichend in Sicherheit gewiegt hatte, um einen Stoß vorbeizulassen, in ›Die Schlangenzunge züngelt‹ hinein.

Ein gewaltiger Schlag schleuderte ihn zu Boden. Er rollte sich ab und kam geduckt wieder auf die Beine. Plötzlich fiel ihm das Atmen schwerer. Die Ringe überschatteten jeden Schmerz, aber vermutlich hatte er sich eine Rippe gebrochen.

Ein Stein, dachte Gawyn. Er lenkte die Macht und schleuderte einen Stein gegen mich. Wegen der Schatten fiel es Demandred schwer, ihn mit einem Gewebe zu treffen, aber man konnte etwas Großes in die Schatten werfen und so einen Treffer landen.

»Du betrügst«, sagte Gawyn verächtlich.

»Betrügen?«, fragte der Verlorene. »Gibt es denn Regeln, kleiner Schwertkämpfer? Wenn ich mich richtig entsinne, wolltest du mich im Schatten verborgen hinterrücks abstechen.«

Gawyn atmete ein und aus, hielt sich die Seite. Nur ein kurzes Stück entfernt bohrte sich eine von einem Drachen abgeschossene Eisenkugel in den Boden und explodierte. Der Treffer riss ein paar Sharaner in Stücke; ihre Körper schützten Gawyn und Demandred vor der Wucht der Explosion. Erde regnete auf sie wie Gischt auf einem Schiffsdeck herab. Zumindest einer der Drachen feuerte noch.

»Du nanntest mich einen Mörder«, sagte Demandred, »und das bin ich. Ich bin auch dein Retter, ob du es willst oder nicht.«

»Du bist verrückt.«

»Wohl kaum.« Demandred ging um ihn herum, teilte ein paar Hiebe in die Luft aus. »Dieser Mann, dem du folgst, Lews Therin Telamon, der ist verrückt. Er glaubt, er kann den Großen Herrn besiegen. Das kann er nicht. Das ist eine unabänderliche Tatsache.«

»Sollen wir uns also stattdessen dem Schatten anschließen?«

»Ja.« Der Blick des Verlorenen war eiskalt. »Wenn ich Lews Therin töte, dann wird mir der Sieg das Recht geben, die Welt nach meinen Wünschen neu zu gestalten. Der Große Herr interessiert sich nicht für die Herrschaft. Diese Welt kann man nur auf eine Weise beschützen, man muss sie vernichten und ihre Menschen dann unter seine Fittiche nehmen. Behauptet dein Drache nicht, dass er das kann?«

»Warum nennst du ihn immer meinen Drachen?«, erwiderte Gawyn und spukte Blut aus. Die Ringe … sie trieben ihn an. In seinen Gliedern pulsierten Kraft und Energie. Kämpfe! Töte!

»Du folgst ihm.«

»Das tue ich nicht!«

»Lügen«, sagte Demandred. »Vielleicht kann man dich auch nur leicht täuschen. Ich weiß, dass Lews Therin diese Armee anführt. Zuerst war ich mir nicht sicher, aber das ist vorbei. Das Gewebe, in das du gehüllt bist, ist schon Beweis genug, aber ich habe einen noch besseren. Kein sterblicher General verfügt über solches Geschick, wie der heutige Tag gezeigt hat; ich stehe einem wahren Meister des Schlachtfelds gegenüber. Vielleicht trägt Lews Therin ja eine Spiegelmaske, vielleicht schickt er diesem Cauthon auch mit der Einen Macht Botschaften und leitet ihn auf diese Weise. Es ist auch egal, ich erkenne die Wahrheit. Heute würfle ich mit Lews Therin.

Ich war immer der bessere General. Das beweise ich hier und heute. Ich würde dich das ihm ja ausrichten lassen, aber du wirst nicht lange genug leben, kleiner Schwertkämpfer. Mach dich bereit.« Demandred hob das Schwert.

Gawyn richtete sich auf, ließ das Messer fallen und nahm die Klinge mit beiden Händen. Der Verlorene kam mit weit ausholenden Schritten auf ihn zu und nahm dabei Schwerthaltungen ein, die sich von denen unterschieden, die Gawyn vertraut waren. Dennoch waren sie ähnlich genug, um Gegenmaßnahmen zu ergreifen. Aber trotz seiner gesteigerten Schnelligkeit fing Demandred seine Klinge immer wieder ab und leitete sie zur Seite, ohne dass sie Schaden angerichtet hatte.

Der Mann griff nicht an. Er bewegte sich kaum, die Beine gespreizt und das Schwert mit beiden Händen haltend, wehrte er jeden Angriff ab, den Gawyn ausführte. ›Der Flug der Schwalbe‹, ›Das Blatt flattert im Wind‹, ›Den Leoparden liebkosen‹. Gawyn biss die Zähne zusammen und knurrte. Die Ringe hätten reichen müssen. Warum reichten die Ringe nicht?

Er trat zurück und wich aus, als der nächste Stein auf ihn zuflog. Nur um Haaresbreite verfehlte ihn das Geschoss. Ich danke dem Licht für diese Ringe, dachte er.

»Für jemanden aus diesem Zeitalter kämpfst du mit Geschick«, sagte Demandred. »Trotzdem führst du dein Schwert, kleiner Mann.«

»Was sollte ich sonst tun?«

»Selbst zum Schwert werden«, erwiderte Demandred in einem Ton, als könnte er einfach nicht verstehen, dass Gawyn das nicht begriff.

Gawyn knurrte und griff wieder an. Noch immer war er schneller. Demandred ging nicht zum Angriff über; er blieb in der Defensive, obwohl er allerdings auch nicht zurückwich. Er stand einfach bloß da und lenkte jeden Hieb zur Seite.

Demandred schloss die Augen. Gawyn lächelte und stieß mit ›Der letzte Biss der Schwarznatter‹ zu.

Demandreds Schwert verwandelte sich in einen Schemen.

Etwas traf Gawyn. Er keuchte auf, blieb ruckartig stehen. Er schwankte, dann fiel er auf die Knie und starrte auf das Loch in seinem Bauch. Mit einer einzigen flüssigen Bewegung hatte der Verlorene die Rüstung durchbohrt und die Klinge wieder herausgerissen.

Warum fühle … Warum fühle ich bloß nichts?

»Solltest du das überleben und Lews Therin sehen, dann richte ihm doch bitte aus, dass ich mich sehr auf den Zweikampf mit ihm freue, Schwert gegen Schwert. Ich habe seit unserer letzten Begegnung dazugelernt.«

Demandred wirbelte das Schwert herum, fing die Rückseite der Klinge mit der Beuge zwischen Daumen und Zeigefinger. Er zog sie dort ab, wischte das Blut vom Stahl und schleuderte es zu Boden.

Er schob die Waffe in ihre Scheide. Dann schüttelte er den Kopf und schoss einen Feuerball auf einen noch schießenden Drachen ab.

Die Waffe verstummte. Demandred begab sich an den Rand des Steilhangs, der auf den Fluss hinausschaute, und seine sharanische Wache formierte sich um ihn herum. Benommen brach Gawyn zusammen und spritzte sein Leben auf das verbrannte Gras. Mit zitternden Fingern versuchte er den Blutfluss zu stoppen.

Irgendwie gelang es ihm, sich wieder auf die Knie zu stemmen. Sein Herz schrie auf; er musste zu Egwene zurückkehren. Er fing an zu kriechen, und sein aus der Wunde strömendes Blut vermischte sich mit der Erde. Kalter Schweiß floss in seine Augen und verschleierte seine Sicht, aber zwanzig Schritte voraus entdeckte er ein paar Kavalleriepferde, die an ein Seil gebunden waren und an ein paar geschwärzten Grashalmen zupften. Nach ein paar Minuten Kampf, einer unvorstellbaren Zeitspanne, die ihn völlig erschöpfte, gelang es ihm, sich auf den Rücken des ersten Pferdes zu ziehen, das er erreichen und von dem Seil lösen konnte. Benommen klammerte er sich mit einer Hand an der Mähne fest. Er beschwor die ihm noch verbliebene Kraft und rammte dem Pferd die Fersen in die Rippen.


»Meine Lady«, sagte Mandevwin zu Faile, »diese Männer kenne ich seit Jahren! Es ist nicht so, dass sie keine dunklen Flecken in ihrer Vergangenheit hätten. Kein Mann, der sich der Bande anschließt, ist frei davon. Aber sie sind keine Schattenfreunde, das Licht stehe uns bei!«

Faile aß schweigend ihre Mittagsration und hörte Mandevwins Protesten mit so viel Geduld zu, wie sie aufbringen konnte. Sie wünschte sich, Perrin wäre da gewesen, denn dann hätten sie sich ordentlich streiten können. Sie hatte das Gefühl, gleich platzen zu müssen.

Sie befanden sich in der Nähe von Thakan’dar, sogar schrecklich nahe. Ständig zuckten Blitze am schwarzen Himmel, und seit Tagen hatten sie kein lebendes Geschöpf mehr gesehen, egal ob gefährlich oder nicht. Sie hatten auch Vanin oder Harnan nicht mehr zu Gesicht bekommen, obwohl Faile jeden Abend doppelte Wachen aufstellte. Die Gefolgsleute des Dunklen Königs würden nicht aufgeben.

Das Horn war nun in einem großen Beutel verstaut, den sie sich an die Taille gebunden hatte. Die anderen wussten darüber Bescheid und waren hin- und hergerissen zwischen Stolz auf ihre Pflicht und blankem Entsetzen. Zumindest das teilte sie mit ihnen.

»Meine Lady«, sagte Mandevwin und kniete nieder. »Vanin ist irgendwo da draußen. Er ist ein sehr begabter Kundschafter, der beste in der Bande. Wir werden ihn nicht sehen, solange er das nicht will, aber ich würde schwören, dass er uns folgt. Wo sollte er sonst auch hin? Was, wenn ich ihn rufe, ihn auffordere, seine Geschichte zu erzählen, damit wir das klären können.«

»Ich denke darüber nach«, sagte Faile.

Er nickte. Der Einäugige war ein guter Befehlshaber, aber er hatte die Phantasie eines Ziegelsteins. Schlichte Männer gingen stets davon aus, dass andere Menschen schlichte Beweggründe antrieben, und er konnte sich einfach nicht vorstellen, dass jemand wie Vanin oder Harnan, die der Bande schon so lange Zeit geholfen hatten – zweifellos aufgrund von Befehlen, um keinen Verdacht zu erregen –, ausgerechnet jetzt etwas so Schreckliches tun sollte.

Zumindest wusste sie jetzt, dass sie sich nicht grundlos Sorgen gemacht hatte. Der Ausdruck reinen Entsetzens in Vanins Blick, als er erwischt worden war, war ihr Bestätigung genug, falls es nicht bereits gereicht hätte, ihn mit dem Horn in den Händen zu erwischen. Allerdings hatte sie nicht mit zwei Schattenfreunden gerechnet, und sie hatten sie doch tatsächlich reingelegt. Aber sie hatten auch die Gefahren der Fäule unterschätzt. Faile wollte sich gar nicht vorstellen, was wohl geschehen wäre, hätten sie nicht die Aufmerksamkeit dieser Bär-Kreatur erregt. Sie wäre in ihrem Zelt geblieben und hätte auf die Ankunft von Dieben gewartet, die bereits mit einem der mächtigsten Artefakte der Welt verschwunden gewesen wären.

Donner grollte. Voraus ragte der dunkle Shayol Ghul aus einer kleineren Bergkette aus dem Tal von Thakan’dar in die Höhe. Die Luft war kalt geworden, fast schon winterlich. Diesen Gipfel zu erreichen würde schwer werden – aber sie würde den Streitkräften des Lichts das Horn für die Letzte Schlacht bringen, egal wie. Sie legte die Finger auf den Beutel neben sich und fühlte das Metall darin.

In der Nähe hüpfte Olver über die leblosen grauen Felsen des Verdorbenen Landes und fuchtelte mit dem Gürtelmesser wie mit einem Schwert herum. Vielleicht hätte sie ihn nicht mitnehmen dürfen. Andererseits lernten Jungen seines Alters in den Grenzlanden, wie man Botschaften überbrachte und Nachschub in belagerte Festungen schaffte. Man würde sie nicht mit einer Kampfgruppe losschicken oder einen Posten bemannen lassen, bevor sie mindestens zwölf Jahre alt waren, aber ihre Ausbildung fing schon viel früher an.

»Meine Lady?«

Faile wandte den Kopf und sah Selande und Arrela näher kommen. Nachdem Vanin die Maske hatte fallen lassen, hatte sie Selande den Befehl über die Kundschafter übertragen. Die kleine blasse Frau sah noch weniger wie eine Aiel aus als viele andere in der Cha Faile. Aber ihre Haltung half.

»Ja?«

»Eine Bewegung, meine Lady«, verkündete Selande leise.

»Was?« Faile stand auf. »Was für eine Art von Bewegung?«

»Irgendeine Karawane.«

»Im Verdorbenen Land? Zeigt es mir.«


Es war nicht bloß eine Karawane. Dort draußen stand ein ganzes Dorf. Faile konnte es durch das Fernrohr erkennen, obwohl lediglich dunkle Schemen Gebäude andeuteten. Es schmiegte sich in der Nähe von Thakan’dar an die Bergausläufer. Ein Dorf. Beim Licht!

Faile schwenkte das Fernrohr zu der Stelle, wo eine Karawane durch die leblose Landschaft schlich und auf einen Versorgungsposten zuhielt, der ein ordentliches Stück außerhalb des Dorfes errichtet worden war.

»Sie tun genau das Gleiche wie wir«, flüsterte sie.

»Was denn, meine Lady?« Arrela lag neben ihr auf dem Bauch. Auf ihrer anderen Seite befand sich Mandevwin, der durch sein eigenes Fernrohr blickte.

»Das ist ein zentraler Versorgungsposten«, erklärte Faile und betrachtete die Kistenstapel und Pfeilbündel. »Schattengezücht kann keine Wegetore durchqueren, seine Vorräte schon. Bei ihrer Invasion brauchen sie keine Pfeile und Ersatzwaffen mitzuschleppen. Stattdessen werden die Vorräte hier gesammelt und dann bei Bedarf auf das Schlachtfeld geschickt.«

Tatsächlich kündigte dort unten ein Lichtstreifen ein sich öffnendes Wegetor an. Eine lange Reihe schmutzig aussehender Männer schlurfte mit Lasten auf dem Rücken hinein, gefolgt von Dutzenden anderer, die kleine Karren schoben.

»Wo auch immer diese Vorräte hingebracht werden«, sagte Faile langsam, »in der Nähe wird gekämpft. Diese Karren transportieren Pfeile, aber keine Lebensmittel, denn die Trollocs fressen jeden Abend die Leichen auf dem Schlachtfeld.«

»Wenn wir also durch eines dieser Wegetore schlüpfen könnten …«, sagte Mandevwin.

Arrela schnaubte, als wäre die ganze Unterhaltung ein Witz. Sie blickte Faile an, und ihr Lächeln erstarb. »Ihr meint das ernst. Ihr beide.«

»Wir sind noch immer weit von Thakan’dar entfernt«, sagte Faile. »Und dieses Dorf blockiert unseren Weg. Es könnte leichter sein, sich in eines dieser Wegetore zu schleichen, als in das Tal hinein.«

»Dann landen wir hinter den feindlichen Linien!«

»Wir sind bereits hinter den feindlichen Linien«, sagte Faile grimmig, »also wäre das keine Veränderung.«

Arrela schwieg.

»Da gibt es ein Problem«, sagte Mandevwin leise und drehte sein Fernrohr. »Seht Euch die Kerle an, die vom Dorf in den Posten kommen.«

Faile hob wieder ihr Fernrohr. »Aiel?«, flüsterte sie. »Licht! Die Shaido haben sich den Truppen des Dunklen Königs angeschlossen?«

»Nicht einmal Hunde wie die Shaido würden das tun«, sagte Arrela und spuckte dann aus.

In der Tat sahen die Neuankömmlinge anders aus. Sie hatten die Schleier angelegt, als wollten sie töten, aber diese Schleier waren rot. Aber was das nun auch zu bedeuten hatte, es würde so gut wie unmöglich sein, sich an Aiel vorbeizuschleichen. Vermutlich hatte allein der Umstand, dass sie noch so weit entfernt waren, sie vor der Entdeckung bewahrt. Das und die Tatsache, dass niemand damit rechnen würde, ausgerechnet hier eine Gruppe wie die ihre zu finden.

»Zurück«, sagte Faile und schob sich den Hügel zollweise hinunter. »Wir müssen einen Plan ersinnen.«


Perrin erwachte durch das Gefühl, im Winter in einen See geworfen zu werden. Er keuchte auf.

»Legt Euch hin, Ihr Narr«, sagte Janina und nahm seinen Arm. Die hellhaarige Weise Frau sah so erschöpft aus, wie er sich fühlte.

Er befand sich an einem weichen Ort. Zu weich. Ein schönes Bett, saubere Laken. Draußen vor den Fenstern schlugen Wellen sanft gegen eine Küste, Möwen schrien. In der Nähe stöhnten auch Menschen.

»Wo bin ich?«, fragte er.

»In meinem Palast«, sagte Berelain. Sie stand direkt neben der Tür, und er hatte sie bis jetzt noch gar nicht bemerkt. Die Erste hatte ihr Diadem aufgesetzt, den fliegenden Falken, und trug ein scharlachrotes Kleid mit gelbem Besatz. Das Zimmer war üppig ausgestattet mit goldverzierten Spiegeln und Glasfenstern. Das Bett wies Bettpfosten und einen Himmel auf.

»Ich sollte hinzufügen, dass mir diese Situation irgendwie bekannt vorkommt, Lord Aybara«, fuhr die Erste fort. »Dieses Mal habe ich Vorkehrungen getroffen, nur für den Fall, dass Ihr Euch wundert.«

Vorkehrungen? Perrin schnupperte. Uno? Er konnte den Mann riechen. Und tatsächlich deutete Berelain zur Seite, und Perrin drehte sich um und fand Uno auf einem Stuhl sitzen. Der Mann trug einen Arm in der Schlinge.

»Uno! Was ist mit Euch passiert?«, fragte Perrin.

»Die lichtverfluchten Trollocs sind mir passiert«, grollte Uno. »Ich warte darauf, dass ich mit dem Heilen an der Reihe bin.«

»Zuerst werden jene mit lebensbedrohlichen Wunden Geheilt«, sagte Janina. Von den Weisen Frauen hatte sie das größte Geschick im Heilen bewiesen; anscheinend hatte sie sich entschlossen, bei den Aes Sedai und Berelain zu bleiben. »Ihr, Perrin Aybara, wurdet bis zur Grenze des Überlebens Geheilt. Aber nur bis zur Grenze des Überlebens. Wir konnten uns erst jetzt um die Verletzungen kümmern, die Euer Leben nicht bedrohten.«

»Wartet!« Mühsam setzte sich Perrin auf. Beim Licht, er war erschöpft. »Wie lange bin ich schon hier?«

»Zehn Stunden«, sagte Berelain.

»Zehn Stunden! Ich muss gehen. Der Kampf …«

»Der Kampf wird ohne Euch weitergehen«, sagte Berelain. »Es tut mir leid.«

Perrin knurrte leise. So müde. »Moiraine kannte eine Methode, die Müdigkeit eines Mannes wegzuwischen. Kennt Ihr das auch, Janina?«

»Wenn ich es wüsste, würde ich es nicht für Euch tun«, sagte die Weise Frau. »Ihr braucht Schlaf, Perrin Aybara. Euer Kampf in der Letzten Schlacht ist vorbei.«

Perrin biss die Zähne zusammen und versuchte aufzustehen.

»Verlasst dieses Bett«, sagte Janina mit einem finsteren Blick, »und ich fessle Euch mit Luft und lasse Euch dort stundenlang hängen.«

Instinktiv versuchte sich Perrin zu versetzen. Er fing an, den Gedanken zu schmieden, und kam sich augenblicklich wie ein Narr vor. Irgendwie war er in die reale Welt zurückgekehrt. Hier konnte er sich nicht versetzen. Er war so hilflos wie ein Säugling.

Frustriert legte er sich wieder zurück.

»Seid doch froh, Perrin«, sagte Berelain leise und trat ans Bett. »Ihr müsstet tot sein. Wie seid Ihr auf dieses Schlachtfeld gekommen? Hätten Euch Haral Luhhan und seine Männer dort nicht liegen gesehen …«

Perrin schüttelte den Kopf. Für jemanden, der den Wolfstraum nicht kannte, würden seine Erklärungen keinen Sinn ergeben. »Wie stehen die Dinge, Berelain? Der Krieg? Unsere Heere?«

Sie schürzte die Lippen.

»Ich kann die Wahrheit an Euch riechen«, sagte Perrin. »Sorge, Unruhe.« Er seufzte. »Ich habe gesehen, dass sich die Fronten verschoben haben. Wenn auch die Männer von den Zwei Flüssen auf dem Feld von Merrilor sind, dann wurden unsere drei Heere alle an denselben Ort zurückgedrängt. Alle abgesehen von denen in Thakan’dar.«

»Wir wissen nicht, wie es dem Lord Drachen geht«, sagte sie leise und glitt auf einen Stuhl neben seinem Bett. An der Wand nahm Janina Unos Arm. Er fröstelte, als das Heilen durch seinen Körper fuhr.

»Rand kämpft noch«, sagte Perrin.

»Es ist zu viel Zeit vergangen«, sagte sie. Da war etwas, das sie ihm nicht sagte, um das sie herumschlich. Er konnte es an ihr riechen.

»Rand kämpft noch«, wiederholte er. »Hätte er verloren, würden wir dieses Gespräch nicht führen.« Er streckte sich; die Erschöpfung steckte ihm tief in den Knochen. Beim Licht! Er konnte sich doch nicht einfach hier ausruhen, während Männer starben! »In der Nähe der Bohrung vergeht die Zeit nach anderen Maßstäben. Ich habe ihn besucht und es selbst erlebt. Hier draußen sind viele Tage vergangen, aber ich wette, dass es für Rand bloß ein Tag war. Vielleicht sogar weniger.«

»Das ist gut. Ich leite Eure Worte an die anderen weiter.«

»Berelain«, sagte Perrin. »Ihr müsst etwas für mich erledigen. Ich schickte Elyas mit einer Botschaft zu unseren Heeren, aber ich weiß nicht, ob er sie ausrichten konnte. Graendal beeinflusst den Verstand unserer Großen Hauptmänner. Könnt Ihr für mich herausfinden, ob seine Botschaft eingetroffen ist?«

»Sie ist gehört worden«, erwiderte sie. »Fast zu spät, aber sie ist eingetroffen. Ihr habt Gutes getan. Schlaft jetzt.« Sie stand auf.

»Berelain?«

Sie drehte sich zu ihm um.

»Faile. Was ist mit Faile?«

Ihre Nervosität wurde schlimmer. Nein.

»Eine Blase des Bösen zerstörte ihre Nachschubkarawane, Perrin«, sagte sie leise. »Es tut mir leid.«

»Hat man ihre Leiche gefunden?«, zwang er sich zu fragen.

»Nein.«

»Dann lebt sie auch noch.«

»Es …«

»Sie lebt noch«, beharrte Perrin. Er würde einfach annehmen müssen, dass es sich so verhielt. Wenn nicht …

»Natürlich besteht noch Hoffnung«, sagte sie, ging zu Uno, der gerade seinen Geheilten Arm vorsichtig streckte, und bedeutete ihm, sich ihr anzuschließen. Sie verließen das Zimmer. Janina beschäftigte sich noch mit dem Waschgeschirr. Perrin konnte in den Korridoren Stöhnen hören, und der ganze Ort roch nach Heilkräutern und Schmerzen.

Licht, dachte er. Failes Karawane hatte das Horn transportiert. Hatte es jetzt der Schatten im Besitz?

Und Gaul. Er musste zu Gaul zurückkehren. Er hatte den Mann im Wolfstraum zurückgelassen, wo er Rand den Rücken deckte. Falls man seine Erschöpfung zum Maßstab nehmen konnte, dann konnte der Aiel unmöglich noch viel länger durchhalten.

Perrin hatte das Gefühl, wochenlang schlafen zu können. Janina kehrte an sein Lager zurück, dann schüttelte sie den Kopf. »Es bringt nichts, wenn Ihr versucht, Eure Augen mit Gewalt aufzuhalten, Perrin Aybara.«

»Ich habe zu viel zu tun, Janina. Bitte. Ich muss zum Schlachtfeld zurückkehren und …«

»Ihr werdet hierbleiben, Perrin Aybara. In Eurem Zustand nutzt Ihr niemandem, und der Versuch, etwas anderes zu beweisen, bringt Euch kein Ji ein. Wenn der Schmied, der Euch hergebracht hat, erfahren würde, dass ich Euch losstolpern und auf dem Schlachtfeld sterben ließ, würde er bestimmt zurückkommen und versuchen, mich an den Füßen aus dem Fenster zu hängen.« Sie zögerte. »Und dieser Mann … ich glaube beinahe, ihm könnte das gelingen.«

»Meister Luhhan«, sagte Perrin und erinnerte sich schwach an die Augenblicke, bevor er das Bewusstsein verloren hatte. »Er war dort. Er fand mich?«

»Er rettete Euer Leben. Dieser Mann warf sich Euch über die Schulter und rannte zu einer Aes Sedai, damit sie ein Wegetor webte. Bei seiner Ankunft wart Ihr nur Sekunden vom Tod entfernt. Zieht man Eure Größe in Betracht, dann ist es schon eine beträchtliche Tat, Euch überhaupt hochzuheben.«

»Ich brauche wirklich keinen Schlaf«, sagte Perrin und fühlte, wie seine Lider schwerer wurden. »Ich muss … ich muss nach …«

»Davon bin ich überzeugt«, sagte die Weise Frau.

Perrin ließ die Augen zufallen. Das würde sie überzeugen, dass er ihren Anweisungen brav folgte. Er konnte aufstehen, sobald sie weg war.

»Davon bin ich überzeugt«, wiederholte Janina, und aus irgendeinem Grund wurde ihre Stimme sanfter.

Schlafen, dachte er. Ich schlafe ein. Wieder sah er den dreigeteilten Pfad vor sich. Dieses Mal führte eine Abzweigung zu ganz gewöhnlichem Schlaf, eine andere über den Schlaf in den Wolfstraum, der Pfad, den er für gewöhnlich nahm.

Und dazwischen ein dritter Pfad. Im Fleisch in den Wolfstraum.

Die Verlockung war stark, aber in diesem Augenblick entschied er sich, diesen Pfad nicht zu nehmen. Er würde den gewöhnlichen Schlaf wählen, denn in einem Augenblick der Klarheit erkannte er, dass sein Körper ohne ihn sterben würde.


Androl lag keuchend auf dem Boden und starrte nach ihrer Flucht von der Anhöhe, weit weg vom Schlachtfeld, in den Himmel.

Dieser Angriff … war so mächtig gewesen.

Was war das denn?, fragte er Pevara in Gedanken.

Auf jeden Fall nicht Taim, erwiderte sie, erhob sich und klopfte sich den Staub vom Rock. Ich glaube, es war Demandred.

Ich hatte uns absichtlich an eine Stelle gebracht, die weit von dem Ort entfernt lag, an dem er kämpfte.

Ja. Wie kann er es auch wagen, einer Gruppe von Machtlenkern dazwischenzufunken, die seine Truppen angreift?

Androl richtete sich stöhnend auf. Wisst Ihr, Pevara, für eine Aes Sedai seid Ihr ungewöhnlich scharfzüngig.

Ihre Belustigung überraschte ihn. Ihr kennt Aes Sedai nicht einmal annähernd so gut, wie Ihr glaubt. Sie kümmerte sich um Emarins Wunden.

Androl holte tief Luft und roch die Gerüche des Herbstes. Gefallene Blätter. Stehendes Wasser. Ein Herbst, der viel zu früh gekommen war. Die Hügelseite, auf der sie sich befanden, schaute auf ein Tal hinunter, in dem Bauern dem Zustand der Welt zum Trotz große Felder gepflügt hatten.

Nichts war gewachsen.

Theodrin kam mühsam auf die Füße. »Das ist doch Wahnsinn dort drüben.« Ihr Gesicht war gerötet.

Androl fühlte Pevaras Missfallen. Das Mädchen hätte seine Gefühle nicht so freimütig zur Schau stellen dürfen; es hatte noch nicht die richtige Selbstbeherrschung einer Aes Sedai gelernt.

Sie ist auch keine richtige Aes Sedai, erwiderte Pevara, weil sie seine Gedanken gelesen hatte. Ganz egal, was die Amyrlin sagt. Sie hat noch nicht die Prüfung bestanden.

Theodrin schien Pevaras Meinung zu kennen und mied deren Nähe. Pevara Heilte Emarin, der es stoisch über sich ergehen ließ. Theodrin Heilte einen Schnitt an Jonneths Arm. Ihn schien die beinahe mütterliche Fürsorge zu irritieren.

Über kurz oder lang wird sie den Behüterbund mit ihm eingegangen sein, dachte Pevara. Ist Euch aufgefallen, dass sie ihren Mann von den fünfzig einer anderen Frau überließ, um dann ihm nachzuschleichen? Seit der Schwarzen Burg konnten wir sie kaum loswerden.

Und wenn er sie ebenfalls mit dem Bund belegt?, wollte Androl wissen.

Dann sehen wir, ob das, was wir beide haben, einzigartig ist oder nicht. Pevara zögerte. Wir stolpern über Dinge, die nie zuvor bekannt waren.

Er erwiderte ihren Blick. Sie bezog sich auf das, was auch immer während ihrer letzten Verknüpfung geschehen war. Sie hatte ein Wegetor geöffnet, es aber auf seine Weise getan.

Wir müssen das noch einmal ausprobieren, meinte er.

Bald. Sie unterzog Emarin der Tiefenschau, um sich zu vergewissern, dass ihre Heilung gewirkt hatte.

»Mir geht es so weit gut, Pevara Sedai«, sagte der Mann höflich wie immer. »Und falls ich das erwähnen darf, Ihr scheint ebenfalls der Heilung zu bedürfen.«

Sie warf einen Blick auf den verbrannten Stoff an ihrem Arm. Noch immer scheute sie davor zurück, sich von einem Mann Heilen zu lassen, ärgerte sich aber zugleich über diese Scheu.

»Danke«, sagte sie völlig unbewegt, als sie ihn ihren Arm berühren und die Macht lenken ließ.

Androl löste den kleinen Zinnbecher vom Gürtel und hob ohne weiter darüber nachzudenken die Hand mit nach unten abgewinkelten Fingern. Dann drückte er sie zusammen, als würde er etwas dazwischen ausdrücken, und als er sie dann spreizte, öffnete sich zwischen ihnen ein kleines Wegetor. Wasser sprudelte heraus und füllte den Becher.

Pevara setzte sich neben ihn auf den Boden und nahm den Becher entgegen, als er ihn anbot. Sie trank und seufzte. »So kühl wie eine Bergquelle.«

»Das ist es ja auch.«

»Das erinnert mich daran, dass ich Euch etwas fragen wollte. Wie macht Ihr das?«

»Das hier? Das ist doch bloß ein kleines Wegetor.«

»Davon spreche ich nicht. Androl, Ihr seid gerade erst hier angekommen. Ihr könnt unmöglich genug Zeit gehabt haben, diese Gegend Eurem Gedächtnis ausreichend anzuvertrauen, um ein Wegetor in irgendeine Hunderte von Meilen entfernte Bergquelle öffnen zu können.«

Androl starrte die Aes Sedai ausdruckslos an, als hätte er gerade eine verblüffende Nachricht bekommen. »Ich weiß es nicht. Vielleicht hat das ja etwas mit meinem Talent zu tun.«

»Ich verstehe.« Pevara schwieg einen Moment lang. »Was ist übrigens mit Eurem Schwert passiert?«

Reflexartig griff Androl an den Gürtel. Die Scheide war leer. Als der Blitz neben ihnen eingeschlagen war, hatte er das Schwert fallen gelassen, und er hatte nicht die Geistesgegenwart gehabt, es bei der Flucht aufzuheben. Er stöhnte. »Würde Garfin das hören, würde er mich sofort zum Quartiermeister schicken, damit ich wochenlang für ihn Gerste mahle.«

»Das ist doch nicht wichtig«, meinte Pevara. »Ihr verfügt über bessere Waffen.«

»Es geht ums Prinzip. Ein Schwert zu tragen ist für mich wie eine Art Mahnung. Das ist wie … Nun, ein Fischernetz erinnert mich an den Fischfang in der Gegend von Mayene, und Quellwasser erinnert mich an Jain. Kleine Dinge, aber kleine Dinge sind wichtig. Ich muss wieder Soldat sein. Wir müssen Taim finden, Pevara. Die Siegel …«

»Nun, auf die Weise, auf die wir es versuchten, werden wir ihn aber nicht finden. Stimmt Ihr da mit mir überein?«

Er seufzte, dann nickte er.

»Ausgezeichnet«, sagte sie. »Ich hasse es, eine Zielscheibe zu sein.«

»Wie sollen wir vorgehen?«

»Wir nähern uns dem Problem mit dem sorgfältigen Studium aller Fakten, nicht mit drohenden Schwertern.«

Vermutlich hatte sie da nicht ganz unrecht. »Und … was wir da gemacht haben? Pevara, Ihr habt mein Talent benutzt.«

»Wir werden sehen.« Sie trank einen Schluck. »Wäre das doch bloß Tee.«

Androl hob eine Augenbraue. Er nahm den Becher wieder entgegen, öffnete ein kleines Wegetor zwischen zwei Fingern und ließ ein paar getrocknete Teeblätter in den Becher rieseln. Mit einem Strang Feuer kochte er den Inhalt kurz auf, dann ließ er durch ein weiteres Wegetor noch ein paar Tropfen Honig hineinfallen.

»Ich hatte noch welchen in meiner Werkstatt in der Schwarzen Burg«, sagte er und gab ihr den Becher zurück. »Anscheinend hat ihn niemand dort weggenommen.«

Sie probierte den Tee, dann lächelte sie erfreut. »Androl, Ihr seid wunderbar

Er lächelte. Licht! Wie lange hatte er schon nicht mehr für eine Frau so empfunden? Liebe war doch bloß etwas für junge Narren, oder?

Natürlich konnten junge Narren niemals tiefer blicken. Sie suchten nach einem hübschen Gesicht, und das war es dann. Androl war alt genug, um zu wissen, dass ein hübsches Gesicht nichts verglichen mit der Art von Bodenständigkeit war, die eine Frau wie Pevara an den Tag legte. Kontrolle, Beständigkeit, Entschlossenheit. Das waren Dinge, die nur die Erfahrung bringen konnte.

Das war genauso wie bei Leder. Neues Leder war schön, aber wirklich gutes Leder war benutztes Leder, wie ein Riemen, der jahrelang gepflegt worden war. Man konnte nie sicher wissen, ob man sich auf einen neuen Riemen verlassen konnte. War er ein paar Jahre lang ein Gefährte gewesen, dann wusste man Bescheid.

»Ich versuche diesen Gedanken zu lesen«, sagte Pevara. »Habt Ihr mich gerade mit einem alten Lederriemen verglichen?«

Er errötete.

»Ich gehe mal davon aus, dass das so ein Sattlerding ist.« Sie trank einen Schluck Tee.

»Nun, Ihr vergleicht mich ständig mit … Was soll das sein? Ein Haufen kleiner Porzellanfiguren?«

Sie lächelte. »Meine Familie.«

Die von Schattenfreunden ermordet worden war. »Es tut mir leid.«

»Das ist vor sehr langer Zeit geschehen, Androl.« Aber er konnte fühlen, dass sie das noch immer mit Zorn erfüllte.

»Beim Licht«, sagte er. »Ständig vergesse ich, dass Ihr älter als die meisten Bäume seid, Pevara.«

»Hm … Zuerst bin ich ein Lederriemen, jetzt bin ich älter als ein Baum. Auch wenn Ihr mehrere Dutzend Handwerke in Eurem Leben ausgeübt habt, hat man Euch nie beigebracht, wie man mit einer Dame spricht, sehe ich das richtig?«

Er zuckte mit den Schultern. In jüngeren Jahren wäre es ihm peinlich gewesen, einen solchen Knoten in der Zunge zu haben, aber er hatte gelernt, dass das nicht zu vermeiden war. Es zu versuchen machte es nur noch schlimmer. Seltsamerweise gefiel ihr die Art, wie er reagierte. Vermutlich gefiel es Frauen, einen Mann sprachlos zu sehen.

Aber ihre Belustigung versiegte, als sie zufällig zum Himmel blickte. Plötzlich wurde er an die unfruchtbaren Felder in der Umgebung erinnert. Die toten Bäume. Der grollende Donner. Das war nicht der Augenblick für Vergnügen, nicht der Augenblick für Liebe. Aber aus irgendeinem Grund klammerte er sich genau darum daran.

»Wir sollten bald wieder los«, sagte er. »Wie sieht Euer Plan aus?«

»Taim wird stets von seinem Gefolge umgeben sein. Wenn wir so mit unseren Angriffen weitermachen wie zuvor, schneidet man uns in Stücke, bevor wir ihn erwischen. Wir müssen uns an ihn anschleichen.«

»Und wie soll uns das gelingen?«

»Das kommt darauf an. Wie verrückt könnt Ihr sein, wenn es die Situation verlangt?«


Das Tal von Thakan’dar war ein Ort aus Rauch, Chaos und Tod geworden.

Rhuarc schlich voran, begleitet von Trask und Baelder. Sie waren Brüder der Rotschilde. Er war ihnen nie begegnet, bevor sie an diesen Ort gekommen waren, trotzdem waren sie Brüder, und ihr Bund war durch das vergossene Blut von Schattengezücht und Verrätern besiegelt worden.

Ein Blitz schlug in der Nähe ein. Rhuarc trat auf Sand, der von den ständigen Entladungen in Glassplitter verwandelt worden war. Er kam zu einer Deckung, die aus ein paar aufgeschichteten Trolloc-Kadavern bestand, und ging in die Hocke. Trask und Baelder gesellten sich zu ihm. Der Sturm war schließlich zu ihnen durchgedrungen; heftige Windstöße peitschten ins Tal und rissen ihm beinahe den Schleier vom Gesicht.

Etwas zu erkennen fiel schwer. Der Nebel war zerfetzt worden, aber der Himmel war jetzt noch dunkler, und der Sturm wirbelte Staub und Rauch in die Luft. Viele Männer kämpften in umherschweifenden Rudeln.

Frontlinien gab es keine mehr. Früher an diesem Tag hatte ein Angriff der Myrddraal, denen ein Trolloc-Sturm folgte, schließlich die Reihen der Verteidiger um den Passeingang durchbrochen. Tairener und Drachenverschworene hatten sich in Richtung Shayol Ghul ins Tal zurückgezogen, und jetzt kämpften die meisten von ihnen am Fuß des Berges.

Glücklicherweise war das eingetroffene Schattengezücht nicht in der Überzahl. Das Schlachten im Pass und die lange Belagerung hatte die Zahl der Trollocs in Thakan’dar reduziert. Jetzt entsprach ihr Aufgebot ungefähr der Zahl der Verteidiger.

Sie stellten noch immer ein Problem dar – aber nach seiner Meinung bedeuteten die Ehrlosen mit den roten Schleiern eine viel größere Bedrohung. Genau wie die Aiel streiften sie durch das Tal. Rhuarc befand sich auf diesem offenen Schlachtfeld, auf dem Nebelschwaden und Staubwolken jede Sicht verhinderten, auf der Jagd. Gelegentlich stieß er auf eine Gruppe Trollocs, aber die meisten von ihnen waren von den Blassen auf die regulären Streitkräfte der Tairener und Domani gehetzt worden.

Rhuarc gab seinen Brüdern ein Zeichen, und sie schlichen auf der einen Talseite weiter durch den Sturm. Man konnte nur das Licht anflehen, das die Truppen und die Machtlenkerinnen den Pfad zum Berg hinauf halten konnten, in dem der Car’a’carn gegen den Sichtblender kämpfte.

Rand al’Thor würde seine Schlacht bald beenden müssen, denn wenn Rhuarc alles richtig einschätzte, würde es nicht mehr lange dauern, bis der Schatten dieses Tal in seiner Gewalt hatte.

Er und seine Brüder passierten eine Gruppe Aiel, die mit den Verrätern mit den roten Schleiern den Tanz der Speere tanzten. Obwohl viele der Rotschleier die Macht lenken konnten, traf das auf diese Krieger wohl nicht zu. Mit erhobenen Speeren warfen sich Rhuarc und seine Brüder in den Kampf.

Diese Rotschleier kämpften gut. Trask erwachte bei diesem Kampf aus dem Traum, obwohl er dabei einen Gegner tötete. Das Scharmützel endete, als die verbliebenen Rotschleier die Flucht ergriffen. Rhuarc tötete einen mit dem Bogen, und Baelder brachte einen anderen zur Strecke. Männer in den Rücken zu schießen; hätten sie gegen richtige Aiel gekämpft, wäre das undenkbar gewesen. Diese Kreaturen waren schlimmer als Schattengezücht.

Die drei übrig gebliebenen Aiel, denen sie geholfen hatten, nickten zum Dank. Sie schlossen sich ihm und Baelder an, und zusammen zogen sie sich zurück in Richtung des Kraters des Verderbens, um nach den dortigen Verteidigungslinien zu sehen.

Glücklicherweise hielt das Heer dort die Stellung. Viele der Kämpfer gehörten zu jenen Drachenverschworenen, die als Letzte zur Schlacht gekommen waren und sich überwiegend aus ganz normalen Männern und Frauen zusammensetzten. Ja, es befanden sich einige Aes Sedai unter ihnen, selbst ein paar Aiel und Asha’man. Aber die meisten von ihnen hielten alte Schwerter, die seit Jahren nicht mehr benutzt worden waren, oder Bauernspieße, die zuvor vermutlich einfache Handwerksgeräte gewesen waren.

Sie kämpften wie in die Ecke getriebene Wölfe gegen die Trollocs. Rhuarc schüttelte den Kopf. Hätten die Baummörder so wild gekämpft, säße Laman vielleicht noch auf seinem Thron.

Aus dem Himmel zuckte ein Blitz und tötete ein paar Verteidiger. Rhuarc blinzelte seinen Widerschein aus den Augen und musterte die Umgebung durch den wehenden Wind. Da.

Er bedeutete seinen Brüdern zurückzubleiben, dann schlich er geduckt voran. Unterwegs nahm er eine Handvoll von dem grauen, ascheähnlichen Staub am Boden und rieb ihn sich in die Kleidung und ins Gesicht; der Wind peitschte einiges davon aus seinen Fingern.

Er ließ sich zu Boden sinken, einen Dolch zwischen den Zähnen. Seine Beute stand auf einem kleinen Hügel und verfolgte den Kampf. Einer der Rotschleier hatte den Schleier gesenkt und grinste. Die Zähne der Kreatur waren nicht spitz zugefeilt. Die mit den zugefeilten Zähnen konnten alle die Macht lenken; ein paar mit normalen Zähnen aber auch. Rhuarc hatte nicht die geringste Vorstellung, was das bedeuten sollte.

Dieser Bursche war ein Machtlenker, wie sich zeigte, als er Feuer zu einem Speer formte und ihn auf in der Nähe kämpfende Tairener warf. Rhuarc kroch langsam vorwärts, schob sich in eine flache Senke zwischen den Felsen.

Gezwungenermaßen musste er zusehen, wie der Rotschleier einen Verteidiger des Steins nach dem anderen tötete, aber er bewegte sich nicht schneller. Quälend langsam schob er sich weiter vorwärts und lauschte dem knisternden Feuer, während der Rotschleier mit auf dem Rücken verschränkten Händen dastand und Gewebe der Einen Macht um ihn herum einschlugen.

Der Rotschleier sah ihn nicht. Obwohl einige dieser Männer wie die Aiel kämpften, traf das auf viele nicht zu. Sie schlichen sich nicht so verstohlen an und schienen auch nicht so gut mit dem Bogen oder dem Speer umgehen zu können, wie sie sollten. Männer wie der vor ihm … Rhuarc bezweifelte, dass sie sich jemals so leise an einen Feind hatten anschleichen müssen oder einen Hirsch in der Wildnis erlegt hatten. Warum sollten sie das auch tun, wenn sie die Macht lenken konnten?

Der Mann bemerkte Rhuarc nicht, als er um einen toten Trolloc direkt neben ihm kroch und dann die Sehnen durchschnitt. Aufschreiend stürzte der Rotschleier zu Boden, und Rhuarc schlitzte ihm die Kehle durch, bevor er die Macht lenken konnte, um sofort wieder zwischen zwei Leichen zu kriechen und sich dort zu verbergen.

Zwei Trollocs kamen vom Lärm aufgescheucht herbei. Rhuarc tötete den ersten und sofort darauf den zweiten, bevor der sich überhaupt umdrehen und ihn entdecken konnte. Wieder verschmolz er sofort mit der Landschaft.

Kein weiteres Schattengezücht kam nachsehen, also zog sich Rhuarc zurück zu seinen Männern. Unterwegs – er hatte sich vom Boden erhoben und lief geduckt – kam er an einem kleinen Wolfsrudel vorbei, das zwei Trollocs zerfleischte. Mit blutigen Schnauzen und erhobenen Ohren wandten sich die Wölfe ihm zu. Sie ließen ihn passieren und verschwanden lautlos im Sturm, um neue Beute zu finden.

Wölfe. Sie waren mit dem regenlosen Sturm erschienen und kämpften jetzt an der Seite der Menschen. Rhuarc hatte keinen großen Überblick, wie die Schlacht stand. Er konnte sehen, dass einige von König Darlins Truppen in der Ferne noch ihre Formationen beibehielten. Die Armbrustmänner hatten sich neben den Drachenverschworenen aufgestellt. Soweit Rhuarc wusste, hatten sie so gut wie keine Bolzen mehr, und diese seltsamen dampfgetriebenen Wagen, die Nachschub gebracht hatten, waren zerstört. Aes Sedai und Asha’man schlugen weiterhin mit der Einen Macht auf den Ansturm ein, aber längst nicht mehr mit der gleichen Ausdauer wie zuvor.

Die Aiel taten, was sie am besten konnten: Töten. Solange diese Heere den Weg zu Rand al’Thor frei hielten, würde das vielleicht ausreichen. Vielleicht …

Etwas traf ihn. Stöhnend sank er auf die Knie. Er schaute auf, und eine wunderschöne Frau trat aus dem Sturm und musterte ihn. Sie hatte atemberaubende Augen, auch wenn sie irgendwie schief standen. Noch nie zuvor war ihm aufgefallen, wie schrecklich ebenmäßig die Augen anderer Menschen sonst waren. Dieser Gedanke bereitete ihm Übelkeit. Außerdem hatten alle anderen Frauen viel zu viele Haare auf dem Kopf. Dieses Geschöpf mit seinem dünnen Haar war viel wunderbarer.

Sie kam näher. Sie war unübertrefflich. Großartig. Sie berührte sein Kinn, während er am Boden knien blieb, und ihre Fingerspitzen waren so weich wie Wolken.

»Ja, du wirst reichen«, sagte sie. »Komm, mein Schoßtier. Komm zu den anderen.«

Sie zeigte auf eine Gruppe, die ihr folgte. Mehrere Weise Frauen, zwei Aes Sedai, ein Mann mit einem Speer. Rhuarc knurrte. Würde dieser Mann versuchen, ihm die Zuneigung seiner Geliebten streitig zu machen? Dafür würde er ihn töten. Er würde …

Seine Herrin kicherte. »Und Moridin hielt dieses Gesicht für eine Strafe. Nun, dir ist egal, wie ich aussehe, nicht wahr, mein Schatz?« Ihre Stimme wurde weicher und zugleich doch strenger. »Wenn ich fertig bin, wird das allen egal sein. Moridin selbst wird meine Schönheit preisen, denn er wird sie durch Augen sehen, die ich ihm gewähre. Genau wie du, Schoßtier. Ganz genau wie du.«

Sie tätschelte Rhuarc. Er gesellte sich zu ihr und den anderen und streifte durch das Tal, und er ließ die Männer zurück, die er Brüder genannt hatte.


Rand trat einen Schritt vor, als sich aus den Lichtfäden vor ihm eine Straße bildete. Sein Fuß berührte das saubere, funkelnde Kopfsteinpflaster, und er trat aus dem Nichts in Pracht hinein.

Die Straße war breit genug, um sechs Wagen gleichzeitig Platz zu bieten. Aber sie war nicht von Fahrzeugen versperrt. Da waren nur Menschen. Lebendige Menschen in bunter Kleidung, die angeregt miteinander plauderten. Laute füllten die Leere – die Laute des Lebens.

Rand drehte sich um die eigene Achse und betrachtete die Gebäude um sich herum. Hohe Häuser säumten den Weg, deren Fassaden mit Säulen geschmückt waren. Lang und schmal standen sie dicht nebeneinander. Dahinter befanden sich Kuppeln und Wunder, Gebäude, die bis in den Himmel reichten. Obwohl diese Stadt offensichtlich das Handwerk der Ogier war, hatte er so etwas noch nie zuvor gesehen.

Obwohl, es war nur zum Teil Ogierwerk. In der Nähe reparierten Arbeiter eine Fassade mit einem Sturmschaden. An ihrer Seite arbeiteten Ogier mit ihren großen Fingern und lachten grollend. Als sie zu den Zwei Flüssen gekommen waren, um Rand für sein Opfer zu würdigen und dort ein Denkmal zu errichten, hatten die Führer der Stadt klugerweise stattdessen um Hilfe gebeten, die Stadt zu verschönern.

Im Laufe der Jahre hatten die Menschen von den Zwei Flüssen und die Ogier eng zusammengearbeitet, und nun waren die Handwerker aus den Zwei Flüssen auf der ganzen Welt gefragt. Rand ging über die Straße und passierte Menschen sämtlicher Nationalitäten. Domani in bunter, luftiger Kleidung. Tairener – die tiefen gesellschaftlichen Unterschiede zwischen Untertanen und Adel schwanden jeden Tag mehr – in bauschigen Gewändern und Hemden mit gestreiften Ärmeln. Seanchaner trugen exotische Seide. Grenzländer zeigten eine edle Haltung. Es gab sogar einige Sharaner.

Sie alle waren nach Emondsfelde gekommen. Die Stadt hatte nur noch wenig Ähnlichkeit mit ihrem Namen, aber es gab noch immer ein paar markante Merkmale. Hier fanden sich mehr Bäume und offene Grünflächen als in anderen Städten wie Caemlyn oder Tear. In den Zwei Flüssen verehrte man Handwerker. Und ihre Schützen waren die besten der Welt. Eine Elitetruppe aus ihnen, die mit den neuen Feuerstöcken bewaffnet war, die man allgemein Gewehre nannte, diente an der Seite der Aiel bei ihren Frieden stiftenden Feldzügen in Shara. Das war der einzige Ort auf der Welt, wo es noch Krieg gab. Sicher, hier und da gab es Dispute. Das Auflodern von Streit zwischen Murandy und Tear vor fünf Jahren hatte dem Land beinahe seinen ersten richtigen Krieg seit der einhundert Jahre zurückliegenden Letzten Schlacht beschert.

Rand lächelte, als er durch die Menge ging und mit Stolz der Freude in den Stimmen der Menschen lauschte. Das »Auflodern« in Murandy war nach der Norm des Vierten Zeitalters sehr dynamisch gewesen, aber in Wahrheit hatte nicht viel dahintergesteckt. Ein einzelner verärgerter Adliger hatte auf eine Patrouille der Aiel geschossen. Drei Verletzte, kein Toter, und das war abgesehen von den Feldzügen in Shara der schlimmste »Kampf« seit Jahren gewesen.

Am Himmel brach die Sonne durch die dünne Wolkenschicht und tauchte die Straße in Licht. Rand erreichte endlich den Stadtplatz, wo sich einst der Dorfanger von Emondsfelde befunden hatte. Was sollte man jetzt vom Steinbruchweg halten, wo er breit genug war, um einem marschierenden Heer Platz zu bieten? Er spazierte um den gewaltigen Brunnen in der Mitte des Platzes, ein von den Ogiern geschaffenes Denkmal für all jene, die in der Letzten Schlacht gefallen waren.

Unter den Statuen in der Brunnenmitte erkannte er vertraute Gesichter, und er wandte sich ab.

Noch ist das nicht endgültig, dachte er. Das ist noch nicht die Realität. Er hatte diese Wirklichkeit aus den Fäden dessen erschaffen, was möglich sein konnte, aus den Spiegelungen der jetzigen Welt. Das war noch nicht endgültig.

Zum ersten Mal, seit er diese von ihm selbst geschaffene Vision betreten hatte, geriet sein Selbstvertrauen ins Schwanken. Er wusste, dass die Letzte Schlacht nicht gescheitert war. Aber Menschen starben. Glaubte er, diesen ganzen Tod, diesen Schmerz aufhalten zu können?

Das sollte mein Kampf sein, dachte er. Sie sollten nicht sterben müssen. Reichte sein Opfer denn nicht?

Aber das hatte er sich bereits unzählige Male gefragt.

Die Vision zitterte, die kunstvoll zurechtbehauenen Steine unter ihm summten, Gebäude schwankten. Plötzlich erstarrten die Menschen, und der Lärm verstummte. Am anderen Ende einer schmalen Seitenstraße erschien eine zuerst stecknadelkopfgroße Finsternis, die sich rasch ausbreitete und alles in ihrer Nähe verschlang – es in sich hineinzog. Sie wuchs zur Größe eines der Häuser und bereitete sich dann langsam weiter aus.

DEIN TRAUM IST SCHWACH, WIDERSACHER.

Rand verstärkte seinen Willen, und das Beben hörte auf. An Ort und Stelle erstarrte Menschen gingen weiter, und das fröhliche Geplauder setzte sich fort. Eine sanfte Brise strich über den Bürgersteig und ließ die Fahnen, die das Fest verkündeten, an ihren Masten rascheln.

»Ich sorge dafür, dass dies Wirklichkeit wird«, sagte Rand zu der Finsternis. »Das ist dein Fehler. Glück, Wachstum, Liebe …«

DIESE MENSCHEN GEHÖREN JETZT MIR. ICH NEHME SIE MIR JETZT.

»Du bist Finsternis«, sagte Rand laut. »Finsternis kann das Licht nicht verdrängen. Finsternis existiert nur, wenn das Licht scheitert, wenn es flieht. Ich werde nicht scheitern. Ich werde nicht fliehen. Solange ich dir den Weg versperre, kannst du nicht siegen, Shai’tan.«

DAS WERDEN WIR JA SEHEN.

Rand wandte sich von der Finsternis ab und ging weiter um den Brunnen. Auf der anderen Seite des Platzes führte eine Reihe majestätischer weißer Stufen zu einem vier Stockwerke hohen Gebäude, das eine unglaubliche Handwerkskunst aufwies. Mit Reliefs übersät, bedeckt von einem funkelnden Kupferdach, wimmelte das Gebäude von Flaggen. Einhundert Jahre. Einhundert Jahre des Lebens, einhundert Jahre des Friedens.

Die Frau, die ganz oben auf den Stufen stand, wies irgendwie vertraute Züge auf. Da waren Spuren von saldaeanischer Herkunft, aber auch dunkle Locken, wie es sie nur in den Zwei Flüssen gab. Lady Adora, Perrins Enkelin und Bürgermeisterin von Emondsfelde. Rand schritt langsam die Stufen hinauf, während sie ihre Gedenkrede hielt. Niemand bemerkte ihn. Er sorgte dafür. Wie ein Grauer Mann schlüpfte er hinter sie, als sie den Feiertag verkündete, dann betrat er das Gebäude.

Es handelte sich keineswegs um ein Regierungsgebäude, obwohl die Vorderseite daran denken ließ. Es war viel wichtiger.

Eine Schule.

Rechts hingen genug Gemälde und Reliefs in luftigen Korridoren, um es mit jedem Palast aufnehmen zu können – aber hier waren die Lehrer und Geschichtenerzähler der Vergangenheit dargestellt, von Anla bis zu Thom Merrilin. Rand spazierte durch einen Korridor und warf einen Blick in Räume, wo jedermann Wissen erlangen konnte, vom ärmsten Bauern bis zu den Kindern des Bürgermeisters. Das Gebäude musste so groß sein, um allen Platz zu gewähren, die lernen wollten.

DEIN PARADIES HAT FEHLER, WIDERSACHER.

In einem Spiegel zu Rands Rechten war ein dunkler Fleck zu sehen. Er spiegelte nicht den Korridor wider, sondern SEINE Gegenwart.

DU GLAUBST, DU KANNST DAS LEID AUSMERZEN? SELBST WENN DU SIEGEN SOLLTEST, WIRD DIR DAS NICHT GELINGEN. IN DIESEN PERFEKTEN STRASSEN WERDEN NOCH IMMER MÄNNER IN DER NACHT ERMORDET. TROTZ DER BEMÜHUNGEN DEINER HANDLANGER WERDEN KINDER HUNGER LEIDEN. DIE REICHEN BEUTEN AUS UND VERDERBEN, SIE TUN ES LEDIGLICH VERSTOHLEN.

»Es ist besser«, flüsterte Rand. »Es ist gut.«

ES IST NICHT GENUG; ES WIRD NIE GENUG SEIN. DEIN TRAUM IST MAKELBEHAFTET. DEIN TRAUM IST EINE LÜGE. ICH BIN DIE EINZIGE EHRLICHKEIT, DIE DEINE WELT JE GEKANNT HAT.

Der Dunkle König griff an.

Wie ein Sturm fiel er über Rand her. Ein so schrecklicher Windstoß, dass er Rand das Fleisch von den Knochen zu schälen drohte. Aber er stand aufrecht da, den Blick auf das Nichts gerichtet, und verschränkte die Arme hinter dem Rücken. Der Angriff riss die Vision weg – die wunderschöne Stadt, die lachenden Menschen, das Denkmal zu Ehren von Lernen und Frieden. Der Dunkle König verschlang sie, und wieder einmal wurde sie bloß zu einer Möglichkeit.


Silviana griff nach der Einen Macht und fühlte, wie sie in sie hineinflutete und die Welt erleuchtete. Wenn sie Saidar hielt, glaubte sie alles sehen zu können. Es war ein großartiges Gefühl, solange sie einsah, dass es nur ein Gefühl war. Es war nicht die Wahrheit. Die Verlockung von Saidars Macht hatte viele Frauen zu närrischen Gesten verführt. Das galt mit Sicherheit für viele Blaue, die sich dessen irgendwann einmal schuldig gemacht hatten.

Im Sattel sitzend, webte Silviana Feuer und verbrannte sharanische Soldaten. Sie hatte ihren Wallach Stecher abgerichtet, niemals in der Nähe von Machtlenken zu scheuen.

»Die Bogenschützen zurückfallen lassen!«, brüllte Chubain direkt hinter ihr. »Los, los! Die schwere Infanterie vorrücken!« Die gepanzerten Fußsoldaten marschierten mit Äxten und Streitkolben an Silviana vorbei, um die verwirrten Sharaner auf dem Hang anzugreifen. Piken wären wirkungsvoller gewesen, aber ihnen standen davon nicht einmal annähernd genug zur Verfügung.

Sie webte einen weiteren Feuerball in die Mitte des Feindes, um den Weg vorzubereiten, dann wandte sie ihre Aufmerksamkeit den sharanischen Bogenschützen auf dem Plateau zu.

Sobald Egwenes Truppen das Moor umgangen hatten, hatten sie sich in zwei Angriffsgruppen getrennt. Die Aes Sedai hatten die Fußtruppen der Weißen Burg begleitet und griffen die Sharaner auf der Anhöhe von Westen an. Zu diesem Zeitpunkt waren die Brände gelöscht gewesen, und die meisten Trollocs waren von oben gekommen, um im ebenen Gelände anzugreifen.

Die andere Hälfte von Egwenes Heer, hauptsächlich Kavallerie, war in den Korridor geschickt worden, der am Moor vorbei zur Furt führte; sie griff die verletzliche hintere Flanke der Tiermenschen an, die Elaynes Verteidiger in der Umgebung der Furt überrennen wollten.

Die vorrangige Aufgabe der ersten Gruppe bestand darin, sich den breiten Westhang hinaufzukämpfen. Silviana zielte sorgfältig mit einer Reihe Blitze auf die vorrückenden Sharaner, um sie abzuwehren.

»Sobald die Infanterie sich ein Stück des Weges nach oben erstritten hat«, sagte Chubain neben Egwene, »lassen wir die Aes Sedai anfangen, die … Mutter?« Chubains Stimme wurde schriller.

Silviana fuhr auf dem Sattel herum und blickte alarmiert zu Egwene. Die Amyrlin lenkte keine Macht mehr. Ihr Gesicht war leichenblass, sie zitterte am ganzen Körper. Wurde sie von einem Gewebe angegriffen? Silviana konnte nichts dergleichen erkennen.

Männer und Frauen sammelten sich oben auf dem Hang und drängten die sharanischen Infanteristen zur Seite. Sie fingen an, die Macht zu lenken, dann regneten Blitze auf die Armee der Weißen Burg herab, von denen jeder die Luft spaltete und grell genug war, um einem die Sinne zu rauben.

»Mutter!« Silviana trieb ihr Pferd an, um zu Egwene zu kommen. Demandred musste sie angreifen. Sie beugte sich vor, um das Sa’angreal in Egwenes Händen für einen zusätzlichen Machtschub zu berühren, und webte ein Wegetor. Die Seanchanerin, die hinter Egwene ritt, schnappte sich die Zügel der Amyrlin und riss das Pferd durch das Tor in Sicherheit. Silviana folgte ihr, rief jedoch: »Haltet gegen die Sharaner stand! Unterrichtet die Machtlenker über Demandreds Angriff auf den Amyrlin-Sitz!«

»Nein«, stieß Egwene leise hervor. Sie schwankte im Sattel, als die Pferde in ein großes Zelt galoppierten. Silviana hätte sie lieber weit weggebracht, aber die Umgebung war ihr nicht vertraut genug für einen langen Sprung gewesen. »Nein, es ist nicht …«

»Was ist los?« Silviana zügelte den Wallach an ihrer Seite und ließ das Tor verschwinden. »Mutter?«

»Es ist Gawyn!« Die Amyrlin war leichenblass, zitterte am ganzen Körper. »Er wurde verwundet. Schwer. Silviana, er stirbt.«

O beim Licht!, dachte Silviana. Behüter! Sie hatte immer so etwas befürchtet, und zwar von dem Augenblick an, an dem sie den dummen Jungen das erste Mal gesehen hatte.

»Wo?«, fragte sie knapp.

»Auf der Anhöhe. Ich werde ihn finden. Ich webe ein Wegetor, Reise in seine Richtung …«

»Beim Licht, Mutter«, sagte Silviana. »Habt Ihr auch nur eine Vorstellung, wie gefährlich das ist? Bleibt hier und führt die Weiße Burg. Ich versuche ihn zu finden.«

»Ihr könnt ihn nicht fühlen.«

»Übertragt den Behüterbund auf mich.«

Egwene erstarrte.

»Ihr wisst, dass es das Richtige ist«, sagte Silviana. »Stirbt er, könnte es Euch vernichten. Gebt mir diesen Bund. So finde ich ihn, und es wird Euch schützen, sollte er sterben.«

Egwene war sichtlich entsetzt. Silviana wusste genau, was ihr jetzt durch den Kopf ging. Wie konnte sie es wagen, das auch nur vorzuschlagen? Das war typisch für eine Rote – die gaben sich nie mit Behütern ab. Offensichtlich wusste die Bewahrerin nicht, was sie da verlangte.

»Nein«, erwiderte Egwene. »Nein, ich werde das nicht einmal in Betracht ziehen. Davon abgesehen, sollte er sterben, würde mich das nur beschützen, indem ich diesen Schmerz auf Euch abwälze.«

»Ich bin nicht die Amyrlin.«

»Nein. Sollte er sterben, werde ich das überleben und weiterkämpfen. Mit einem Tor zu ihm zu eilen wäre dumm, genau wie Ihr gesagt habt, und ich lasse Euch das auch nicht tun. Er befindet sich auf dem Plateau. Wir werden uns genau wie befohlen den Weg dort hinauf freikämpfen, und auf diese Weise stoßen wir zu ihm. Das ist die beste Entscheidung.«

Silviana zögerte, dann nickte sie. So würde es gehen. Gemeinsam kehrten sie zum Westhang zurück, aber Silviana kochte innerlich. Dieser dumme Kerl! Sollte er sterben, würde es Egwene sehr schwerfallen, den Kampf fortzuführen.

Der Schatten musste die Amyrlin gar nicht selbst töten, um sie aufzuhalten. Er brauchte bloß einen unreifen Jungen töten.


»Was tun diese Sharaner jetzt?«, fragte Elayne leise.

Birgitte beruhigte ihr Pferd und nahm von Elayne das Fernrohr entgegen. Sie spähte über das ausgetrocknete Flussbett zum Hang der Anhöhe, wo sich eine große Zahl gegnerischer Soldaten versammelt hatte. Sie grunzte. »Vermutlich warten sie darauf, dass die Trollocs mit Pfeilen gespickt werden.«

»Du klingst nicht besonders überzeugt«, meinte Elayne und nahm das Fernrohr wieder entgegen. Sie hielt die Eine Macht, benutzte sie aber im Augenblick nicht. Ihr Heer kämpfte jetzt seit zwei Stunden am Fluss. Die Trollocs waren auf breiter Linie in den versiegenden Mora gestürmt, aber ihre Truppen verhinderten, dass sie shienarischen Boden betraten. Das Moor hinderte den Feind daran, ihre linke Flanke zu umgehen; ihre rechte Flanke war aber bedeutend verletzlicher und musste im Auge behalten werden. Es würde wesentlich schwieriger werden, wenn sämtliche Trollocs über den Fluss kamen, aber Egwenes Kavallerie fiel ihnen in den Rücken. Das nahm einen gewissen Druck von ihrem Heer.

Männer hielten die Tiermenschen mit Piken zurück, und das Rinnsal, das noch immer durch das Flussbett gurgelte, hatte sich rot verfärbt. Elayne saß aufrecht im Sattel, sah und wurde von ihren Truppen gesehen. Die Blüte Andors hatte geblutet und war gestorben, um die Kreaturen mühsam zurückzuhalten. Die Sharaner schienen sich darauf vorzubereiten, ihre Stellung zu verlassen, aber Elayne war nicht davon überzeugt, dass sie schon angreifen wollten. Der Angriff der Weißen Burg an der Westseite musste sie beunruhigen. Es war ein Geniestreich Mats gewesen, Egwenes Heer loszuschicken und die Anhöhe von hinten anzugreifen.

»Ich bin mir meiner Worte nicht sicher«, sagte Birgitte leise. »Nicht im Mindesten. Jedenfalls nicht mehr.«

Elayne runzelte die Stirn. Sie hatte angenommen, dass alles zu diesem Thema gesagt worden war. Wovon redete Birgitte da? »Was ist mit deinen Erinnerungen?«

»Meine erste Erinnerung besteht nun darin, dass ich bei dir und Nynaeve aufwachte«, erwiderte ihre Behüterin leise. »Ich kann mich an unsere Unterhaltungen über die Welt der Träume erinnern, aber nicht mehr an den Ort selbst. Es ist mir alles wie Wasser zwischen den Fingern entglitten.«

»Oh, Birgitte …«

Die Behüterin zuckte mit den Schultern. »Ich kann nichts vermissen, an das ich mich nicht erinnere.« Der Schmerz in ihrer Stimme strafte ihre Worte Lügen.

»Gaidal?«

Birgitte schüttelte den Kopf. »Nichts. Ich habe das Gefühl, jemanden mit diesem Namen zu kennen, aber das tue ich nicht.« Sie kicherte. »Wie schon gesagt, ich weiß nicht, was ich alles verlor, also kümmert es mich nicht.«

»Lügst du mich an?«

»Verfluchte Asche, natürlich! Das ist wie ein Loch in meinem Inneren, Elayne. Ein tiefes, klaffendes Loch. Mein Leben und meine Erinnerungen verbluten dort.« Sie schaute zur Seite.

»Birgitte … es tut mir leid.«

Birgitte wendete ihr Pferd und ließ es ein paar Schritte zur Seite gehen, da sie nicht länger darüber sprechen wollte. Ihr Schmerz pulsierte stechend in Elaynes Hinterkopf.

Wie musste es sich anfühlen, so viel zu verlieren? Birgitte hatte weder Kindheit noch Eltern gehabt. Ihr ganzes Leben, sämtliche ihrer Erinnerungen, umfasste wenig mehr als ein Jahr. Elayne wollte ihr nachreiten, aber ihre Leibwächter wichen auseinander, um Galad durchzulassen. Er trug Rüstung, Wappenrock und Umhang des Kommandierenden Lordhauptmanns der Kinder des Lichts.

Elayne presste die Lippen zu einem schmalen Strich zusammen. »Galad.«

»Schwester«, erwiderte er. »Ich gehe davon aus, dass es vollkommen sinnlos wäre, dich darauf hinzuweisen, wie unangebracht es für eine Frau in deinem Zustand ist, auf einem Schlachtfeld zu sein.«

»Wenn wir diesen Krieg verlieren, werden meine Kinder in der Gefangenschaft des Dunklen Königs geboren, falls sie überhaupt zur Welt kommen. Ich glaube, dieser Kampf ist das Risiko wohl wert.«

»Solange du nicht selbst ein Schwert schwingst«, sagte Galad und beschattete die Augen, um das Schlachtfeld zu inspizieren. Seine Worte deuteten an, dass er ihr die Erlaubnis gab – die Erlaubnis! –, ihre Truppen anzuführen.

Licht schoss vom Plateau und traf die letzten Drachen, die von der Stellung unmittelbar hinter ihren Truppen noch feuerten. Welch eine Kraft! Demandred verfügte über eine Macht, die beinahe an Rands heranreichte. Wenn er diese Macht gegen meine Soldaten einsetzt …

»Warum hat Cauthon mich herbefohlen?«, fragte Galad leise. »Er verlangte nach einem Dutzend meiner besten Männer …«

»Du bittest mich doch nicht ernsthaft, die Beweggründe von Matrim Cauthon zu ergründen, oder?«, fragte Elayne. »Ich bin davon überzeugt, dass sich Mat einfach nur so benimmt, als wäre er einfältig, damit die Leute ihm nur immer mehr durchgehen lassen.«

Galad schüttelte den Kopf. Einige Männer aus seinem Gefolge zeigten auf die Trollocs, die sich am arafelischen Ufer langsam flussaufwärts in Bewegung setzten. Elayne begriff, dass ihre rechte Flanke in Gefahr schwebte.

»Schicke nach sechs Kompanien Armbrustmänner«, sagte sie zu Birgitte. »Guybon muss unsere Truppen flussaufwärts verstärken.«

Beim Licht. Das fängt langsam an, wirklich übel auszusehen. Die Weiße Burg befand sich drüben am Westhang der Anhöhe, wo am heftigsten die Macht gelenkt wurde. Von ihrem Standpunkt aus konnte sie nicht viel davon sehen, aber sie fühlte es genau.

Von der Anhöhe stieg Rauch in den Himmel, der von Blitzschlägen erleuchtet wurde. Als würde sich ein Geschöpf aus Sturm und Hunger in der Finsternis regen, dessen Augen blitzten, als es erwachte.

Unvermittelt wurde sich Elayne etwas bewusst. Der durchdringende Gestank von Rauch in der Luft, die Schmerzensschreie der Soldaten. Donner vom Himmel, das Beben der Erde. Die kalte Luft, die sich schwer auf ein Land legte, in dem nichts wachsen wollte, die zerbrechenden Waffen, das Knirschen auf Schilden aufprallender Piken. Das Ende. Es war tatsächlich eingetroffen, und sie stand an seinem Abgrund.

Ein Bote galoppierte heran und schwenkte einen Brief. Er gab Elaynes Leibwächtern die richtige Losung, sprang vom Pferd und durfte an sie und Galad herantreten. Er richtete das Wort an den Lordhauptmann und reichte ihm den Brief. »Von Lord Cauthon, Herr. Er sagte, Ihr wärt hier anzutreffen.«

Galad nahm den dicken Umschlag und öffnete ihn stirnrunzelnd. Dann zog er das Blatt hervor.

Elayne wartete geduldig – sogar sehr geduldig –, indem sie bis drei zählte, dann lenkte sie ihr Pferd neben Galads Hengst und verrenkte den Kopf, um mitlesen zu können. Also ehrlich, man hätte annehmen sollen, dass er mehr Rücksicht auf eine Schwangere nahm.

Mat hatte den Brief selbst geschrieben. Und Elayne sah amüsiert, dass die Schrift wesentlich sauberer und weniger fehlerbehaftet war als in dem Brief, den er ihr vor einigen Wochen geschickt hatte. Anscheinend hatte die Belastung durch die Schlacht Matrim Cauthon zu einem besseren Schreiber gemacht.

Galad,

keine Zeit für hübsche Worte. Ihr seid der Einzige, dem ich diese Mission anvertrauen kann. Ihr tut immer das Richtige, selbst wenn es alle anderen zur Verzweiflung bringt. Die Grenzländer haben möglicherweise nicht die Nerven dafür, aber ich wette, ich kann einem Weißmantel vertrauen. Nehmt das. Lasst Euch von Elayne ein Wegetor machen. Tut, was getan werden muss.

Mat

Galad runzelte die Stirn, kippte den Umschlag und ließ etwas Silbriges herausfallen. Ein Medaillon an einer Kette. Sowie eine Mark aus Tar Valon.

Elayne atmete aus, dann berührte sie das Medaillon und lenkte die Macht. Es gelang ihr nicht. Das war eine der von ihr hergestellten Kopien, die sie Mat gegeben hatte. Die andere hatte der Schattenfreund Mellar gestohlen. »Es beschützt den Träger gegen Machtlenken«, sagte sie. »Aber warum hat er es dir geschickt?«

Galad drehte das Blatt Papier herum, weil ihm anscheinend etwas aufgefallen war. Auf der Rückseite stand hastig hingekritzelt:

PS: Falls Ihr nicht wisst, was mit »Tut, was getan werden muss« gemeint ist, damit ist gemeint, dass ich will, dass Ihr so viele der sharanischen Machtlenker verflucht noch mal umbringt wie möglich. Ich wette mit Euch um eine Mark aus Tar Valon – ihr Rand ist bloß ein bisschen angestoßen –, dass Ihr keine zwanzig von ihnen töten könnt. – MC

»Das ist verflucht hinterhältig«, sagte Elayne leise. »Blut und verdammte Asche, das ist es wirklich.«

»Das ist wohl kaum die passende Ausdrucksweise für eine Monarchin«, wies Galad sie zurecht, faltete die Botschaft zusammen und steckte sie in die Umhangtasche. Er zögerte, dann streifte er sich das Medaillon um den Hals. »Ich frage mich, ob er weiß, was er da tut, einem der Kinder ein Artefakt zu geben, das gegen die Berührung einer Aes Sedai immun macht. Der Befehl ist gut. Ich sorge dafür, dass er ausgeführt wird.«

»Das schaffst du also?«, wollte Elayne wissen. »Frauen töten?«

»Einst hätte ich wohl gezögert, aber das wäre die falsche Entscheidung gewesen. Frauen sind genauso fähig zum Bösen wie Männer. Warum sollte man zögern, die einen zu töten, aber nicht die anderen? Das Licht richtet nicht nach dem Geschlecht, sondern nach dem Wert des Herzens.«

»Interessant.«

»Was ist daran interessant?«, wollte Galad wissen.

»Dass du tatsächlich einmal etwas gesagt hast, weswegen ich dich nicht auf der Stelle erwürgen will. Vielleicht besteht ja doch noch Hoffnung für dich, Galad Damodred.«

Er runzelte die Stirn. »Das hier ist weder der Ort noch die Zeit für leichtfertige Bemerkungen, Elayne. Du solltest dich um Gareth Bryne kümmern. Er erscheint sehr aufgebracht.«

Sie drehte sich um und sah überrascht, dass der betagte General mit ihren Leibwächtern sprach. »General?«, rief sie.

Bryne schaute auf, dann verneigte er sich steif im Sattel.

»Haben meine Wächter Euch aufgehalten?«, fragte Elayne, als er heranritt. Hatte sich etwa herumgesprochen, dass er unter Zwang stand?

»Nein, Euer Majestät«, erwiderte er. Sein Pferd war schweißbedeckt. Er hatte es hart angetrieben. »Ich wollte Euch nicht damit persönlich belästigen.«

»Etwas beunruhigt Euch«, sagte Elayne. »Heraus damit.«

»Euer Bruder – ist er hier?«

»Gawyn?« Sie warf Galad einen Blick zu. »Ich habe ihn nicht gesehen.«

»Ich auch nicht«, sagte Galad.

»Die Amyrlin war sich sicher, dass er bei Eurer Truppe ist …« Bryne schüttelte den Kopf. »Er ging los, um an der Front zu kämpfen. Vielleicht hat er sich ja verkleidet.«

Warum sollte er … Er war Gawyn. Er würde kämpfen wollen. Aber sich in Verkleidung zur Front zu schleichen schien ihm nicht ähnlichzusehen. Er würde allenfalls ein paar loyale Männer um sich scharen und einen Sturmangriff anführen. Aber sich unter andere Männer zu schmuggeln? Gawyn? Schwer vorstellbar.

»Ich lasse herumfragen«, sagte Elayne, während Galad eine Verbeugung andeutete und sich dann zurückzog, um zu seiner Mission aufzubrechen. »Vielleicht hat ihn ja einer meiner Befehlshaber gesehen.«


Ah …, dachte Mat die Nase so nahe an der Karte, dass er sie beinahe berührte. Dann winkte er und ließ die Damane Mika ein Tor öffnen. Er hätte nach oben auf den Dasharfels Reisen können, um sich einen Überblick zu verschaffen. Aber beim letzten Mal hatten ihn feindliche Machtlenker angegriffen und glatt einen Teil des Gipfels abgeschnitten; davon abgesehen erlaubte ihm der Dasharfels trotz seiner Höhe nicht, alles zu sehen, was unterhalb der Westseite der Polov-Anhöhe vor sich ging. Er eilte zur Seite, legte die Hände auf den Rand des Wegetors und musterte die Landschaft in der Tiefe.

Elaynes Linie am Fluss wurde zurückgedrängt. Sie hatten Bogenschützen zur rechten Flanke geschickt. Gut. Blut und verdammte Asche … diese Trollocs brachten beinahe die Wucht eines Kavallerieangriffs zustande. Er würde Elayne befehlen müssen, ihre Kavallerie hinter den Pikenformationen Aufstellung nehmen zu lassen.

Genau wie damals, als ich an den Wasserfällen von Pena gegen Sana Ashraf kämpfte. Schwere Kavallerie, berittene Bogenschützen, schwere Kavallerie, berittene Bogenschützen. Einer nach dem anderen. Taer’in dhai hochin dieb sene.

Mat konnte sich nicht daran erinnern, jemals von einer Schlacht so in Beschlag genommen worden zu sein. Der Kampf gegen die Shaido war nicht annähernd so fesselnd gewesen, allerdings hatte er da auch nicht die ganze Schlacht gelenkt. Der Kampf gegen den Seanchaner Elbar war ebenfalls nicht so zufriedenstellend gewesen. Natürlich hatte sich das alles in einem wesentlich kleineren Maßstab zugetragen.

Demandred verstand es zu spielen. Das verrieten Mat die Truppenbewegungen. Er spielte gegen einen der Besten, die je gelebt hatten, und dieses Mal bestand der Wetteinsatz nicht aus Geld. Sie würfelten um das Leben von Männern, und der endgültige Preis war die Welt selbst. Blut und verfluchte Asche, aber er fand das aufregend. Er fühlte sich schuldig deswegen, aber es war aufregend.

»Lan ist in Position«, sagte er, richtete sich auf und kehrte zu seinen Karten zurück, um sich etwas zu notieren. »Sagt ihm, er soll zuschlagen.«

Das Trolloc-Heer, das das Flussbett auf Höhe der Ruinen überquerte, musste zerschlagen werden. Die Grenzländer hatte er um die Anhöhe herumgeführt, um die verletzliche hintere Flanke der Tiermenschen anzugreifen, während Tam und seine kombinierten Streitkräfte weiterhin von vorn auf sie einschlugen. Tam hatte sie in großer Zahl getötet, bevor und nachdem der Fluss versiegt war. Diese Horde stand kurz vor ihrer Vernichtung, und eine koordinierte Aktion von beiden Seiten konnte das vollbringen.

Tams Männer würden erschöpft sein. Konnten sie lange genug durchhalten, bis Lan eintraf und den Kreaturen in den Rücken fiel? Beim Licht, er betete darum. Falls nicht …

Jemand verdunkelte den Eingang zum Befehlshaus, ein großer Mann mit dunklen Locken im Mantel eines Asha’man. Er trug den Ausdruck eines Mannes, der gerade ein Verliererblatt gezogen hatte. Licht! Selbst ein Trolloc hätte seinen Blick einschüchternd gefunden.

Min, die sich mit Tuon unterhalten hatte, brach mitten im Wort ab; Logain schien für sie einen besonders finsteren Blick übrigzuhaben. Mat richtete sich auf und klopfte sich die Hände ab. »Ich hoffe, Ihr habt die Wächter nicht zu schlimm zugerichtet, Logain.«

»Die Luftgewebe werden sich in ein paar Minuten von selbst auflösen«, sagte der Mann barsch. »Ich konnte mir nicht vorstellen, dass sie mich durchlassen.«

Mat warf Tuon einen Blick zu. Sie war so steif wie eine gestärkte Schürze geworden. Seanchaner vertrauten keinen Frauen, die die Macht lenken konnten, und erst recht nicht jemandem wie Logain.

»Logain«, sagte er. »Ich brauche Euch an der Seite der Weißen Burg. Diese Sharaner schlagen sie zu Brei.«

Logain trug mit Tuon ein Blickduell aus.

»Das ist nicht mein Krieg.«

»Das ist unser Krieg«, fauchte Mat. »Für jeden Einzelnen von uns.«

»Ich stand zum Kampf bereit«, erwiderte Logain. »Und wie wurde es mir gedankt? Fragt die Rote Ajah. Sie verraten Euch, welche Belohnung ein vom Muster missbrauchter Mann zu erwarten hat.« Er lachte bellend. »Das Muster verlangte einen Drachen! Also kam ich! Aber zu früh. Nur etwas zu früh.«

»Moment mal.« Mat trat zu ihm. »Ihr seid zornig, weil Ihr nicht der Drache sein konntet?«

»Es geht nicht um so kleinliche Dinge«, sagte Logain. »Ich folge dem Lord Drachen. Soll er sterben. Daran liegt mir nichts. Aber ich und die Meinen sollten an seiner Seite sein und nicht hier kämpfen. Diese Schlacht um die bedeutungslosen Leben von Männern ist nichts verglichen mit der Schlacht am Shayol Ghul.«

»Und doch wisst Ihr, dass wir Euch hier brauchen«, erwiderte Mat. »Sonst wärt Ihr schon längst gegangen.«

Logain schwieg.

»Geht zu Egwene. Sammelt jeden ein, den Ihr habt, und beschäftigt die sharanischen Machtlenker

»Was ist mit Demandred?«, fragte Logain leise. »Er verlangt nach dem Drachen. Er verfügt über die Kraft von einem Dutzend Männer. Keiner von uns kann ihm entgegentreten.«

»Und doch wollt Ihr es versuchen, oder? Darum seid Ihr eigentlich hier, jetzt in diesem Augenblick. Ihr wollt, dass ich Euch gegen Demandred schicke.«

Logain zögerte, dann nickte er. »Den Wiedergeborenen Drachen kann er nicht haben. Stattdessen wird er mit mir vorliebnehmen müssen. Der … Ersatz des Drachen, wenn man so will.«

Verfluchte Asche, die sind doch alle verrückt. Aber unglücklicherweise stand die Frage im Raum, was er sonst gegen einen der Verlorenen ausrichten sollte. Im Augenblick drehte sich sein Schlachtplan darum, Demandred beschäftigt zu halten und den Mann zu Reaktionen zu zwingen. Wenn er die Arbeit eines Generals erledigen musste, konnte er nicht so viel Schaden durch Machtlenken anrichten.

Mat würde sich wirklich etwas einfallen lassen müssen, um den Verlorenen auszuschalten. Er arbeitete daran. Schon die ganze verdammte Schlacht arbeitete er daran, und ihm war noch nichts eingefallen.

Wieder warf er einen Blick durch sein Wegetor. Elayne wurde viel zu sehr bedrängt. Er musste etwas unternehmen. Die Seanchaner ins Feld schicken? Er hatte sie am südlichen Ende des Feldes von Merrilor am Ufer des Erinin Aufstellung nehmen lassen. Sie würden für Demandred das Ass im Ärmel sein, das ihn daran hinderte, sämtliche Truppen in die Kämpfe zu entsenden. Davon abgesehen hatte er Pläne für sie. Wichtige Pläne.

Logain würde gegen Demandred nicht viel bewirken können, wenn er das richtig einschätzte. Aber er würde mit dem Asha’man irgendwie klarkommen müssen. Wenn Logain es versuchen wollte, dann sollte es eben so sein.

»Ihr dürft gegen ihn kämpfen«, sagte Mat. »Tut es jetzt oder wartet, bis er etwas geschwächt ist. Beim Licht, ich hoffe, wir können ihn schwächen. Aber wie dem auch sei, das überlasse ich Euch. Sucht Euch den richtigen Augenblick aus und greift an.«

Logain lächelte, dann webte er mitten im Raum ein Wegetor und schritt mit der Hand auf dem Schwertknauf hindurch. Genug Stolz, um der Wiedergeborene Drache zu sein, hatte er ja, das stand fest. Mat schüttelte den Kopf. Was würde er darum geben, um nichts mehr mit diesen ganzen Anführern zu tun haben zu müssen. Er mochte jetzt einer von ihnen sein, aber das konnte man wieder in Ordnung bringen. Dazu brauchte er bloß Tuon davon zu überzeugen, dem Thron zu entsagen und mit ihm durchzubrennen. Das würde nicht einfach werden, aber verdammte Asche, er schlug die Letzte Schlacht. Verglichen mit dieser Herausforderung schien Tuon ein Knoten zu sein, der sich spielerisch leicht öffnen ließ.

»Ruhmreich …«, flüsterte Min. »Das wird immer noch geschehen.«

»Jemand soll nach diesen Wächtern sehen«, sagte Mat und wandte sich wieder seinen Karten zu. »Tuon, wir sollten Euch vielleicht an einen anderen Ort bringen. Dieses Gebäude hier war nie sicher, und Logain hat das einmal mehr bewiesen.«

»Ich kann mich selbst verteidigen«, verkündete sie hochmütig.

Zu hochmütig. Er sah sie mit hochgezogener Braue an, und sie nickte.

Wirklich?, dachte er. Darum willst du dich streiten? Er war nicht davon überzeugt, dass der Spion das glauben würde. Eigentlich war der Grund zu fadenscheinig.

Sein Plan mit Tuon hatte vorgesehen, sich das zum Vorbild zu machen, was Rand einst mit Perrin gemacht hatte. Falls er ein Zerwürfnis mit den Seanchanern vortäuschen und Tuon dadurch ihre Truppen zurückziehen lassen konnte, würde der Schatten sie vielleicht ignorieren. Er brauchte dringend irgendeinen Vorteil.

Zwei Wächter traten ein. Nein, drei. Der eine Bursche war sehr unscheinbar. Mat schüttelte an Tuon gerichtet den Kopf und wandte sich wieder seinen Karten zu – da würden sie einen glaubwürdigeren Grund zum Streit brauchen.

Etwas an dem kleinen Wächter beschäftigte ihn. Sieht eher wie ein Diener als wie ein Soldat aus, dachte er. Er zwang sich aufzusehen, obwohl er sich nun wirklich nicht von irgendwelchen Dienern ablenken lassen sollte. Ja, da war der Bursche und stand nun neben seinem Tisch. Er verdiente wirklich keinerlei Aufmerksamkeit, obwohl er gerade ein Messer zückte.

Ein Messer.

Mat stolperte zurück, als der Graue Mann angriff, zückte selbst ein Messer und schrie auf, während Mika im selben Augenblick rief: »Die Macht wird gelenkt! In der Nähe!«


Min warf sich auf Fortuona, als die Wand des Befehlshauses plötzlich in Flammen stand. Sharaner in seltsamen Rüstungen aus golden lackierten Stahlbändern waren durch die brennende Öffnung zu sehen. Begleitet wurden sie von Machtlenkern mit tätowierten Gesichtern: Frauen in langen, steifen Kleidern, Männer mit bloßem Oberkörper und zerfetzten Hosen. Min nahm das alles mit einem Blick auf, bevor sie Fortuonas Thron umkippte.

Ein Feuerball schoss haarscharf an ihr vorbei, versengte ihr kostbares Seidengewand und verschlang die Wand hinter ihr. Fortuona wand sich aus ihrem Griff und kroch über den Boden; Min blinzelte überrascht. Die Frau hatte ihr bauschiges Gewand hinter sich gelassen – es war dazu gemacht, sie sofort freizugeben – und trug nun nur noch glatte Seidenhosen und ein eng anliegendes Hemd, beides schwarz.

Tuon kam mit einem Messer in der Hand wieder auf die Beine und knurrte leise auf eine beinahe raubtierhafte Weise. In der Nähe prallte Mat auf dem Boden auf, verkrallt in einen mit einem Messer bewaffneten Mann. Wo war dieser Angreifer bloß hergekommen? Min konnte sich nicht daran erinnern, ihn eintreten gesehen zu haben.

Tuon rannte zu Mat herüber, während die sharanischen Machtlenker das Befehlshaus mit Feuer bombardierten. Min kämpfte sich, von ihrem schrecklichen Gewand behindert, auf die Füße und duckte sich neben den Thron, drückte den Rücken dagegen, als sich der Boden aufbäumte.

Fortuona konnte sie nicht erreichen, also zwängte sie sich durch die hintere Wand, die aus dem papierähnlichen Zeug gefertigt war, das die Seanchaner Tenmi nannten.

Der Qualm ließ sie husten, aber jetzt, da sie draußen war, war die Luft doch klarer. Auf dieser Seite des Gebäudes war kein Sharaner zu sehen. Sie griffen alle von der anderen Richtung aus an. Min rannte an der Wand entlang. Machtlenker waren gefährlich, aber wenn es ihr gelang, einem ein Messer in den Leib zu rammen, würde die Eine Macht der ganzen Welt nicht helfen.

Sie warf einen Blick um die Ecke und wurde von dem dort knienden Mann überrascht, der einen wilden Ausdruck in den Augen hatte. Seine Züge waren ebenmäßig, die blutroten Tätowierungen am Hals sahen wie Krallen aus, die den hellhäutigen Kopf zu halten schienen.

Er knurrte, und Min warf sich rückwärts zu Boden, wich einem Flammenspeer aus und schleuderte ihr Messer.

Der Mann fing es aus der Luft. Wie ein Tier schlich er in der Hocke auf sie zu und lächelte sie an.

Dann zuckte er unvermittelt und kippte um. Blut rann aus seinen Mundwinkeln.

»Das ist etwas«, sagte eine Frau mit tiefem Ekel in der Stimme, »dessen Anwendung ich eigentlich gar nicht wissen dürfte, aber mit der Einen Macht ein Herz anzuhalten ist lautlos. Dazu braucht man überraschenderweise nur sehr wenig Macht, was praktisch für mich ist.«

»Siuan!«, sagte Min. »Ihr dürftet gar nicht hier sein.«

Die Aes Sedai schnaubte. »Ein Glück für Euch, dass ich es bin.« Geduckt untersuchte sie den Toten. »Pfui. Ein hässliches Geschäft, aber wenn man einen Fisch essen will, sollte man auch bereit sein, ihn selbst auszunehmen. Was ist denn los, Mädchen? Ihr seid jetzt in Sicherheit. Kein Grund, so blass auszusehen.«

»Ihr solltet nicht hier sein!«, stieß Min hervor. »Das habe ich Euch doch gesagt. Bleibt in der Nähe von Gareth Bryne!«

»Ich bin in seiner Nähe geblieben, fast so nahe an ihm dran wie seine Unterwäsche, wenn Ihr es unbedingt wissen müsst. Darum haben wir einander das Leben gerettet, also gehe ich davon aus, dass die Vision richtig war. Haben sie sich jemals nicht erfüllt?«

»Nein, das habe ich Euch doch gesagt«, flüsterte Min. »Niemals. Siuan … Ich sah eine Aura um Bryne, die besagte, dass ihr zusammenbleiben müsst, oder Ihr werdet beide sterben. In diesem Augenblick hängt sie über Euch. Was auch immer Ihr glaubt, die Vision hat sich noch nicht vollständig erfüllt. Sie ist noch immer da.«

Einen Augenblick lang stand Siuan wie erstarrt da. »Cauthon ist in Gefahr.«

»Aber …«

»Es ist mir egal, Mädchen!« In der Nähe erbebte der Boden durch die Eine Macht. Die Damane schlugen zurück. »Wenn Cauthon fällt, ist diese Schlacht verloren. Es ist mir egal, ob wir beide dabei sterben. Wir müssen helfen. Bewegt Euch!«

Min nickte und schloss sich ihr an, als sie um das verwüstete Gebäude eilten. Der Kampf an der Vorderseite war eine wilde Mischung aus Explosionen, Rauch und Flammen. Totenwächter stürzten mit gezogenen Schwertern den Sharanern entgegen, obwohl die Gefährten an ihrer Seite gnadenlos niedergemacht wurden. Zumindest hielt das die Machtlenker beschäftigt.

Das Befehlshaus brannte mit solcher Hitze, dass Min zurückweichen musste und schützend den Arm hob.

»Einen Moment«, sagte Siuan, dann zog sie mithilfe der Einen Macht eine kleine Wassersäule aus einem in der Nähe stehenden Fass und besprühte sie beide. »Ich versuche den Flammen Einhalt zu gebieten.« Sie lenkte die Wassersäule auf den Bau. »Gut. Gehen wir.«

Min nickte und sprang durch die lodernden Flammen, Siuan an ihrer Seite. Im Inneren brannten mittlerweile sämtliche Tenmi-Wände und lösten sich rasend schnell in ihre Bestandteile auf. Von der Decke tropfte Feuer.

»Da«, sagte Min und blinzelte die von der Hitze und dem Qualm verursachten Tränen fort. Sie zeigte auf dunkle Gestalten, die ungefähr in der Mitte des Raumes neben Mats brennendem Kartentisch kämpften. Eine Gruppe aus drei oder vier Leuten schien gegen Mat zu kämpfen. Beim Licht, es waren alles Graue Männer – nicht nur einer! Tuon lag am Boden.

Min rannte an der Leiche einer Sul’dam vorbei, die neben mehreren ebenfalls toten Wächtern lag. Siuan riss einen der Grauen Männer mit der Einen Macht von Mat fort. Im Feuerlicht warfen die Leichen der Wächter Schatten auf den Boden. Eine Damane lebte noch; völlig verängstigt kauerte sie in der Ecke. Ihre Leine lag auf dem Boden. Ein Stück entfernt lag ihre Sul’dam reglos da. Anscheinend war sie zur Seite geschleudert worden, und dann hatte man sie getötet, als sie zurück zu ihrer Damane wollte.

»Tut etwas!«, brüllte Min das Mädchen an und packte es am Arm.

Schluchzend schüttelte die Damane den Kopf.

»Seid verflucht!«, stieß Min hervor.

Die Gebäudedecke ächzte. Min rannte in Mats Richtung. Ein Grauer Mann war tot, aber da waren noch zwei andere in der Uniform seanchanischer Wächter. Min fiel es schwer, die Lebenden auszumachen; sie waren auf jede Weise übertrieben unauffällig. Völlig nichtssagend.

Mat stieß einen Schrei aus und stach nach dem Angreifer, aber er hatte seinen Speer nicht zur Hand. Min hatte keine Ahnung, wo er war. Leichtsinnig warf sich Mat nach vorn und trug einen Schnitt an der Seite davon. Warum?

Tuon, wurde Min schlagartig klar, und sie blieb ruckartig stehen. Ein Grauer Mann kniete über ihrer reglosen Gestalt, hob den Dolch und …

Min warf.

Ein paar Fuß von Tuon entfernt stürzte Mat zu Boden; der letzte Graue Mann hielt sein Bein fest. Mins Klinge wirbelte im Feuerschein funkelnd durch die Luft und bohrte sich in die Brust des Grauen Mannes, der sich über die Kaiserin beugte.

Min atmete aus. Noch nie zuvor in ihrem Leben hatte es sie so erleichtert, sehen zu können, wie ein Messer sein Ziel fand. Mat fluchte, wand sich, trat seinem Gegner ins Gesicht. Er ließ ein Messer folgen, dann eilte er zu Tuon und warf sie sich über die Schulter.

Min sprang an seine Seite. »Siuan ist auch hier. Sie …«

Mat streckte bloß die Hand aus. Siuan lag auf dem Boden. Ihre Augen starrten blicklos zur Decke, und sämtliche Bilder über ihrem Kopf waren verschwunden.

Sie war tot. Min erstarrte, und eine Faust schien ihr Herz zerquetschen zu wollen. Siuan! Trotzdem stürzte sie zu der Frau, denn sie wollte einfach nicht glauben, dass sie tot war, obwohl ihr Kleid durch die Explosion brannte, die sie und die Hälfte der Wand neben ihr erwischt hatte.

»Raus!«, stieß Mat hustend hervor. Mit Tuon über dem Arm warf er sich gegen eine Wand, die erst zur Hälfte verbrannt war, und taumelte an die frische Luft.

Min stöhnte. Sie ließ Siuans Leiche zurück und blinzelte Tränen vom Rauch und der Trauer fort. Hustend folgte sie Mat nach draußen. Die Luft schmeckte so süß, so kalt. Hinter ihnen ächzte das Gebäude und stürzte dann ein.

Wenige Augenblicke später waren Mat und Min von Angehörigen der Totenwache umgeben. Nicht einer versuchte, Mat die Kaiserin abzunehmen – die noch immer atmete, wenn auch flach. Dem Ausdruck in seinen Augen nach zu urteilen, bezweifelte Min ohnehin, dass sie das geschafft hätten.

Leb wohl, Siuan, dachte Min und schaute zurück, während die Wächter sie vom Kampf am Dasharfels fortbrachten. Möge der Schöpfer deine Seele aufnehmen.

Sie würde eine Botschaft zu den anderen schicken, um Bryne vor sich selbst zu beschützen, aber tief in ihrem Inneren wusste sie, dass das sinnlos sein würde. Im Augenblick von Siuans Tod würde er in blindwütige Tobsucht verfallen sein, und selbst wenn man das nicht in Betracht zog, war da noch immer ihre Vision.

Sie irrte sich nie. Manchmal hasste sie ihre Genauigkeit. Aber sie irrte sich nie.


»Kämpft ihre Gewebe nieder«, brüllte Egwene. »Ich greife an!«

Sie wartete nicht ab, um zu sehen, ob man ihr gehorchte. Sie schlug zu und hielt so viel Macht, wie sie nur konnte, zog sie durch Voras Sa’angreal in sich hinein und schleuderte drei verschiedene Feuerkreise den Hang hinauf auf die sich verschanzenden Sharaner.

Um sie herum rang Brynes gut ausgebildete Truppe darum, ihre Linie angesichts des feindlichen Widerstands zu halten, und kämpfte sich den Westhang der Anhöhe hinauf. Die Steigung war mit Hunderten Furchen und Löchern übersät, die die Machtstränge beider Seiten in den Boden gesprengt hatten.

Verzweifelt kämpfte sich Egwene nach vorn. Irgendwo dort oben konnte sie Gawyn fühlen, aber sie hielt ihn für bewusstlos; sein Lebensfunken war so schwach, dass sie kaum die Richtung bestimmen konnte. Ihre einzige Hoffnung bestand darin, sich durch die Sharaner kämpfen zu können und ihn zu erreichen.

Der Boden erbebte, als sie eine Sharanerin verdampfte; Saerin, Doesine und andere Schwestern waren vollauf damit beschäftigt, die feindlichen Machtangriffe abzuwehren, während sie sich auf den Angriff konzentrierte. Sie trat vor. Einen Schritt nach dem anderen.

Ich komme, Gawyn, dachte sie und klammerte sich mit aller Kraft an ihre Beherrschung. Ich bin gleich da.


»Wir kommen, um zu berichten, Wyld.«

Demandred ignorierte den Boten erst einmal. Er flog mit den Schwingen eines Falken und betrachtete die Schlacht durch die Vogelaugen. Raben waren besser, aber jedes Mal, wenn er es mit einem versuchte, schoss ihn ein Grenzländer ab. Von all den Bräuchen, die die Zeitalter in der Erinnerung überstanden hatten, warum musste es ausgerechnet dieser sein?

Egal. Ein Falke ließ sich ebenfalls einsetzen, selbst wenn sich der Vogel seinem Zugriff widersetzte. Er lenkte ihn über das Schlachtfeld, inspizierte Formationen, den Aufmarsch zur Front, den Vormarsch einzelner Truppenteile. Er brauchte sich nicht auf die Berichte von anderen zu verlassen.

Es hätte ein beinahe unüberwindlicher Vorteil sein sollen. Lews Therin konnte kein Tier benutzen; dieses Geschenk konnte allein die Wahre Macht gewähren. Demandred konnte nur ein kleines Rinnsal der Wahren Macht lenken – nicht genug für zerstörerische Gewebe, aber es gab viele Möglichkeiten, um gefährlich zu sein. Leider verfügte Lews Therin über andere Vorteile. Wegetore, die auf das Schlachtfeld blickten? Es war schon beunruhigend, was die Menschen dieses Zeitalters entdeckten, Dinge, die im Zeitalter der Legenden nicht bekannt gewesen waren.

Demandred öffnete die Augen und unterbrach die Verbindung zu dem Falken. Seine Streitkräfte gewannen an Boden, aber jeder Schritt stellte eine schreckliche Tortur dar. Zehntausende Trollocs waren getötet worden. Er musste vorsichtig sein; ihre Zahl war nicht unbegrenzt.

Im Augenblick stand er auf der Ostseite des Plateaus und schaute auf den Fluss hinab, nordöstlich von der Stelle, an der Lews Therins Meuchelmörder versucht hatte, ihn zu töten.

Hier stand er fast genau dem Hügel auf der anderen Flussseite gegenüber, den man laut Moghedien Dasharfels nannte. Die Felsformation ragte hoch in die Luft. Ihr Fuß war gut für einen Kommandoposten geeignet, denn er war dort vor Angriffen mit der Einen Macht geschützt.

Es war so verlockend, hier selbst zuzuschlagen, einfach dorthin zu Reisen und alles in Schutt und Asche zu legen. Aber war es nicht genau das, was Lews Therin wollte? Demandred würde gegen den Mann kämpfen. Das würde er. Aber mitten in die Festung des Feindes zu Reisen und damit in eine mögliche Falle, die auch noch von diesen hohen Felswänden umgeben war … es war besser, Lews Therin zu sich zu locken. Er beherrschte dieses Schlachtfeld. Er würde entscheiden, wann es zu dieser Konfrontation kam.

Der Fluss war zu einem schlammigen Tröpfeln versiegt, und seine Trollocs versuchten das Südufer zu erobern. Im Augenblick hielten die Verteidiger noch stand, aber es würde bald ihnen gehören. Weit flussaufwärts hatte M’Hael gute Arbeit geleistet und das Wasser umgeleitet, aber er war auf ungewöhnlichen Widerstand gestoßen. Städter und eine kleine Abteilung Soldaten? Eine Merkwürdigkeit, die er noch nicht ergründet hatte.

Beinahe hatte er M’Hael eine Niederlage gewünscht. Auch wenn er den Mann einst selbst rekrutiert hatte, hatte er nicht damit gerechnet, dass M’Hael so schnell in die Ränge der Auserwählten aufsteigen würde.

Demandred drehte sich um. Drei Frauen in Schwarz mit weißen Schleifen verneigten sich. Neben ihnen stand Shendla.

Shendla. Er hatte geglaubt, das Interesse für Frauen schon lange hinter sich gelassen zu haben – wie konnte Zuneigung neben der brennenden Leidenschaft bestehen, die sein Hass auf Lews Therin war? Und doch, Shendla … verschlagen, fähig, mächtig. Es reichte beinahe schon aus, um seine Meinung zu ändern.

»Euer Bericht?«, fragte er die drei sich verbeugenden Frauen in Schwarz.

»Die Jagd ist gescheitert«, sagte Galbrait mit tief gesenktem Kopf.

»Er ist entkommen?«

»Ja, Wyld. Ich habe Euch enttäuscht.« Er hörte den Schmerz in der Stimme der Frau. Sie war die Anführerin der weiblichen Ayyad.

»Ihr solltet ihn nicht töten«, sagte Demandred. »Er ist ein Gegner, der Euch überlegen ist. Ihr habt seine Kommandostellung zerstört?«

»Ja«, sagte Galbrait. »Wir töteten ein halbes Dutzend seiner Machtlenker, zündeten das Gebäude an und zerstörten seine Karten.«

»Lenkte er die Macht? Hat er sich verraten?«

Sie zögerte, dann schüttelte sie den Kopf.

Also konnte er nicht mit Sicherheit wissen, ob dieser Cauthon der verkleidete Lews Therin war. Demandred vermutete es, aber es gab Berichte vom Shayol Ghul, dass man Lews Therin am Berg gesehen hatte. In der Letzten Schlacht hatte er sich schon bei anderer Gelegenheit als verschlagen erwiesen, hatte die Schlachtfelder gewechselt und sich hier und dort gezeigt.

Je länger Demandred gegen den feindlichen General kämpfte, umso mehr wuchs seine Überzeugung, dass Lews Therin auf jeden Fall hier an diesem Ort war. Es hätte seinem Feind sehr ähnlichgesehen, zur Täuschung einen Stellvertreter nach Norden zu schicken, während er herkam und die Schlacht selbst führte. Er hatte immer alles selbst erledigen wollen, führte in jede Schlacht persönlich – wenn er konnte, selbst jeden Sturmangriff.

Ja … wie war das Geschick des feindlichen Generals sonst zu erklären? Nur ein Mann mit Erfahrung eines Uralten beherrschte den Tanz der Schlachtfelder so meisterhaft. Im Kern waren viele Schlachttaktiken ganz einfach. Vermeide offene Flanken, begegne starken Verbänden mit Piken, Infanterie mit einer gut ausgebildeten Schlachtenreihe, Machtlenkern mit anderen Machtlenkern. Aber die nötige Finesse … die kleinen Einzelheiten … sie zu meistern brauchte Jahrhunderte. Kein Mann aus diesem Zeitalter hatte lange genug gelebt, um die Details so gut lernen zu können.

Im Krieg der Macht war Demandred nur in einer Sache besser als sein Freund gewesen, und zwar als General. Das zugeben zu müssen schmerzte, aber er würde sich nicht länger vor dieser Wahrheit verstecken. Lews Therin war in der Einen Macht stärker gewesen. Lews Therin war besser darin gewesen, die Herzen der Menschen zu gewinnen. Lews Therin hatte sich Ilyena genommen.

Aber er … er war im Krieg der Bessere gewesen. Lews Therin hatte niemals das Gleichgewicht zwischen Vorsicht und Kühnheit vernünftig ausbalancieren können. Der Mann hielt sich zurück und überdachte alles, quälte sich mit seinen Entscheidungen, um dann tollkühn vorzupreschen.

Falls dieser Cauthon Lews Therin war, dann war der Mann darin viel besser geworden. Der feindliche General wusste, wann man eine Münze werfen und das Schicksal seinen Lauf nehmen lassen musste, ließ aber nicht zu viel von dem Ergebnis abhängen. Er hätte einen ausgezeichneten Kartenspieler abgegeben.

Natürlich würde Demandred ihn trotzdem besiegen. Die Schlacht würde bloß … interessanter sein.

Er legte die Hand auf den Schwertgriff und überdachte, was er noch vor Augenblicken vom Schlachtfeld gesehen hatte. Seine Trollocs griffen weiterhin die Uferböschung an, und Lews Therin hatte ihnen seine Pikenmänner gegenüber aufgestellt, und zwar in disziplinierten rechteckigen Formationen, ein defensiver Zug. Hinter ihm kündeten die Donnerschläge der Machtlenker von dem eigentlichen Krieg, dem zwischen seinen sharanischen Ayyad und den Aes Sedai.

Hier war er im Vorteil. Seine Ayyad beherrschten das Kriegshandwerk viel besser als die Aes Sedai. Wann würde Cauthon endlich diese Damane in den Kampf schicken? Moghedien hatte von Spannungen zwischen ihnen und den Aes Sedai berichtet. Konnte er diesen Zwist irgendwie verstärken?

Er gab Befehle, und die drei Ayyad zogen sich zurück. Shendla blieb und wartete auf seine Erlaubnis, sich zurückziehen zu dürfen. Er hatte sie die nähere Umgebung auskundschaften und nach weiteren Attentätern suchen lassen.

»Macht Ihr Euch Sorgen?«, fragte er sie. »Ihr wisst jetzt, für welche Seite wir kämpfen. Soweit ich weiß, habt Ihr Euch nicht dem Schatten verschworen.«

»Ich habe mich Euch verschworen, Wyld.«

»Und für mich kämpft Ihr an der Seite von Trollocs? Halbmenschen? Kreaturen aus Albträumen?«

»Ihr habt gesagt, so mancher würde Eure Taten als böse bezeichnen«, erwiderte sie. »Aber ich betrachte sie nicht so. Unser Weg ist klar. Sobald Ihr siegreich seid, werdet Ihr die Welt neu erschaffen, und unser Volk wird überleben.« Sie nahm seine Hand, und etwas regte sich in ihm. Sein Hass erstickte es schnell wieder.

»Ich würde das alles wegwerfen«, sagte er und blickte ihr in die Augen. »Alles für die Gelegenheit, mit Lews Therin persönlich zu kämpfen.«

»Ihr habt versprochen, es zu versuchen. Das reicht. Und wenn Ihr ihn vernichtet, vernichtet Ihr eine Welt und bewahrt eine andere. Ich werde Euch folgen. Wir werden Euch folgen.«

Ihr Tonfall schien anzudeuten, dass er vielleicht wieder sein eigener Mann werden konnte, sobald Lews Therin tot war.

Er war sich da nicht sicher. Die Herrschaft interessierte ihn nur insoweit, als er sie gegen seinen alten Feind benutzen konnte. Die treu ergebenen und gläubigen Sharaner waren nur ein Werkzeug. Aber etwas in ihm wünschte sich, dass es nicht so war. Das war neu. Ja, das war es.

In der Nähe verzerrte sich die Luft. Gewebe waren keine zu sehen – hier wurde das Gefüge des Musters zerrissen. Reisen mit der Wahren Macht. M’Hael war eingetroffen.

Demandred drehte sich um, und Shendla ließ seinen Arm los, blieb aber an seiner Seite. Man hatte M’Hael Zugang zur Substanz des Großen Herrn gewährt. Das erfüllte Demandred nicht mit Eifersucht. M’Hael war bloß ein weiteres Werkzeug. Trotzdem stimmte es ihn nachdenklich. Blieb heutzutage überhaupt noch jemandem die Wahre Macht verwehrt?

»Ihr werdet den Kampf bei den Ruinen verlieren, Demandred«, verkündete M’Hael mit einem arroganten Lächeln. »Eure Trollocs werden vernichtet. Ihr wart dem Feind zahlenmäßig gewaltig überlegen, und doch werden sie Euch besiegen! Angeblich seid Ihr unser größter General, und doch verliert Ihr gegen diesen Abschaum? Ich bin enttäuscht.«

Demandred hob beiläufig zwei Finger.

M’Hael zuckte, als zwei Dutzend in der Nähe stehende sharanische Machtlenker Abschirmungen zwischen ihn und die Eine Macht rammten. Sie fesselten ihn mit Luft und rissen ihn zurück. Er wehrte sich, und die die Luft verzerrende Aura der Wahren Macht hüllte ihn ein, aber Demandred war schneller. Er webte eine Abschirmung der Wahren Macht, formte sie aus den brennenden Fäden von Geist.

Die Fäden erzitterten in der Luft. Ein jeder von ihnen war mit Widerhaken aus sich windenden Energiesträngen versehen, die so klein waren, dass ihre Enden im Nichts verschwanden. Die Wahre Macht war so explosiv, so gefährlich. Eine daraus geschaffene Abschirmung hatte eine seltsame Wirkung, sog die Kraft desjenigen auf, der sie zu lenken versuchte.

Demandreds Abschirmung stahl M’Haels Macht und benutzte den Mann wie einen Kanal. Er sammelte die Wahre Macht und webte sie über seiner Hand zu einer knisternden Kugel aus reiner Macht. Allein M’Hael würde sie wahrnehmen können, und die so stolz blickenden Augen des Mannes weiteten sich, als Demandred ihn einfach leer saugte.

Es war einem Zirkel nicht unähnlich. Der Entzug der Energie ließ M’Hael zittern und schwitzen, während er von den Geweben von Demandreds Ayyad festgehalten wurde. Unkontrolliert konnte dieser Fluss M’Hael ausbrennen – konnte mit dem Strom der Wahren Macht, der sich wie ein über die Ufer getretener Fluss verhielt, seine Seele häuten. Das sich windende Fadenknäuel in Demandreds Hand pulsierte knisternd und verformte die Luft, fing an, das Muster aufzulösen.

Vor ihm fraßen sich winzige, spinnennetzartige Risse in den Boden. Spalten ins Nichts.

Er trat an M’Hael heran. Der Mann verfiel in einen Krampfanfall, Schaum tropfte von seinen Lippen.

»Ihr hört mir jetzt zu, M’Hael«, sagte Demandred leise. »Ich bin nicht wie die anderen Auserwählten. Ich interessiere mich nicht im Mindesten für Eure politischen Spielchen. Es ist mir völlig egal, wer von euch die Gunst des Großen Herrn besitzt, wem von euch Moridin den Kopf tätschelt. Ich interessiere mich allein für Lews Therin.

Das ist mein Kampf. Ihr gehört mir. Ich habe Euch zum Schatten gebracht, und ich kann Euch vernichten. Wenn Ihr mir in die Quere kommt, lösche ich Euch aus wie eine Kerze. Mir ist klar, dass Ihr Euch für stark haltet mit Euren gestohlenen Schattenlords und unausgebildeten Machtlenkern. Aber Ihr seid ein Kind, ein Säugling. Nehmt Eure Männer, schafft so viel Chaos, wie Ihr wollt, aber steht mir nicht im Weg. Und haltet Euch von meinem Preis fern. Der feindliche General gehört mir.«

Obwohl ihn sein Körper durch sein Zittern verriet, loderte in M’Haels Augen bloß Hass und keine Furcht. Ja, der da war immer vielversprechend gewesen.

Demandred drehte die Hand und schleuderte mit der gesammelten Wahren Macht einen Strom Baalsfeuer. Der glühend heiße Strich aus brodelnder Zerstörung brannte sich durch die Heere am Fluss dort unten und löste jeden Mann und jede Frau auf, den er berührte. Ihre Gestalten verwandelten sich in flirrende Lichtpunkte, dann zu Staub; Hunderte von ihnen verschwanden einfach. Er hinterließ eine lange Linie aus verbranntem Boden, der wie ein mit einem gewaltigen Schlachterbeil gehauener Spalt aussah.

»Lasst ihn los«, sagte Demandred und erlaubte der Abschirmung aus Wahrer Macht, sich aufzulösen.

M’Hael taumelte zurück, schaffte es aber, auf den Beinen zu bleiben. Sein Gesicht war schweißüberströmt. Keuchend hob er eine Hand zur Brust.

»Bleibt während dieser Schlacht am Leben«, sagte Demandred zu ihm, wandte sich ab und fing an, die Stränge zu weben, die seinen Falken wieder herbeibefahlen. »Wenn Euch das gelingt, zeige ich Euch vielleicht, wie das geht, was ich gerade gemacht habe. Vielleicht glaubt Ihr jetzt, mich töten zu wollen, aber Ihr solltet wissen, dass der Große Herr uns beobachtet. Davon abgesehen bedenkt dies. Ihr mögt hundert von Euren zahmen Asha’man haben. Ich habe über vierhundert Ayyad. Ich bin der Retter dieser Welt.«

Als er wieder zurücksah, war M’Hael verschwunden, war mit der Wahren Macht Gereist. Es war erstaunlich, dass er nach dem, was Demandred mit ihm gemacht hatte, dazu noch die nötige Kraft hatte. Er hoffte, dass er den Mann nicht töten musste. Er würde sich noch als nützlich erweisen.


AM ENDE SIEGE ICH.

Rand stand aufrecht vor dem tosenden Wind, obwohl seine Augen tränten, als er in die Finsternis starrte. Wie lange befand er sich nun schon an diesem Ort? Tausend Jahre? Zehntausend?

Im Augenblick beschäftigte ihn nur der Widerstand. Er würde sich diesem Wind nicht beugen. Er würde nicht einmal für den Bruchteil eines Herzschlages nachgeben.

ENDLICH IST DIE ZEIT GEKOMMEN.

»Zeit bedeutet dir nichts«, sagte Rand.

Das war die Wahrheit, aber sie war es wiederum auch nicht. Rand konnte die um ihn herumwirbelnden Fäden sehen, die das Muster bildeten. Und während es Gestalt annahm, sah er unter sich die Schlachtfelder. Die von ihm geliebten Menschen kämpften um ihr Leben. Das waren keine potenziellen Möglichkeiten; das war die Wahrheit, das geschah tatsächlich.

Der Dunkle König schlängelte sich um das Muster; er konnte es nicht nehmen und zerstören, dazu war er nicht imstande, aber er konnte es berühren. Aus Finsternis bestehende Ranken, Stacheln drangen überall in die Welt ein. Der Dunkle König lag wie ein Schatten auf dem Muster.

Aber wenn er es berührte, existierte die Zeit auch für ihn. Und obwohl sie auf ihn selbst keinen Einfluss hatte – oder vielmehr es, denn der Dunkle König hatte kein Geschlecht –, konnte er sein Werk nur innerhalb ihrer Grenzen verrichten. So wie ein … Bildhauer, der zwar großartige Visionen und Träume hatte, der aber noch immer von der Realität des Materials abhängig war, mit dem er arbeitete.

Rand starrte das Muster an und widerstand dem Angriff des Dunklen Königs. Er regte sich nicht, atmete auch nicht. Hier war kein Atem nötig.

Unten starben Menschen. Er hörte ihre Schreie. So viele fielen in der Schlacht.

AM ENDE SIEGE ICH, WIDERSACHER. SIEH ZU, WIE SIE SCHREIEN. SIEH ZU, WIE SIE STERBEN.

DIE TOTEN GEHÖREN MIR.

»Lügen«, sagte Rand.

NEIN. ICH ZEIGE ES DIR.

Der Dunkle König wirbelte erneut die potenziellen Möglichkeiten durcheinander, sammelte das, was sein konnte, und stieß Rand in eine weitere Vision.


Juilin Sandar war kein Offizier. Er war Diebefänger, kein Adliger. Ganz bestimmt kein Adliger. Er arbeitete auf eigene Rechnung.

Aber anscheinend galt das nicht länger, seit er auf einem Schlachtfeld gelandet war und den Befehl über eine Abteilung Männer erhalten hatte, weil er als Diebefänger gefährliche Verbrecher geschnappt hatte. Die Sharaner schlugen auf seine Männer ein, zielten auf die Aes Sedai. Sie kämpften am Westhang, und die Aufgabe seiner Kompanie bestand darin, die Aes Sedai vor der sharanischen Kavallerie zu beschützen.

Aes Sedai. Wie war er nur in deren Angelegenheiten verstrickt worden? Ausgerechnet er, ein anständiger Tairener.

»Die Stellung halten!«, rief Juilin seinen Männern zu. »Haltet durch!« Er rief es auch für sich selbst. Seine Abteilung klammerte sich an ihre Piken und Speere und zwang die sharanische Kavallerie rückwärts den Hang hinauf. Er war sich nicht sicher, warum er hier war oder warum sie in diesem Abschnitt kämpften. Er wollte bloß am Leben bleiben!

Die Sharaner brüllten und fluchten in einer fremden Sprache. Sie verfügten über viele dieser Machtlenker, aber er stand hier regulären Truppen gegenüber, die die verschiedensten Handwaffen benutzten, hauptsächlich Schwerter und Schilde. Der Boden war mit Leichen übersät, was beiden Seiten den Kampf erschwerte. Juilin und seine Männer befolgten ihre Befehle und stemmten sich gegen die Sharaner, während sich die Aes Sedai und die feindlichen Machtlenker mit der Einen Macht bekämpften.

Juilin kämpfte mit einem Speer, eine Waffe, mit der er nur oberflächlich vertraut war. Eine Abteilung gepanzerter Sharaner erzwang sich einen Weg zwischen Myks und Charns Piken. Die Offiziere trugen Harnische und waren auf seltsame Weise in verschiedenfarbige Stoffe gehüllt, während das Fußvolk mit Metallstreifen verstärktes Leder trug. Sie alle hatten seltsame Muster auf den Rücken gemalt.

Der Anführer der feindlichen Truppe schwang einen bösartig aussehenden Streitkolben und erschlug einen Pikenmann, dann noch einen. Der Mann schleuderte Juilin Flüche entgegen, die er nicht verstand.

Juilin fintierte, und der Sharaner riss den Schild hoch, also rammte er den Speer in die Lücke zwischen Harnisch und Arm. Beim Licht, der Gegner zuckte nicht einmal zusammen. Er schlug den Schild gegen Juilin und zwang ihn zurück.

Der Speer entglitt Juilins verschwitzten Fingern. Fluchend griff er nach seinem Schwertbrecher, einer Waffe, die er gut kannte. Myk und die anderen kämpften in der Nähe mit dem Rest der sharanischen Abteilung. Charn wollte Juilin helfen, aber der verrückte Sharaner ließ seinen Streitkolben auf seinen Kopf niedersausen – und zertrümmerte ihn wie eine Walnuss.

»Stirb, du verdammtes Ungeheuer!«, brüllte Juilin, sprang vor und rammte dem Mann den Schwertbrecher direkt oberhalb der Halsberge in den Hals. Andere Sharaner eilten auf seine Position zu. Juilin fiel zurück, als der Mann vor ihm zusammenbrach und starb. Gerade rechtzeitig, denn ein feindlicher Soldat zu seiner Linken versuchte ihm den Kopf abzuschlagen. Die Schwertspitze pfiff an seinem Ohr vorbei, und Juilin hob instinktiv seine Klinge und hebelte. Die Waffe des Feindes zerbrach, und er erledigte ihn schnell, indem er ihm mit der Parade den Hals aufschlitzte.

Juilin beeilte sich, seinen Speer aufzuheben. In der Nähe stürzten Feuerbälle zu Boden, Angriffe der Aes Sedai hinter ihnen und der Sharaner auf dem Hang vor ihnen. Erde klebte in Juilins Haaren und auf dem Blut auf seinen Armen.

»Haltet die Stellung!«, rief er seinen Männern zu. »Verflucht, wir müssen sie halten!«

Er griff einen weiteren Gegner an, der auf ihn zukam. Einer der Pikenmänner hob rechtzeitig die Waffe, um die Schulter des Mannes zu treffen, und Juilin durchbohrte seine lederumhüllte Brust.

Die Luft erbebte. Seine Ohren dröhnten von den vielen Explosionen. Juilin zog sich zurück, brüllte seinen Männern Befehle zu.

Er sollte gar nicht hier sein. Er sollte an irgendeinem warmen Ort sein, zusammen mit Amathera, über den nächsten Verbrecher nachdenken, den er fangen musste.

Vermutlich dachte jeder Mann auf dem Feld, dass er eigentlich an einem ganz anderen Ort hätte sein müssen. Ihnen blieb nichts anderes übrig, als weiterzukämpfen.


Schwarz steht Euch, meinte Androl zu Pevara, als sie sich in dem feindlichen Heer auf der Anhöhe bewegten.

Das ist etwas, erwiderte sie, das man niemals, aber auch wirklich niemals zu einer Aes Sedai sagen sollte. Niemals.

Seine einzige Antwort bestand aus Nervosität, die durch den Bund kam. Pevara begriff. Sie trugen die Umgedrehten Gewebe der Spiegelmaske und gingen an Schattenfreunden, Schattengezücht und Sharanern vorbei. Und es funktionierte. Pevara hatte ein weißes Kleid mit einem schwarzen Umhang an – das war kein Gewebe –, aber wer einen Blick unter die Kapuze warf, hätte das Gesicht von Alviarin gesehen, einer Angehörigen der Schwarzen Ajah. Theodrin trug das Gesicht von Rianna.

Androls und Emarins Gewebe gaben ihnen das Aussehen von Nensen und Kash, zwei von Taims Handlangern. Jonneth hatte gar keine Ähnlichkeit mehr mit sich selbst und zeigte das Gesicht irgendeines Schattenfreundes, und er spielte die Rolle gut, schlich hinter ihnen her und schleppte ihre Ausrüstung. Diesen falkengesichtigen Mann mit den fettigen Haaren und dem fahrigen Benehmen hätte man niemals für den freundlichen Burschen aus den Zwei Flüssen gehalten.

Sie schritten zügig vorbei an den hinteren Linien der Armee des Schattens. Trollocs schleppten Pfeilbündel zur Front; andere verließen die Linien, um sich an Leichenstapeln vollzustopfen. Da und dort brodelten Kochtöpfe. Das schockierte Pevara. Sie machten eine Pause, um zu fressen? Jetzt?

Nur ein paar von ihnen, dachte Androl. So läuft das auch in den menschlichen Heeren ab, obwohl es diese Augenblicke nie in die Balladen schaffen. Die Schlacht hat den ganzen Tag gedauert, und Soldaten brauchen Kraft für den Kampf. Normalerweise wechseln sich drei Gruppen ab. Die Frontlinien, die Reserve und die Dienstfreien – Truppen, die sich vom Kampf zurückziehen und eine schnelle Mahlzeit herunterschlingen, bevor sie einen Moment schlafen. Danach geht es zurück zur Frontlinie.

Einst hatte sie sich den Krieg anders vorgestellt. Sie hatte geglaubt, dass jeder Mann jeden Augenblick des Tages im Einsatz war. Aber eine echte Schlacht war kein schneller Lauf; sie war ein langer, die Seele zermürbender Marsch.

Es war bereits später Nachmittag, der auf den Abend zuging. Im Osten erstreckten sich an dem ausgetrockneten Flussbett Schlachtlinien weit in beide Richtungen. Dort kämpften viele Tausend Männer und Trollocs. An dieser Front waren massenhaft Tiermenschen im Einsatz, aber andere wurden zurück auf die Anhöhe geholt, um entweder zu fressen oder eine Weile in einem ohnmachtähnlichen Schlaf zusammenzubrechen.

Sie sah nicht zu genau zu den Kochtöpfen hin, aber Jonneth sackte auf die Knie und übergab sich am Wegesrand. Ihm waren die Körperteile aufgefallen, die in dem dicken Eintopf schwammen. Als er seinen Mageninhalt auf den Boden spuckte, kam eine Gruppe Trollocs vorbei und schnaubte und grölte verächtlich.

Warum verlassen sie das Plateau, um den Fluss zu erobern?, fragte sie Androl. Das hier oben scheint doch die bessere Position zu sein.

Das ist sie vielleicht auch, erwiderte Androl. Aber der Schatten ist der Angreifer. Bleibt er auf dieser Position, dient das nur Cauthons Armee. Demandred muss den Druck auf ihn aufrechterhalten. Das bedeutet, den Fluss überqueren zu müssen.

Also verstand Androl auch etwas von Taktik. Interessant.

Ich habe bloß hier und da ein paar Dinge aufgeschnappt, meinte er. In der nächsten Zeit werde ich keine Schlacht anführen.

Ich war nur neugierig, wie viele Leben Ihr geführt habt, Androl.

Eine seltsame Bemerkung von einer Frau, die alt genug ist, um die Großmutter meiner Großmutter zu sein.

Sie gingen weiter die Ostseite des Plateaus entlang. Weit entfernt kämpften sich die Aes Sedai den Westhang nach oben – aber im Augenblick hielten Demandreds Truppen die Stellung. Um Pevara herum gab es nur Trollocs. Ein paar verneigten sich unbeholfen, wenn sie und die anderen vorbeigingen, andere rollten sich ohne Decken auf dem kargen Boden zusammen, um zu schlafen. Jeder von ihnen behielt seine Waffe in der Hand.

»Das sieht nicht besonders vielversprechend aus«, sagte Emarin leise hinter seiner Maske. »Ich kann mir nicht vorstellen, dass sich Taim länger als unbedingt nötig mit den Tiermenschen abgibt.«

»Da vorn«, sagte Androl. »Seht doch.«

Hier hielt das Schattengezücht Abstand von einer Gruppe Sharanern in diesen fremdartigen Uniformen. Sie trugen in Stoff gewickelte Rüstungen, deren Stahl lediglich auf dem Rücken zu sehen war, dabei waren die Formen der Brustpanzer unverkennbar. Pevara blickte die anderen an.

»Ich könnte mir Taim als Teil dieser Gruppe vorstellen«, sagte Emarin. »Außerdem stinkt sie weniger als die Kreaturen da hinten.«

Pevara hatte den Gestank ignoriert – sie hatte schon vor Jahren gelernt, wie man aufdringliche Gerüche genauso ignorierte wie Hitze oder Kälte. Aber als Emarin es erwähnte, drang ein Hauch dessen, was die anderen rochen, durch ihre Verteidigung. Schnell verdrängte sie den Gestank wieder. Das war schrecklich.

»Lassen uns die Sharaner passieren?«, fragte Jonneth.

»Wir werden sehen«, antwortete Pevara und ging energisch auf den Feind zu; ihre Gruppe scharte sich um sie. Die Wächter hatten eine von Unbehagen kündende Linie gegen das Schattengezücht aufgestellt und behielten sie wie Feinde im Auge. Diese Allianz – oder was auch immer das darstellen sollte – stieß bei den sharanischen Soldaten auf keine große Gegenliebe. Sie bemühten sich nicht einmal, ihren Abscheu zu verbergen, und viele hatten sich Tücher vors Gesicht gebunden, um dem Gestank wenigstens etwas zu entgehen.

Als Pevara an der Reihe vorbeiging, wollte ihr ein Adliger – zumindest hielt sie ihn dank seiner Rüstung aus Bronzeringen dafür – in den Weg treten. Ein wohlgeübter Aes-Sedai-Blick ließ es ihn sich anders überlegen. Ich bin viel zu wichtig, als dass du mich belästigen solltest, besagte dieser Blick. Es funktionierte wunderbar, und sie waren drin.

Im Reservelager der Sharaner herrschte Ordnung, während Männer vom Kampf gegen die Streitkräfte der Weißen Burg abgezogen und durch frische Soldaten ersetzt wurden. Das wütende Machtlenken im Westen zog Pevaras Aufmerksamkeit auf sich; es flackerte wie ein grelles Licht.

Was meint ihr?, sagte Androl.

Wir müssen mit jemandem reden. Das Schlachtfeld ist einfach zu groß, um Taim auf uns allein gestellt zu finden.

Er stimmte ihr zu. Nicht zum ersten Mal empfand Pevara ihren Behüterbund als eine Last. Sie musste nicht nur mit ihrer eigenen Nervosität ringen, sondern auch noch mit Androls. Die schlich sich ständig aus ihrem Hinterkopf heran, und sie musste sie gewaltsam bändigen. Dazu benutzte sie Atemübungen, die sie bei ihrer Ausbildung in der Weißen Burg gelernt hatte.

In der Lagermitte blieb sie stehen, blickte sich um und versuchte zu entscheiden, an wen sie sich wenden sollte. Sie konnte Adlige von Dienern unterscheiden. Die Letzteren anzusprechen würde weniger gefährlich sein, aber es würde auch vermutlich nicht viel bringen. Vielleicht …

»Ihr da!«

Pevara zuckte zusammen und fuhr herum.

»Ihr solltet nicht hier sein.« Der bereits ältere Sharaner war völlig kahl und hatte einen kurzen grauen Bart. Zwei Schwertgriffe in der Form von Schlangenköpfen ragten über seine Schultern hinaus; er trug die Klingen gekreuzt auf dem Rücken, und er hielt einen Stab, über dessen ganze Länge sich seltsame Löcher zogen. Vielleicht eine Art Flöte?

»Kommt«, fuhr der Mann mit einem so schweren Akzent fort, dass Pevara ihn kaum verstehen konnte. »Der Wyld wird Euch sehen wollen.«

Wer ist der Wyld?, fragte Pevara Androl.

Der Asha’man schüttelte bloß den Kopf. Er fühlte sich genauso verwirrt wie sie an.

Das könnte ein böses Ende nehmen.

Der alte Mann schritt mit ärgerlicher Miene voraus. Was würde er machen, wenn sie sich weigerten? Pevara war versucht, ein Wegetor zur Flucht zu weben.

Wir folgen ihm, dachte Androl und ging weiter. Wenn wir nicht mit jemandem sprechen, finden wir Taim nie.

Pevara sah stirnrunzelnd zu, wie er sich dem Mann anschloss und die anderen Asha’man ihm folgten. Eilig holte sie sie ein. Wir hatten doch abgemacht, dass ich hier das Sagen habe, übermittelte sie.

Nein, erwiderte er, ich war der Meinung, dass wir uns darauf geeinigt hätten, dass Ihr so tun würdet, als hättet ihr den Befehl.

Sie reagierte mit einer berechnenden Mischung aus kaltem Missfallen und der Andeutung, dass diese Unterhaltung noch nicht vorbei war.

Androl fand das amüsant. Habt Ihr … habt Ihr mich gerade mental böse angesehen? Das ist beeindruckend.

Wir gehen ein großes Wagnis ein. Dieser Mann könnte uns sonst wo hinführen.

Ja, erwiderte er.

Etwas brodelte in ihm, das bis jetzt immer nur eine Andeutung gewesen war. Ihr wollt Taim unbedingt erwischen, oder?

Ja. Das will ich.

Sie nickte.

Ihr versteht das?

Auch ich habe durch ihn Freunde verloren, sagte Pevara. Ich musste zusehen, wie man sie direkt vor meiner Nase holte. Aber wir müssen vorsichtig sein. Wir können nicht zu viele Risiken eingehen. Noch nicht.

Es ist das Ende der Welt, Pevara. Wenn wir jetzt keine Risiken eingehen können, wann dann?

Sie folgte ihm ohne weiteren Widerspruch und wunderte sich über die Entschlossenheit, die sie in Androl fühlte. Taim hatte etwas in ihm geweckt, als er seine Freunde genommen und sie zum Schatten Umgedreht hatte.

Während sie dem alten Sharaner folgten, wurde sich Pevara klar, dass sie Androls Gefühle nicht verstand, jedenfalls nicht vollständig. Mit ihr befreundete Schwestern waren Opfer geworden, aber das war nicht mit dem zu vergleichen, was Androl empfand, als er Evin verloren hatte. Evin hatte ihm vertraut, hatte zu ihm aufgesehen und sich von ihm beschützt gefühlt. Pevaras Aes Sedai waren Bekannte und Freunde gewesen, aber das war irgendwie anders.

Der Sharaner führte sie zu einer größeren Gruppe, von denen viele kostbare Kleidung trugen. Anscheinend kämpften die höchsten Adligen und Ladys der Sharaner nicht, denn keiner von ihnen trug eine Waffe. Sie machten dem Alten Platz, obwohl einige auf seine Schwerter blickten und verächtlich kicherten.

Jonneth und Emarin setzten sich wie Leibwächter an Pevaras und Theodrins Seiten. Mit der Hand auf der Waffe musterten sie die Sharaner, und Pevara vermutete, dass sie die Eine Macht hielten. Nun, das kam vermutlich nicht unerwartet bei Schattenlords, die sich unter Verbündeten befanden, denen sie nicht richtig vertrauten. Sie mussten Pevara nicht auf diese Weise beschützen, aber es war eine nette Geste. Sie war immer der Meinung gewesen, dass Behüter durchaus nützlich wären. Sie war mit der Absicht zur Schwarzen Burg gekommen, mehrere Asha’man zu Behütern zu nehmen. Vielleicht …

Sofort erschien Androl eifersüchtig. Was seid Ihr? Eine Grüne, die ein Schwarm Männer umschwirrt?

Sie übermittelte ihm ihre Belustigung. Warum nicht?

Sie sind zu jung für Euch. Jedenfalls Jonneth. Und Theodrin würde mit Euch um ihn kämpfen.

Ich denke daran, mit ihnen den Behüterbund einzugehen, nicht, sie ins Bett zu zerren, Androl. Also ehrlich. Außerdem zieht Emarin Männer vor.

Androl verstummte. Wirklich?

Aber natürlich. Ist Euch das noch nie aufgefallen?

Androl erschien verblüfft. Manchmal konnten Männer überraschend begriffsstutzig sein, selbst so aufmerksame Beobachter wie Androl.

Pevara umarmte die Eine Macht, als sie die Mitte der Gruppe erreichten. Würde sie genug Zeit für ein Wegetor haben, falls etwas schiefging? Das Terrain war ihr unbekannt, aber solange sie an einen Ort in der Nähe Reiste, würde das keine Rolle spielen. Sie hatte das Gefühl, an eine Henkersschlinge zu treten und sie sich genau anzusehen, um zu entscheiden, wie gut sie ihrem Hals passte.

In der Mitte der Gruppe stand ein hochgewachsener Mann in einer Rüstung aus Silberscheiben mit Löchern in der Mitte und gab Befehle. Neben ihm schwebte ein Pokal durch die Luft. Androl versteifte sich. Er lenkt die Macht, Pevara.

Also das war Demandred? Er musste es sein. Pevara ließ sich vom warmen Schein Saidars überfluten und ihre Gefühle fortspülen. Der alte Mann, der sie geführt hatte, trat vor und flüsterte Demandred etwas zu. Trotz ihrer durch Saidar geschärften Sinne konnte Pevara seine Worte nicht verstehen.

Demandred wandte sich ihrer kleinen Gruppe zu. »Was soll das? Hat M’Hael seine Befehle so schnell wieder vergessen?«

Androl ließ sich auf die Knie fallen, und die anderen folgten seinem Beispiel. Obwohl es sie anwiderte, schloss sich Pevara ihnen an.

»Erhabener«, sagte Androl, »wir sind bloß …«

»Keine Ausflüchte!«, brüllte Demandred. »Keine Spielchen! M’Hael soll alle seine Schattenlords nehmen und die Truppen der Weißen Burg vernichten. Wenn ich noch einen von euch abseits vom Kampf sehe, werdet ihr euch wünschen, ich hätte euch stattdessen den Trollocs übergeben!«

Androl nickte eifrig, dann wich er zurück. Eine für Pevara unsichtbare Peitsche aus Luft traf ihn mitten ins Gesicht – sie spürte seinen Schmerz durch den Bund. Der Rest von ihnen folgte ihm und zog sich mit gesenkten Köpfen zurück.

Das war dumm und gefährlich, sagte Pevara.

Und effektiv, erwiderte er mit starr nach vorn gerichtetem Blick und der Hand an der Wange; zwischen den Fingern sickerte Blut. Jetzt wissen wir mit Sicherheit, dass Taim auf dem Schlachtfeld ist, und wir wissen, wo wir ihn finden. Beeilen wir uns.


Galad eilte durch einen Albtraum. Er hatte gewusst, dass die Letzte Schlacht vermutlich das Ende der Welt bedeutete, aber jetzt … jetzt fühlte er es auch.

Machtlenker von beiden Seiten schlugen aufeinander ein und ließen die Polov-Anhöhe erbeben. Blitze waren so oft eingeschlagen, dass Galad so gut wie nichts mehr hören konnte, und seine Augen schmerzten von dem grellen Aufleuchten in der Nähe.

Er warf sich gegen die Hangseite, grub die Schulter in den Boden und duckte sich, als vor ihm eine Reihe Explosionen den Untergrund aufriss. Seine Mannschaft – zwölf Männer in schmutzigen weißen Umhängen – warfen sich zusammen mit ihm in Deckung.

Die Angriffe setzten den Truppen der Weißen Burg schwer zu, aber das galt auch für die Sharaner. Das von so vielen Machtlenkern entfesselte Inferno war schier unglaublich.

Hier an der Westseite kämpften der größte Teil der Infanterie der Weißen Burg und zahlreiche Sharaner. Galad blieb am Rand dieses Schlagabtausches und hielt nach sharanischen Machtlenkerinnen Ausschau, die allein oder in kleinen Gruppen unterwegs waren. Auf beiden Seiten waren die Linien vielerorts zersplittert. Das war nicht überraschend; die hier eingesetzte Eine Macht machte es so gut wie unmöglich, solide Schlachtenreihen beizubehalten.

Überall rannten Soldaten umher und suchten Deckung in Löchern, die in den Felsen gesprengt worden waren. Andere beschützten Gruppen von Machtlenkern. In der Nähe streiften Männer und Frauen in kleinen Einheiten umher und vernichteten die Truppen der Burg mit Feuer und Blitzen.

Auf diese hatte es Galad abgesehen.

Er hob das Schwert und zeigte auf drei Sharanerinnen ein Stück weiter den Hang hinauf. Er und seine Männer befanden sich auf halber Höhe.

Drei. Drei würden schwierig sein. Sie richteten ihre Aufmerksamkeit auf eine kleine Abteilung Soldaten, die die Flamme von Tar Valon trugen. Blitze regneten auf die unglücklichen Männer herab.

Galad hielt vier Finger in die Höhe. Plan Nummer vier. Er sprang aus seiner Deckung und rannte auf die drei Frauen zu. Seine Männer zählten bis fünf, dann folgten sie ihm.

Die Frauen sahen ihn. Wäre das nicht passiert, hätte Galad den Vorteil gehabt. Eine von ihnen hob die Hand, webte Feuer und schleuderte ihm das Gewebe entgegen. Die Flamme traf ihn, und obwohl er die Hitze spüren konnte, löste sich das Gewebe in seine Einzelteile auf – ließ ihn angesengt, aber größtenteils unversehrt zurück.

Die Sharanerin riss entsetzt die Augen auf. Dieser Blick … dieser Blick wurde Galad langsam vertraut. Es war der Ausdruck eines Soldaten, dessen Schwert im Kampf zerbrach, der Ausdruck einer Person, die etwas gesehen hatte, das es eigentlich nicht hätte geben dürfen. Was tat man, wenn die Eine Macht versagte, die eine Sache, die einen über seine Mitmenschen erhob?

Man starb. Galads Klinge forderte den Kopf der Frau, während ihre Gefährtinnen versuchten, ihn mit Luft zu fesseln. Das Metall auf seiner Brust wurde eiskalt, und er fühlte, wie die Luftströme um ihn herumbrausten.

Eine schlechte Entscheidung, dachte Galad und rammte der zweiten Frau das Schwert in die Brust. Die dritte erwies sich als schlauer und schleuderte einen großen Stein gegen ihn. Er bekam kaum rechtzeitig den Schild hoch, bevor der Stein gegen seinen Arm schmetterte und ihn von den Beinen holte. Die Frau hob gerade den nächsten Stein, als Galads Mannschaft über sie herfiel. Unter Schwerthieben ging sie zu Boden.

Galad bekam wieder Luft; Schmerz strahlte von der Stelle aus, an der ihn der Stein getroffen hatte. Stöhnend setzte er sich auf. In der Nähe hackten seine Männer noch immer auf die dritte Sharanerin ein. So gründlich mussten sie gar nicht sein, aber einige der Kinder hatten merkwürdige Vorstellungen, wozu Aes Sedai fähig waren. Er hatte Laird dabei erwischt, wie er den abgeschlagenen Kopf einer Sharanerin ein Stück entfernt von der Leiche vergraben wollte. Laird behauptete steif und fest, dass sie beim nächsten Vollmond ins Leben zurückkehren würde, wenn man das nicht tat.

Während die Männer die anderen beiden Leichen verstümmelten, kam Golever heran und bot Galad die Hand. »Soll mich das Licht doch verbrennen«, sagte Golever mit einem breiten Grinsen im bärtigen Gesicht, »wenn das nicht die beste Arbeit ist, die wir je erledigt haben, mein Kommandierender Lordhauptmann, dann weiß ich es auch nicht!«

Galad stand auf. »Es ist das, was getan werden muss, Kind Golever.«

»Ich wünschte, man hätte es öfter tun müssen! Darauf haben die Kinder seit Jahrhunderten gewartet. Ihr seid der Erste, der es auch tut. Das Licht erleuchtet Euch, Galad Damodred. Das Licht erleuchtet Euch!«

»Möge das Licht den Tag erleuchten, an dem kein Mann mehr töten muss«, erwiderte Galad müde. »Es ist nicht richtig, sich am Tod zu erfreuen.«

»Natürlich, mein Kommandierender Lordhauptmann.« Golever grinste weiter.

Galad ließ den Blick über das blutige Chaos auf dem Westhang gleiten. Vielleicht konnte ja das Licht Cauthon lange genug erleuchten, um dieser Schlacht irgendeinen Sinn abzuringen, denn er konnte das mit Sicherheit nicht.

»Kommandierender Lordhauptmann!«, rief eine verängstigte Stimme. Es war Alhanra, einer seiner Kundschafter.

»Was ist, Kind Alhanra?«, fragte Galad, als der dürre Mann herbeieilte. Keine Pferde. Sie befanden sich auf schrägem Gelände, und die Tiere würden vor den Blitzen scheuen. Da war es besser, auf die eigenen Füße zu vertrauen.

»Das müsst Ihr sehen, mein Lord«, keuchte Alhanra. »Es ist … es ist Euer Bruder

»Gawyn?« Unmöglich. Nein, dachte er. Nicht unmöglich. Er würde bei Egwene sein und an ihrer Front kämpfen. Galad rannte hinter Alhanra her. Golever und die anderen schlossen sich ihm an.

Gawyn lag mit blassem Gesicht in der Lücke zweier Felsen weiter oben auf dem Hang. In der Nähe knabberte ein Pferd am Gras; seine Seite war blutverschmiert. Aber allem Anschein nach war es nicht das Blut des Pferdes. Galad ging neben der Leiche des jüngeren Mannes auf die Knie. Gawyn war nicht leicht gestorben. Aber was war mit Egwene?

»Friede, Bruder«, sagte Galad und berührte den Körper. »Möge das Licht …«

»Galad …«, flüsterte Gawyn und öffnete mühsam die Augen.

»Gawyn?« Galad war entsetzt. Sein Bruder hatte eine hässliche Bauchwunde. An der Hand trug er ein paar seltsame Ringe. Überall war Blut. Seine Hand, die Brust … der ganze Körper …

Wie konnte er noch leben?

Der Behüterbund, wurde ihm klar. »Wir müssen dich zu einer Heilerin bringen! Einer Aes Sedai.« Er lud sich Gawyn auf die Arme.

»Galad … Ich habe versagt.« Gawyn starrte ausdruckslos in den Himmel.

»Du hast nicht versagt.«

»Doch, ich habe versagt. Ich hätte … an ihrer Seite bleiben müssen. Ich habe Hammar getötet. Wusstest du das? Ich habe ihn getötet. Beim Licht. Ich hätte mich für eine Seite entscheiden sollen …«

Galad lief mit seinem Bruder auf den Armen den Hang entlang in Richtung der Aes Sedai. Er versuchte Gawyn vor den Angriffen der Machtlenker zu beschützen. Aber bereits wenige Augenblicke später schleuderte eine Explosion die Kinder von den Beinen und schickte Galad zu Boden. Er ließ Gawyn fallen, landete direkt neben ihm.

Gawyn zitterte am ganzen Körper und starrte in die Ferne.

Galad kroch zu ihm herüber und versuchte ihn wieder aufzuheben, aber Gawyn packte seinen Arm und erwiderte seinen Blick. »Ich habe sie geliebt, Galad. Sag ihr das.«

»Wenn ihr wirklich diesen Bund eingegangen seid, dann weiß sie das.«

»Das wird sie verletzen«, sagte Gawyn durch die blutleeren Lippen. »Und am Ende versagte ich. Ich konnte ihn nicht töten.«

»Ihn?«

»Demandred«, flüsterte Gawyn. »Ich wollte ihn töten, aber ich war nicht gut genug. Ich war nie … gut genug … um …«

Galad befand sich plötzlich an einem sehr kalten Ort. Er hatte Männer sterben sehen, er hatte Freunde verloren. Das hier schmerzte mehr. Beim Licht, das tat es wirklich. Er hatte seinen Bruder geliebt, von ganzem Herzen geliebt – und im Gegensatz zu Elayne hatte Gawyn das Gefühl erwidert.

»Ich bringe dich in Sicherheit, Gawyn«, sagte er, hob ihn wieder auf und entdeckte zu seinem Entsetzen, dass sich seine Augen mit Tränen füllten. »Ich gehe nicht ohne meinen Bruder.«

Gawyn hustete. »Das musst du auch nicht. Du hast noch einen anderen Bruder. Einen, den du nicht kennst. Einen Sohn von … Tigraine … die in die Wüste zog … Sohn einer Tochter des Speers. Geboren auf den Hängen des Drachenberges …«

O beim Licht.

»Hasse ihn nicht, Galad«, flüsterte Gawyn. »Ich habe ihn immer gehasst, aber ich habe damit aufgehört. Ich … habe damit aufgehört …«

Gawyns Augen brachen.

Galad tastete nach einem Pulsschlag, dann setzte er sich zurück und starrte auf seinen toten Bruder. Der Verband, den Gawyn selbst an seiner Seite angebracht hatte, ließ Blut auf den trockenen Boden sickern, der es hungrig aufsog.

Golever kam zu ihm, half Alhanra, dessen geschwärztes Gesicht und verbrannte Kleidung nach Rauch von dem Blitzeinschlag roch. »Bringt die Verwundeten in Sicherheit, Golever«, sagte Galad und stand auf. Er tastete nach dem Medaillon an seinem Hals. »Nehmt alle Männer und geht.«

»Und Ihr, Kommandierender Lordhauptmann?«

»Ich werde tun, was getan werden muss«, sagte Galad und fror innerlich. Dort war es so kalt wie Stahl im Winter. »Ich werde dem Schatten das Licht bringen. Ich werde den Verlorenen Gerechtigkeit bringen.«


Gawyns Lebensfaden erlosch.

Mit einem Ruck kam Egwene auf dem Schlachtfeld zum Stehen. Etwas in ihrem Inneren wurde durchtrennt. Als hätte sich plötzlich ein Messer in ihren Körper gebohrt und das Stück von Gawyn in ihr herausgeschält, um nichts als Leere zu hinterlassen.

Mit einem Aufschrei fiel sie auf die Knie. Nein. Nein, das konnte nicht sein. Sie konnte ihn doch fühlen, direkt voraus! Sie war zu ihm gelaufen. Sie konnte … Sie konnte …

Er war weg.

Egwene heulte auf, öffnete sich der Einen Macht und sog so viel davon in sich hinein, wie sie überhaupt halten konnte. Sie stieß sie in Gestalt einer Flammenwand aus sich heraus, die auf die Sharaner zubrauste, die nun überall in ihrer Nähe waren. Einst hatten sie die Anhöhe gehalten, und die Aes Sedai waren unten gewesen, aber jetzt herrschte hier nur noch der Wahnsinn.

Sie schlug mit der Macht auf sie ein, umklammerte mit blutleeren Knöcheln Voras Sa’angreal. Sie würde sie vernichten! Beim Licht! Es tat so weh. Es tat so schrecklich weh.

»Mutter!«, schrie Silviana und packte ihren Arm. »Ihr habt die Kontrolle verloren, Mutter! Ihr werdet Eure eigenen Leute umbringen. Bitte!«

Egwene holte keuchend Luft. In der Nähe stolperte eine Gruppe Weißmäntel vorbei, die Verletzte den Hang hinuntertrugen.

So nahe dran! O Licht. Es gab ihn nicht mehr!

»Mutter?«, sagte Silviana. Egwene hörte sie kaum. Sie berührte ihr Gesicht und fand dort Tränen.

Sie war ja vorher so verwegen gewesen. Hatte behauptet, sie könnte auch während des Verlusts weiterkämpfen. Wie naiv war das doch gewesen. Sie ließ das Feuer Saidars in sich ersterben. Und mit ihm verließ sie auch das Leben. Sie sackte zusammen und nahm undeutlich wahr, wie man sie forttrug. Durch ein Wegetor vom Schlachtfeld.


Mit seinem letzten Pfeil rettete Tam einen Weißmantel. Das hätte er sich auch nie träumen lassen, aber so war es nun einmal. Der wölfische Trolloc taumelte mit dem Schaft im Auge zurück und wollte einfach nicht umkippen, bis sich der junge Weißmantel aus dem Schlamm stemmte und nach seinen Knien schlug.

Tams Männer hatten jetzt auf dem Wehrgang der Palisade Stellung bezogen und schossen eine Salve nach der anderen auf die Tiermenschen, die hier über den trockenen Fluss geströmt waren. Ihre Zahl war merklich kleiner geworden, aber es waren noch immer viele.

Bis zu diesem Punkt war die Schlacht eigentlich ordentlich gelaufen. Tams vereinigte Streitkräfte hatten sich am shienarischen Ufer ausgebreitet. Flussabwärts stemmte sich die Legion des Drachen mit Armbrustschützen und schwerer Kavallerie gegen den Vorstoß des Schattengezüchts. So ziemlich das Gleiche spielte sich viel weiter flussaufwärts mit Bogenschützen, Infanterie und Kavallerie ab, die den Durchbruch des Feindes am Flussbett aufhielten. Bis die Geschosse ausgingen und Tam gezwungen war, seine Männer in die relative Sicherheit der Palisade zurückzuziehen.

Tam sah sich um. Abell hielt seinen Bogen in die Höhe und zuckte mit den Schultern. Er hatte auch keine Pfeile mehr. Auf dem ganzen Wehrgang hielten Männer die Bögen hoch. Keine Pfeile.

»Es kommen auch keine mehr«, sagte Abell leise. »Der Junge sagte, dass das die letzten waren.«

Die Weißmäntel kämpften zusammen mit Angehörigen von Perrins Wolfsgarde verzweifelt, aber sie wurden scharenweise vom Ufer zurückgedrängt. Sie kämpften auf drei Seiten, und eine weitere Streitmacht Trollocs hatte sie umgangen, um sie völlig einzukesseln. Das Banner von Ghealdan flatterte nun näher an den Ruinen. Arganda hielt die Position zusammen mit Nurelle und den Resten der Geflügelten Wachen.

Wäre das eine andere Schlacht gewesen, hätte Tam seine Männer ihre Pfeile dafür aufheben lassen, den Rückzug zu decken. Aber an diesem Tag würde es keinen Rückzug geben, und der Schießbefehl war richtig gewesen; die Jungs hatten sich bei jedem Schuss Zeit lassen können. Vermutlich hatten sie während des stundenlangen Kampfes Tausende Trollocs getötet.

Aber was war ein Bogenschütze schon ohne seinen Bogen? Noch immer ein Mann von den Zwei Flüssen, dachte Tam. Und noch immer nicht bereit, diesen Kampf verloren zu geben.

»Vom Wehrgang runter und mit Waffen Aufstellung nehmen«, rief Tam den Jungs zu. »Lasst die Bogen hier. Wir holen sie, wenn wieder Pfeile geliefert werden.«

Es würden keine Pfeile mehr kommen, aber die Männer würden zufriedener sein, wenn sie sich einreden konnten, ihre Bögen später holen zu können. Wie Tam ihnen beigebracht hatte, formierten sie sich mit Speeren, Äxten, Schwertern und sogar ein paar Sicheln bewaffnet zu Reihen. Mit allem, was ihnen zur Verfügung stand, mit Schilden für jene, die eine Axt oder ein Schwert hatten, und einer guten Lederrüstung für sie alle. Leider gab es keine Piken. Nachdem die schwere Infanterie ausgerüstet worden war, hatte es keine mehr gegeben.

»Dicht zusammenbleiben«, sagte Tam zu ihnen. »Zwei Keile bilden. Wir stoßen in die Trollocs um die Weißmäntel vor.« Am besten, sie trafen die Tiermenschen, die den Weißmänteln in den Rücken fallen wollten, zerstreuten sie und halfen den Kindern des Lichts, sich freizukämpfen. Zumindest fiel ihm nichts Besseres ein.

Die Männer nickten, obwohl sie vermutlich nur wenig von Taktik verstanden. Aber das spielte keine Rolle. Solange sie nur diszipliniert ihre Reihen aufrechterhielten, wie es ihnen Tam beigebracht hatte.

Sie liefen los, und Tam wurde an ein anderes Schlachtfeld erinnert. Von schrecklichen Winden getriebener Schnee, der in sein Gesicht schnitt. In gewisser Weise hatte auf diesem Schlachtfeld alles angefangen. Jetzt endete es hier.

Tam übernahm die Spitze des ersten Keils, dann befahl er Deoan – einen Mann aus Devenritt, der in der andoranischen Armee gedient hatte – an die Spitze des anderen. Tam führte seine Männer schnell nach vorn, damit sie – und er – nicht lange über das nachdenken konnten, was nun geschehen würde.

Als sie sich den riesigen Ungeheuern mit ihren Schwertern, Stangenwaffen und Schlachtäxten näherten, griff Tam nach der Flamme und dem Nichts. Die Nervosität verschwand. Sämtliche Gefühle lösten sich auf. Er zog das Schwert, das Rand ihm gegeben hatte, das mit den auf der Scheide aufgemalten Drachen. Es war die schönste Waffe, die er je gesehen hatte. Die Falten im Metall flüsterten von uralter Herkunft. Eigentlich war diese Waffe viel zu gut für ihn. Aber so hatte er über jedes Schwert gedacht, das er je benutzt hatte.

»Vergesst nicht, haltet die Formation!«, brüllte Tam seinen Männern zu. »Lasst euch nicht von ihnen auseinandertreiben. Wenn jemand fällt, nimmt der nächste Mann seinen Platz ein, während die anderen den Verletzten in die Mitte des Keils ziehen.«

Alle nickten, und dann fielen sie den Trollocs in den Rücken, wo sie die Kinder des Lichts am Fluss umzingelt hatten.

Seine Formationen stürmten vorwärts. Die riesigen Trollocs drehten sich um, um zu kämpfen.


Fortuona winkte den So’jhin fort, der ihre kaiserliche Kleidung ersetzen wollte. Sie stank nach dem Rauch des Feuers, und ihre Arme waren an mehreren Stellen verbrannt. Sie würde sich nicht von einer Damane Heilen lassen. Zwar betrachtete sie das Heilen als eine nützliche Entwicklung – und einige ihrer Untertanen änderten bereits ihre Ansichten darüber –, aber sie war sich nicht sicher, ob sich die Kaiserin dem ausliefern sollte. Davon abgesehen waren ihre Verletzungen nicht schwer.

Die vor ihr knienden Totenwächter würden irgendeine Bestrafung brauchen. Das war nun schon das zweite Mal, dass sie einen Meuchelmörder in ihre Nähe gelassen hatten, und auch wenn sie ihnen das nicht zum Vorwurf machte, hätte ihnen der Verzicht auf jede Strafe zugleich ihre Ehre genommen. Es brach ihr das Herz, aber sie wusste, was sie zu tun hatte.

Sie gab den Befehl selbst. Als ihre Stimme hätte Selucia das erledigen müssen – aber man kümmerte sich gerade um ihre Verletzungen. Und Karede verdiente diese kleine Ehre, seinen Hinrichtungsbefehl von Fortuona selbst zu hören.

»Ihr werdet gehen und die feindlichen Marath’Damane direkt angreifen«, befahl sie Karede. »Jeder von euch, der Dienst hatte. Kämpft tapfer für das Kaiserreich und versucht, die Marath’Damane des Feindes zu töten.«

Sie sah, wie sich Karede entspannte. Auf diese Weise konnten sie wenigstens weiterhin dienen; hätte man ihm die Wahl überlassen, hätte er sich vermutlich in sein Schwert gestürzt. Das hier war eine Gnade.

Sie wandte sich von dem Mann ab, der sich in ihrer Jugend um sie gekümmert hatte, dem Mann, der allem getrotzt hatte, was von ihm erwartet worden war. Alles nur für sie. Sie würde später ihre eigene Buße für das finden, was sie tun musste. In diesem Augenblick würde sie ihm die Ehre gewähren, die ihr möglich war.

»Darbinda«, sagte sie und wandte sich der Frau zu, die trotz der Ehre des neuen Namens, den Fortuona ihr verliehen hatte, darauf beharrte, sich »Min« zu nennen. In der Alten Sprache bedeutete Darbinda »Mädchen der Bilder«. »Ihr habt mein Leben und möglicherweise auch das des Prinzen der Raben gerettet. Ich erhebe Euch zum Blut, Unheilseherin. Soll Euer Name für Generationen geehrt werden.«

Darbinda verschränkte die Arme. Wie sehr sie doch Knotai ähnelte. Auf eine sture Weise bescheiden, diese Festländer. Sie waren doch tatsächlich stolz auf ihre niedere Herkunft. Stolz. Verrückt.

Knotai saß in der Nähe auf einem Baumstumpf, erhielt Berichte von der Front und fauchte Befehle. Der Kampf der Aes Sedai um den Westhang der Anhöhe verwandelte sich in ein Gemetzel. Er erwiderte ihren Blick, dann nickte er.

Falls es einen Spion gab – und es hätte Fortuona sehr überrascht, wenn es ihn nicht gegeben hätte –, dann war jetzt der Augenblick gekommen, ihn in die Irre zu führen. Um sie herum waren alle versammelt, die den Angriff überlebt hatten. Fortuona hatte darauf bestanden, sie in der Nähe zu haben, angeblich um jene zu belohnen, die ihr gut gedient hatten, und die Versager zu bestrafen. Jeder Wächter, Diener und Adliger konnte ihre Worte hören.

»Knotai«, sagte sie, »wir müssen noch darüber sprechen, was ich mit Euch tun soll. Die Totenwache ist mit meiner Sicherheit beauftragt, aber Ihr habt den Befehl über die Verteidigung dieses Lagers. Falls Ihr der Ansicht wart, dass unser Befehlshaus nicht sicher ist, warum habt Ihr nichts gesagt?«

»Wollt Ihr verdammt noch mal damit andeuten, dass das mein Fehler ist?« Knotai stand auf und verscheuchte die Kundschafter mit einem Wink.

»Ich übertrug Euch hier den Befehl«, sagte Fortuona. »Schlussendlich liegt die Verantwortung für diesen Fehlschlag damit bei Euch, oder etwa nicht?«

In der Nähe runzelte General Galgan die Stirn. Er sah das nicht so. Andere warfen Knotai anklagende Blicke zu. Adlige Kriecher; sie würden ihn beschuldigen, nur weil er kein Seanchaner war. Beeindruckend, dass Knotai Galgan so schnell bekehrt hatte. Oder verriet der General seine Gefühle absichtlich? War er der Spion? Er hätte auch Suroth manipulieren oder einfach einen Ersatzplan bereithalten können, falls sie scheiterte.

»Ich übernehme hierfür keine Verantwortung, Tuon«, sagte Knotai. »Ihr wart diejenige, die verflucht noch mal darauf bestanden hat, vom Lager aus zuzusehen, obwohl Ihr an einem sicheren Ort hättet sein können.«

»Vielleicht hätte ich das ja tun sollen«, erwiderte sie kalt. »Diese ganze Schlacht ist eine einzige Katastrophe. Ihr verliert jeden Augenblick an Boden. Ihr macht Eure Scherze, verweigert Euch dem angemessenen Protokoll; ich glaube nicht, dass Ihr das mit dem Ernst betrachtet, den Eure Stellung verlangt.«

Knotai lachte. Es war ein lautes, ehrliches Lachen. Er machte das wirklich gut. Fortuona glaubte die Einzige zu sein, die die beiden Rauchwolken sah, die genau hinter ihm von der Anhöhe in den Himmel stiegen. Ein passendes Omen für Knotai: ein großes Spiel, das einen großen Gewinn einbringen würde. Oder einen hohen Preis.

»Ich habe genug von Euch«, sagte Knotai und winkte abschätzig ab. »Ihr und Eure verfluchten seanchanischen Regeln kommen mir ständig in die Quere.«

»Dann habe ich auch genug von Euch«, erwiderte sie und hob das Kinn. »Wir hätten uns niemals an dieser Schlacht beteiligen sollen. Wir sollten uns besser darauf vorbereiten, unser eigenes Land im Südwesten zu verteidigen. Ich werde nicht zulassen, dass Ihr das Leben meiner Soldaten wegwerft.«

»Dann geht doch«, knurrte Knotai. »Das ist mir doch egal.«

Sie fuhr auf dem Absatz herum und ging. »Kommt«, sagte sie zu den anderen. »Holt unsere Damane zusammen. Bis auf diese Totenwächter werden alle in unser Armeelager am Erinin Reisen, dann kehren wir nach Ebou Dar zurück. Wir schlagen dort die richtige Letzte Schlacht, sobald diese Narren hier das Schattengezücht haben bluten lassen.«

Ihr Gefolge schloss sich ihr an. War die List überzeugend gewesen? Der Spion hatte gesehen, wie sie Männer zum Tode verurteilte, die sie liebte; würde das ihre Rücksichtslosigkeit beweisen? Rücksichtslos und aufgeblasen genug, um Knotai die Truppen wegzunehmen? Plausibel war es ja. Denn ein Teil von ihr wollte genau das tun, was sie gerade gesagt hatte, und stattdessen im Süden kämpfen.

Natürlich müsste sie dann den zerbrechenden Himmel, das bebende Land und den Kampf des Wiedergeborenen Drachen ignorieren. Vor diesen Omen konnte sie nicht die Augen verschließen.

Der Spion konnte das nicht wissen. Er konnte sie nicht kennen. Der Spion würde eine junge Frau sehen, die töricht genug war, allein kämpfen zu wollen. Zumindest hoffte sie das.


Der Dunkle König webte ein Netz der Möglichkeiten um Rand herum.

Rand wusste, dass dieser Kampf, den sie austrugen – der Kampf um das, was sein konnte –, für die Letzte Schlacht von entscheidender Bedeutung war. Rand konnte nicht die Zukunft weben. Er war nicht das Rad, kam ihm nicht einmal nahe. Trotz allem, was mit ihm geschehen war, war er bloß ein Mann.

Doch in ihm lag die Hoffnung der Menschheit. Die Menschheit hatte eine Bestimmung, eine Wahl, wie ihre Zukunft aussehen sollte. Der Weg, den sie einschlagen würde … diese Schlacht würde ihn entscheiden. Sein Wille traf auf den des Dunklen Königs. Bisher würde das, was sein konnte, zu dem werden, was sein würde. Jetzt aufzugeben bedeutete, den Dunklen König diese Zukunft bestimmen zu lassen.

SIEHE, verkündete der Dunkle König, als die Lichtfäden zusammenkamen und Rand eine andere Welt betrat. Eine Welt, die noch nicht zur Realität geworden war, aber eine Welt, die sehr gut dazu werden konnte.

Stirnrunzelnd betrachtete Rand den Himmel. In dieser Vision war er nicht rot, und die Landschaft war auch nicht zerstört. Er stand mitten in Caemlyn, wie er es kannte. Sicher, es gab Unterschiede. Dampfwagen ratterten durch die Straßen, fuhren an Pferdekutschen und Passanten vorbei.

Die Stadt hatte sich jenseits der neuen Stadtmauer ausgebreitet – wie er von dem zentralen Hügel aus sehen konnte, auf dem er stand. Er konnte sogar die Stelle erkennen, wo Talmanes ein Loch in die Mauer geschossen hatte. Es war nicht geflickt worden. Stattdessen hatte sich die Stadt durch diese Lücke weiter ausgebreitet. Wo sich einst Felder befunden hatten, reihten sich nun Gebäude aneinander.

Rand drehte sich um und ging weiter. Was für ein Spiel spielte sein Feind hier? Sicherlich konnte diese alltägliche, sogar blühende Stadt kein Teil seiner Pläne für die Welt sein. Die Leute waren sauber und sahen keineswegs unterdrückt aus. Er fand keine Anzeichen der Verderbtheit, die die vorherige Welt des Dunklen Königs ausgezeichnet hatte.

Neugierig trat er an einen Stand, hinter dem eine Frau Obst verkaufte. Die schlanke Frau lächelte einladend und zeigte auf ihre Waren. »Willkommen, werter Herr. Ich bin Renel, und mein Geschäft ist die zweite Heimat für alle, die die besten Früchte aus der ganzen Welt suchen. Ich habe frische Pfirsiche aus Tear.«

»Pfirsiche!«, sagte Rand entsetzt. Es war allgemein bekannt, dass diese Früchte giftig waren.

»Ha! Fürchtet nichts, werter Herr! Man hat das Gift aus ihnen entfernt. Sie sind so sicher, wie ich ehrlich bin.« Die Frau lächelte, nahm eine Frucht und biss hinein, um es zu beweisen. Da erschien eine schmutzige Hand unter dem Obststand – ein Straßenjunge versteckte sich darunter, der Rand zuvor gar nicht aufgefallen war.

Der kleine Junge griff sich eine rote Frucht, die Rand unbekannt war, und rannte los. Er war so dünn, dass Rand die Rippen unter der Haut seiner viel zu schmalen Gestalt sehen konnte, und er rannte auf so dürren Beinen, dass es ein Wunder war, dass er überhaupt gehen konnte.

Die Frau lächelte Rand weiterhin an, während sie in die Tasche griff und einen kleinen Stab mit einem Hebel an der Seite hervorholte. Sie zog den Hebel zurück, und der Stab brüllte auf.

Der Junge starb in einer Blutwolke. Er ging zu Boden. Passanten gingen einfach um ihn herum, obwohl einer – ein Mann mit vielen Leibwächtern – die Frucht aufhob. Er wischte das Blut ab, nahm einen Bissen und ging weiter. Wenige Augenblicke später rollte ein Dampfwagen über die Leiche und drückte sie in die schlammige Straße.

Entsetzt starrte Rand die Frau an. Sie steckte die Waffe weg, lächelte aber noch immer. »Sucht Ihr nach einer bestimmten Frucht?«, fragte sie.

»Ihr habt gerade dieses Kind getötet!«

Die Frau sah ihn verwirrt an. »Ja. Gehörte es Euch, werter Herr?«

»Nein, aber …« Licht! Die Frau zeigte nicht das geringste Bedauern. Rand drehte sich um, und niemand schien sich im Geringsten für das zu interessieren, was gerade geschehen war.

»Herr?«, fragte die Frau. »Ich habe das Gefühl, dass ich Euch kennen sollte. Das ist ein schönes Gewand, wenn auch etwas aus der Mode. Zu welcher Fraktion gehört Ihr?«

»Fraktion?«, fragte Rand.

»Und wo sind Eure Wächter?«, fuhr die Frau fort. »Natürlich hat ein so reicher Mann wie Ihr Leibwächter.«

Rand erwiderte ihren Blick, dann rannte er los, als die Frau wieder nach ihrer Waffe griff. Er duckte sich um eine Ecke. Der Ausdruck in ihren Augen … ein völliger Mangel an Menschlichkeit oder Anteilnahme. Sie hätte ihn getötet, ohne auch nur einen Gedanken daran zu verschwenden. Das war ihm klar.

Andere Passanten musterten ihn. Sie stießen ihre Begleiter an, zeigten auf ihn. Ein Mann, an dem er vorbeirannte, rief: »Benennt Eure Fraktion!« Andere nahmen die Verfolgung auf.

Rand eilte um die nächste Ecke. Die Eine Macht. Wagte er, sie zu benutzen? Er wusste nicht, was in dieser Welt vor sich ging. Wie zuvor fiel es ihm schwer, Abstand zu der Vision zu halten. Er wusste, dass sie nicht völlig real war, aber er konnte nicht verhindern, dass ein Teil von ihm daran glaubte.

Er riskierte die Eine Macht nicht und verließ sich für den Augenblick auf seine Füße. In Caemlyn kannte er sich nicht besonders gut aus, aber dieser Stadtteil kam ihm bekannt vor. Wenn er das Ende dieser Straße erreichte und abbog … ja, da! Voraus erhob sich ein vertrautes Gebäude mit einem Schild, das einen knienden Mann vor einer Frau mit rotblonden Haaren zeigte. Der Königin Segen.

Rand erreichte den Eingang in dem Augenblick, als seine Verfolger hinter ihm um die Ecke kamen. Sie blieben wie angewurzelt stehen, als Rand an einem Hünen vorbei durch die Tür eilte. Ein neuer Türwächter? Er war Rand unbekannt. Gehörte das Gasthaus noch immer Basil Gill, oder hatte es den Besitzer gewechselt?

Mit klopfendem Herzen platzte Rand in den Schenkraum. Mehrere Männer, die sich mit ihren Bechern Nachmittagsale beschäftigten, schauten ihn an. Rand hatte Glück; Basil Gill stand höchstpersönlich hinter der Theke und polierte mit einem Lappen einen Pokal.

»Meister Gill!«, rief Rand.

Der stämmige Mann drehte sich stirnrunzelnd um. »Kenne ich Euch?« Er musterte Rand von Kopf bis Fuß. »Mein Lord?«

»Ich bin es, Rand!«

Gill legte den Kopf schief, dann grinste er. »Oh, Ihr seid es! Ich hatte Euch schon ganz vergessen. Euren Freund habt Ihr nicht dabei, oder? Der mit dem finsteren Ausdruck in den Augen?«

Also erkannten die Menschen dieses Ortes Rand nicht als den Wiedergeborenen Drachen. Was hatte der Dunkle König mit ihnen gemacht?

»Ich muss mit Euch sprechen, Meister Gill«, sagte Rand und ging auf ein privates Speisezimmer zu.

»Worum geht es denn, Junge?«, fragte Gill und folgte ihm. »Steckt Ihr in irgendwelchen Schwierigkeiten? Schon wieder?«

Rand schloss hinter dem Wirt die Tür. »Welches Zeitalter haben wir?«

»Das Vierte Zeitalter natürlich.«

»Also gab es die Letzte Schlacht?«

»Ja, und wir haben sie gewonnen!«, sagte Gill. Er betrachtete Rand genauer, kniff die Augen zusammen. »Alles in Ordnung, mein Sohn? Wie könnt Ihr nicht wissen …«

»Ich verbrachte die letzten Jahre im Wald«, behauptete Rand. »Voller Angst vor den Geschehnissen.«

»Ach so, dann. Ihr wisst nicht über die Fraktionen Bescheid?«

»Nein.«

»Beim Licht, mein Sohn! Da steckt Ihr aber mächtig in Schwierigkeiten. Wartet, ich besorge Euch ein Fraktionssymbol. Das braucht Ihr schnell!« Gill öffnete die Tür und eilte hinaus.

Rand verschränkte die Arme und bemerkte missmutig, dass im Kamin eine Leere schwebte. »Was hast du mit ihnen gemacht?«, verlangte er zu wissen.

ICH LIESS SIE GLAUBEN, SIE HÄTTEN GEWONNEN.

»Warum?«

VIELE VON DENEN, DIE MIR FOLGEN, VERSTEHEN NICHT, WAS TYRANNEI IST.

»Was hat das denn mit …« Rand unterbrach sich, als Gill zurückkehrte. Er brachte kein »Fraktionssymbol«, was auch immer das sein sollte. Stattdessen hatte er drei stämmige Wächter geholt. Er zeigte auf Rand.

»Gill …«, sagte Rand, wich zurück und umarmte die Quelle. »Was tut Ihr?«

»Nun, ich schätze, dieser Mantel wird ein paar Münzen einbringen«, sagte der Wirt. Er klang nicht im Mindesten reumütig.

»Also wollt Ihr mich berauben?«

»Nun, ja.« Gill erschien verwirrt. »Warum sollte ich nicht?«

Die Schläger musterten Rand vorsichtig. In den Händen hielten sie Keulen.

»Wegen des Gesetzes«, sagte Rand.

»Warum sollte es denn Gesetze gegen Diebstahl geben?« Gill schüttelte den Kopf. »Wie kommt Ihr denn auf solche Ideen? Wenn ein Mann sein Eigentum nicht beschützen kann, warum sollte er es dann haben? Wenn ein Mann sein Leben nicht verteidigen kann, was nützt es ihm dann?«

Gill bedeutete den drei Männern weiterzugehen. Rand fesselte sie mit Luft.

»Du hast ihnen das Gewissen genommen, nicht wahr?«, fragte er leise.

Gills Augen weiteten sich, als er sah, wie die Eine Macht benutzt wurde. Er wollte die Flucht ergreifen. Rand erfasste auch ihn mit Fesseln aus Luft.

MENSCHEN, DIE SICH UNTERDRÜCKT GLAUBEN, WERDEN EINES TAGES KÄMPFEN. ICH WERDE IHNEN NICHT NUR IHREN WILLEN ZUM WIDERSTAND NEHMEN, SONDERN AUCH DEN GERINGSTEN VERDACHT, DASS ETWAS NICHT STIMMEN KÖNNTE.

»Also nahmst du ihnen jedes Mitgefühl«, wollte Rand wissen und blickte Gill in die Augen. Der Mann schien schreckliche Angst zu haben, dass Rand ihn tötete, genau wie die drei Schläger. Aber keine Reue. Nicht ein bisschen.

MITGEFÜHL IST UNNÖTIG.

Rand verspürte eine tödliche Kälte. »Das unterscheidet sich von der Welt, die du mir zuvor gezeigt hast.«

ZUVOR ZEIGTE ICH DIR, WAS DIE MENSCHEN VON MIR ERWARTEN. DAS IST DAS BÖSE, DAS SIE ZU BEKÄMPFEN GLAUBEN. ABER ICH WERDE EINE WELT ERSCHAFFEN, IN DER ES WEDER GUT NOCH BÖSE GIBT.

ES GIBT NUR MICH.

»Wissen deine Diener das?«, flüsterte Rand. »Die du Auserwählte genannt hast? Sie glauben, darum zu kämpfen, Herrscher über eine von ihnen gestaltete Welt zu werden. Stattdessen willst du ihnen das hier geben. Die gleiche Welt … nur dass es in ihr kein Licht gibt.«

ES GIBT NUR MICH.

Kein Licht. Keine Liebe. Der Schrecken dieser Vorstellung erschütterte Rand. Das war eine der Möglichkeiten, die der Dunkle König wählen konnte, wenn er siegte. Es bedeutete nicht, dass ihm das gelang oder dass es so geschehen musste, aber … o Licht, das war furchtbar. Viel schrecklicher als eine Welt aus Gefangenen, viel schrecklicher als ein dunkles Land mit einer zerstörten Landschaft.

Das war der wahre Schrecken. Das war die vollständige Korrumpierung der Welt, es raubte ihr alle Schönheit und hinterließ nur eine leere Hülle. Eine hübsche Hülle, aber bloß eine Hülle.

Rand würde lieber tausend Jahre der Folter erdulden und den Teil von sich behalten, der ihm die Fähigkeit verlieh, etwas Gutes zu tun, als auch nur einen Augenblick lang in dieser Welt ohne Licht zu leben.

Voller Zorn drehte er sich zu der Finsternis um. Sie verschlang die ganze Wand und wuchs. »Du machst einen Fehler, Shai’tan!«, brüllte er die schwarze Leere an. »Glaubst du, du kannst mich verzweifeln lassen? Glaubst du, du kannst meinen Willen brechen? Das wird nicht passieren, das schwöre ich dir. Das bestärkt mich nur in meinem Kampf!«

Etwas grollte im Inneren des Dunklen Königs. Rand schrie auf und schlug mit seinem Willen zu, zerschmetterte die finstere Welt aus Lügen und Menschen, die töten würden, ohne dabei das Geringste zu empfinden. Sie explodierte, wurde zu leuchtenden Fäden, und Rand stand wieder an dem Ort außerhalb der Zeit. Um ihn herum wogte das Muster.

»Du zeigst mir dein wahres Herz?«, verlangte Rand von dem Nichts zu wissen, als er diese Fäden ergriff. »Ich zeige dir meines, Shai’tan. Es gibt ein Gegenstück zu dieser lichtlosen Welt, die du erschaffen würdest.

Eine Welt ohne Schatten.«


Mat ging los und beschwichtigte seinen Zorn. Tuon schien wirklich wütend auf ihn gewesen zu sein! Licht! Sie würde doch zu ihm zurückkehren, wenn er sie brauchte, oder nicht?

»Mat?« Min eilte an seine Seite.

»Begleite sie«, sagte er. »Behalte sie für mich im Auge, Min.«

»Aber …«

»Sie braucht keinen besonderen Schutz«, sagte Mat. »Sie ist stark. Verdammte Asche, das ist sie tatsächlich. Aber man muss sie im Auge behalten. Sie bereitet mir Sorgen, Min. Aber wie dem auch sei, ich muss diesen verfluchten Krieg gewinnen. Und das kann ich nicht, wenn ich mit ihr gehe. Also würdest du gehen und auf sie aufpassen? Bitte?«

Min verlangsamte ihren Schritt, dann umarmte sie ihn völlig unerwartet. »Viel Glück, Matrim Cauthon.«

»Viel Glück, Min Farshaw«, erwiderte Mat. Er ließ sie los und schulterte den Ashandarei. Die Seanchaner hatten angefangen, den Dasharfels zu verlassen, um sich zum Erinin zurückzuziehen, bevor sie das Feld von Merrilor schließlich ganz verließen. Demandred würde sie ziehen lassen; er wäre ein Narr gewesen, es nicht zu tun. Blut und verdammte Asche, wo hatte er sich da nur hineinmanövriert? Gerade hatte er ein gutes Viertel seiner Truppen weggeschickt.

Sie kommen zurück. Wenn sein Spiel funktionierte. Wenn die Würfel so fielen, wie er sie brauchte.

Nur dass diese Schlacht keine Würfelpartie war. Dafür gab es hier viel zu viel Hinterlist. Wenn überhaupt, war sie eher wie ein Kartenspiel. Für gewöhnlich gewann er mit seinen Karten. Für gewöhnlich.

Rechts von ihm marschierte eine Gruppe von Männern in dunklen seanchanischen Rüstungen in Richtung Schlachtfeld. »He, Karede!«, rief er.

Der große Mann warf ihm einen finsteren Blick zu. Plötzlich wusste er genau, wie sich ein Klumpen Eisen anfühlte, wenn Perrin ihn musterte und den Hammer hob. Karede ging steif auf ihn zu, und obwohl er sich offensichtlich Mühe gab, seine Miene ausdruckslos zu halten, konnte Mat dennoch den Zorn fühlen, den er ausstrahlte.

»Vielen Dank«, sagte Karede steif, »für Eure Hilfe, die Kaiserin, möge sie ewig leben, zu beschützen.«

»Ihr seid der Ansicht, ich hätte sie an einem sicheren Ort lassen sollen«, sagte Mat. »Und nicht im Befehlshaus.«

»Es steht mir nicht zu, einen vom Blut infrage zu stellen, Höchsterlauchter.«

»Ihr stellt mich nicht infrage«, erwiderte Mat, »sondern denkt darüber nach, mich mit etwas Scharfem zu durchbohren. Das ist etwas ganz anderes.«

Karede stieß langsam die angehaltene Luft aus. »Ihr müsst mich entschuldigen, Höchsterlauchter«, sagte er und wandte sich zum Gehen. »Ich muss meine Männer nehmen und sterben.«

»Das glaube ich nicht«, sagte Mat. »Ihr kommt mit mir.«

Karede fuhr auf dem Absatz zu ihm herum. »Die Kaiserin, möge sie ewig leben, befahl uns …«

»… an die Front zu gehen.« Mat beschattete sein Auge und betrachtete das von Trollocs wimmelnde Flussbett. »Toll. Was glaubt Ihr eigentlich, wo ich verdammt noch mal hingehe?«

»Ihr reitet in die Schlacht?«

»Eigentlich wollte ich gemütlich hingehen.« Mat schüttelte den Kopf. »Ich muss ein Gefühl dafür bekommen, was Demandred da macht … Ich gehe ins Getümmel, Karede, und Euch und Eure Männer zwischen mich und die Trollocs zu schieben klingt wunderbar. Begleitet Ihr mich?«

Karede antwortete nicht, aber er ließ Mat auch nicht stehen.

»Seht mal, was habt Ihr denn für Möglichkeiten?«, fragte Mat. »Dort rüberzureiten und sinnlos zu sterben? Oder zu versuchen, mich für Eure Kaiserin am Leben zu erhalten? Ich bin mir fast sicher, dass sie mich mag. Na ja, vielleicht. Tuon ist wirklich schwer zu durchschauen.«

»Ihr nennt sie nicht bei diesem Namen«, knurrte Karede.

»Ich nenne sie verflucht noch einmal so, wie es mir gefällt.«

»Nicht, wenn wir Euch begleiten sollen! Wenn ich mit Euch reite, Prinz der Raben, lasse ich nicht zu, dass meine Männer so etwas von Euch zu hören bekommen. Das wäre ein böses Omen.«

»Nun, das wollen wir ja auf gar keinen Fall«, erwiderte Mat. »Also gut, Karede. Stürzen wir uns wieder in diesen Schlamassel und sehen, was wir tun können. In Fortuonas Namen.«


Tam hob das Schwert, als wollte er sich zum Duell stellen, aber er fand keinen ehrenvollen Gegner. Bloß grunzende, heulende, wilde Trollocs. Die in dieser Schlacht bei den Ruinen von den bedrängten Weißmänteln abgelenkt worden waren.

Die Kreaturen wandten sich gegen die Männer von den Zwei Flüssen und griffen an. An der Spitze seines Keils nahm Tam ›Schilfrohr im Wind‹ ein. Er weigerte sich, auch nur einen einzigen Schritt zurückzumachen. Er beugte sich in diese Richtung und in jene, behielt aber seine Position, als er die Linie des Feindes durchbrach und mit schnellen Bewegungen um sich hieb.

Seine Männer drängten nach vorn und waren ein Dorn im Fuß des Dunklen Königs und eine Brombeerhecke in seiner Hand. In dem folgenden Chaos brüllten sie und fluchten, kämpften hart darum, die Trollocs auseinanderzutreiben.

Aber schon bald waren sie vollauf damit beschäftigt, ihre Stellung zu halten. Die Ungeheuer strömten um die Kämpfer herum. Die Keilformation funktionierte gut, obwohl es normalerweise eine Offensivtaktik war. Trollocs eilten die Seiten des Keils entlang und wurden von Äxten, Schwertern und Speeren getroffen.

Tam ließ die Jungs sich von ihrem Drill leiten. Er hätte es vorgezogen, im Zentrum des Keils zu stehen und genau wie Dannil jetzt Ermunterungen zu rufen – aber er gehörte zu den wenigen, die Kampferfahrung hatten, und die Keilformationen hingen davon ab, dass jemand an der Spitze stand, der alles zusammenhielt.

Also hielt er alles zusammen. Völlig versunken in der Leere, ließ er die Trollocs herankommen. Er wechselte von ›Den Reif vom Ast schütteln‹ über ›Apfelblüten im Wind‹ zu ›Steine fallen in den Teich‹ – alles Schwertfiguren, die die Position stabilisierten, während man gegen mehrere Gegner kämpfte.

Trotz der vielen Übung in den letzten Monaten war Tam nicht einmal mehr annähernd so stark wie in seiner Jugend. Glücklicherweise brauchte ein Schilfrohr keine Kraft. Er war nicht mehr so geübt wie einst, aber ein Schilfrohr brauchte nicht zu üben, wie man sich im Wind bog.

Es tat es einfach.

Jahre der Reife und des Alterns hatten Tam ein tiefes Verständnis für den Zustand des Nichts in seinem Inneren gebracht. Er verstand es jetzt, und zwar besser als je zuvor. Die Jahre, in denen er Rand Verantwortungsgefühl beigebracht hatte, die Jahre, in denen er mit Kari zusammengelebt hatte, die Jahre, in denen er dem leisen Rauschen des Windes und dem Rascheln der Blätter gelauscht hatte …

Tam al’Thor wurde zum Nichts. Er brachte es den Trollocs, zeigte es ihnen und schickte sie in seine Tiefen.

Er tänzelte um eine ziegenköpfige Kreatur, zog die Klinge zur Seite und schlitzte der Bestie den Unterschenkel bis zur Ferse auf. Sie stolperte, und er drehte sich um und überließ sie den Männern hinter ihm. Die Klinge fuhr in die Höhe – wobei sich das Blut von ihr in einem feinen Regen löste – und sprühte die dunklen Tropfen in die Augen eines Tiermenschen mit einer Fratze aus einem Albtraum. Geblendet heulte er auf, und Tam floss mit ausgestreckten Armen vorwärts und schlitzte den Bauch unterhalb des Brustpanzers auf. Das Ungeheuer stolperte einem dritten Trolloc vor die Füße, der gerade mit der Axt auf Tam einschlagen wollte und stattdessen seinen Kameraden traf.

Jeder Schritt war Teil eines Tanzes, und Tam lud die Trollocs ein, sich ihm anzuschließen. Nur einmal hatte er auf diese Weise gekämpft, vor langer Zeit, aber die Leere ließ keine Erinnerungen zu. Er dachte nicht an andere Zeiten; er dachte an rein gar nichts. Falls ihm bewusst war, dass er so etwas schon einmal getan hatte, lag das am Widerhall seiner Bewegungen, einem Begreifen, das von seinen Muskeln auszugehen schien.

Er stach einem Trolloc mit einem beinahe menschlichen Gesicht und nur ein paar zu vielen Haaren auf den Wangen in den Hals. Die Bestie kippte nach hinten und brach zusammen, und plötzlich fand Tam keinen Gegner mehr. Er blieb stehen, riss das Schwert nach oben und verspürte einen sanften Windhauch. Die Bestien strömten in wilder Panik flussabwärts, verfolgt von Reitern mit den Wimpeln der Grenzländer. In wenigen Augenblicken würden sie auf die wie eine Mauer stehende Legion des Drachen stoßen und zwischen ihr und den sie jagenden Grenzländern zerschmettert werden.

Tam reinigte die Klinge und verließ das Nichts in sich. Der Ernst der Situation traf ihn. Beim Licht! Seine Männer müssten tot sein. Wären diese Grenzländer nicht eingetroffen …

Er schob das Schwert zurück in die lackierte Scheide. Der rot-goldene Drache fing funkelnd das Sonnenlicht ein, obwohl Tam nicht gedacht hätte, dass etwas durch diese Wolkendecke kam. Er hielt nach der Sonne Ausschau und entdeckte sie hinter den Wolken beinahe am Horizont. Der Einbruch der Nacht stand kurz bevor!

Glücklicherweise hatte es den Anschein, als würden die Trollocs hier in der Schlacht an den Ruinen endlich aufgeben. Ernsthaft geschwächt von der langen Flussüberquerung, gaben sie endlich nach, als Lans Männer sie hinterrücks trafen.

Nach kurzer Zeit war es vorbei. Tam hatte die Stellung gehalten.

Ein schwarzes Pferd trottete heran. Sein Reiter Lan Mandragoran – gefolgt von seinem Standartenträger und Leibwächtern – betrachtete die Männer aus den Zwei Flüssen.

»Ich habe mich das oft gefragt«, sagte Lan zu Tam. »Der Mann, der Rand diese Klinge mit dem Reiherzeichen gab. Ich hatte mich gefragt, ob er sie sich wirklich verdient hatte. Jetzt weiß ich es.« Lan hob sein Schwert und salutierte.

Tam drehte sich zu seinen Männern um, einer erschöpften, blutverschmierten Gruppe, die sich an ihren Waffen festhielt. Der Weg ihres Keils war leicht auf dem zertrampelten Boden auszumachen; Dutzende gefallener Trollocs lagen dort, wo der Keil in sie hineingeschnitten hatte. Im Norden hoben die Männer des Zweiten Keils ihre Waffen. Man hatte sie fast bis zum Wald zurückgedrängt, aber sie hatten dort durchgehalten, und am Ende hatten einige von ihnen überlebt. Tam musste sich damit abfinden, dass Dutzende guter Männer gestorben waren.

Seine erschöpften Soldaten setzten sich einfach zwischen die Toten auf das Schlachtfeld. Einige fingen mühsam an, sich selbst Verbände anzulegen, oder kümmerten sich um die Verletzten, die sie ins Innere des Keils gezogen hatten. Im Süden entdeckte Tam einen entmutigenden Anblick. Verließen die Seanchaner etwa ihr Lager am Dasharfels?

»Haben wir also gewonnen?«, fragte er.

»Nicht mal annähernd«, antwortete Lan. »Wir haben diesen Teil des Flusses erobert, aber das ist der weniger wichtige Kampf. Demandred hatte seine Trollocs hier erbarmungslos angetrieben, damit wir den größeren Kampf flussabwärts an der Furt nicht unterstützen können.« Lan wendete sein Pferd. »Sammelt Eure Männer, Klingenmeister. Diese Schlacht endet nicht mit der untergehenden Sonne. Ihr werdet in den kommenden Stunden erneut gebraucht. Tai’shar Manetheren.«

Lan galoppierte mit donnernden Hufen zu seinen Grenzländern.

»Tai’shar Malkier«, rief ihm Tam verspätet hinterher.

»Also … sind wir noch immer nicht fertig?«, fragte Dannil.

»Nein, mein Junge. Das sind wir nicht. Aber wir machen eine Pause, lassen die Männer Heilen und finden etwas zu essen.« Unversehens klafften am Schlachtfeldrand Wegetore auf. Cauthon war also klug genug gewesen, Tam zu ermöglichen, seine Verwundeten nach Mayene zu schaffen. Es …

Menschen strömten aus den Öffnungen. Hunderte, nein, Tausende. Tam runzelte die Stirn. In der Nähe sammelten sich die Weißmäntel – der Angriff der Tiermenschen hatte sie hart getroffen, aber Tams Ankunft hatte sie vor der Vernichtung bewahrt. Argandas Truppen formierten sich oben an den Ruinen, und die von Trolloc-Kadavern umgebene Wolfsgarde richtete ihre blutverschmierte Flagge hoch in den Himmel.

Mühsam setzte sich Tam in Bewegung. Jetzt fühlten sich seine Gliedmaßen wie tote Gewichte an. Er war erschöpfter, als hätte er einen Monat damit verbracht, Baumstümpfe aus dem Boden zu ziehen.

Am ersten Wegetor stieß er auf Berelain höchstpersönlich, die dort mit einigen Aes Sedai stand. Inmitten von Schlamm und Tod erschien die wunderschöne Frau schrecklich fehl am Platz. Ihr schwarzes und silbernes Gewand, das Diadem in ihrem Haar … Licht, sie gehörte nicht hierher.

»Tam al’Thor«, begrüßte sie ihn. »Ihr habt den Befehl über diese Streitmacht?«

»Mehr oder weniger«, erwiderte Tam. »Entschuldigt, meine Lady die Erste, aber wer sind diese ganzen Menschen?«

»Die Flüchtlinge aus Caemlyn«, sagte Berelain. »Ich schickte ein paar Kundschafter, um zu sehen, ob sie dringend Heilung benötigen. Sie verweigerten sie und bestanden darauf, dass ich sie zur Schlacht bringe.«

Tam kratzte sich am Kopf. Zur Schlacht? Alle Männer und viele Frauen, die ein Schwert halten konnten, waren bereits in die Armee aufgenommen worden. Hier kamen vor allem Kinder und Ältere durch die Tore und ein paar Hausfrauen, die zurückgeblieben waren, um sich um die Jüngsten zu kümmern.

»Entschuldigt«, sagte er, »aber auf diesem Feld herrscht der Tod.«

»Das habe ich ihnen zu erklären versucht«, sagte Berelain mit einem Hauch von Verzweiflung in der Stimme. »Sie behaupten, sie könnten nützlich sein. Es wäre immer noch besser, als das Ende der Letzten Schlacht zusammengedrängt an der Straße nach Weißbrücke abwarten zu müssen, sagen sie.«

Stirnrunzelnd verfolgte Tam, wie Kinder auf das Feld liefen. Sein Magen verkrampfte sich, als er sah, wie sie die schrecklichen Toten näher betrachteten, und viele zuckten anfangs zurück. Andere bahnten sich einen Weg vorbei an den Gefallenen und hielten Ausschau nach Leuten, die noch immer lebten und Geheilt werden konnten. Begleitet wurden sie von ein paar alten Soldaten, die man zum Schutz der Flüchtlinge abkommandiert hatte; sie passten auf Trollocs auf, die noch nicht ganz tot waren.

Frauen und Kinder fingen an, zwischen den Toten Pfeile einzusammeln. Das würde nützlich sein. Sehr nützlich. Überrascht sah Tam Hunderte von Kesselflickern aus einem Wegetor strömen. Sie machten sich daran, unter der Anleitung mehrerer Gelber Schwestern nach Verwundeten zu suchen.

Tam ertappte sich bei einem Nicken. Es störte ihn noch immer, Kindern zu erlauben, etwas Derartiges zu sehen. Nun, wenn wir hier versagen, werden sie noch viel Schlimmeres sehen, dachte er. Wenn sie sich nützlich machen wollten, dann sollte man es ihnen erlauben.

»Sagt mir, Tam al’Thor«, fragte Berelain, »geht es … Galad Damodred gut? Ich sehe hier seine Männer, aber nicht sein Banner.«

»Er wurde zu anderen Pflichten abberufen, meine Lady die Erste«, antwortete Tam. »Flussabwärts. Ich fürchte, ich habe seit Stunden nichts mehr von ihm gehört.«

»Ah. Nun, Heilen wir Eure Männer und geben ihnen etwas zu essen. Vielleicht trifft ja bald eine Nachricht von Lord Damodred ein.«


Elayne berührte sanft Gareth Brynes Wange. Dann schloss sie seine Augen, erst das eine, dann das andere, bevor sie den Soldaten zunickte, die seine Leiche gefunden hatten. Sie trugen Bryne fort. Seine Beine baumelten über den Rand seines Schildes, der Kopf hing über die andere Seite.

»Er ritt einfach schreiend los«, sagte Birgitte. »Direkt in die feindlichen Linien. Er war nicht aufzuhalten.«

»Siuan ist tot«, sagte Elayne und verspürte ein beinahe überwältigendes Gefühl des Verlusts. Siuan … sie war immer so stark gewesen. Mühsam brachte sie ihre Gefühle unter Kontrolle. Sie musste ihre Aufmerksamkeit auf die Schlacht gerichtet halten. »Gibt es eine Nachricht von dem Befehlshaus?«

»Das Lager am Dasharfels wurde aufgegeben«, meldete Birgitte. »Ich weiß nicht, wo Cauthon steckt. Die Seanchaner haben uns im Stich gelassen.«

»Lass mein Banner noch höher heben«, sagte Elayne. »Bis wir von Mat hören, übernehme ich den Befehl über dieses Schlachtfeld. Schaff meine Berater her.«

Birgitte ritt los, um die Befehle zu geben. Elaynes Gardistinnen sahen argwöhnisch zu, wie die Trollocs am Fluss gegen die Andoraner anstürmten. Sie füllten den Korridor zwischen der Anhöhe und dem Moor völlig aus und drohten den Boden von Shienar zu betreten. Ein Teil von Egwenes Streitmacht hatte die Tiermenschen von der anderen Seite des Korridors angegriffen, was eine Weile etwas Druck von ihren Truppen genommen hatte, aber noch mehr Angreifer hatten sich von oben auf sie gestürzt, und es sah so aus, als würden Egwenes Männer niedergemacht.

Elayne hatte soliden Unterricht in Taktik genossen, hatte aber wenig praktische Erfahrung auf dem Feld. Trotzdem blieb ihr nicht verborgen, wie schlimm sich die Dinge entwickelten. Ja, sie hatte die Nachricht erhalten, dass der Brückenkopf der Trollocs flussaufwärts von dem eintreffenden Lan und seinen Grenzländern aufgerieben worden war. Aber das brachte der Situation hier an der Furt kaum eine Erleichterung.

Jeden Augenblick ging die Sonne am Horizont unter. Der Feind machte keine Anstalten, sich zurückzuziehen, und die Soldaten begannen zögernd, große Feuer und Fackeln zu entzünden. Die Männer rechteckige Formationen bilden zu lassen erleichterte die Verteidigung, aber es bedeutete auch, jede Hoffnung auf einen Vorstoß aufzugeben. Hier kämpften auch die Aiel und die Cairhiener. Aber die Pikenhaufen bildeten das Fundament ihres Schlachtplans.

Sie kreisen uns langsam ein, dachte sie. Und wenn dem Schattengezücht das gelang, konnten sie zudrücken, bis die Andoraner zerplatzten. Beim Licht, das ist schlimm.

Noch einmal loderte die Sonne hinter den Wolken am Horizont grell auf. Die kommende Nacht verschaffte den Bestien einen weiteren Vorteil. Mit der hereinbrechenden Dunkelheit kam auch die Kälte. Ihre ursprüngliche Annahme, dass diese Schlacht Tage in Anspruch nehmen würde, erschien jetzt albern. Der Schatten griff mit seiner ganzen Macht an. Der Menschheit blieben keine Tage mehr, sondern nur noch Stunden.

»Euer Majestät«, sagte Hauptmann Guybon, der mit ihren Befehlshabern angeritten kam. Ihre verbeulten Rüstungen und blutigen Wappenröcke bewiesen, dass niemand vom direkten Kampf verschont blieb, nicht einmal der Befehlsstab.

»Ein Rat«, sagte Elayne und sah ihn, den Kommandanten der Kavallerie Theodor und Birgitte an, die ja ihr Generalhauptmann war.

»Rückzug?«, fragte Guybon.

»Glaubt Ihr wirklich, wir könnten uns vom Feind lösen?«, erwiderte Birgitte.

Guybon zögerte, dann schüttelte er den Kopf.

»Also gut«, sagte Elayne. »Wie siegen wir?«

»Wir halten durch«, sagte Theodor. »Wir hoffen, dass die Weiße Burg ihren Kampf gegen die sharanischen Machtlenker gewinnt und uns zu Hilfe kommt.«

»Es gefällt mir nicht, einfach hier herumzusitzen«, sagte Birgitte. »Es …«

Ein brodelnder Strahl aus weiß glühendem Feuer schnitt durch Elaynes Leibwache und verdampfte Dutzende von ihnen. Guybons Pferd löste sich unter ihm auf, obwohl er selbst haarscharf dem Tod entging. Elaynes Pferd stieg auf die Hinterbeine.

Fluchend zwang sie das Tier zur Räson. Das war Baalsfeuer gewesen!

»Lews Therin!« Eine mit der Macht verstärkte Stimme hallte über das Feld. »Ich jage eine Frau, die du liebst! Komm her, du Feigling! Kämpfe!«

Direkt neben ihr explodierte der Boden und schleuderte ihren Standartenträger in die Luft. Die Flagge fing Feuer. Dieses Mal wurde Elayne von ihrem Pferd abgeworfen und landete mit einem harten Aufprall am Boden.

Meine Babys! Stöhnend rollte sie sich herum, als Hände sie schnappten. Birgitte. Unterstützt von mehreren Gardistinnen zerrte die Frau sie hinter sich in den Sattel.

»Kannst du die Macht lenken?«, fragte Birgitte. »Nein, vergiss es. Danach werden sie Ausschau halten. Celebrain, zieht ein neues Banner auf! Reitet mit einer Abteilung der Garde flussabwärts. Ich bringe die Königin in die andere Richtung!«

Die Frau, die neben Birgittes Pferd stand, salutierte. Das war ein Todesurteil! »Birgitte, nein«, rief Elayne.

»Demandred hat entschieden, dass du den Wiedergeborenen Drachen für ihn aus seiner Deckung lockst«, sagte Birgitte und wendete das Pferd. »Das lasse ich nicht zu!« Sie trieb ihr Tier zum Galopp an, als Blitze in Elaynes Leibwache einschlugen und Körper in die Luft schleuderten.

Elayne biss die Zähne zusammen. Ihre Heere schwebten in Gefahr, überrannt und eingekreist zu werden, während Demandred ein Gewebe Baalsfeuer, Blitze und Erde nach dem anderen schleuderte. Dieser Mann war so gefährlich wie eine ganze Armee.

»Ich kann nicht weg«, sagte sie hinter Birgitte.

»Doch, du kannst, und du wirst«, erwiderte ihre Behüterin grob, während ihr Pferd weitergaloppierte. »Falls Mat gefallen ist – und das Licht gebe, dass das nicht der Fall ist –, dann müssen wir einen neuen Kommandoposten einrichten. Es gibt einen Grund, warum Demandred den Dasharfels und danach dich angriff. Er will unsere Befehlskette zerstören. Es ist deine Pflicht, an irgendeinem sicheren und geheimen Ort den Befehl wieder zu übernehmen. Sobald wir weit genug weg sind, dass Demandreds Kundschafter dich nicht Machtlenken spüren können, machen wir ein Wegetor, und du wirst wieder alles unter Kontrolle haben. Aber im Augenblick musst du den Mund halten und mich dich beschützen lassen.«

Sie hatte recht. Sie sollte verdammt sein, aber sie hatte recht. Elayne klammerte sich an Birgitte fest, während sie über das Schlachtfeld galoppierte und ihr Pferd auf ihrer Flucht in die Sicherheit Erdklumpen aufspritzen ließ.


Wenigstens macht er es einem leicht, ihn zu finden, dachte Galad und sah zu, wie Feuerstrahlen von der feindlichen Position auf Elaynes Heer zurasten.

Galad grub die Fersen in die Flanken seines gestohlenen Pferdes und trabte quer über das Plateau auf den Ostrand zu, und immer wieder sah er Gawyn vor sich, wie er in seinen Armen starb.

»Komm zu mir, Lews Therin!« Der Donner von Demandreds Stimme erschütterte voraus den Boden. Er hatte Galads Bruder getötet. Jetzt jagte das Ungeheuer seine Schwester.

Das einzig Richtige zu tun war Galad immer glasklar erschienen, aber noch niemals zuvor hatte es sich so richtig angefühlt wie das hier. Diese Lichtblitze waren wie die Markierungen auf einer Karte, Pfeile, die ihm die Richtung wiesen. Das Licht selbst führte ihn. Es hatte ihn vorbereitet und in diesem Augenblick an diesen Ort gebracht.

Galad preschte durch die hinteren Linien der Sharaner zu der Stelle, an der Demandred direkt über dem Flussbett stand und nach unten auf Elaynes Truppen schaute. Pfeile bohrten sich vor den Pferdehufen in den Boden, die sharanischen Bogenschützen schossen, ohne darauf zu achten, die eigenen Leute zu treffen. Das Schwert gezogen, löste Galad die Füße aus den Steigbügeln und bereitete sich auf den Sprung vor.

Ein Pfeil bohrte sich in das Pferd. Galad warf sich von dem Tier. Er landete hart, kam rutschend zum Stehen und trennte einem Armbrustmann in der Nähe die Hand ab. Ein knurrender Machtlenker vertrat ihm den Weg, und das Fuchskopf-Medaillon auf seiner Brust wurde plötzlich eiskalt.

Galad rammte dem Mann die Klinge durch den Hals. Der Sharaner brüllte, und jeder Herzschlag spritzte Blut aus der Wunde. Er schien nicht überrascht zu sein, dass er starb, sondern bloß wütend. Sein Geschrei zog weitere Aufmerksamkeit in die Richtung.

»Demandred!«, rief Galad. »Demandred, Ihr ruft nach dem Wiedergeborenen Drachen! Ihr wollt mit ihm kämpfen! Er ist nicht hier, aber sein Bruder schon! Tretet Ihr gegen mich an?«

Dutzende Armbrüste hoben sich. Hinter Galad brach das Pferd zusammen und schnaubte blutigen Schaum aus den Nüstern.

Rand al’Thor. Sein Bruder. Der Schock von Gawyns Tod hatte Galad diese Enthüllung seltsam gleichgültig aufnehmen lassen. Falls er überlebte, würde er sich irgendwann damit auseinandersetzen müssen. Er vermochte noch immer nicht zu sagen, ob er stolz oder beschämt sein würde.

Eine Gestalt in einer seltsamen Rüstung wie aus Münzen schob sich durch die Reihen der Sharaner. Demandred war ein stolzer Mann; das verriet einem ein Blick auf sein Gesicht. Tatsächlich glich er al’Thor. Sie hatten eine ähnliche Ausstrahlung.

Der Verlorene musterte Galad, der dort mit blutiger Klinge stand. Der sterbende Machtlenker krallte vor ihm die Finger in den Boden.

»Sein Bruder?«, sagte Demandred.

»Der Sohn von Tigraine«, verkündete Galad, »die eine Tochter des Speers wurde. Die meinen Bruder am Drachenberg zur Welt brachte, der Gruft von Lews Therin. Ich hatte zwei Brüder. Ihr habt den anderen auf diesem Schlachtfeld getötet.«

»Wie ich sehe, hast du ein bemerkenswertes Artefakt«, sagte Demandred, als das Medaillon wieder kalt wurde. »Du glaubst doch sicher nicht, dass dich das vor dem Schicksal deines armseligen Bruders bewahrt? Ich meine den toten Bruder.«

»Kämpfen wir, Sohn der Schatten? Oder reden wir?«

Demandred zog das Schwert aus der Scheide, das an Klinge und Griff mit Reihern geschmückt war. »Mögest du mir einen besseren Kampf liefern als dein Bruder, kleiner Mann. Ich verliere allmählich die Geduld. Lews Therin kann mich hassen oder gegen mich wüten, aber er sollte mich nicht ignorieren!«

Galad betrat den Kreis aus Armbrustmännern und Machtlenkern. Siegte er, würde er trotzdem sterben. Aber er betete zum Licht, dass er einen der Verlorenen mitnehmen würde. Es würde ein passendes Ende sein.

Demandred kam auf ihn zu, und der Wettstreit begann.


Den Rücken gegen einen Stalagmiten gedrückt und allein durch das von Callandor von den Höhlenwänden reflektierte Licht etwas sehend, versuchte Nynaeve mit allen Kräften, Alannas Leben zu retten.

In der Weißen Burg hatten einige über ihr Vertrauen auf normale Heiltechniken gespottet. Was sollten zwei Hände und ein Faden ausrichten, das die Eine Macht nicht schaffte?

Wäre eine dieser Frauen statt Nynaeve hier gewesen, hätte die Welt geendet.

Die Bedingungen waren schrecklich. Wenig Licht, außer den Dingen in ihrer Tasche kein Werkzeug. Trotzdem nähte Nynaeve mit der Nadel und dem Faden, die sie immer bei sich trug. Sie hatte für Alanna eine Kräutermischung zubereitet und sie ihr in den Mund gezwungen. Es würde nicht viel bewirken, aber vielleicht konnte jede Kleinigkeit helfen. Es würde Alannas Kraft bewahren, ihr gegen die Schmerzen beistehen und verhindern, dass ihr Herz versagte, während Nynaeve arbeitete.

Die Wunde war verschmutzt, aber sie hatte schon zuvor verschmutzte Wunden genäht. Obwohl sie innerlich wie Espenlaub zitterte, waren ihre Hände völlig ruhig, als sie die Wundränder zusammenflickte und die Frau von der Schwelle des Todes zurückholte.

Rand und Moridin rührten sich nicht. Aber sie fühlte, wie von ihnen ein Pulsieren ausging. Rand kämpfte. Kämpfte einen Kampf, den sie nicht sehen konnte.


»Matrim Cauthon, Ihr verfluchter Narr. Ihr seid noch am Leben?«

Mat sah zur Seite, als Davram Bashere in der frühen Abenddunkelheit angeritten kam. Mat hatte sich mit den Totenwächtern zur Rückseite der andoranischen Linien begeben, die am Fluss kämpften.

Bashere wurde von seiner Frau und einer Leibwache aus Saldaeanern begleitet. Dem Blut auf Deira Basheres Kleidung nach zu urteilen, hatte sie bei den Kämpfen ihren Teil geleistet.

»Ja, ich lebe noch«, sagte Mat. »Eigentlich bin ich ganz gut darin, am Leben zu bleiben. Ich kann mich nur an das eine Mal erinnern, wo ich darin gescheitert bin, aber das zählt kaum. Was tut Ihr hier? Seid Ihr …«

»Sie haben sich in meinen verdammten Verstand gegraben«, sagte Bashere mit finsterer Miene. »Das haben sie getan, Mann. Deira und ich haben das besprochen. Ich werde nicht führen, aber warum sollte mich das davon abhalten, ein paar Trollocs zu töten?«

Mat nickte. Nach Tenobias Tod war dieser Mann der König von Saldaea geworden – aber bis jetzt hatte er die Krone verweigert. Die Korrumpierung seines Verstandes hatte ihn erschüttert. Er hatte nur verkündet, dass Saldaea an Malkiers Seite kämpfte, und den Truppen befohlen, Lan zu folgen. Die Thronfolge würde man regeln, falls sie alle die Letzte Schlacht überlebten.

»Was ist mit Euch passiert?«, wollte Bashere wissen. »Ich habe gehört, der Kommandoposten fiel?«

Mat nickte. »Die Seanchaner haben uns im Stich gelassen.«

»Blut und Asche!«, rief Bashere aus. »Als wäre alles nicht schon schlimm genug. Verfluchte seanchanische Hunde.«

Die Totenwächter, die hinter Mat standen, verzogen keine Miene.

Elaynes Truppen hielten das Flussufer, aber nur so gerade eben – flussaufwärts drängten sich die Bestien langsam um sie herum. Die Andoraner wichen nicht, weil sie hartnäckig und sorgfältig gedrillt waren. Jedes gewaltige Rechteck aus Männern stemmte die Piken empor wie ein sich sträubendes Stachelschwein.

Diese Formationen konnten gesprengt werden, wenn Demandred Keile auf die richtige Weise dazwischentrieb. Mat setzte Kavallerieattacken ein. Daran nahmen auch die andoranische Kavallerie und die Bande teil – sie versuchten die Trollocs daran zu hindern, in die Pikenhaufen einzudringen oder Elayne einzukreisen.

Der Rhythmus der Schlacht pulsierte zwischen Mats Fingerspitzen. Er fühlte, was Demandred tat. Für jeden anderen schien das Ende der Schlacht nur noch eine simple Angelegenheit zu sein. Mit einer großen Streitmacht angreifen, die Pikenformationen aufbrechen, Mats Verteidigung zerschmettern. Aber es war viel raffinierter.

Lans Grenzländer hatten die Trollocs flussaufwärts vernichtet und erwarteten neue Befehle. Gut. Mat benötigte die Männer für den nächsten Schritt seines Plans.

Drei der gewaltigen Pikenformationen erlahmten, aber wenn er einen Machtlenker oder zwei in jedes Zentrum setzen konnte, konnte er sie verstärken. Sollte das Licht denjenigen behüten, der Demandred abgelenkt hatte. Die Angriffe des Verlorenen hatten ganze Pikenhaufen vernichtet. Demandred brauchte nicht jeden Mann einzeln zu töten; er musste bloß mit der Einen Macht angreifen, um das Rechteck zu knacken. Danach konnten die Trollocs sie überrennen.

»Bashere«, sagte Mat, »bitte sagt mir, dass jemand etwas von Eurer Tochter gehört hat.«

»Niemand«, sagte Deira. »Es tut mir leid.«

Verdammte Asche, dachte Mat. Armer Perrin.

Und armer Mat. Wie sollte er das ohne das Horn schaffen? Licht! Er war sich doch nicht einmal sicher, ob er es mit dem verfluchten Horn schaffen würde.

»Geht«, rief er, als sie die Pferde antrieben. »Reitet zu Lan flussaufwärts. Bestellt ihm, er soll diese Trollocs angreifen, die die rechte Flanke der Andoraner umgehen wollen! Und richtet ihm aus, ich habe bald andere Befehle für ihn.«

»Aber ich …«

»Es ist mir völlig egal, ob Ihr verflucht noch mal vom Schatten berührt wurdet!«, fauchte Mat. »Jeder Mann hat den Finger des Dunklen Königs auf seinem Herzen gespürt, und das ist die verdammte Wahrheit. Ihr könnt das überwinden. Jetzt reitet zu Lan und sagt ihm, was getan werden muss!«

Im ersten Augenblick versteifte sich Bashere, dann lächelte er seltsamerweise breit unter seinem Schnurrbart. Verfluchte Saldaeaner. Sie genossen es, angebrüllt zu werden. Mats Worte schienen ihm neuen Mut zu geben, und er galoppierte mit seiner Frau an der Seite los. Sie warf Mat einen liebevollen Blick zu, was ihm Unbehagen einflößte.

Und jetzt … brauchte er ein Heer. Und ein Wegetor. Er brauchte ein lichtverfluchtes Wegetor. Du blöder Narr, dachte er. Er hatte die Damane weggeschickt. Hätte er nicht zumindest eine behalten können? Auch wenn sie ihm eine Gänsehaut verschafften, als wären sie mit Spinnen bedeckt.

Mat hielt Pips an, die Totenwächter folgten seinem Beispiel. Ein paar von ihnen zündeten Fackeln an. Sich Mat beim Kampf gegen die Sharaner anzuschließen hatte ihnen die Tracht Prügel verschafft, die sie gewollt hatten. Anscheinend sehnten sie sich nach mehr.

Da, dachte Mat und lenkte Pips auf eine Truppenansammlung südlich von Elaynes Pikenformationen zu. Die Drachenverschworenen. Vor dem Abzug der Seanchaner vom Dasharfels hatte Mat diese Armee zur Verstärkung von Elaynes Truppen geschickt.

Er wusste noch immer nicht, was er von ihnen halten sollte. Als sie sich versammelt hatten, war er nicht auf dem Feld gewesen, aber er hatte Berichte gehört. Menschen aus sämtlichen gesellschaftlichen Rängen und allen Nationalitäten, die zusammengekommen waren, um in der Letzten Schlacht zu kämpfen – und Loyalitäten oder Ländergrenzen spielten keine Rolle. Rand brach alle Eide und sämtliche anderen Bündnisse.

Mat ritt im schnellen Tritt – die Totenwächter liefen, um mitzuhalten – um die Rückseite der andoranischen Linien. Beim Licht, die Linien wölbten sich. Das war übel. Nun, er hatte seinen Wetteinsatz gemacht. Jetzt konnte er die verfluchte Schlacht bloß abreiten und hoffen, dass sie nicht zu sehr bockte.

Als er zu den Drachenverschworenen galoppierte, hörte er etwas, das nicht an diesen Ort passte. Singen? Mat zügelte Pips. Die Ogier waren in den Kampf gegen die Trollocs verstrickt worden, um Elaynes linker Flanke auf Höhe des gegenüberliegenden Moors zu helfen und die Tiermenschen zu hindern, aus dieser Richtung zu kommen.

Sie hielten dort die Stellung, so unerschütterlich wie Eichen in einer Flut, hieben mit ihren Äxten um sich, während sie sangen. Um sie herum türmten sich tote Trollocs auf.

»Loial!«, brüllte Mat und stemmte sich in seinen Steigbügeln hoch. »Loial!«

Einer der Ogier trat vom Kampf zurück und drehte sich um. Mat war bestürzt. Sein sonst so ruhiger Freund hatte die Ohren angelegt, die Zähne zornig zusammengebissen, und eine blutige Axt in den Fingern. Licht, dieser Ausdruck ließ Mat entsetzt zusammenzucken. Er hätte eher zehn Männer niedergestarrt, die ihn für einen Falschspieler hielten, als einen einzigen wütenden Ogier!

Loial rief den anderen etwas zu, dann beteiligte er sich wieder am Kampf. Sie schlugen weiterhin auf die Trollocs ein und hieben sie nieder. Die Kreaturen hatten fast die gleiche Größe wie die Ogier, aber irgendwie schienen die Ogier das Schattengezücht hoch zu überragen. Sie kämpften nicht wie Soldaten, sondern wie Waldarbeiter, die Bäume fällen. Erst in die eine Richtung hacken, dann in die andere, Trollocs brachen entzwei. Mat wusste, dass Ogier es hassten, Bäume zu fällen, aber sie schienen es zu genießen, das Schattengezücht zu fällen.

Die Ogier zerschmetterten die Faust Trolloc, die sie bekämpft hatten, und schlugen sie in die Flucht. Elaynes Soldaten rückten vor und blockierten den Rest der Horde, und mehrere Hundert Ogier zogen sich in Mats Richtung zurück. Darunter auch etliche seanchanische Ogier – die sogenannten Gärtner. Mat hatte dazu keinen Befehl gegeben. Die beiden Gruppen kämpften zusammen, schienen jetzt aber kaum einen Blick füreinander übrigzuhaben.

Jeder der Ogier, ob Mann oder Frau, hatte zahllose Schnitte an Armen und Beinen davongetragen. Sie hatten keinerlei Rüstung am Leib, aber viele der Schnitte erschienen oberflächlich, als hätte ihre Haut die Festigkeit von Rinde.

Loial kam zu Mat und den Totenwächtern herüber und schulterte die Axt. Seine Hosen waren bis zu den Oberschenkeln dunkel verfärbt, als wäre er durch Rotwein gewatet. »Mat«, sagte er und holte tief Luft. »Wir haben getan, worum du uns batest, haben hier gekämpft. Kein Trolloc kam an uns vorbei.«

»Das habt ihr gut gemacht, Loial«, erwiderte Mat. »Vielen Dank.«

Er wartete auf die Erwiderung. Zweifellos etwas Langatmiges und Eifriges. Loial stand da und atmete ein und aus, mit Lungen, die genug Luft aufnehmen konnten, um einen ganzen Raum zu füllen. Keine Worte. Die anderen, die sich zu ihm gesellten und von denen viele wesentlich älter waren, hatten ebenfalls nichts zu sagen. Ein paar trugen Fackeln. Die Sonne war hinter dem Horizont versunken. Jetzt lag die Nacht vor ihnen.

Stumme Ogier. Also das war wirklich seltsam. Aber Ogier im Krieg … so etwas hatte Mat noch nie zuvor gesehen. In den ganzen Erinnerungen, die nicht seine eigenen waren, kam so etwas nicht vor.

»Ich brauche euch«, sagte er. »Wir müssen dieser Schlacht eine Wendung geben, oder wir sind erledigt. Kommt schon.«

»Der Hornbläser befiehlt!«, brüllte Loial. »Die Äxte hoch!«

Mat zuckte zusammen. Falls er jemals jemanden brauchte, der für ihn eine Nachricht von Caemlyn nach Cairhien brüllte, wusste er, wen er fragen musste. Aber vermutlich würde man sie dann noch bis oben zur Fäule hören.

Er trieb Pips an, und die Ogier umringten ihn und die Totenwächter. Die Ogier hielten mühelos mit ihrem Tempo mit.

»Höchsterlauchter«, sagte Karede. »Ich und die Meinen haben den Befehl …«

»An der Front zu sterben. Ich arbeite daran, Karede, verdammt. Hättet Ihr bitte die Freundlichkeit, Euch im Moment nicht das Schwert in den Bauch zu rammen?«

Die Miene des Mannes verdüsterte sich, aber er schwieg.

»Euch ist schon klar, dass sie Euch nicht wirklich tot sehen will«, sagte Mat. Mehr konnte er dazu nicht sagen, ohne den Plan zu enthüllen, wie sie zurückgeholt werden sollte.

»Wenn mein Tod der Kaiserin, möge sie ewig leben, dient, dann gebe ich ihn ihr mit Freude.«

»Verflucht, Karede, Ihr seid einfach nur verrückt«, erwiderte Mat. »Leider bin ich das auch. Ihr seid also in guter Gesellschaft. Ihr da! Wer führt diese Truppe an?«

Sie hatten die hinteren Reihen erreicht, wo sich die Reserve der Drachenverschworenen, die Verwundeten und diejenigen, die sich von ihrem Einsatz an der Front ausruhten, befanden.

»Mein Lord?«, sagte einer der Kundschafter. »Das dürfte Lady Tinna sein.«

»Holt sie«, sagte Mat. In seinem Kopf klapperten die Würfel. Außerdem verspürte er einen Lockruf aus dem Norden, als würden ein paar Fäden um seine Brust ihn in diese Richtung zerren.

Nicht jetzt, Rand. Ich bin verflucht beschäftigt.

Es bildeten sich keine Farben, sondern bloß Schwärze. Dunkler als das Herz eines Myrddraal. Der Lockruf wurde stärker.

Mat verwarf die Vision. Nicht! Jetzt!

Er hatte hier zu tun. Er hatte einen Plan. Beim Licht, hoffentlich funktionierte er.

Tinna erwies sich als ein hübsches Mädchen, wesentlich jünger als erwartet, hochgewachsen und kräftig. Sie trug ihr langes braunes Haar zu einem Pferdeschwanz zusammengebunden, obwohl an einigen Stellen die Locken hervorlugten. Sie steckte in Hosen und hatte, nach dem Schwert am Gürtel und dem dunklen Trolloc-Blut an den Ärmeln zu urteilen, an den Kämpfen teilgenommen.

Sie kam angeritten und musterte ihn von Kopf bis Fuß. »Ihr habt Euch endlich an uns erinnert, Lord Cauthon?« Ja, sie erinnerte ihn an Nynaeve, keine Frage.

Mat schaute zur Anhöhe. Das Feuergefecht zwischen Aes Sedai und Sharanern hatte sich in ein wildes Chaos verwandelt.

Du solltest dort lieber siegen, Egwene. Ich verlasse mich auf dich.

»Euer Heer«, sagte Mat und blickte Tinna an. »Wie man mir sagte, haben sich eurer Streitmacht ein paar Aes Sedai angeschlossen?«

»Ein paar«, antwortete sie vorsichtig.

»Seid Ihr eine?«

»Nein. Jedenfalls nicht genau.«

»Nicht genau? Was soll das denn heißen? Hört zu, Frau, ich brauche ein Wegetor. Wenn wir das nicht bekommen, könnte diese Schlacht verloren gehen. Bitte sagt mir, dass wir hier ein paar Machtlenkerinnen haben, die mich an den Ort bringen können, wo ich sein muss.«

Tinnas Lippen verzogen sich zu einem schmalen Strich. »Ich will Euch nicht verärgern, Lord Cauthon. Alte Gewohnheiten erzeugen starke Fesseln, und ich habe gelernt, von gewissen Dingen nicht zu sprechen. Ich wurde aus der Weißen Burg verwiesen wegen … Eben aus komplizierten Gründen. Es tut mir leid, aber ich kenne das Gewebe für das Reisen nicht. Ich weiß aber genau, dass die meisten, die sich uns anschlossen, zu schwach sind, um dieses Gewebe weben zu können. Dazu braucht man eine bedeutende Menge der Einen Macht, wozu viele nicht fähig sind, die …«

»Ich kann eines weben.«

Eine Frau in einem roten Kleid erhob sich von den Verwundeten, wo sie anscheinend mit Heilen beschäftigt gewesen war. Sie war dünn und knochig und hatte eine saure Miene, aber Mat war so froh, sie zu sehen, dass er sie hätte küssen können. Zwar hätte man da genauso gut kaputtes Glas küssen können. Aber er hätte es trotzdem getan.

»Teslyn!«, rief er. »Was macht Ihr denn hier?«

»Ich glaube, ich kämpfe in der Letzten Schlacht«, erwiderte sie und wischte sich die Hände ab. »Tun wir das nicht alle?«

»Aber bei den Drachenverschworenen?«

»Nach meiner Rückkehr fühlte ich mich in der Weißen Burg nicht gerade wohl«, sagte sie. »Sie hat sich verändert. Ich ergriff die sich hier bietende Gelegenheit, denn dieser Bedarf übertrifft andere. Ihr braucht also ein Wegetor? Wie groß?«

»Genug, um so viele dieser Truppen wie möglich zu verlegen, die Drachenverschworenen, die Ogier und dieses Banner Kavallerie von der Bande der Roten Hand«, sagte Mat.

»Ich brauche einen Zirkel, Tinna«, sagte Teslyn. »Und ich will nichts davon hören, dass Ihr die Macht nicht lenken könnt; ich spüre es in Euch, und sämtliche früheren Bündnisse und Versprechungen sind hier für uns gebrochen. Holt die anderen Frauen zusammen. Wo gehen wir hin, Cauthon?«

Mat grinste. »Auf die Anhöhe.«

»Die Anhöhe?«, wiederholte Karede. »Aber Ihr habt sie zu Beginn der Schlacht aufgegeben! Ihr habt sie dem Schattengezücht überlassen!«

»Ja, habe ich.«

Und jetzt … jetzt hatte er die Gelegenheit, das zu beenden. Elaynes Streitkräfte hielten den Fluss, Egwene kämpfte im Westen … Er musste den Nordabschnitt der Anhöhe erobern. Da die Seanchaner nun weg und der größte Teil seiner Truppen beschäftigt waren, wusste er genau, dass Demandred eine starke Streitmacht aus Sharanern und Trollocs quer über das Plateau nach Nordosten schicken würde, damit sie dort den Hang hinunter und dann über das Flussbett marschierten und Elaynes Verbänden in den Rücken fielen. Die Heere des Lichts würden eingekreist und Demandreds Gnade ausgeliefert sein. Seine einzige Chance lag darin, die gegnerischen Truppen trotz ihrer überlegenen Zahl daran zu hindern, ihre derzeitige Position zu verlassen. Beim Licht. Es hatte wenig Aussicht auf Erfolg, aber manchmal musste man den einzigen Pfeil nehmen, den man hatte.

»Damit dünnt Ihr unsere Linien aber auf gefährliche Weise aus«, sagte Karede. »Ihr riskiert alles, wenn Ihr hier benötigte Truppen auf die Anhöhe verlegt.«

»Ihr wollt doch an die Front«, erwiderte Mat. »Loial, bist du dabei?«

»Ein Schlag gegen das Zentrum des Feindes?« Loial wog seine Axt in der Hand. »Das wird nicht der schlimmste Ort sein, an dem ich war, weil ich einem von euch dreien folgte. Ich hoffe, Rand geht es gut. Das glaubst du doch, oder?«

»Wäre Rand tot, dann wüssten wir das«, sagte Mat. »Er wird auf sich selbst aufpassen müssen, denn dieses Mal kann ihn Matrim Cauthon nicht retten. Teslyn, her mit dem Wegetor! Tinna, sammelt Eure Truppen. Sie sollen sich bereit machen, durch das Tor zu stürmen. Wir müssen den Nordhang dieser Anhöhe im Handstreich erobern und dann halten, ganz egal, was uns der Schatten auch entgegenwirft!«


Egwene öffnete die Augen. Obwohl sie sich nicht in einem Raum hätte befinden dürfen, lag sie in einem. Und er war prächtig. Die kühle Luft roch nach Salz, und sie ruhte auf einer weichen Matratze.

Ich träume, dachte sie. Vielleicht war sie ja auch gestorben. Würde das diese Qualen erklären? Diesen schrecklichen Schmerz. Das Vergessen wäre viel, viel besser als diese Agonie gewesen.

Gawyn gab es nicht mehr. Ein Teil ihrer Selbst war abgeschnitten worden.

»Ich vergesse, wie jung sie doch ist.« Geflüster trieb durch das Zimmer. Diese Stimme war bekannt. Silviana? »Kümmert Euch um sie. Ich muss zur Schlacht zurück.«

»Wie verläuft sie?« Egwene kannte auch diese Stimme. Rosil von den Gelben. Sie war zusammen mit den Novizinnen und Aufgenommenen nach Mayene gezogen, um die Verwundeten zu versorgen.

»Die Schlacht? Schlecht.« Silviana hatte ihre Worte noch nie mit Honig versüßt. »Behaltet sie im Auge, Rosil. Sie ist stark; ich habe nicht den geringsten Zweifel, dass sie das überlebt, aber diese Befürchtung besteht ja immer.«

»Ich habe schon Frauen geholfen, die ihre Behüter verloren, Silviana«, sagte Rosil. »Ich versichere Euch, dass ich dazu durchaus in der Lage bin. Sie wird die nächsten Tage zu nichts zu gebrauchen sein, aber dann wird der Heilungsprozess einsetzen.«

Silviana schnaubte. »Dieser Junge … Ich hätte wissen müssen, dass er sie zerstört. Ich hätte ihn an dem Tag, an dem mir das erste Mal auffiel, wie sie ihn ansieht, an den Ohren packen und auf einen weit entfernten Bauernhof schaffen sollen, wo er das nächste Jahrzehnt geschuftet hätte.«

»So einfach kann man kein Herz kontrollieren.«

»Behüter sind eine Schwäche«, sagte Silviana. »Das waren sie schon immer, und sie werden es auch für alle Zeiten bleiben. Dieser Junge … dieser dumme Junge …«

»Dieser dumme Junge hat mich vor seanchanischen Attentätern gerettet«, sagte Egwene. »Hätte er das nicht getan, wäre ich jetzt nicht hier, um ihn zu betrauern. Ich würde vorschlagen, dass Ihr Euch daran erinnert, Silviana, wenn Ihr von den Toten sprecht.«

Die anderen verstummten. Egwene versuchte den Schmerz des Verlusts zu überwinden. Sie befand sich in Mayene, natürlich. Silviana würde sie zu den Gelben gebracht haben.

»Ich werde daran denken, Mutter«, erwiderte Silviana. Sie schaffte es sogar, zerknirscht zu klingen. »Ruht Euch aus. Ich werde …«

»Ruhe ist für die Toten«, sagte Egwene und setzte sich auf.

Silviana und Rosil standen in der Tür eines prächtigen Zimmers, dessen Wände unterhalb der mit Perlmuttintarsien verzierten Decke mit blauem Stoff bespannt waren. Beide Frauen verschränkten die Arme und blickten sie streng an.

»Ihr habt etwas außerordentlich Schmerzvolles durchgemacht, Mutter«, sagte Rosil. Neben der Tür stand Leilwin auf Posten. »Der Verlust eines Behüters ist schwer genug, um jede Frau aus der Bahn zu werfen. Es liegt keine Schande darin, wenn Ihr Euch der Trauer stellt.«

»Egwene al’Vere kann trauern«, sagte Egwene und stand auf. »Egwene al’Vere hat den Mann verloren, den sie liebte, und sie fühlte ihn durch einen Behüterbund sterben. Die Amyrlin hat Mitgefühl mit Egwene al’Vere, so wie sie Mitgefühl für jede Aes Sedai hätte, die einen solchen Verlust erleidet. Und angesichts der Letzten Schlacht würde die Amyrlin erwarten, dass sich die Frau zusammenreißt und zur Front zurückkehrt.«

Sie ging durch das Zimmer, und jeder neue Schritt wurde energischer. Sie streckte die Hand aus und deutete auf Voras Sa’angreal, das Silviana noch hielt. »Das werde ich brauchen.«

Silviana zögerte.

»Falls Ihr beide nicht entdecken wollt, wozu ich im Augenblick fähig bin«, sagte Egwene leise, »würde ich Euch nicht empfehlen, ungehorsam zu sein.«

Silviana sah Rosil an, die seufzte und zögernd nickte. Silviana übergab den Stab.

»Ich billige das keineswegs, Mutter«, sagte Rosil. »Aber wenn Ihr darauf besteht …«

»Das tue ich.«

»… dann gebe ich Euch diesen Rat. Gefühle werden Euch zu zermalmen drohen. Das ist die Gefahr. Nach dem Verlust eines Behüters wird es schwer sein, Saidar zu ergreifen. Wenn Ihr es schafft, wird die Ausgeglichenheit einer Aes Sedai vermutlich unmöglich zu erringen sein. Das kann gefährlich werden. Sehr gefährlich.«

Egwene öffnete sich Saidar. Wie Rosil gesagt hatte, fiel es schwer, die Quelle zu umarmen. Zu viele Gefühle kämpften um ihre Aufmerksamkeit, überwältigten sie, verjagten die Ruhe. Sie errötete, als sie es zum zweiten Mal nicht schaffte.

Silviana öffnete den Mund, zweifellos um vorzuschlagen, dass sie sich wieder hinsetzte. In diesem Augenblick fand Egwene Saidar, die Knospe in ihrem Geist erblühte, und die Eine Macht strömte in sie hinein. Sie schenkte Silviana einen trotzigen Blick, dann fing sie an, ein Wegetor zu weben.

»Ihr habt noch nicht den Rest meines Rates gehört, Mutter«, sagte Rosil. »Ihr werdet nicht dazu in der Lage sein, die Gefühle zu vertreiben, die Euch zu schaffen machen, jedenfalls nicht vollständig. Eure einzige Wahl ist eine schlechte, nämlich diese Gefühle der Trauer und des Schmerzes mit stärkeren Gefühlen zu überlagern.«

»Das dürfte überhaupt nicht schwer sein«, sagte Egwene. Tief Luft holend zog sie noch mehr von der Einen Macht in sich hinein. Sie erlaubte sich, Wut zu fühlen. Zorn auf das Schattengezücht, das die Welt bedrohte, Zorn auf sie, weil sie ihr Gawyn genommen hatten.

»Ich werde jemanden brauchen, der mich im Auge behält«, sagte Egwene und widersprach damit Silvianas vorheriger Bemerkung. Gawyn war für sie keine Schwäche gewesen. »Ich werde einen anderen Behüter brauchen.«

»Aber …«, setzte Rosil an.

Egwene brachte sie mit einem Blick zum Schweigen. Ja, die meisten Frauen warteten. Ja, Egwene al’Vere litt unter der Qual ihres Verlusts, und niemand konnte Gawyn ersetzen. Aber sie glaubte an Behüter. Die Amyrlin brauchte jemanden, der ihren Rücken schützte. Darüber hinaus war jeder mit einem Behüterbund ein besserer Kämpfer als jemand ohne ihn. Ohne Behüter loszuziehen verweigerte dem Licht einen weiteren Soldaten.

Hier gab es jemanden, der ihr Leben gerettet hatte. Nein, sagte ein Teil von ihr, als ihr Blick auf Leilwin fiel. Keine Seanchanerin.

Ein anderer Teil von ihr, die Amyrlin, lachte sie dafür aus. Hör auf, dich wie ein Kind zu benehmen. Sie würde eine Behüterin bekommen. »Leilwin Schiffslos«, sagte Egwene laut, »wollt Ihr diese Pflicht übernehmen?«

Die Frau fiel auf die Knie und senkte den Kopf. »Ich … ja.«

Egwene formte das Gewebe für den Behüterbund. Leilwin stand auf, sah plötzlich weniger erschöpft aus und holte tief Luft. Egwene öffnete ein Wegetor zur anderen Seite des Raumes, dann benutzte sie ihre schlagartig erfolgte Kenntnis dieses Zimmers, um ein weiteres zu dem Ort zu öffnen, an dem ihre Leute kämpften. Explosionen, Schreie und der klirrende Aufprall von Waffen auf Schilden drang aus der Öffnung.

Egwene betrat wieder das Schlachtfeld, und sie brachte den Zorn der Amyrlin mit.


Demandred war ein Klingenmeister. Galad war davon ausgegangen, aber er zog es vor, seine Annahmen einer Prüfung zu unterziehen.

Die beiden tänzelten im Kreis der zusehenden Sharaner vor und zurück. Galad trug eine leichte Rüstung, ein Kettenhemd unter dem Wappenrock, und bewegte sich schneller. Die miteinander verwobenen Münzen Demandreds waren schwerer als eine normale Rüstung, boten aber einen guten Schutz gegen eine Klinge.

»Du bist besser als dein Bruder«, sagte Demandred. »Er starb schnell.«

Der Mann versuchte, Galad in Rage zu bringen. Damit scheiterte er. Eiskalt und vorsichtig griff Galad an. ›Der Höfling tippt mit dem Fächer‹. Demandred reagierte mit etwas, das große Ähnlichkeit mit ›Der Falke stößt herab‹ hatte, und wehrte Galads Angriff ab. Der Verlorene trat zurück und ging den Rand des Kreises mit seitlich ausgestrecktem Schwert entlang. Anfangs hatte er viel geredet. Jetzt machte er nur noch gelegentlich eine höhnische Bemerkung.

Sie umkreisten einander in der Dunkelheit, die von den Fackeln der Sharaner erleuchtet wurde. Eine Umdrehung. Zwei.

»Macht schon«, sagte Demandred. »Ich warte.«

Galad schwieg. Jeder Augenblick, den er herausschlagen konnte, war ein Augenblick weniger, in dem Demandred Vernichtung auf Elayne oder ihre Heere herabregnen ließ. Der Verlorene schien das ebenfalls zu begreifen, denn er kam schnell näher. Drei Schläge: nach unten, zur Seite, Rückhand. Galad erwiderte jeden Hieb, ihre Arme waren wie ein Schemen.

Eine Bewegung von der Seite. Es war ein Stein, den Demandred mit der Macht schleuderte. Nur mit Mühe konnte Galad ihm ausweichen, dann hob er das Schwert gegen die nächsten Hiebe. Wütende, von oben nach unten geführte Schläge, ›Der Keiler stürmt bergab‹, krachten gegen Galads Klinge. Er hielt stand, konnte aber nicht die folgende Drehung der Klinge verhindern, die in seinen Unterarm schnitt.

Demandred trat zurück, und Galads Blut tropfte von seinem Schwert. Wieder umkreisten sie einander, beobachteten einander. Warmes Blut floss am Arm herunter in Galads Handschuh. Auch ein kleiner Blutverlust konnte einen Mann langsamer machen und ihn schwächen.

Galad atmete ein und aus, ließ jeden Gedanken und jede Sorge los. Als Demandred erneut angriff, sah er es voraus, trat zur Seite und schlug mit beiden Händen nach unten, schnitt tief in das Leder hinter Demandreds Knieschutz. Das Schwert glitt von der Rüstung ab, richtete aber trotzdem Schaden an. Als Galad zurückwich, hinkte Demandred.

Der Verlorene verzog das Gesicht. »Du hast mich bluten lassen«, sagte er. »Es ist sehr lange her, dass das jemandem gelang.«

Unter Galad bäumte sich plötzlich der Boden auf. Verzweifelt machte er einen Satz nach vorn, auf Demandred zu, und zwang ihn, das Machtlenken einzustellen, wenn er nicht selbst stürzen wollte. Der Verlorene grunzte und schwang die Klinge, aber Galad befand sich innerhalb der gegnerischen Deckung.

Zu nahe, um richtig ausholen zu können, rammte Galad den Schwertknauf in Demandreds Gesicht. Sein Gegner fing die Hand ab, packte sie am Gelenk. Aber da krallte er schon die Finger der anderen Hand in den Helm und versuchte, ihn dem Verlorenen über die Augen zu ziehen. Er grunzte. Keiner von ihnen ließ los, und so standen sie in stummem Ringen reglos da.

Dann riss der Muskel in dem durch den Schnitt verletzten Arm. Er tat es mit einem widerwärtigen Laut, den Galad deutlich hörte. Tauben Fingern entglitt die Klinge, sein Arm verkrampfte sich, und Demandred stieß ihn zurück und schlug blitzschnell zu.

Galad fiel auf die Knie. Sein rechter Arm landete vor ihm auf dem Boden – am Ellbogen abgetrennt.

Keuchend trat Demandred zurück. Er war besorgt gewesen. Gut. Galad hielt seinen blutenden Stumpf umklammert, dann spuckte er dem Verlorenen vor die Füße.

Demandred schnaubte, dann schwang er erneut das Schwert.

Alles wurde schwarz.


Androl hatte das Gefühl, vergessen zu haben, wie frische Luft schmeckte. Um ihn herum qualmte und bebte das Land, hing dichter Rauch im Wind und trug den Gestank brennender Körper heran.

Er und die anderen waren auf dem Plateau zur Westseite marschiert und suchten weiter nach Taim. Hier kämpfte ein großer Teil der sharanischen Armee mit den Soldaten der Weißen Burg.

Gruppen Machtlenker zogen von der einen oder anderen Seite Feuer auf sich, daher durchquerte Androl die schreckliche Landschaft allein. Tief geduckt trat er über aufgewühlte Stellen aus qualmender Erde hinweg und versuchte wie ein Verwundeter zu erscheinen, der sich in Sicherheit brachte. Noch immer trug er Nensens Gesicht, aber in seiner verkrümmten Haltung spielte das keine große Rolle.

Er verspürte einen heftigen Stich von Pevara, die sich allein in der Nähe bewegte.

Was ist los?, dachte er in ihre Richtung. Seid Ihr wohlauf?

Einen angespannten Augenblick später kamen ihre Gedanken. Mir geht es gut. Ein paar Sharaner jagten mir einen Schrecken ein. Ich konnte sie davon überzeugen, dass ich auf ihrer Seite bin, bevor sie angriffen.

Es ist ein Wunder, dass hier überhaupt jemand Freund und Feind unterscheiden kann, erwiderte Androl. Er hoffte, dass Emarin und Jonneth unversehrt waren. Die beiden waren zusammen aufgebrochen, aber wenn sie …

Androl erstarrte. Durch die Rauchschwaden erblickte er einen Kreis aus Trollocs voraus, die etwas beschützten. Sie standen auf einem Felsvorsprung, der wie die Sitzfläche eines Stuhls über den Hang hinausragte.

In der Hoffnung, einen Blick riskieren zu können, schlich Androl weiter.

Androl! Pevaras Stimme in seinem Kopf ließ ihn beinahe aus der Haut fahren.

Was?

Ihr wart wegen etwas alarmiert. Ich reagierte auf Euch.

Er nahm ein paar beruhigende Atemzüge. Ich habe etwas entdeckt. Einen Augenblick.

Tatsächlich kam er nahe genug heran, um in dem Kreis Machtlenken zu fühlen. Er wusste nicht, ob …

Die Trollocs wichen auseinander, als jemand einen Befehl brüllte. Mishraile schaute aus dem Kreis, dann runzelte er die Stirn. »Es ist bloß Nensen!«

Androls Herz schlug schneller.

Ein Mann in Schwarz wandte sich von seiner Betrachtung der Schlacht ab. Taim. In Händen hielt er eine dünne Scheibe, schwarz und weiß. Mit dem Daumen rieb er darüber, während er den Blick über das Schlachtfeld schweifen ließ, und lachte höhnisch, als würde er die schwächeren Machtlenker verachten, die überall um ihn herum kämpften.

»Und?«, fauchte er Androl an, drehte sich um und schob die Scheibe in einen Beutel an seinem Gürtel.

»Ich sah Androl«, sagte Androl, während sich seine Gedanken überschlugen. Beim Licht, die anderen erwarteten, dass er näher kam. Das tat er dann auch, ging an den Trollocs vorbei, begab sich auf direktem Weg in den Rachen der Bestie. Falls er nahe genug herankommen konnte … »Ich folgte ihm eine Weile.« Nensen sprach immer mit rauer, knirschender Stimme, und Androl gab sich alle Mühe, sie nachzumachen. Pevara hätte die Stimme in das Gewebe einfügen können, hatte sie aber nicht gut genug gekannt.

»Der ist mir doch egal! Narr. Was tut Demandred?«

»Ich begegnete ihm«, sagte Androl. »Es gefiel ihm nicht, dass ich dort drüben war. Er hat mich zurück zu Euch geschickt und gesagt, sollte er auch nur einen von uns außerhalb dieser Position sehen, würde er uns töten.«

Androl …, sagte Pevara besorgt. Er hatte keine Konzentration dafür übrig, ihr jetzt zu antworten. Er musste sich mit allen Kräften bemühen, nicht am ganzen Leib zu zittern, als er nahe an Taim herantrat.

Taim rieb sich mit zwei Fingern die Stirn, schloss die Augen. »Und ich glaubte, Ihr könntet eine so einfache Sache erledigen.« Taim erschuf ein kompliziertes Gewebe aus Geist und Feuer. Es traf Androl wie der Biss einer Schlange.

Plötzlich raste ein Schmerz durch seinen Körper, fing in den Füßen an und breitete sich in alle Glieder aus. Aufschreiend brach er zusammen.

»Wie gefällt Euch das?«, fragt Taim. »Moridin hat mir das beigebracht. Ich glaube, er will mich gegen Demandred hetzen.«

Androl schrie mit seiner eigenen Stimme. Das entsetzte ihn, aber es schien niemandem aufzufallen. Als Taim das Gewebe endlich losließ, verblich der Schmerz. Androl wälzte sich weiter im Staub, seine Glieder zuckten noch immer durch die Erinnerung an den Schmerz.

»Steht auf«, knurrte Taim.

Mühsam kam Androl auf die Beine.

Ich bin auf dem Weg, dachte Pevara.

Bleibt zurück, erwiderte er. Licht, er fühlte sich kraftlos. Als er aufstand, stolperte er gegen Taim, griff nach ihm, denn seine Beine wollten nicht gehorchen.

»Narr«, sagte Taim. »Steht still.« Und er begann ein anderes Gewebe. Androl versuchte aufzupassen, aber er war zu nervös, um Einzelheiten mitzubekommen. Es schwebte vor ihm, dann legte es sich um ihn.

»Was tut Ihr da?«, fragte er. Er brauchte das Zittern in seiner Stimme nicht vorzutäuschen. Diese Schmerzen.

»Ihr habt Androl gesehen?«, sagte Taim. »Ich lege Euch eine Spiegelmaske an und drehe das Gewebe um, lasse Euch wie er aussehen. Ich will, dass Ihr Euch als den Pagen ausgebt, Logain findet und ihn tötet. Nehmt ein Messer oder ein Gewebe, es ist mir egal.«

»Ihr … Ihr lasst mich wie Androl aussehen«, stammelte Androl.

»Androl ist einer von Logains Schoßhündchen«, sagte Taim. »Er sollte Euch nicht verdächtigen. Ich verlange da eine ausgesprochen einfache Sache von Euch, Nensen. Glaubt Ihr, dass Ihr es einmal nicht vermasselt?«

»Ja, M’Hael.«

»Gut. Denn wenn Ihr versagt, töte ich Euch.« Das Gewebe fiel an Ort und Stelle und war nicht mehr zu sehen.

Mishraile grunzte, ließ Androl los und trat zurück. »Ich glaube, Androl ist viel hässlicher, M’Hael.«

Taim schnaubte, dann scheuchte er Androl weg. »Das reicht. Geht mir aus den Augen. Kommt mit Logains Kopf zurück, oder Ihr braucht gar nicht mehr zurückzukehren.«

Androl eilte fort und spürte die Blicke der anderen im Nacken. Sobald er ein ordentliches Stück weit weg war, rannte er um eine Hecke, die größtenteils verbrannt war, und stolperte beinahe über Pevara, Emarin und Jonneth, die sich dort verbargen.

»Androl!«, flüsterte Emarin. »Eure Tarnung! Was ist passiert? War das Taim?«

Androl ließ sich zu Boden sacken und versuchte sein pochendes Herz wieder zu beruhigen. Dann hielt er den Beutel hoch, den er Taim vom Gürtel gestohlen hatte, als sie zusammengestoßen waren. »Er war es. Ihr werdet das nicht glauben, aber …«


Arganda strich auf Mächtigs Sattel sitzend das Stück Papier glatt und zog seine Liste mit dem Schlüssel aus der Tasche. Diese Trollocs schossen weiterhin mit Pfeilen. Bis jetzt war er noch jedem Treffer entgangen. Genau wie Königin Alliandre, die noch immer mit ihm ritt. Wenigstens war sie bereit, bei seiner Reserve zurückzubleiben, wo sie etwas besser geschützt war.

Zusätzlich zu der Legion des Drachen und den Grenzländern war seine Streitmacht zusammen mit der Wolfsgarde und den Weißmänteln nach der Schlacht bei den Ruinen flussabwärts gezogen. Arganda hatte mehr Fußsoldaten als die anderen, und sie marschierten hinter ihnen her.

Es hatte genug Kämpfe gegeben, da die Trollocs und Sharaner in dem trockenen Flussbett versuchten, die Heere Andors einzukreisen. Arganda hatte dort ein paar Stunden lang gekämpft, als die Sonne unterging und Schatten brachte. Aber als er die Nachricht bekommen hatte, hatte er sich zurückgezogen.

»Eine Sauklaue ist das«, murrte er, ging die kleine Verschlüsselungsliste durch und hielt sie in die Nähe einer Fackel. Die Befehle waren echt. Entweder das, oder jemand hatte den Schlüssel geknackt.

»Und?«, fragte Turne.

»Cauthon ist am Leben.« Arganda grunzte.

»Wo ist er?«

»Keine Ahnung.« Arganda faltete das Papier zusammen und steckte den Schlüssel weg. »Der Bote sagte, Cauthon öffnete ein Wegetor vor ihm, warf ihm den Brief ins Gesicht und befahl ihm, mich zu finden.«

Arganda wandte sich nach Süden und spähte in die Dunkelheit hinein. In Vorbereitung auf die Nacht hatten seine Männer durch Wegetore Öl herbeigeschafft und Holzstapel entzündet. Im Feuerschein konnte er die Männer aus den Zwei Flüssen herankommen sehen, genau wie es der Befehl gesagt hatte.

»Hallo, Tam al’Thor!«, sagte Arganda und hob eine Hand. Seinen Kommandanten hatte er nicht mehr gesehen, seit sie sich vor Stunden nach dem Kampf bei den Ruinen getrennt hatten.

Die Neuankömmlinge sahen so erschöpft aus, wie sich Arganda fühlte. Es war ein sehr langer Tag gewesen, und er war noch lange nicht vorbei. Ich wünschte, Gallenne wäre hier, dachte Arganda und warf einen Blick auf die Trollocs am Fluss, während al’Thors Männer näher kamen. Ich könnte jemanden brauchen, mit dem ich debattieren kann.

Weiter flussabwärts ertönten Rufe und klirrender Lärm von dem Ort, an dem die Pikenhaufen der Andoraner die in Wellen angreifenden Tiermenschen kaum noch abwehren konnten. Mittlerweile zog sich diese Schlacht am unteren Mora entlang, und zwar fast bis zum Dasharfels. Seine Männer hatten geholfen, dass die Andoraner nicht eingekesselt wurden.

»Was gibt es Neues, Arganda?«, fragte Tam.

»Cauthon lebt«, sagte Arganda. »Und das ist verdammt erstaunlich, wenn man bedenkt, dass jemand seinen Kommandoposten zerlegt, sein Zelt angezündet, einen Haufen seiner Damane umgebracht und seine Frau weggejagt hat. Cauthon hat es irgendwie überstanden.«

»Ha!«, sagte Abell Cauthon. »Das ist mein Junge.«

»Er hat mir mitgeteilt, dass ihr kommt«, sagte Arganda. »Er behauptet, ihr hättet Pfeile. Stimmt das?«

Tam nickte. »Unsere letzten Befehle schickten uns durch das Wegetor nach Mayene, um dort Geheilt und neu ausgerüstet zu werden. Ich weiß nicht, wie Mat wissen konnte, dass Pfeile kommen würden, aber eine Lieferung von den Frauen in den Zwei Flüssen traf genau in dem Augenblick ein, in dem wir uns zur Rückkehr vorbereiteten. Wir haben auch Langbögen für euch, falls ihr sie braucht.«

»Tun wir. Cauthon will, dass unsere Truppen flussaufwärts zu den Ruinen zurückmarschieren, das Flussbett überqueren und die Polov-Anhöhe an ihrer nordöstlichen Seite erklimmen.«

»Keine Ahnung, was das soll, aber ich schätze, er weiß, was er da tut …«, meinte Tam.

Gemeinsam zogen ihre Streitkräfte in der Nacht flussaufwärts und ließen die kämpfenden Andoraner, Cairhiener und Aiel zurück. Der Schöpfer beschütze euch, Freunde, dachte Arganda.

Sie überquerten das ausgetrocknete Flussbett und kamen zum Nordosthang. An dieser Stelle herrschte oben auf dem Plateau Stille, aber der Schein ganzer Fackelreihen war deutlich zu sehen.

»Das wird eine harte Nuss, wenn das da oben Sharaner sind«, sagte Tam leise und schaute den dunklen Hang hinauf.

»In Cauthons Botschaft stand, dass wir Hilfe erhalten«, erwiderte Arganda.

»Was für Hilfe denn?«

»Ich weiß nicht. Er hat nicht …«

In der Nähe grollte Donner, und Arganda zuckte zusammen. Die meisten Machtlenker sollten angeblich auf der anderen Seite der Anhöhe kämpfen, aber das bedeutete nicht, dass ihnen hier keine begegnen würden. Er hasste dieses Gefühl, den Eindruck, dass ihn möglicherweise ein Machtlenker beobachtete und sich zu entscheiden versuchte, ob er ihn mit Feuer, Blitz oder Erde tötete.

Machtlenker. Ohne sie würde die Welt ein besserer Ort sein. Aber wie sich herausstellte, war dieser Laut gar kein Donner. Aus der Nacht galoppierten Reiter mit Fackeln, durchquerten das Flussbett und gesellten sich zu Arganda und seinen Männern. Inmitten einer Ansammlung von Grenzlandbannern flatterte der Goldene Kranich.

»Ich glaube, ich bin ein verdammter Trolloc«, rief Arganda. »Haben diese Grenzländer entschieden, sich uns anzuschließen?«

Lan Mandragoran salutierte im Fackelschein, sein Schwert funkelte silbrig. »Wir sind hier, um zu kämpfen.«

Arganda nickte.

»Gut«, sagte Lan leise vom Sattel. »Ich habe soeben Berichte empfangen, dass sich dort oben eine große sharanische Streitmacht in nordöstlicher Richtung bewegt. Mir ist klar, dass sie sich in den Rücken unserer Leute setzen wollen, die am Fluss gegen die Trollocs kämpfen; dann wären wir umzingelt und ihrer Gnade ausgeliefert. Sieht so aus, als wäre es unsere Aufgabe, das zu verhindern.«

Er wandte sich Tam zu. »Bogenschützen, seid ihr bereit, sie für uns weichzuklopfen?«

»Ich glaube, das schaffen wir.«

Lan nickte, dann hob er das Schwert. Ein Malkieri an seiner Seite stieß den Goldenen Kranich in die Höhe. Und dann galoppierten sie einfach den Hang hinauf. Ein gewaltiges feindliches Heer kam ihnen entgegen, formiert zu breiten Reihen. Tausende Fackeln erhellten den Himmel.

Tam al’Thor brüllte seinen Männern zu, Aufstellung zu nehmen und die Bögen zu spannen. »Schießt!«, rief Tam, und sie schickten den Sharanern Pfeilsalven entgegen.

Dann wurde der Beschuss erwidert, da sich der Abstand zwischen beiden Heeren verringert hatte. Arganda vermutete, dass Bogenschützen in der Dunkelheit nicht so zielsicher waren wie am Tag – aber das würde für beide Seiten gelten.

Die Männer von den Zwei Flüssen entfesselten eine Woge des Todes, Pfeile so schnell wie vom Himmel stoßende Falken.

»Aufhören!«, brüllte Tam seinen Männern zu. Sie stellten ihren Beschuss in genau dem Augenblick ein, in dem Lans Kavallerie die zerschossenen feindlichen Linien erreichte.

Wo hat Tam bloß seine Schlachterfahrung her? Arganda dachte an die Gelegenheiten, bei denen er Tam hatte kämpfen sehen. Er hatte erfahrene Generäle gekannt, die auf einem Schlachtfeld bedeutend weniger Geschick bewiesen hatten als dieser Schafhirte.

Die Grenzländer zogen sich zurück und ließen Tam und seine Männer weitere Pfeile abschießen. Dann gab Arganda ein Signal.

»Los geht’s!«, rief er seinen Fußsoldaten zu. »Alle Kompanien – vorwärts!«

Der abwechselnde Angriff der Bogenschützen und der schweren Kavallerie war machtvoll, aber sobald der Feind seine Verteidigung eingerichtet hatte, würde die Wirkung begrenzt sein. Bald würden die Sharaner einen soliden Wall aus Schilden und Speeren errichtet haben, um Reiter und Bogenschützen abzuwehren. Da kam die Infanterie ins Spiel.

Arganda nahm seinen Streitkolben – diese Sharaner trugen Kettenhemden und Leder –, hob ihn und führte seine Männer nach oben. Er vertrat dem Feind den Weg, der wieder vorrückte. Tams Truppe setzte sich aus Weißmänteln, Ghealdanern, Perrins Wolfsgarde und der Geflügelten Wache von Mayene zusammen, aber sie betrachtete sich als eine Armee. Noch vor sechs Monaten hätte Arganda beim Grab seines Vaters geschworen, dass solche Männer niemals gemeinsam kämpfen würden – geschweige denn einander zu Hilfe eilen würden, wie es die Wolfsgarde getan hatte, als die Weißmäntel überrannt wurden.

An der Seite der Sharaner waren heulende Trollocs zu hören. Beim Licht! Auch noch Trollocs?

Arganda schwang seinen Streitkolben, bis sein Arm brannte, dann wechselte er die Hand und schlug weiter, brach Knochen und zerschmetterte Hände und Arme, bis Mächtigs Fell blutbefleckt war.

Plötzlich zuckten vom entgegengesetzten Ende der Anhöhe Lichtblitze auf die Andoraner in der Tiefe zu. Arganda war völlig im Kampf versunken und bemerkte es kaum, aber etwas in seinem Inneren wimmerte. Demandred musste seinen Angriff wieder aufgenommen haben.

»Ich habe deinen Bruder besiegt, Lews Therin!« Die Stimme hallte so laut wie ein Gewitterdonnern über das Schlachtfeld. »Er stirbt jetzt, verblutet!«

Arganda ließ Mächtig zurücktänzeln und drehte sich um, als ein gewaltiger Trolloc mit einem fast menschlichen Gesicht den verwundeten Sharaner neben sich zur Seite stieß und blökte. Blut strömte aus einer klaffenden Wunde an seiner Schulter, aber er schien es nicht zu bemerken. Er hob einen an einer kurzen Kette befestigten Flegel, dessen Kopf wie ein mit Nägeln gespickter Holzscheit aussah.

Der Flegel krachte direkt neben Mächtig in den Boden und ließ das Pferd scheuen. Während Arganda um die Kontrolle kämpfte, trat der riesige Trolloc vor und schlug mit der freien Hand zu, donnerte eine schinkengroße Faust gegen Mächtigs Kopf. Das Pferd brach zusammen.

»Interessierst du dich nicht für das Fleisch dieser Geburt?«, donnerte Demandred in der Ferne. »Hast du keine Liebe für den Mann, der dich Bruder nannte, diesen Mann in Weiß?«

Mächtigs Kopf war wie ein Ei zersplittert. Seine Beine zuckten noch immer. Arganda kam wieder auf die Füße. Er konnte sich nicht daran erinnern, von dem zusammenbrechenden Pferd gesprungen zu sein, aber sein Instinkt hatte ihn gerettet. Unglücklicherweise hatte sein Sprung ihn von seinen Leibwächtern entfernt, die gegen eine Gruppe Sharaner kämpften.

Seine Männer rückten vor, und der Feind wurde langsam zurückgedrängt. Aber er hatte keine Zeit, sich das anzusehen. Der Trolloc hatte ihn erreicht. Arganda umklammerte seinen Streitkolben und schaute zu der Bestie hoch, die den Flegel über dem Kopf schwang und über das sterbende Pferd stieg.

Noch nie hatte sich Arganda so klein gefühlt.

»Feigling!«, brüllte Demandred. »Du bezeichnest dich als Retter dieses Landes? Ich beanspruche diesen Titel! Stell dich mir! Muss ich erst deinen Verwandten töten, um dich aus deinem Versteck zu locken?«

Arganda holte tief Luft, dann sprang er vorwärts. Vermutlich rechnete der Trolloc damit zuletzt. Tatsächlich verfehlte ihn der Hieb der Bestie. Arganda landete einen soliden Treffer gegen ihre Seite, der Streitkolben traf die Hüfte und zerschmetterte Knochen.

Dann traf ihn die Kreatur mit dem Handrücken. Arganda sah ein weißes Licht aufblitzen, und der Lärm der Schlacht verblich. Schreie, trampelnde Füße, Rufe. Schreie und Rufe. Rufe und Schreie … Vergessen.

Etwas später – er vermochte nicht zu sagen, wie viel Zeit verstrichen war – hob ihn jemand vom Boden auf. Der Trolloc? Er blinzelte und wollte seinem Mörder noch mindestens ins Gesicht spucken, nur um zu entdecken, dass er hinter al’Lan Mandragoran in den Sattel gehoben wurde.

»Ich lebe noch?«, sagte Arganda. Ein pulsierender Schmerz auf der linken Seite unterrichtete ihn darüber, dass er tatsächlich noch lebte.

»Ihr habt einen Großen gefällt, Ghealdaner«, sagte Lan und trieb sein Pferd zum Galopp in Richtung der rückwärtigen Linien an. Die anderen Grenzländer ritten mit ihnen, wie Arganda sah. »Der Trolloc traf Euch in seinen Todeszuckungen. Ich hielt Euch für tot, aber ich konnte Euch nicht holen, bevor wir sie zurückgedrängt hatten. Wir wären in arge Bedrängnis geraten, hätte dieses andere Heer die Sharaner nicht überrascht.«

»Andere Heer?«, sagte Arganda und rieb sich den Arm.

»Cauthon hatte ein Heer auf der Nordseite der Anhöhe in Bereitschaft. Allem Anschein nach Drachenverschworene und ein Banner Kavallerie, vermutlich von der Bande. Als Ihr mit diesem Trolloc gerungen habt, stürmten sie gegen die linke Flanke der Sharaner und sprengten sie auseinander. Sie werden eine Weile brauchen, um sich wieder zu sammeln.«

»Licht!« Arganda stöhnte. Er wusste, dass sein linker Arm gebrochen war. Nun, er lebte. Für den Augenblick reichte das. Er schaute zu den Frontlinien, wo seine Soldaten noch immer ihre Reihen hielten. Königin Alliandre ritt in ihrer Mitte auf und ab und machte ihnen Mut. Licht! Er wünschte sich, sie wäre bereit gewesen, in dem Lazarett in Mayene zu dienen.

Im Augenblick herrschte hier Ruhe – die Sharaner waren schwer genug getroffen worden, um sich zurückzuziehen und offenes Gelände zwischen den gegnerischen Heeren zu hinterlassen. Vermutlich hatten sie nicht mit einem so energischen Angriff gerechnet.

Aber was war das? Schatten näherten sich von rechts, übergroße Gestalten marschierten aus der Dunkelheit. Weitere Trollocs? Arganda biss die Zähne gegen den Schmerz zusammen. Seinen Streitkolben hatte er verloren, aber er hatte noch immer sein Stiefelmesser. Er würde nicht ohne … ohne …

Ogier, erkannte er blinzelnd. Das sind keine Trollocs. Das sind Ogier. Trollocs würden keine Fackeln tragen.

»Ruhm den Baumeistern!«, rief Lan ihnen entgegen. »Also habt Ihr zu dem Heer gehört, das Cauthon gegen die Flanke der Sharaner schickte. Wo ist er? Ich will mit ihm reden!«

Einer der Ogier lachte grollend. »Da seid Ihr nicht der Einzige, Dai Shan. Cauthon flitzt wie ein Eichhörnchen im Unterholz auf der Suche nach Nüssen. Jetzt ist er hier, dann ist er weg. Ich soll Euch ausrichten, dass wir diesen sharanischen Vorstoß aufhalten müssen, was es auch kosten mag.«

Noch mehr Lichter blitzten in der Ferne auf. Dort kämpften Aes Sedai und Sharaner. Cauthon versuchte, die Streitkräfte des Schattens einzukreisen. Arganda verdrängte seine Schmerzen und versuchte nachzudenken.

Was war mit Demandred? Arganda konnte jetzt eine weitere Schneise der Vernichtung erkennen, die von dem Verlorenen ausging. Sie brannte sich auf der anderen Flussseite durch die Verteidiger. Die Pikenformationen standen kurz vor der Auflösung, jeder Lichtstrahl tötete Hunderte.

»Sharanische Machtlenker auf der einen Seite«, murmelte Arganda, »und einer der Verlorenen auf der anderen! Licht! Mir ist nie wirklich klar geworden, wie viele Trollocs dort sind. Sie sind zahllos.« Jetzt konnte er sehen, wie sie Elaynes Truppen angriffen; Blitze der Einen Macht beleuchteten Tausende von ihnen dort unten in der Ferne. »Wir sind erledigt, nicht wahr?«

Auf Lans Gesicht spiegelte sich der Fackelschein. Augen wie Schiefer, ein Antlitz wie Granit. Er widersprach Arganda nicht.

»Was tun wir?«, fuhr Arganda fort. »Um zu siegen … Beim Licht, um zu siegen, müssen wir diese Sharaner niederringen und die Pikenmänner retten – sie sind bald von Trollocs umzingelt –, dazu müsste jeder unserer Männer mindestens fünf der Bestien töten! Und da ist Demandred nicht mitgezählt!«

Lan gab keine Erwiderung.

»Wir sind verloren«, sagte Arganda.

»Falls dem so ist, stehen wir dennoch in erhöhter Position«, sagte Lan, »und wir kämpfen, bis wir sterben, Ghealdaner. Man ergibt sich, wenn man tot ist. Viele Männer hatten bedeutend weniger.«


Die Fäden potenzieller Möglichkeiten widersetzten sich Rand, als er sie zu der Welt verwebte, die er sich vorstellte. Ihm war nicht klar, was das zu bedeuten hatte. Vielleicht war das, was er sich so vorstellte, einfach unwahrscheinlich. Was er hier tat, mit Fäden zu zeigen, was alles möglich war, war mehr als eine einfache Illusion. Dazu griff man auf Welten zurück, die es zuvor gegeben hatte, Welten, die es wieder geben konnte. Spiegel der Realität, in der er lebte.

Er erschuf diese Welten nicht. Er … manifestierte sie lediglich. Er zwang die Fäden, sich der von ihm verlangten Realität zu öffnen, und schließlich gehorchten sie. Ein letztes Mal wurde aus Dunkelheit Licht, und das Nichts wurde zu Etwas.

Er trat in eine Welt, die den Dunklen König nicht kannte.

Er wählte Caemlyn als Eingang. Vielleicht, weil der Dunkle König diesen Ort in seiner letzten Schöpfung benutzt hatte und Rand ihm beweisen wollte, dass die schreckliche Version nicht unausweichlich war. Er musste diese Stadt noch einmal sehen, aber unverdorben.

Er ging über die Straße vor dem Palast und holte tief Luft. Die Butterblütenbäume standen in voller Blüte, die hellgelben Blüten hingen über Hofmauern. Dort spielten Kinder und warfen Blütenblätter in die Luft.

Nicht eine Wolke verdunkelte den strahlend hellen Himmel. Rand schaute auf, hob die Arme und trat aus dem Schatten der Äste in das wärmende Sonnenlicht. Am Palasteingang standen keine Wächter, nur ein freundlicher Diener, der einigen Besuchern Fragen beantwortete.

Rands Füße hinterließen Spuren in den goldenen Blütenblättern, als er sich dem Eingang näherte. Ein Kind kam ihm entgegen, und Rand blieb lächelnd stehen.

Das Mädchen reckte sich und berührte das Schwert an Rands Gürtel. Es erschien verwirrt. »Was ist das?«, fragte es mit weit aufgerissenen Augen.

»Ein Relikt«, flüsterte Rand.

Das Lachen anderer Kinder ließ die Kleine den Kopf drehen, und sie lief weg, kicherte, als eines der Kinder Hände voll Blütenblätter in die Luft schleuderte.

Rand ging weiter.

IST DAS FÜR DICH ETWA PERFEKTION? Die Stimme des Dunklen Königs schien aus weiter Ferne zu kommen. Er konnte in diese Realität eindringen, um mit Rand zu sprechen, aber im Gegensatz zu den anderen Visionen konnte er hier nicht erscheinen. Dieser Ort war seine Antithese.

Denn dies war die Welt, die es geben würde, falls Rand ihn in der Letzten Schlacht tötete.

»Komm und sieh es dir an«, erwiderte Rand lächelnd.

Keine Erwiderung. Ließ sich der Dunkle König zu weit in diese Wirklichkeit hineinziehen, würde er aufhören zu existieren. An diesem Ort war er gestorben.

Alle Dinge gingen und kamen wieder. Das war die Bedeutung des Rades der Zeit. Was nutzte es, eine Schlacht gegen den Dunklen König zu gewinnen, wenn man doch genau wusste, dass er zurückkehren würde? Rand konnte mehr erreichen. Er konnte das hier erreichen.

»Ich würde gern die Königin sprechen«, sagte Rand zu dem Diener am Palasttor. »Ist sie da?«

»Ihr solltet sie im Garten finden, junger Mann«, sagte der Diener. Er warf einen Blick auf Rands Schwert, aber es war Neugier und keine Besorgnis. In dieser Welt konnten sich Menschen einfach nicht vorstellen, einander zu verletzen. Das gab es nicht.

»Danke«, sagte Rand und betrat den Palast. Die Gänge waren vertraut und doch anders. Während der Letzten Schlacht war Caemlyn beinahe bis auf die Grundmauern zerstört worden, und der Palast hatte gebrannt. Die Rekonstruktion ähnelte dem Vorbild, aber nicht in allen Einzelheiten.

Rand spazierte langsam durch die Korridore. Etwas bereitete ihm Sorgen, ein leises Unbehagen. Was war es …?

Lass dich hier nicht einfangen, erkannte er. Sei nicht selbstzufrieden. Diese Welt war nicht real, nicht völlig. Noch nicht.

Konnte der Dunkle König das geplant haben? Rand dazu zu bringen, für sich ein Paradies zu erschaffen, nur um es zu betreten und sich darin zu verlieren, während die Letzte Schlacht tobte? Menschen starben im Kampf.

Er durfte das nicht vergessen. Er durfte nicht zulassen, dass ihn dieser Wunschtraum verschlang. Als er die Galerie betrat – einen langen Korridor, der scheinbar von Fenstern gesäumt wurde –, fiel es ihm schwer, das im Gedächtnis zu behalten. Denn diese Fenster schauten nicht auf Caemlyn hinaus. Diese neuen Glasportale erlaubten den Blick auf andere Orte, wie ein nie erlöschendes Wegetor.

Rand passierte eines, das wie eine sich unter Wasser befindliche Bucht aussah, in der bunte Fische in alle Richtungen flitzten. Ein anderes zeigte eine friedliche Wiese hoch oben in den Verschleierten Bergen. Rote Blumen unterbrachen das Gras wie Farbkleckse auf dem Boden eines Malerateliers.

Auf der anderen Wand schauten die Fenster auf die großen Städte der Welt. Rand passierte Tear, wo der Stein nun als Museum für die Tage des Dritten Zeitalters diente und die Verteidiger seine Kuratoren waren. Kein Angehöriger dieser Generation hatte jemals eine Waffe getragen, und die Geschichten ihrer Großeltern über Kämpfe verblüfften sie. Ein anderes zeigte die Sieben Türme von Malkier, die wiedererrichtet worden waren – aber als Denkmal und nicht als Befestigung. Nach dem Tod des Dunklen Königs war die Fäule verschwunden, und das Schattengezücht war auf der Stelle tot umgefallen. Als wäre der Dunkle König mit ihnen allen verknüpft gewesen, so wie ein Blasser eine Faust Trollocs führte.

Türen hatten keine Schlösser. Münzen waren eine beinahe vergessene Exzentrizität. Machtlenker halfen dabei, Nahrung für jedermann zu erschaffen. Rand kam an einem Fenster nach Tar Valon vorbei, wo die Aes Sedai jeden Heilten, der darum bat, und Wegetore erschufen, damit Menschen, die sich liebten, zusammenfinden konnten. Jeder hatte alles, was er brauchte.

Neben dem nächsten Fenster zögerte er. Es zeigte Rhuidean. Hatte diese Stadt je in einer Wüste gestanden? Die Wüste blühte von Shara bis Cairhien. Und hier sah Rand die Chorafelder durch das Fenster – ein ganzer Wald von ihnen umgab die sagenumwobene Stadt. Auch wenn er ihre Worte nicht verstehen konnte, sah er doch Aiel singen.

Keine Waffen mehr. Keine Speere, die tanzten. Die Aiel waren wieder Menschen des Friedens.

Er ging weiter. Bandar Eban, Ebou Dar, die Länder der Seanchaner, Shara. Jede Nation war vertreten, allerdings machten sich die Menschen dieser Zeit nicht viel aus Grenzen. Ein weiteres Relikt. Wen interessierte es schon, wer in welcher Nation lebte, und warum sollte man versuchen, Land zu »besitzen«? Es war genug für alle da. Das Erblühen der Wüste hatte Platz für neue Städte und neue Wunder geöffnet. Viele der Fenster gaben Ausblick auf Orte, die ihm unbekannt waren, allerdings freute es ihn, dass die Zwei Flüsse so majestätisch aussahen; beinahe, als wäre Manetheren wiederauferstanden.

Das letzte Fenster ließ ihn innehalten. Es schaute auf ein Tal hinaus, das einst das Verdorbene Land gewesen war. Dort erhob sich nur eine einzelne Steinplatte, wo vor langer Zeit ein Leichnam verbrannt worden war. Sie war mit Leben überwuchert: Schlingpflanzen, Gras, Blumen. Eine haarige Spinne von der Größe einer Kinderfaust huschte über den Stein.

Rands Grab. Der Ort, an dem man nach der Letzten Schlacht seinen Körper verbrannt hatte. Er blieb eine lange Weile vor diesem Fenster stehen, bevor er sich schließlich dazu zwang, weiterzugehen und die Galerie zu verlassen, um in den Palastgarten zu treten. Diener waren hilfreich, wann immer er sie ansprach. Niemand fragte ihn, warum er die Königin sehen wollte.

Er ging davon aus, dass sie von vielen Menschen umgeben sein würde. Falls jeder mit der Königin sprechen konnte, würde das nicht ihre ganze Zeit in Anspruch nehmen? Aber als er sich ihr näherte, saß sie allein unter dem Geäst des Chorabaums des Palastes.

Das hier war eine Welt ohne Sorgen. Eine Welt, wo Menschen ihre Meinungsverschiedenheiten mühelos bereinigten. Eine Welt des Gebens, nicht des Streites. Was würde jemand von der Königin brauchen?

Elayne war so wunderschön wie in dem Augenblick, als sie das letzte Mal auseinandergegangen waren. Natürlich war sie nicht länger schwanger. Seit der Letzten Schlacht waren hundert Jahre vergangen. Sie schien keinen Tag gealtert zu sein.

Rand ging auf sie zu und warf einen Blick auf die Gartenmauer, von der er einst heruntergefallen war, und zwar ihr genau vor die Füße. Damals hatte er sie kennengelernt. Dieser Garten war ganz anders, aber die Mauer gab es noch immer. Sie hatte die Vernichtung Caemlyns überstanden und auch den Anbruch eines neuen Zeitalters.

Elayne sah ihn an. Ihre Augen weiteten sich, und sie schlug die Hand vor den Mund. »Rand?«

Er richtete den Blick auf sie, die Hand auf den Knauf von Lamans Schwert gelegt. Warum hatte er es mitgebracht?

Elayne lächelte. »Soll das ein Streich sein? Tochter, wo bist du? Willst du mich wieder mit der Spiegelmaske auf den Arm nehmen?«

»Es ist kein Trick, Elayne«, sagte Rand und ließ sich vor ihr auf ein Knie nieder, damit ihre Köpfe auf gleicher Höhe waren. Er sah ihr in die Augen.

Etwas stimmte nicht.

»Oh! Aber wie kann das sein?«, rief sie.

Das war nicht Elayne … oder doch? Ihre Stimme schien irgendwie nicht zu passen, ihre kleinen Eigenheiten stimmten nicht. Konnte sie sich so sehr verändert haben? Immerhin waren hundert Jahre vergangen.

»Elayne?«, fragte er. »Was ist mit dir geschehen?«

»Geschehen? Nichts, warum? Der Tag ist großartig, wunderbar. Wunderschön und friedlich. Wie sehr es mir doch gefällt, in meinem Garten zu sitzen und die Sonne zu genießen.«

Rand runzelte die Stirn. Dieser einfältige Tonfall, diese nichtssagenden Worte … Elayne war nie so gewesen.

»Wir werden ein Fest veranstalten!«, rief Elayne und klatschte in die Hände. »Ich werde Aviendha einladen! Es ist ihre freie Woche, wo sie nicht singen muss, obwohl sie vermutlich in der Kinderkrippe arbeitet. Sie arbeitet dort immer freiwillig.«

»In der Kinderkrippe?«

»In Rhuidean. Jeder spielt so gern mit den Kindern, dort wie hier. Es gibt einen großartigen Wettbewerb, sich um die Kinder zu kümmern! Aber wir verstehen die Notwendigkeit, sich darin abzuwechseln.«

Aviendha. Die sich um Kinder kümmerte und Chorabäume besang. Eigentlich war daran nichts Falsches. Warum sollte sie sich nicht an solchen Aktivitäten erfreuen?

Aber auch das war falsch. Er war fest davon überzeugt, dass Aviendha eine wunderbare Mutter abgeben würde, aber sich vorzustellen, wie sie den ganzen Tag mit den Kindern anderer Leute spielte …

Rand blickte in Elaynes Augen, blickte tief in sie hinein. Dahinter lauerte ein Schatten. Oh, es war ein unschuldiger Schatten, aber trotzdem ein Schatten. Er war wie … wie …

Wie der Schatten in den Augen der Leute, die mit der Macht zum Dunklen König Umgedreht worden waren.

Rand sprang auf die Füße und stolperte zurück. »Was hast du getan?«, brüllte er in den Himmel. »Shai’tan! Antworte mir!«

Elayne legte den Kopf schief. Sie fürchtete sich nicht. An diesem Ort gab es keine Furcht. »Shai’tan? Ich könnte schwören, ich erinnere mich an diesen Namen. Es ist so lange her. Manchmal bin ich richtig vergesslich.«

»SHAI’TAN!«, brüllte Rand.

ICH HABE GAR NICHTS GETAN, WIDERSACHER. DIE STIMME WAR LEISE. DAS IST DEINE SCHÖPFUNG.

»Unsinn!«, rief Rand. »Du hast sie verändert! Du hast sie alle verändert!«

HAST DU GEGLAUBT, DASS ES SIE UNBERÜHRT LÄSST, WENN DU MICH AUS IHREM LEBEN ENTFERNST?

Die Worte erschütterten Rand. Entsetzt trat er zurück, als Elayne offensichtlich um ihn besorgt aufstand. Ja, jetzt sah er es, das Ding hinter ihren Augen. Sie war nicht sie selbst … weil er ihr die Fähigkeit geraubt hatte, sie selbst zu sein.

ICH VERWANDLE MÄNNER IN MICH, sagte Shai’tan. DAS IST WAHR. SOBALD ICH SIE AUF DIESE WEISE ZU MEINEM GEFOLGE GEMACHT HABE, KÖNNEN SIE NICHT DAS GUTE WÄHLEN. AUF WELCHE WEISE UNTERSCHEIDET SICH DAS HIER DAVON, WIDERSACHER?

WENN DU DAS TUST, SIND WIR EINS.

»Nein!«, schrie Rand, hielt sich den Kopf und fiel auf die Knie. »Nein! Ohne dich wäre die Welt perfekt!«

PERFEKT. ZU KEINER VERÄNDERUNG FÄHIG. ZERSTÖRT. MACH DAS, WENN DU ES WILLST, WIDERSACHER. INDEM DU MICH TÖTEST, WÜRDE ICH GEWINNEN.

GANZ EGAL, WAS DU AUCH TUST, ICH GEWINNE.

Rand schrie und krümmte sich zusammen, als ihn der nächste Angriff des Dunklen Königs überflutete. Der Albtraum, den er selbst erschaffen hatte, explodierte und ließ Lichtfäden Rauchfahnen gleich in alle Richtungen schießen.

Die Dunkelheit um ihn herum erbebte.

DU KANNST SIE NICHT RETTEN.

Wieder wand sich das glühende Muster um Rand. Das echte Muster. Die Wahrheit dessen, was geschah. Mit der Schöpfung seiner Vision einer Welt ohne Dunklen König hatte er etwas Schreckliches erschaffen. Etwas Furchtbares. Etwas Schlimmeres, als zuvor entstanden wäre.

Der Dunkle König griff erneut an.


Mat zog sich aus dem Nahkampf zurück und legte den Ashandarei auf die Schulter. Karede hatte eine Gelegenheit zum Kampf verlangt – je hoffnungsloser die Situation, umso besser. Nun, eigentlich musste der Mann jetzt hochzufrieden sein. Er hätte tanzen und lachen müssen! Sein Wunsch hatte sich erfüllt. Beim Licht, und wie!

Mat setzte sich auf einen Trolloc-Kadaver, der einzig verfügbare Sitz in der Gegend, und nahm einen großen Schluck aus seinem Wasserbeutel. Er spürte den Puls der Schlacht, ihren Rhythmus. Sein Schlag war verzweifelt. Demandred war schlau. Er war nicht auf Mats Köder an der Furt hereingefallen, wo er ein kleineres Heer aufgestellt hatte. Der Verlorene hatte Trollocs hingeschickt, seine Sharaner aber zurückgehalten. Hätte er die Anhöhe preisgegeben, um Elaynes Heer anzugreifen, hätte Mat seine Verbände von Westen und Nordosten über das Plateau streifen lassen, um den Schatten hinterrücks zu zerschmettern. Jetzt versuchte Demandred, seine Truppen hinter Elaynes Heere zu formieren, und Mat hatte das für den Augenblick verhindert. Aber wie lange konnte er durchhalten?

Den Aes Sedai ging es nicht gut. Die sharanischen Machtlenker gewannen diesen Kampf. Glück, dachte Mat. Heute brauchen wir mehr als nur ein bisschen davon. Lass mich jetzt nicht im Stich.

Das wäre wirklich ein passendes Ende für Matrim Cauthon. Es gefiel dem Muster, ihn auszulachen. Mit einem Mal wurde ihm klar, welch ein Scherz das gewesen wäre, ihm Glück zu geben, wenn es nichts bedeutete, und es ihm dann einfach wegzunehmen, wenn es einmal wirklich darauf ankam.

Blut und verdammte Asche, dachte er und steckte den leeren Wasserbeutel weg. Das einzige Licht kam von der Fackel, die Karede hielt. Im Augenblick war da nichts von seinem Glück zu fühlen. Das passierte schon mal. Er vermochte nicht zu sagen, ob es nun bei ihm war oder nicht.

Nun, wenn sie schon keinen vom Glück begünstigten Matrim Cauthon haben konnten, dann würden sie zumindest einen sturen Matrim Cauthon bekommen. Er hatte nicht die Absicht, an diesem Tag zu sterben. Es musste noch getanzt werden; da waren noch Lieder, die gesungen, und Frauen, die geküsst werden mussten. Zumindest eine Frau.

Er stand auf und begab sich wieder zu den Totenwächtern, den Ogiern, Tams Heer, der Bande, den Grenzländern – alle, die er hier oben aufgestellt hatte. Die Schlacht ging weiter, und sie kämpften hart, drängten die Sharaner sogar ein paar Hundert Schritte zurück. Aber Demandred war nicht entgangen, was er hier tat, und er schickte nun Trollocs vom Fluss direkt den Steilhang hinauf, um sich in den Kampf zu stürzen. Dieser Hang war am schwersten zu erklimmen, aber dem Verlorenen würde klar sein, dass er Mat bedrängen musste.

Diese Trollocs stellten eine echte Gefahr dar. Am Fluss gab es genug von ihnen, um Elayne einzukreisen und sich den Weg auf die Anhöhe freizukämpfen. Falls eines von Mats Heeren zerschlagen wurde, war er erledigt.

Nun, er hatte die Würfel geworfen und seine Befehle gegeben. Jetzt konnte man nur noch kämpfen, bluten und hoffen.

Im Westen loderte ein Lichtschein wie flüssiges Feuer in die Höhe. Brennende Tropfen aus geschmolzenem Stein flogen durch die dunkle Luft. Zuerst glaubte Mat, Demandred hätte sich entschieden, aus dieser Richtung anzugreifen, aber der Verlorene war noch immer dabei, die Andoraner zu vernichten.

Ein weiterer Lichtblitz. Dort kämpften die Aes Sedai. Durch Dunkelheit und Rauch glaubte Mat genau zu sehen, dass Sharaner von Westen nach Osten über die Anhöhe flohen. Er ertappte sich bei einem Lächeln.

»Seht mal«, sagte er, klopfte Karede auf die Schulter und erregte die Aufmerksamkeit des Mannes.

»Was ist?«

»Ich weiß es nicht«, sagte Mat. »Aber es setzt die Sharaner in Brand, also bin ich mir sicher, dass es mir gefällt. Kämpft weiter!« Er führte Karede und die anderen zum nächsten Angriff auf die sharanischen Soldaten.


Olver ging gebückt durch die Last des Pfeilbündels auf seinem Rücken. Er hatte darauf bestanden, dass das Gewicht echt sein musste. Was würde geschehen, wenn ein Handlanger des Schattens die Ware inspizierte und entdeckte, dass sein Bündel nur aus leichtem Stoff bestand?

Setalle und Faile mussten ihn nun wirklich nicht dauernd ansehen, als würde er jeden Augenblick zusammenbrechen. So schwer war das Bündel nun auch wieder nicht. Natürlich würde ihn das nicht davon abhalten, Setalles Mitleid zu erregen, sobald sie wieder zurück waren. Er musste sich in solchen Dingen üben, oder er würde als ein so hoffnungsloser Fall wie Mat enden.

Ihre Reihe bewegte sich weiter auf das Nachschublager im Verdorbenen Land zu, und er musste zugeben, dass es ihn nicht gestört hätte, wenn das Bündel etwas leichter gewesen wäre. Nicht weil er müde wurde. Aber wie sollte er denn falls nötig kämpfen? Er würde das Bündel schnell fallen lassen müssen, und dieses Bündel schien man nicht schnell loswerden zu können.

Grauer Staub bedeckte seine Füße. Keine Schuhe, und seine Kleidung würde jetzt gute Lumpen abgeben. Faile und die Bande hatten eine der erbärmlichen Karawanen angegriffen, die sich auf das Nachschublager des Schattens zuschleppten. Der Kampf war schnell vorbei – nur drei Schattenfreunde und eine verwahrloste Kauffrau bewachten eine Gruppe erschöpfter, halb verhungerter Gefangener.

Viele der Güter trugen das Zeichen Kandors, ein rotes Pferd. Tatsächlich waren viele der Gefangenen Kandori. Faile hatte ihnen die Freiheit angeboten, sie nach Süden geschickt, aber nur die Hälfte war gegangen. Die anderen hatten darauf bestanden, sie zu begleiten und zur Letzten Schlacht zu marschieren, obwohl Olver auf den Straßen schon Bettler mit mehr Fleisch auf den Knochen gesehen hatte als diese Leute. Immerhin halfen sie, dass Failes Reihe echt aussah.

Das war wichtig. Olver blickte auf, als sie sich dem Nachschublager näherten. In der kalten Nacht säumten Fackeln den Weg. Mehrere dieser verschleierten Aiel standen an der Seite und beobachteten die Kolonne. Olver blickte zu Boden, damit sie seinen Hass nicht sehen konnten. Er hatte gewusst, dass man Aiel nicht vertrauen konnte.

Ein paar Wächter – keine Aiel, sondern weitere Schattenfreunde – befahlen ihnen, stehen zu bleiben. Aravine ging weiter; sie trug die Kleidung der Kauffrau, die sie getötet hatten. Faile war offensichtlich Saldaeanerin, und man hatte entschieden, dass sie zu auffällig war, um die Rolle einer Kauffrau des Schattens zu spielen.

»Wo sind eure Wächter?«, fragte der Soldat. »Das ist Lifas Gruppe, oder? Was ist passiert?«

»Diese Narren!«, sagte Aravine und spuckte aus. Olver verbarg ein Lächeln. Ihr ganzes Benehmen hatte sich verändert. Sie wusste eine Rolle zu spielen. »Sie sind tot, wo ich sie zurückließ! Ich habe ihnen gesagt, nicht in der Nacht herumzuspazieren. Ich weiß nicht, was die drei erwischt hat, aber wir fanden sie am Lagerrand. Aufgebläht, mit dunkler Haut.« Sie sah angewidert aus. »Ich glaube, etwas legte Eier in ihren ausgehöhlten Bauch. Wir wollten nicht herausfinden, was da schlüpft.«

Der Soldat grunzte. »Und Ihr seid?«

»Pansai«, sagte Aravine. »Lifas Geschäftspartnerin.«

»Seit wann hat Lifa denn eine Geschäftspartnerin?«

»Seit ich ihr einen Dolch in den Rücken rammte und ihre Karawane übernahm.«

Die Informationen über Lifa stammten von den geretteten Gefangenen. Sie waren lückenhaft. Olver schwitzte. Der Wächter warf Aravine einen langen Blick zu, dann fing er an, die Reihe abzugehen.

Failes Soldaten befanden sich unter den gefangenen Kandori. Sie gaben sich alle Mühe, die richtige Haltung einzunehmen.

»Du da, Frau«, sagte der Wächter und zeigte auf Faile. »Saldaeanerin, was?« Er lachte. »Ich war immer der Meinung, eine saldaeanische Frau würde einen Mann töten, bevor sie seine Gefangene wird.« Er versetzte Faile einen Stoß.

Olver hielt die Luft an. O Blut und verdammte Asche! Lady Faile würde sich das nicht gefallen lassen. Der Wächter wollte wissen, ob die Gefangenen wirklich eingeschüchtert waren oder nicht! Failes Haltung, ihre Art, würde sie verraten. Sie war eine Adelige und …

Faile warf sich zu Boden, kauerte sich zusammen und wimmerte eine Erwiderung, die Olver nicht verstehen konnte.

Mit offen stehendem Mund sah er zu, dann zwang er den Mund wieder zu und starrte zu Boden. Wie war das möglich? Wie hatte eine Lady wie Faile nur gelernt, sich wie eine Dienerin zu verhalten?

Der Wächter grunzte. »Macht weiter«, sagte er zu Aravine mit einem Wink. »Wartet dort, bis wir nach euch schicken.«

Die Gruppe schlurfte zu einer Stelle, wo Aravine jedem befahl, sich hinzusetzen. Sie stand mit verschränkten Armen an der Seite und tippte mit dem Fuß auf, während sie wartete. Donner grollte, und Olver verspürte ein seltsames Frösteln. Er schaute auf und sah in das augenlose Gesicht eines Myrddraal.

Ein eisiger Schock durchfuhr Olver, als hätte man ihn in einen Wintersee geworfen. Er bekam keine Luft mehr. Der Myrddraal schien dahinzugleiten, sein Umhang hing reglos und tot, als er die Gruppe umrundete. Nach einem schrecklichen Augenblick bewegte er sich zurück zum Lager.

»Sie suchen nach Machtlenkern«, flüsterte Faile zu Mandevwin.

»Das Licht steh uns bei«, flüsterte der Mann zurück.

Das Warten war beinahe unerträglich. Schließlich schritt eine dicke Frau in weißer Kleidung herbei und webte ein Wegetor. Aravine brüllte sie alle an, auf die Beine zu kommen, dann winkte sie sie durch. Olver stellte sich in die Reihe, ging neben Faile, dann verließen sie das Land der roten Erde und der kalten Luft und betraten einen Ort, der so roch, als stünde er in Flammen.

Sie betraten ein primitives Lager voller Trollocs. In der Nähe brodelten mehrere riesige Kochtöpfe. Direkt hinter dem Lager führte ein steiler Hang zu einem großen Plateau hinauf. Dort oben stiegen Rauchsäulen in die Luft, und von dort und irgendwo von Olvers Linken ertönte Schlachtenlärm. Er wandte sich von dem Hang ab und erblickte in der Ferne den schattenhaften Umriss eines hohen, schmalen Berges, der wie eine Kerze in der Tischmitte aus einer flachen Ebene emporragte.

Er schaute zurück zu dem Hang hinter dem Lager, und sein Herz tat einen Sprung. Ein Körper stürzte in die Tiefe, der noch immer ein Banner in der Hand hielt – ein Banner, das eine große rote Hand zeigte. Die Bande der Roten Hand! Mann und Banner landeten in einer Gruppe Trollocs, die um ein Feuer hockten und brutzelnde Fleischstücke fraßen. Funken flogen in alle Richtungen, und die zornigen Bestien rissen den Eindringling aus den Flammen, aber ihm war schon lange egal, was sie ihm antaten.

»Faile!«, flüsterte er.

»Ich habe es gesehen.« Ihr Bündel verbarg den Beutel mit dem Horn. Mehr zu sich selbst fügte sie hinzu: »Licht! Wie sollen wir nur Mat finden?«

Sie traten zur Seite, als der Rest ihrer Gruppe durch das Tor kam. Sie hatten Schwerter, trugen sie aber zusammengeschnürt wie Pfeile auf dem Rücken, als wären es Güter für das Schlachtfeld.

»Blut und Asche«, flüsterte Mandevwin. Er gesellte sich zu ihnen. In der Nähe wimmerten Gefangene in einem Käfig. »Vielleicht stecken sie uns da rein? Wir könnten uns in der Nacht wegschleichen.«

Faile schüttelte den Kopf. »Sie werden unsere Bündel nehmen. Uns unbewaffnet zurücklassen.«

»Was machen wir dann?«, fragte Mandevwin und warf einen Blick zur Seite, als eine Gruppe Trollocs Leichen vorbeischleifte, die sie an der Front erbeutet hatten. »Kämpfen? Hoffen, dass Lord Mat uns sieht und Hilfe schickt?«

Olver hielt nicht viel von dem Plan. Er wollte kämpfen, aber diese Trollocs waren riesig. Einer ging ganz in der Nähe vorbei, und der Kopf mit den Wolfszügen schwang in Olvers Richtung. Augen, die einem Menschen hätten gehören können, musterten ihn von Kopf bis Fuß, als wäre er hungrig. Olver trat zurück, dann griff er nach seinem Bündel, in dem er sein Messer versteckt hatte.

»Wir fliehen«, flüsterte Faile, sobald der Trolloc weg war. »Verteilt euch in einem Dutzend verschiedener Richtungen, versucht sie damit zu verwirren. Vielleicht schaffen es ein paar von uns, hier zu entkommen.« Sie runzelte die Stirn. »Wo bleibt denn Aravine?«

Sie hatte noch nicht ausgesprochen, als Aravine durch das Tor schritt. Die Frau in Weiß, die die Macht gelenkt hatte, folgte ihr, und Aravine zeigte auf Faile.

Etwas riss Faile in die Luft. Olver keuchte auf, Mandevwin fluchte, warf sein Bündel zu Boden und tastete nach seinem Schwert, während Arrela und Selande aufschrien. Alle drei wurden Augenblicke später von Geweben in die Luft gerissen, und Aiel mit roten Schleiern rannten mit gezückten Waffen aus dem Tor.

Chaos folgte. Ein paar von Failes Soldaten starben, als sie versuchten, sich mit den Fäusten zu wehren. Olver warf sich zu Boden und suchte fieberhaft nach seinem Messer, aber als er die Finger um den Griff schloss, war das Scharmützel schon vorbei. Die anderen waren entweder überwältigt oder mit Luft gefesselt.

So schnell, dachte Olver verzweifelt. Warum hatte ihn nie jemand gewarnt, dass Kämpfe so schnell verliefen?

Anscheinend hatte man ihn vergessen, aber er wusste nicht, was er tun sollte.

Aravine trat auf Faile zu, die noch immer in der Luft hing. Was geschah hier? Aravine … sie hatte sie verraten?

»Es tut mir leid, meine Lady«, sagte Aravine zu Faile. Olver konnte ihre Worte kaum verstehen. Niemand schenkte ihm auch nur die geringste Aufmerksamkeit; die Aiel stießen die Soldaten zu einer Gruppe zusammen, die sie bewachen konnten. Mehr als nur ein paar von ihnen lagen blutend am Boden.

Faile bäumte sich in der Luft auf, ihr Gesicht lief vor Anstrengung rot an. Offensichtlich war sie geknebelt. In so einem Augenblick hätte sie niemals geschwiegen.

Aravine schnallte das Bündel von Failes Rücken, dann suchte sie den Beutel mit dem Horn. Sie öffnete ihn und schaute hinein. Ihre Augen weiteten sich. Sie zog die Schnur des Verschlusses wieder zu und drückte den Beutel an die Brust. »Ich hatte so gehofft, mein altes Leben hinter mir zu lassen«, flüsterte sie zu Faile. »Noch einmal von vorn anzufangen. Ich glaubte, mich verbergen zu können oder dass man mich vergessen würde, dass ich zurück ins Licht kommen könnte. Aber der Große Herr vergisst nicht, und niemand kann sich vor ihm verstecken. Sie fanden mich in der Nacht, in der wir Andor erreichten. Das wollte ich nicht, aber ich muss es tun.«

Aravine wandte sich ab. »Ein Pferd!«, rief sie. »Ich werde diesen Beutel Lord Demandred persönlich übergeben, wie man mir befahl.«

Die Frau in Weiß trat zu ihr, und die beiden fingen an, sich in gedämpftem Ton zu streiten. Olver blickte sich um. Niemand beachtete ihn.

Seine Finger fingen an zu zittern. Er hatte gewusst, dass Trollocs groß waren und dass sie hässlich waren. Aber … das waren Albtraumgestalten. Überall um ihn herum waren Albträume. O Licht!

Was würde Mat tun?

»Dovie’andi se tovya sagain«, flüsterte Olver und zog das Messer aus der Scheide. Mit einem Aufschrei warf er sich auf die Frau in Weiß und rammte ihr die Klinge unten in den Rücken.

Sie schrie auf. Faile löste sich aus ihren Fesseln aus Luft und fiel zu Boden. Und dann brachen die Gefangenenkäfige auf, und eine Gruppe brüllender Männer stürmte in die Freiheit.


»Hebt sie höher!«, rief Doesine. »Und zwar verdammt schnell!«

Leane gehorchte, webte mit den anderen Schwestern Erde. Vor ihnen erbebte der Boden, zog sich wie ein verrutschter Teppich zusammen. Sie vollendeten ihr Werk, dann benutzten sie den Hügel als Deckung, als oben vom Hang Feuer in die Tiefe regnete.

Doesine führte die bunt zusammengewürfelte Gruppe an. Ungefähr ein Dutzend Aes Sedai, eine Handvoll Behüter und Soldaten. Die Männer umklammerten ihre Waffen, aber in letzter Zeit hatten die sich ungefähr als so nützlich erwiesen wie ein Laib Brot. In der Luft knisterte die Macht. Das improvisierte Bollwerk bebte, als die Sharaner es mit Feuer eindeckten.

Leane hielt die Eine Macht umklammert und warf einen Blick über die Deckung. Sie hatte sich von ihrer Begegnung mit dem Verlorenen Demandred erholt. Es war eine erschütternde Erfahrung gewesen – er hatte sie völlig in seiner Gewalt gehabt, und ihr Leben hätte jeden Augenblick ausgelöscht werden können. Die Intensität seiner geifernden Tiraden hatte sie ebenfalls verstört; so etwas wie seinen Hass auf den Wiedergeborenen Drachen hatte sie noch nie erlebt.

Eine Gruppe Sharaner bewegte sich den Hang hinunter und schleuderte Gewebe auf das provisorische Bollwerk. Leane schnitt einen Strang aus der Luft wie ein Feldscher fauliges Fleisch. Sie war viel schwächer in der Einen Macht als früher.

Sie musste nun viel effizienter Macht lenken. Es war erstaunlich, was eine Frau alles mit weniger erreichen konnte.

Das Bollwerk explodierte.

Leane warf sich zur Seite, als Erdklumpen herabregneten. Hustend rollte sie sich durch die Rauchschwaden und klammerte sich an Saidar fest. Es waren diese sharanischen Männer! Sie konnte ihre Gewebe nicht wahrnehmen. Sie rappelte sich auf. Die Explosion hatte ihr Kleid zerrissen, ihre Arme waren voller Kratzer. In einer nahen Erdspalte schimmerte etwas Blaues. Doesine. Sie eilte zu ihr.

Sie fand den Körper der Frau dort. Aber nicht ihren Kopf.

Ein beinahe überwältigendes Gefühl von Trauer und Verlust überfiel Leane. Doesine und sie hatten sich nicht nahegestanden, aber sie hatten hier zusammen gekämpft. Der Verlust, die Zerstörung – es zermürbte Leane. Wie viel konnte sie noch davon ertragen? Wie viele musste sie noch sterben sehen?

Mühsam riss sie sich zusammen. Beim Licht, das war eine Katastrophe. Feindliche Schattenlords hatten sie erwartet, aber da waren Aberhunderte von diesen Sharanern. Die Machtlenker einer ganzen Nation, alle für den Krieg gedrillt. Das Schlachtfeld war mit hellen Farbflecken übersät, alles tote Aes Sedai. Ihre Behüter stürmten den Hügel empor und brüllten den Zorn über den Verlust ihrer Aes Sedai heraus, während sie von der Macht niedergemäht wurden.

Leane stolperte zu einer Gruppe Roter und Grüner, die aus einem ausgehöhlten Graben auf dem Westhang kämpften. Im Augenblick beschützte sie das Gelände, aber wie lange konnten diese Frauen durchhalten?

Trotzdem verspürte sie Stolz. In der Unterzahl und überfordert kämpften die Aes Sedai weiter. Das hatte keinerlei Ähnlichkeit mit der Nacht, in der die Seanchaner angegriffen hatten, als eine gespaltene Burg von innen zerbrochen worden war. Diese Frauen hielten stand; wurde eine Gruppe auseinandergetrieben, sammelte sie sich wieder und kämpfte weiter. Feuer fiel vom Himmel, aber genauso viel flog zurück, und Blitze schlugen auf beiden Seiten ein.

Leane suchte sich behutsam einen Weg zu der Gruppe und kam zu Raechin Connoral, die neben einem Felsen kauerte, während sie Feuer auf die vorrückenden Sharaner schleuderte. Leane hielt nach feindlichen Geweben Ausschau, dann wehrte sie eines mit einem schnellen Strang Wasser ab, das den Feuerball zu winzigen Funken zerfallen ließ.

Raechin nickte ihr zu. »Und dabei glaubte ich immer, Ihr wärt zu nichts mehr nütze, außer Männern schöne Augen zu machen.«

»Die Kunst der Domani liegt darin, sein Ziel zu erreichen«, sagte Leane kühl, »mit so wenig Aufwand wie möglich.«

Raechin schnaubte und schleuderte noch ein paar neue Feuerbälle auf den Feind. »Da sollte ich Euch demnächst um Rat fragen«, sagte sie. »Falls es eine Möglichkeit gibt, Männer dazu zu bringen, das zu tun, was man will, würde ich das sehr gern wissen.«

Die Vorstellung war so absurd, dass Leane trotz der schrecklichen Umstände beinahe lachen musste. Eine Rote? Die sich schminkte und die Domani-Kunst der Manipulation erlernte? Nun, warum nicht?, dachte Leane und wehrte den nächsten Feuerball ab. Die Welt veränderte sich, und die Ajahs veränderten sich mit ihr – wenn auch nur auf subtile Weise.

Der Widerstand der Schwestern erregte die Aufmerksamkeit von weiteren sharanischen Machtlenkern. »Wir werden diese Position bald aufgeben müssen«, sagte Raechin.

Leane nickte bloß.

»Diese Sharaner …«, knurrte die Rote. »Seht Euch das an!«

Leane keuchte. Zuvor hatten sich viele der gegnerischen Soldaten in diesem Abschnitt zurückgezogen – etwas schien sie weggelockt zu haben –, aber die Machtlenker hatten sie durch eine große Gruppe verängstigter Menschen ersetzt und trieben sie zur vordersten Linie, damit sie die Angriffe abfingen. Viele trugen Stöcke oder Werkzeuge, um damit zu kämpfen, aber sie hielten die Waffen völlig eingeschüchtert und blieben dicht zusammen.

»Blut und verdammte Asche«, stieß Raechin aus, was Leane eine Augenbraue heben ließ. Die Rote webte weiter und versuchte Blitze hinter die Reihen der verängstigten Leute zu schicken. Trotzdem wurden viele von ihnen getroffen. Leane verspürte Übelkeit, beteiligte sich aber an den Angriffen.

Während sie arbeiteten, kroch Manda Wan zu ihnen. Rußverschmiert sah die Grüne schrecklich aus. Vermutlich sehe ich nicht anders aus, dachte Leane und schaute auf ihre zerkratzten und mit Asche verschmierten Arme.

»Wir ziehen uns zurück«, sagte Manda. »Vielleicht müssen wir Wegetore einsetzen.«

»Um wohin zu gehen?«, fragte Leane. »Wollen wir den Kampf aufgeben?«

Schweigen kehrte ein. Nein. Von diesem Kampf gab es keinen Rückzug. Entweder sie siegten, oder es war zu Ende.

»Wir sind hier zu zersplittert«, sagte Manda. »Wir müssen zumindest zurückfallen, um uns neu zu gruppieren. Wir müssen die Frauen zusammenbringen, und das ist das Einzige, was mir einfällt. Es sei denn, Ihr hättet eine bessere Idee.«

Manda sah Raechin an. Leane war nun zu schwach in der Macht, als dass ihre Meinung viel Gewicht gehabt hätte. Sie fing an, Gewebe vom Himmel zu holen, während sich die beiden flüsternd unterhielten. In der Nähe zogen sich die Aes Sedai aus der Bodenvertiefung zurück und wichen den Hang hinunter. Sie würden sich neu gruppieren, ein Wegetor zum Dasharfels weben und zu entscheiden versuchen, was sie als Nächstes tun sollten.

Moment. Was war das? Leane spürte starkes Machtlenken in der Nähe. Hatten sich die Sharaner zu einem Zirkel verknüpft? Sie kniff die Augen zusammen; mittlerweile war die Nacht hereingebrochen, aber genug von der Gegend brannte, um für Licht zu sorgen. Es gab auch viel Qualm. Leane webte Luft, um den Rauch aus dem Weg zu wehen, aber er teilte sich von selbst, wie von einem mächtigen Wind gespalten.

Egwene al’Vere schritt an ihnen vorbei den Hang hinauf und leuchtete mit der Macht von hundert Leuchtfeuern. Das war mehr, als Leane je eine Frau hatte halten gesehen. Die Amyrlin ging mit ausgestreckter Hand, die einen Stab hielt. Egwenes Augen schienen zu glühen.

Licht und Macht pulsierten aus ihr, als sie ein Dutzend verschiedene Feuergewebe schleuderte. Ein Dutzend. Sie peitschten über ihnen auf den Hügel ein, schleuderten sharanische Machtlenker in die Luft.

»Manda«, sagte Leane, »ich glaube, wir haben einen besseren Sammelpunkt für Euch gefunden.«


Talmanes entflammte an einer Laterne einen Zweig, mit dem er seine Pfeife anzündete. Er nahm einen Zug, fing an zu husten und klopfte den Pfeifenkopf auf dem Felsboden aus. Irgendwie war der Tabak verdorben. Ekelhaft. Er hustete und zermahlte den ungenießbaren Tabak mit dem Absatz.

»Alles in Ordnung, mein Lord?«, fragte Melten, der gerade vorbeiging und mit der rechten Hand zwei Hämmer jonglierte.

»Ich bin noch immer verdammt lebendig«, erwiderte Talmanes. »Was viel mehr ist, als ich erwarten dürfte.«

Melten nickte ausdruckslos und ging weiter, gesellte sich zu einer der Gruppen, die an den Drachen arbeiteten. In der tiefen Höhle hallte das Schlagen der Hämmer auf Holz, da die Bande ihr Bestes tat, um die Waffen zu flicken. Talmanes klopfte gegen die Laterne, schätzte den Ölstand ein. Es roch schrecklich, während es verbrannte, aber daran gewöhnte man sich. Er reichte noch für ein paar Stunden.

Das war gut, da diese Höhle seines Wissens keine Ausgänge auf das Schlachtfeld über ihm hatte. Sie war allein durch ein Wegetor zugänglich. Irgendein Asha’man hatte davon gewusst. Seltsamer Bursche. Was war das für ein Mann, der Höhlen kannte, die nur mit der Einen Macht zu erreichen waren?

Wie dem auch sei, die Bande war hier unten gefangen, an einem sicheren, wenn auch abgeschnittenen Ort. Mats Botschaften brachten nur bruchstückhafte Informationen.

Talmanes strengte die Ohren an, weil er zu hören glaubte, wie sich über ihnen die Machtlenker bekämpften, aber das war reine Einbildung. Das Land war stumm, und diese uralten Steine hatten seit der Zerstörung der Welt kein Licht mehr gesehen, falls überhaupt.

Talmanes schüttelte den Kopf und ging zu einer der Arbeitsgruppen. »Wie geht es voran?«

Dennel deutete auf ein paar Seiten, die Aludra ihm gegeben hatte, Anweisungen, wie man diesen Drachen reparieren musste. Die Frau selbst unterwies eine andere Gruppe. Ihre Stimme hallte durch den Raum.

»Die meisten Rohre sind in Ordnung«, sagte Dennel. »Wenn man mal darüber nachdenkt, sind sie dazu gemacht, etwas Feuer und eine gelegentliche Explosion zu überstehen …« Er kicherte, dann verstummte er und sah Talmanes an.

»Lasst Euch von meinem Ausdruck nicht die gute Laune verderben«, meinte Talmanes und steckte die Pfeife weg. »Lasst Euch auch nicht davon stören, dass wir am Ende der Welt kämpfen, dass unsere Heere weit unterlegen sind und unsere Seelen im Falle einer Niederlage vom Dunklen König alles Bösen vernichtet werden.«

»Es tut mir leid, mein Lord.«

»Das war ein Scherz.«

Dennel blinzelte. »Das?«

»Ja.«

»Das war ein Scherz?«

»Ja.«

»Ihr habt einen bemerkenswerten Sinn für Humor, mein Lord.«

»Das höre ich nicht zum ersten Mal.« Talmanes beugte sich vor und musterte den Drachenkarren. Das angesengte Holz wurde von Schrauben und zusätzlichen Brettern zusammengehalten. »Das sieht nicht sehr zweckmäßig aus.«

»Es wird funktionieren, mein Lord. Allerdings werden wir nicht schnell manövrieren können. Die Rohre selbst sind ganz gut davongekommen, aber die Karren … Nun, wir haben mit dem Nachschub aus Baerlon und den Resten getan, was wir konnten, aber in der uns zur Verfügung stehenden Zeit können wir nicht mehr tun.«

»Aber die Zeit haben wir nicht«, sagte Talmanes. »Lord Mat könnte uns jeden Augenblick rufen.«

»Wenn sie dort oben noch leben«, sagte Dennel und schaute zur Decke.

Ein beunruhigender Gedanke. Die Bande könnte ihre letzten Tage hier unten verbringen – gefangen. Wenigstens würden es nicht mehr viele Tage sein. Entweder die Welt endete, oder der Bande würde der Proviant ausgehen. Er reichte keine Woche. Hier begraben. In der Dunkelheit.

Verdammte Asche, Mat. Du solltest dort oben besser nicht verlieren. Besser nicht! Die Bande hatte noch immer Kampfgeist in sich. Sie würden das Ende nicht hier unten erleben und verhungern.

Talmanes hielt die Laterne hoch und wollte gehen, aber dann fiel ihm etwas auf. Die an den Drachen arbeitenden Soldaten warfen einen verzerrten Schatten an die Wand, der aussah wie ein Mann mit einem weiten Umhang und einem Hut, der sein Gesicht unkenntlich machte.

Dennil folgte seinem Blick. »Beim Licht. Sieht aus, als würden wir vom Schwarzen Mann selbst beobachtet, oder?«

»In der Tat«, sagte Talmanes. Dann rief er mit lauterer Stimme: »Hier ist es viel zu still! Männer, ein Lied!«

Ein paar Soldaten hielten inne. Aludra richtete sich auf, stemmte die Hände in die Hüften und blickte ihn missbilligend an.

Also fing Talmanes selbst an.

»Wir trinken den Wein, bis der Becher geleert,

und küssen das Mädchen, bis es sich nicht mehr wehrt.

Wir würfeln um alles, was des Würfelns wert,

und dann tanzen wir mit dem Schwarzen Mann.«

Schweigen.

Dann fielen sie ein:

»Wir rufen fröhlich und fluchen fein,

und herzen das Mädchen, alles könnte viel schlimmer sein.

Dem Schatten stehlen wir sein Geld, fliehen über Stock und Stein,

und dann tanzen wir mit dem Schwarzen Mann.«

Ihre lauten Stimmen hallten von den Steinwänden wider, und sie bereiteten sich mit wildem Eifer auf die Rolle vor, die sie spielen würden.

Und sie würden sie spielen. Talmanes würde dafür sorgen. Selbst wenn sie sich in einem Sturm aus Drachenfeuer den Weg aus dieser Gruft sprengen mussten.


Olver stach auf die Frau in Weiß ein, und Failes Fesseln lösten sich auf. Sie stürzte zu Boden, stolperte, blieb aber aufrecht. Mandevwin landete fluchend neben ihr.

Aravine. Beim Licht, Aravine. Zurückhaltend, sorgfältig und fähig. Aravine war eine Schattenfreundin.

Sie hatte das Horn.

Aravine warf einen Blick auf die zusammengesunkene Aes Sedai, die Olver angegriffen hatte, dann verfiel sie in Panik, schnappte sich das Pferd, das ein Diener gebracht hatte, und sprang in den Sattel.

Faile rannte auf sie zu, als die Gefangenen aus den Käfigen kamen, sich auf die Trollocs stürzten und an ihre Waffen zu kommen versuchten. Sie hatte Aravine fast erreicht, als die Frau losgaloppierte und das Horn mitnahm. Sie hielt auf den weniger steilen Teil des Hangs zu, der ihr erlauben würde, nach oben auf die Polov-Anhöhe zu reiten.

»Nein!«, schrie Faile. »Aravine! Tut das nicht!« Sie rannte ihr hinterher, erkannte dann aber, dass das sinnlos war.

Ein Pferd. Sie brauchte ein Pferd. Hektisch blickte sie sich um und entdeckte die paar Lasttiere, die sie durch das Tor gebracht hatten. Faile rannte zu Bela, schnitt den Sattel ab – mitsamt seiner Last. Sie sprang auf den Rücken der Stute und packte die Zügel, dann trieb sie sie an.

Die zottelige Stute galoppierte hinter Aravine her, und Faile duckte sich tief über ihren Rücken. »Lauf, Bela«, rief sie. »Falls du je Kraft aufgespart hast, jetzt ist der Augenblick gekommen, sie zu benutzen. Bitte. Lauf, Mädchen. Lauf!«

Bela galoppierte über den zertrampelten Boden, und der Donner aus der Höhe untermalte ihr Hufgetrappel. Das Lager des Schattengezüchts war ein Ort der Dunkelheit, nur von Kochfeuern und vereinzelten Fackeln erhellt. Faile hatte das Gefühl, durch einen Albtraum zu reiten.

Voraus stürmten ein paar Trollocs herbei, um ihr den Weg zu versperren. Faile beugte sich noch tiefer und betete zum Licht, dass sie sie verfehlten, wenn sie angriffen. Bela wurde langsamer, und dann jagten zwei Reiter mit Lanzen an Failes Seiten vorbei. Einer durchbohrte den Hals eines Trollocs, aber der andere Reiter verfehlte sein Ziel. Doch sein Pferd schleuderte die Kreatur zur Seite und machte den Weg frei. Bela galoppierte zwischen den verblüfften Trollocs vorbei und holte die beiden vorausreitenden Männer ein. Der eine war ziemlich fett, der andere schlank. Harnan und Vanin.

»Ihr beiden!«, brüllte Faile.

»Hallo, meine Lady!«, erwiderte Harnan und lachte.

»Aber wie?«, brüllte sie ihnen über den Huflärm zu.

»Wir ließen uns von einer Karawane finden«, brüllte Harnan zurück, »und gefangen nehmen. Sie brachten uns vor ein paar Stunden durch ein Wegetor zurück, und wir halfen den Gefangenen, die Vorbereitungen zur Flucht zu treffen. Eure Ankunft verschaffte uns die nötige Gelegenheit.«

»Das Horn! Ihr wolltet das Horn stehlen!«

»Nein«, rief Harnan.« Wir wollten etwas von Mats Tabak stehlen!«

»Ich glaubte, Ihr hättet ihn vergraben, um ihn zurückzulassen!«, brüllte Vanin von der anderen Seite. »Mat wäre es egal gewesen. Außerdem schuldet er mir ohnehin ein paar Mark! Als ich diesen Beutel öffnete und das verfluchte Horn von Valere fand … verfluchte Asche! Ich wette, mein Aufschrei war noch in Tar Valon zu hören!«

Faile stöhnte und stellte sich die Szene vor. Der Schrei, den sie gehört hatte, war ein Schrei der Überraschung gewesen, und er hatte das Bärenwesen zum Angriff gereizt.

Nun, dieser Augenblick war vorbei. Sie klammerte sich mit den Knien an Bela fest und trieb das Pferd an. Voraus galoppierte Aravine zwischen den Trollocs und eilte auf die Stelle zu, wo der Steilhang weniger abschüssig wurde. Sie brüllte den Trollocs wild zu, ihr zu helfen. Aber die dahinjagenden Pferde waren schneller als jeder Tiermensch.

Demandred. Aravine hatte verkündet, das Horn einem der Verlorenen zu bringen. Faile stöhnte leise, beugte sich noch weiter vor, und wunderbarerweise ließ Bela Vanin und Harnan hinter sich zurück. Sie fragte sich nicht, wo die beiden ihre Pferde herhatten. Sie richtete ihre ganze Aufmerksamkeit auf die Schattenfreundin.

Im Lager ertönte ein Schrei. Vanin und Harnan rissen ihre Pferde herum, um Reiter abzufangen, die auf Faile zuhielten. Sie lenkte Bela zur Seite, drängte sie, über einen Ausrüstungsstapel zu springen, und ritt mitten durch eine Gruppe von Leuten in seltsamer Kleidung, die an einem kleinen Feuer etwas aßen. Sie brüllten ihr mit schweren Akzenten etwas hinterher.

Zoll für Zoll näherte sie sich Aravine. Bela keuchte und schnaufte, Schweiß befleckte ihr Fell. Die saldaeanische Kavallerie gehörte zu den besten im Land, und Faile kannte sich mit Pferden aus. Sie hatte alle Rassen geritten. In diesen Minuten auf dem Schlachtfeld wäre sie mit Bela gegen das beste tairenische Rennpferd angetreten. Die zottelige Stute, die keiner bemerkenswerten Zucht entstammte, bewegte sich wie ein Champion.

Den Rhythmus der Hufschläge unter ihr spürend, ließ Faile ein Messer aus dem Ärmel gleiten. Sie trieb Bela an, über eine kleine Bodensenke zu springen, und als sie einen winzigen Moment in der Luft hingen, berechnete sie Wind, Landung und den Augenblick. Sie riss den Arm zurück und schleuderte das Messer durch die Luft, unmittelbar bevor Belas Hufe wieder auf dem Boden aufkamen.

Das Messer traf genau und bohrte sich in Aravines Rücken. Die Frau kippte aus dem Sattel und schlug auf dem Boden auf, der Beutel rutschte aus ihrem Griff.

Faile sprang von Belas Rücken und kam rutschend neben dem Beutel zu stehen. Sie löste den Knoten und sah das funkelnde Horn darin.

»Es … tut … mir leid«, flüsterte Aravine und rollte sich auf die Seite. Ihre Beine bewegten sich nicht. »Sagt Alvin nicht, was ich tat. Er hat … einen so schrecklichen Geschmack … bei Frauen …«

Faile richtete sich auf, dann sah sie mitleidig nach unten. »Betet, dass der Schöpfer Eure Seele aufnimmt, Aravine«, sagte sie und schwang sich wieder auf Belas Rücken. »Denn wenn er das nicht tut, wird sie sich der Dunkle König holen. Ich überlasse Euch ihm.« Sie trieb Bela an.

Voraus trieben sich noch mehr Trollocs herum, und sie richteten ihre Aufmerksamkeit auf sie. Sie brüllten etwas, und mehrere Myrddraal glitten herbei und zeigten auf Faile. Sie fingen an, sich um sie herum zu verteilen und ihr den Weg abzuschneiden.

Grimmig biss sie die Zähne zusammen und lenkte Bela zurück in die Richtung, aus der sie gekommen war, hoffte, Harnan, Vanin oder sonst jemanden zu treffen, der ihr helfen würde.

Im Lager herrschte fieberhafte Aktivität, und Faile entdeckte Reiter, die hinter ihr herjagten und riefen: »Sie hat das Horn von Valere!«

Irgendwo auf diesem Plateau kämpften Mat Cauthons Truppen mit dem Schatten. So nahe dran!

Ein Pfeil bohrte sich neben ihr in den Boden, dem weitere folgten. Faile erreichte die Gefangenenkäfige, um die nun Leichen lagen. Bela keuchte, vermutlich am Ende ihrer Kräfte. Faile entdeckte ein anderes Pferd in der Nähe, einen gesattelten braunen Wallach, der einen gefallenen Soldaten zu seinen Füßen anstieß.

Faile verlangsamte das Tempo. Was sollte sie nur tun? Die Pferde wechseln, aber was dann? Sie warf einen Blick über die Schulter und duckte sich, als ein weiterer Pfeil über sie hinwegflog. Sie hatte etwa ein Dutzend sharanische Reiter hinter sich, die mit kleinen Eisenringen benähte Wämser trugen. Hunderte von Trollocs folgten ihnen.

Selbst mit einem frischen Pferd kann ich ihnen nicht entkommen. Sie lenkte Bela hinter einen Nachschubkarren in Deckung und sprang von ihr, um zu dem anderen Pferd zu rennen.

»Lady Faile?«, fragte eine piepsige Stimme.

Faile schaute nach unten. Olver kauerte unter dem Wagen und klammerte sich an sein Messer.

Die Reiter hatten sie fast erreicht. Faile hatte keine Zeit mehr zum Nachdenken. Sie riss das Horn aus dem Beutel und drückte es Olver in die Hände. »Nimm das«, stieß sie hervor. »Versteck dich. Bring es später zu Mat Cauthon.«

»Ihr lasst mich zurück?«, fragte Olver. »Ganz allein?«

»Ich muss«, sagte sie, stopfte mit pochendem Herzen ein paar Pfeilbündel in den Beutel. »Sobald diese Reiter vorbei sind, wählst du dir ein anderes Versteck! Sie werden zurückkommen und alles durchsuchen, wo ich war, nachdem …«

Nachdem sie mich erwischen.

Sie würde sich selbst umbringen müssen, damit sie nicht unter Folterqualen verriet, was sie mit dem Horn gemacht hatte. Sie packte Olver am Arm. »Es tut mir so leid, dir das aufzubürden, Kleiner. Aber es ist kein anderer da. Du hast das vorhin so gut gemacht; das schaffst du auch. Bring Mat das Horn, oder alles ist verloren.«

Sie rannte ins Freie, hielt den Beutel deutlich sichtbar in der Hand. Einige der seltsam gekleideten Fremden entdeckten sie und zeigten auf sie. Sie hob den Beutel und stieg in den Sattel des Wallachs, dann trieb sie ihn zum Galopp an.

Trollocs und Schattenfreunde folgten ihr und ließen den kleinen Jungen und seine schwere Last mitten im Trolloc-Lager unter dem Karren kauernd zurück.


Logain drehte die dünne Scheibe um. Schwarz und weiß, geteilt durch eine Schlangenlinie. Angeblich aus Cuendillar. Die Flocken, die der Druck seiner Finger löste, schienen seine ewig währende Natur zu verspotten.

»Warum hat Taim sie nicht zerbrochen?«, fragte er. »Er hätte es tun können. Sie sind so brüchig wie altes Leder.«

»Ich weiß es nicht«, erwiderte Androl und blickte seine Gruppe an. »Vielleicht ist der richtige Augenblick noch nicht gekommen.«

»Zerbrecht sie im richtigen Augenblick, und es wird dem Drachen helfen«, sagte der Mann, der sich Emarin nannte. Er klang besorgt. »Zerbrecht sie im falschen Augenblick … und dann passiert was?«

»Ich vermute nichts Gutes«, meinte Pevara. Eine Rote.

Würde er sich jemals an jenen rächen können, die ihn gedämpft hatten? Einst hatte ihn allein dieser Hass überleben lassen. Jetzt gab es da einen neuen Hunger in ihm. Er hatte Aes Sedai besiegt, hatte ihren Willen gebrochen und sie für sich beansprucht. Vergeltung erschien so … sinnlos. Sein so langsam gewachsenes Verlangen, M’Hael zu töten, hatte etwas von dieser Leere gefüllt, aber es reichte nicht. Was gab es noch?

Einst hatte er sich Wiedergeborener Drache genannt. Einst hatte er sich darauf vorbereitet, die Welt zu beherrschen. Sie niederknien zu lassen. Er strich über das Siegel für den Kerker des Dunklen Königs, während er am Rand der Schlacht stand. Er befand sich weit im Südwesten, unterhalb des Moores, wo seine Asha’man ein kleines Basislager unterhielten. In der Ferne grollte Donner – explodierende Gewebe, die zwischen Aes Sedai und Sharanern gewechselt wurden.

Dort hatte eine große Anzahl seiner Asha’man gekämpft, aber die sharanischen Machtlenker waren Aes Sedai und Asha’man zusammengenommen zahlenmäßig weit überlegen. Andere strichen über die Schlachtfelder, jagten Schattenlords und töteten sie.

Er hatte schneller Männer verloren als der Schatten. Es gab zu viele Feinde.

Er hielt das Siegel in die Höhe. Es verkörperte Macht. Die Macht, um die Schwarze Burg irgendwie zu beschützen? Wenn sie uns nicht fürchten, mich fürchten, was geschieht dann mit uns, sobald der Drache tot ist?

Unzufriedenheit strömte durch den Bund. Er erwiderte Gabrelles Blick. Sie hatte die Schlacht verfolgt, aber jetzt musterte sie ihn. Fragte ihn. Drohte ihm?

Hatte er wirklich geglaubt, er hätte die Aes Sedai gezähmt? Eigentlich hätte er bei der Vorstellung lachen sollen. Keine Aes Sedai konnte gezähmt werden, niemals.

Logain steckte das Siegel und seine Gefährten betont langsam in die Tasche an seinem Gürtel. Er knotete sie zu, erwiderte Gabrelles Blick. Ihre Sorge schoss in die Höhe. Einen Augenblick lang hatte er den Eindruck gehabt, dass sie um ihn besorgt war und nicht wegen dem, was er vielleicht tat.

Vielleicht lernte sie ja, wie man den Behüterbund überlistete, wie man Gefühle schickte, von denen sie glaubte, dass sie ihn einlullen würden. Nein, Aes Sedai konnte man nicht zähmen. Ihnen den Bund aufzuerlegen hatte sie nicht unter Kontrolle gebracht. Es hatte nur für neue Komplikationen gesorgt.

Er griff an den hohen Kragen, nahm die Drachennadel ab, die er dort trug, und hielt sie Androl hin. »Androl Genhald, Ihr seid in die Grube des Todes gegangen und zurückgekehrt. Nun stehe ich zweifach in Eurer Schuld. Ich ernenne Euch hiermit zum vollwertigen Asha’man. Tragt die Nadel mit Stolz.« Er hatte dem Mann bereits seinen Schwertanstecker zurückgegeben und ihn wieder zum Geweihten gemacht.

Androl zögerte, dann streckte er die Hand aus und nahm die Nadel andächtig in Empfang.

»Und die Siegel?«, fragte Pevara mit verschränkten Armen. »Sie gehören der Weißen Burg; die Amyrlin ist ihre Wächterin.«

»Nach allem, was ich gehört habe, ist die Amyrlin so gut wie tot«, erwiderte Logain. »In ihrer Abwesenheit bin ich ein guter Verwalter.« Er ergriff die Quelle, unterwarf sie seinem Willen. Dann öffnete er ein Wegetor auf das Plateau.

Der Krieg prallte ihm mit voller Macht entgegen, die Verwirrung, der Rauch und die Schreie. Er trat durch die Öffnung, und die anderen folgten ihm. Demandreds energisches Machtlenken strahlte wie ein Leuchtfeuer, die dröhnende Stimme des Mannes verhöhnte noch immer den Wiedergeborenen Drachen.

Rand al’Thor war nicht hier. Nun, Logain kam ihm am nächsten. Ein weiterer Ersatz. »Ich werde mit ihm kämpfen«, teilte er den anderen mit. »Gabrelle, du bleibst zurück und wartest auf meine Rückkehr, denn ich könnte Heilung brauchen. Der Rest von euch kümmert sich um Taims Männer und diese Sharaner. Lasst keinen Mann leben, der zum Schatten übergelaufen ist, ob nun freiwillig oder gezwungen. Führt die einen der Gerechtigkeit zu und die anderen der Gnade.«

Sie nickten. Gabrelle schien von ihm beeindruckt zu sein, vielleicht wegen seiner Entscheidung, gegen das Herz des Feindes loszuschlagen. Sie begriff es nicht. Nicht einmal einer der Verlorenen konnte so mächtig sein, wie es Demandred scheinbar war.

Demandred verfügte über ein Sa’angreal, und zwar ein mächtiges. Mit einer ähnlichen Macht wie Callandor, vielleicht sogar noch stärker. In Logains Händen würden sich damit auf dieser Welt viele Dinge ändern. Die Welt würde ihn und die Schwarze Burg kennen, und sie würde vor ihm zittern, und zwar auf eine Weise, wie es der Amyrlin-Sitz niemals zustande gebracht hatte.


Egwene führte einen Angriff an, wie man ihn seit Jahrtausenden nicht mehr gesehen hatte. Die Aes Sedai verließen ihre Deckung und schlossen sich ihr an, stiegen ohne innezuhalten den Westhang hinauf. Gewebe flogen durch die Luft wie vom Sturmwind erfasste Spitzenschleifen.

Das Licht von tausend Blitzen sprengte den Himmel, der Boden erbebte und ächzte unter den Einschlägen. Demandred schlug noch immer von der anderen Seite der Anhöhe auf die Andoraner ein, und jeder Strahl Baalsfeuer schickte kleine Wellen durch die Luft. Schwarze Spinnweben spalteten den Boden, aber nun stiegen aus den Rissen rankenförmige Schwaden aus etwas Verderblichem empor. Es kroch wie eine Krankheit über die zerborstenen Steine des Hangs.

Die Macht knisterte in der Luft, die Kraft war so dicht, dass Egwene beinahe glaubte, die Eine Macht wäre für alle sichtbar geworden. Während der ganzen Zeit zog sie durch Voras Sa’angreal so viel Kraft in sich hinein, wie sie halten konnte. Sie fühlte sich wie bei dem Kampf gegen die Seanchaner, nur dass sie eine größere Kontrolle hatte. Damals war ihr Zorn von Verzweiflung und Entsetzen durchmischt gewesen.

Dieses Mal war er glühend heiß, wie ein Stück Metall, das der Schmied zu lange erhitzt hatte, um es noch bearbeiten zu können.

Ihr, Egwene al’Vere, war der Schutz dieses Landes anvertraut worden.

Sie war der Amyrlin-Sitz und würde sich nicht länger vom Schatten herumstoßen lassen.

Sie würde nicht zurückweichen. Sie würde nicht kriechen, wenn ihre Kräfte versagten.

Sie würde kämpfen.

Sie lenkte Luft und webte einen tosenden Sturm aus Staub, Rauch und toten Pflanzen. Sie hielt ihn vor sich und versperrte jenen den Blick, die sie aus der Höhe ausmachen wollten. Um sie herum schlugen Blitze ein, aber sie webte Erde, grub tief in die Felsen und ließ verflüssigtes Eisen emporspritzen, das neben ihr zu einer spitzen Säule erstarrte. Die Blitze schlugen dort ein und verfehlten sie, während sie den Wirbelsturm die Steigung hinaufschickte.

Neben ihr war eine Bewegung. Leilwin kam näher. Diese Frau … diese Frau hatte sich als treu erwiesen. Was für eine Überraschung. Eine neue Behüterin zu haben verringerte keineswegs die Verzweiflung über Gawyns Tod, aber es half auf andere Weise. Ein neuer, zutiefst anderer und doch schockierend loyaler Knoten ersetzte den alten in ihrem Bewusstsein.

Egwene hob Voras Sa’angreal und setzte ihre Angriffe fort, erklomm den Hang, Leilwin an ihrer Seite. Voraus duckten sich Sharaner und ertrugen die Sturmwinde. Egwene traf sie mit schmalen Feuerstreifen. Machtlenker versuchten sie durch den Wirbelsturm anzugreifen, aber Staub peitschte ihnen in die Augen und ließ die Gewebe fehlschlagen. Drei Soldaten griffen von der Seite an, aber Leilwin machte sie augenblicklich nieder.

Egwene benutzte den Sturm wie Hände, schaufelte die Machtlenker zusammen und warf sie in die Luft. Die Blitze rissen die Männer in eine feurige Umarmung, und qualmende Leichen stürzten den Hang hinunter. Egwene ging voraus, und ihr Heer aus Aes Sedai rückte vor und schleuderte Gewebe wie Pfeile aus Licht.

Asha’man gesellten sich zu ihnen. Zuvor hatten sie immer mal wieder an der Seite der Weißen Burg gekämpft, aber jetzt schienen sie sich alle festgelegt zu haben. Dutzende Männer versammelten sich, während sie vorausging. Die Luft schien durch die Eine Macht zu glühen.

Schlagartig verstummte der Wind.

Unvermittelt erstarb der Staubsturm, als hätte man eine Kerze mit einer Decke erstickt. Dafür war keine natürliche Kraft verantwortlich. Egwene stieg auf einen aus dem Boden ragenden Stein und schaute zu einem Mann in Schwarz und Rot hinauf, der mit ausgestreckter Hand oben am Hang stand. Endlich hatte sie den Mann aus der Deckung gelockt, der diese Streitmacht anführte. Seine Schattenlords kämpften an der Seite der Sharaner, aber sie suchte ihren Anführer. Taim. M’Hael.

»Er webt Blitze!«, schrie ein Mann hinter ihr.

Sofort ließ Egwene eine Säule aus geschmolzenem Eisen aus dem Boden schießen und kühlte sie ab, damit sie den einen Augenblick später einschlagenden Blitz ablenken konnte. Sie warf einen Blick zur Seite. Der Mann, der sie gewarnt hatte, war Jahar Narishma, Merises Asha’man-Behüter.

Egwene lächelte und blickte zu Taim hoch. »Haltet die anderen von mir fern«, befahl sie laut. »Alle bis auf Narishma und Merise. Narishmas Warnungen werden sich als nützlich erweisen.«

Sie sammelte ihre Kraft und schleuderte dem Verräter M’Hael einen Sturm entgegen.


Auf dem Schlachtfeld unweit der Ruinen suchte sich Ila einen Weg vorbei an den Toten. Obwohl sich der Kampf flussabwärts verlagert hatte, hörte sie die Explosionen und fernen Schreie in der Nacht.

Sie suchte nach den Verletzten unter den Gefallenen und ignorierte Pfeile und Schwerter, wenn sie sie fand. Die würden andere einsammeln, auch wenn sie sich wünschte, dass das nicht nötig sein würde. Schwerter und Pfeile hatten so viel Tod gebracht.

In der Nähe war Raen zugange, ihr Mann. Er stieß jeden Körper an, dann suchte er nach einem Herzschlag. Seine Handschuhe waren mit roten Flecken übersät, seine bunte Kleidung voller Blut, weil er das Ohr auf die Brust der Gefallenen legte. Sobald sie sich vergewissert hatten, dass jemand tot war, malten sie ihm ein X auf die Wange, oft mit dem Blut des betreffenden Leichnams. Das würde den anderen unnötige Arbeit ersparen.

Raen schien im vergangenen Jahr ein Jahrzehnt gealtert zu sein, und Ila hatte das gleiche Gefühl. Meistens war der Weg des Blattes ein anspruchsloser Herr, der für ein Leben der Freude und des Friedens sorgte. Aber ein Blatt fiel in einer sanften Brise und im Sturm; die Hingabe verlangte, dass man Letzteres genau wie das Erstere akzeptierte. Von einem Land ins nächste getrieben zu werden, an Hunger zu leiden, während das Land starb, dann schließlich in den Ländern der Seanchaner Zuflucht zu finden … das war ihr Leben gewesen.

Nichts davon war so schlimm wie der Verlust Arams. Das hatte viel mehr geschmerzt, als seine Mutter an die Trollocs zu verlieren.

Sie kamen an Morgase vorbei, der einstigen Königin, die diese Arbeiter organisierte und ihnen Befehle gab. Ila ging weiter. Sie hatte nicht viel für Königinnen übrig. Sie hatten nie etwas für sie oder ihr Volk getan.

In der Nähe blieb Raen stehen und hob die Laterne, um einen vollen Köcher Pfeile zu untersuchen, den ein Soldat getragen hatte, als er gefallen war. Ila zischte und hob die Röcke, um über Leichen zu steigen und an die Seite ihres Mannes zu gelangen. »Raen!«

»Friede, Ila«, sagte er. »Ich habe keineswegs vor, ihn aufzuheben. Und doch macht es mich nachdenklich.« Er schaute zu den fernen Lichtblitzen flussabwärts und auf dem Plateau, wo die Heere ihr schreckliches Morden fortsetzten. So oft leuchtete es in der Nacht auf, als würden Hunderte Blitze einschlagen. Mitternacht war lange vorbei. Schon seit Stunden suchten sie auf diesem Feld nach Überlebenden.

»Es macht dich nachdenklich?«, fragte Ila. »Raen …«

»Was sollten sie denn machen? Trollocs werden sich nicht dem Weg des Blattes anschließen.«

»Es gibt noch genug Platz zum Weglaufen«, erwiderte Ila. »Sieh sie dir doch an. Sie traten an, um den Trollocs entgegenzutreten, als das Schattengezücht kaum die Fäule verlassen hatte. Wäre dieser ganze Aufwand darauf verwendet worden, die Menschen zu versammeln und in den Süden zu bringen …«

»Die Trollocs wären ihnen gefolgt«, meinte Raen. »Und was dann, Ila?«

»Wir haben vielen Herren gedient«, sagte sie. »Der Schatten hätte uns vermutlich schlecht behandelt, aber wäre das wirklich so viel schlimmer gewesen, als uns die Menschen behandeln?«

»Ja«, sagte Raen leise. »Ja, Ila. Es wäre schlimmer. Viel, viel schlimmer.«

Sie blickte ihn an.

Seufzend schüttelte er den Kopf. »Ich werde den Weg des Blattes nicht aufgeben, Ila. Es ist mein Weg, und er ist richtig für mich. Aber … vielleicht werde ich nicht mehr ganz so schlecht über jene denken, die sich einem anderen Weg verschworen haben. Falls wir diese Zeit überleben, dann ist das das Vermächtnis all jener, die auf diesem Schlachtfeld gestorben sind, ob wir ihr Opfer nun gutheißen oder nicht.«

Er verstummte. Das ist bloß die Finsternis dieser Nacht, dachte sie. Sobald die Sonne wieder scheint, wird er sie überwinden. So wird es sein. Nicht wahr?

Sie schaute in den Nachthimmel. Diese Sonne … Würden sie sie erkennen, wenn sie wieder aufging? Die von den Feuern am Boden beleuchteten Wolken schienen zusehends dichter zu werden. Ila zog das gelbe Schultertuch enger um den Körper, weil sie plötzlich noch mehr fror.

Vielleicht werde ich nicht mehr ganz so schlecht über jene denken, die sich einem anderen Weg verschworen haben …

Sie blinzelte ein paar Tränen fort. »Beim Licht«, flüsterte sie, als sich etwas in ihr zusammenzog. »Ich hätte ihm nicht den Rücken zukehren sollen. Ich hätte ihm helfen sollen, zu uns zurückzukehren, statt ihn zu verstoßen. Licht, o Licht. Nimm ihn in dich auf …«

In der Nähe fand eine Gruppe Söldner die Pfeile und nahm sie. »Hey, Hanlon!«, rief einer. »Seht Euch das an!«

Als die brutalen Männer die Tuatha’an zuerst in ihrer Arbeit unterstützt hatten, war sie stolz auf sie gewesen. Der Schlacht fernzubleiben, um bei der Versorgung der Verwundeten zu helfen? Die Männer hatten über ihre gewalttätige Vergangenheit hinausgesehen.

Jetzt blinzelte sie und sah etwas anderes in ihnen. Feiglinge, die eher die Taschen von Leichen durchstöberten, als zu kämpfen. Was war schlimmer? Die Männer, die, so fehlgeleitet sie auch sein mochten, den Trollocs Widerstand leisteten und sie abzuwehren versuchten? Oder diese Söldner, die sich zu kämpfen weigerten, weil sie diesen Weg bequemer fanden?

Ila schüttelte den Kopf. Sie war stets der Ansicht gewesen, alle Antworten des Lebens zu kennen. Heute entglitten ihr die meisten davon. Aber das Leben eines Menschen zu retten … daran konnte sie sich festklammern.

Sie ging weiter und suchte nach den Lebenden unter den Toten.


Olver drückte das Horn fest an den Leib und kroch zurück unter den Wagen, während Lady Faile losritt. Dutzende Reiter folgten ihr und Hunderte von Trollocs. Es war so dunkel geworden.

Allein. Wieder hatte man ihn alleingelassen.

Er kniff fest die Augen zusammen, aber das richtete nicht viel aus. In der Ferne konnte er noch immer Männer schreien und rufen hören. Er roch noch immer das Blut der Gefangenen, die bei ihrem Fluchtversuch vom Schattengezücht getötet worden waren. Über dem Blut lag dichter Rauch, der im Hals kratzte. Als stünde die ganze Welt in Flammen.

Der Boden erbebte, als wäre in der Nähe etwas außerordentlich Schweres eingeschlagen. Donner grollte am Himmel, begleitet von scharfen Peitschenschlägen, als unaufhörlich Blitze auf der Anhöhe einschlugen. Olver wimmerte.

Für wie tapfer hatte er sich doch gehalten. Und jetzt hockte er hier, endlich mitten in der Schlacht. Und konnte kaum seine Hände am Zittern hindern. Verstecken wollte er sich, sich tief im Boden eingraben.

Faile hatte ihm befohlen, ein anderes Versteck zu finden, weil sie auf der Suche nach dem Horn vermutlich zurückkehren würden.

Wagte er es, diesen Ort zu verlassen? Wagte er es hierzubleiben? Mühsam öffnete er die Augen einen Spaltbreit und hätte beinahe aufgeschrien. Zwei Beine, die in Hufen endeten, standen vor dem Karren. Im nächsten Augenblick beugte sich ein Gesicht mit einer Schnauze herab und starrte ihn an, Knopfaugen verengten sich, Nüstern blähten sich.

Olver schrie auf, robbte mit fest umklammertem Horn rückwärts. Der Trolloc schrie etwas, stieß den Karren um und schleuderte ihn um ein Haar auf Olver. Die Pfeilladung verteilte sich über den ganzen Boden, während er auf die Beine kam und losrannte. Zu einem sicheren Ort.

Den gab es aber nicht. Dutzende Tiermenschen wandten sich ihm zu, und sie riefen sich etwas in einer unbekannten Sprache zu. Hektisch schaute er sich um, das Horn in der einen, das Messer in der anderen Hand. Kein Zufluchtsort.

In der Nähe schnaubte ein Pferd. Es war Bela, die Getreide kaute, das aus einem Nachschubkarren gerieselt war. Die Stute hob den Kopf und sah Olver an. Sie trug keinen Sattel, bloß Halfter und Zaumzeug.

Blut und Asche, dachte Olver und rannte auf sie zu, ich wünschte, ich hätte Wind. Diese fette Stute würde ihn mit Sicherheit in einem Kochtopf enden lassen. Er schob das Messer in die Scheide, sprang auf Belas Rücken, packte mit einer Hand die Zügel und drückte mit der anderen das Horn fest an sich.

Der Trolloc mit der Eberschnauze vom Wagen schlug mit seinem Schwert zu und trennte Olver um ein Haar den Arm ab. Olver schrie auf, trieb Bela an, und die Stute galoppierte los. Die Bestien rannten brüllend hinterher. Im ganzen Lager ertönten Rufe; es leerte sich beinahe, als sich alle auf den Jungen stürzten.

Olver ritt, wie man es ihm beigebracht hatte, den Kopf gesenkt, mit den Knien lenkend. Und Bela rannte. Beim Licht, und wie sie rannte! Mat hatte gesagt, dass sich viele Pferde vor Trollocs fürchteten und ihre Reiter abwarfen, falls man sie in ihre Nähe zwang, aber dieses Tier nicht. Es donnerte direkt an den heulenden Trollocs vorbei durch die Lagermitte.

Olver warf einen Blick über die Schulter. Hunderte Bestien verfolgten ihn. »O beim Licht!«

Er hatte Mats Banner oben auf dieser Anhöhe gesehen, da war er sich sicher. Aber es stand so viel Schattengezücht im Weg. Olver lenkte Bela in die Richtung, die Aravine eingeschlagen hatte. Vielleicht konnte er das Lager der Tiermenschen umrunden und auf diesem Weg davonkommen, um die Anhöhe dann von der Rückseite hochzureiten.

Bring Mat das Horn, oder alles ist verloren.

Olver ritt, so gut er konnte, feuerte Bela an.

Es ist kein anderer da.

Eine große Gruppe Trollocs schnitt ihm den Weg ab. Olver wendete und galoppierte zurück, aber aus dieser Richtung kamen sie auch. Olver schrie auf, drehte Bela erneut, aber ein dicker schwarzer Trolloc-Pfeil bohrte sich in ihre Flanke. Sie wieherte laut, stolperte, stürzte.

Olver landete am Boden, und der Aufprall trieb ihm die Luft aus den Lungen und ließ ihn Sterne sehen. Er zwang sich, auf Händen und Knien weiterzukriechen.

Das Horn muss Matrim Cauthon erreichen …

Olver umklammerte das Horn und stellte fest, dass er weinte. »Es tut mir leid«, sagte er zu Bela. »Du warst ein gutes Pferd. Du bist gelaufen, wie es Wind nie geschafft hätte. Es tut mir leid.« Sie wieherte leise, nahm einen letzten Atemzug und starb.

Er ließ sie zurück und rannte zwischen den Beinen des ersten Trollocs hindurch, der eintraf. Er konnte nicht gegen sie kämpfen. Das war ihm klar. Er ließ das Messer in der Scheide stecken. Er rannte einfach den steilen Hang hinauf und versuchte das Plateau zu erreichen, wo er Mats Flagge hatte fallen sehen.

Genauso gut hätte es auf einem anderen Kontinent sein können. Ein Trolloc schnappte seine Kleidung und zog ihn zurück, aber Olver riss sich frei, ließ einen Fetzen Stoff in seinen harten Krallen zurück. Er stolperte über umgepflügten Boden und entdeckte von Verzweiflung erfüllt eine kleine Öffnung in einer Felsnase am Fuß des Hanges. Die Spalte öffnete sich in den schwarzen Himmel.

Er stürzte darauf zu, quetschte sich hinein und klammerte das Horn fest. Er passte kaum hinein. Trollocs scharten sich um die Spalte, dann griffen sie von oben und unten nach ihm und rissen an seiner Kleidung.

Olver wimmerte und schloss die Augen.


Logain warf sich aus dem Tor, und die Gewebe der Einen Macht bildeten sich bereits vor ihm. Er griff Demandred an.

Der Mann stand am Rand des qualmenden Hanges, der auf das ausgetrocknete Flussbett und die nachgebenden andoranischen Pikenformationen hinausschaute. Dort kämpften auch Aiel, Cairhiener und die Legion des Drachen, und sie alle schwebten in Gefahr, eingekreist zu werden.

Die Piken waren mittlerweile so gut wie zerschmettert. Bald würde das Massaker beginnen.

Logain schleuderte zwei Feuersäulen auf Demandred, aber Sharaner warfen sich dazwischen und hielten den Angriff auf. Fleisch verbrannte, Knochen verwandelten sich in Asche. Ihr Tod gab Demandred die nötige Zeit, herumzufahren und mit einem Gewebe aus Wasser und Luft zuzuschlagen. Logains Feuerschwall verwandelte sich in Dampf und verkochte.

Logain hatte gehofft, dass der Verlorene nach so viel Machtlenken ermüdet sein würde. Das war nicht der Fall. Ein komplexes Gewebe bildete sich vor dem Mann, wie es Logain noch nie zuvor gesehen hatte. Es bildete ein Feld, das die Luft verzerrte, und der nächste Angriff prallte davon ab wie ein auf eine Ziegelwand geworfener Stock.

Logain sprang zur Seite, als ein Blitz vom Himmel raste. Steinsplitter prasselten auf ihn, während er Geist, Feuer und Erde webte und auf den seltsamen Wall einschlug. Er riss ihn herunter, dann schleuderte er Steintrümmer vom Boden, um das sofort folgende Feuer abzuwehren.

Ein Ablenkungsmanöver! Logain erkannte, dass Demandred hinter dem Feuer etwas viel Aufwendigeres gewebt hatte. Ein Wegetor öffnete sich und raste über den Boden, ein rot strahlender Rachen. Logain warf sich zur Seite, als das Todestor an ihm vorbeiglitt und dabei eine Spur glühender Lava hinterließ.

Demandreds nächster Angriff war ein Luftstoß, der Logain in die Richtung der Lava schleuderte. Verzweifelt webte er Wasser, um das geschmolzene Gestein abzukühlen. Er landete mit der Schulter voran und stürzte durch eine Dampfwolke, die seine Haut verbrühte, aber er hatte die Lava genug gekühlt, dass sich eine Kruste auf dem noch immer fließenden Strom gebildet hatte. Mit angehaltener Luft, um nichts von dem Dampf einzuatmen, warf er sich auf die andere Seite, während eine Reihe Blitze den Boden pulverisierte, auf dem er sich gerade eben noch befunden hatte.

Die Blitze zerschmetterten die Kruste und landeten in dem rot glühenden Gestein. Lavatropfen spritzten auf Logain und brannten Löcher in seine Arme und sein Gesicht. Er schrie auf und webte durch seinen Zorn hindurch, um Blitze auf seinen Feind herabregnen zu lassen.

Ein Schnitt aus Geist, Erde und Feuer durchtrennte seine Gewebe in der Luft. Demandred war so unglaublich stark. Das Sa’angreal war unfassbar.

Der nächste Blitz blendete Logain und warf ihn zurück. Er landete in zersplittertem Schiefer, und die spitzen Steine bohrten sich in seine Haut.

»Du bist mächtig«, sagte Demandred. Logain konnte die Worte kaum verstehen. Seine Ohren … der Donner … »Aber du bist nicht Lews Therin.«

Logain knurrte, webte durch seine Tränen, schleuderte Blitze auf den Verlorenen. Er webte zweimal, und obwohl Demandred den einen Blitz aus der Luft holte, traf der andere sein Ziel.

Aber … was war das für ein Gewebe? Wieder war es Logain unbekannt. Der Blitz traf Demandred, verschwand aber abgelenkt im Boden und löste sich auf. Ein ganz einfaches Gewebe aus Luft und Erde, aber es machte den Blitz wirkungslos.

Eine Abschirmung schob sich zwischen Logain und die Quelle. Mit seinen verletzten Augen schaute er zu, wie Baalsfeuer in Demandreds Händen aufflammte. Mit einem wütenden Fauchen griff er blindlings nach einem Stück Schiefer von der Größe seiner Faust und schleuderte es auf den Verlorenen.

Überraschenderweise traf der Stein und riss Haut auf, ließ Demandred zurücktaumeln. Der Verlorene war mächtig, aber er konnte noch immer die Fehler gewöhnlicher Menschen machen. Niemals die ganze Aufmerksamkeit auf die Eine Macht richten, ganz egal, was Taim immer gepredigt hatte. Der Augenblick der Ablenkung reichte, dass die Abschirmung zwischen Logain und der Quelle verschwand.

Logain rollte sich herum und setzte zu zwei verschiedenen Geweben an. Das eine war eine Abschirmung, die er gar nicht benutzen wollte. Das andere war ein verzweifeltes letztes Wegetor. Die Wahl eines Feiglings.

Demandred knurrte, hob eine Hand zum Gesicht und schlug mit der Macht zu. Er entschied sich, die Abschirmung zu vernichten, denn sie stellte das größere Risiko dar. Das Wegetor öffnete sich, und Logain rollte sich hindurch und ließ es zuschnellen. Auf der anderen Seite brach er zusammen; seine Haut war verbrüht, seine Arme voller Löcher, seine Ohren dröhnten, und seine Sehkraft war so gut wie zerstört.

Er zwang sich dazu, sich aufzurichten, kehrte zurück ins Lager der Asha’man unterhalb des Moores, wo Gabrelle und die anderen auf seine Rückkehr warteten. Er heulte vor Wut. Gabrelles Sorge strömte durch den Bund. Echte Sorge. Er hatte sich das nicht eingebildet. Beim Licht.

»Ruhig«, sagte sie und kniete neben ihm nieder. »Du Narr. Was hast du getan?«

»Ich habe versagt«, sagte er. Undeutlich nahm er wahr, wie Demandred wieder mit seiner Macht zuschlug, während er nach Lew Therin brüllte. »Heilt mich.«

»Du wirst das doch nicht noch einmal versuchen, oder? Ich will dich nicht Heilen, nur damit du …«

»Ich versuche es nicht erneut«, sagte Logain mit rauer Stimme. Die Schmerzen waren entsetzlich, aber sie verblassten im Vergleich zu der Demütigung der Niederlage. »Das werde ich nicht, Gabrelle. Hör auf, meine Worte in Zweifel zu ziehen. Er ist zu stark.«

»Einige dieser Verbrennungen sind schlimm, Logain. Diese Löcher in deiner Haut, ich weiß nicht, ob ich sie völlig Heilen kann. Du wirst Narben zurückbehalten.«

»Das macht nichts«, knurrte er. Dort war Lava auf seinen Arm und seine Wange gespritzt.

Licht, dachte er. Was sollen wir nur mit diesem Ungeheuer machen?

Gabrelle legte ihm die Hände auf, und die Heilgewebe strömten in seinen Körper.


Das Getöse des Kampfes von Egwene und M’Hael drohte das Donnern der Wolken über ihnen zu übertönen. M’Hael. Ein neuer Verlorener, dessen Name von seinen Schattenlords auf dem ganzen Schlachtfeld verkündet worden war.

Egwene webte, ohne nachzudenken, schleuderte ein Gewebe nach dem anderen auf den abtrünnigen Asha’man. Sie hatte den Wind nicht gerufen, aber er brauste noch immer, riss an ihrem Haar und ihrem Gewand, ergriff die Stola und wirbelte sie umher. Narishma und Merise kauerten zusammen mit Leilwin neben ihr auf dem Boden. Narishmas im Schlachtenlärm kaum verständliche Stimme benannte Gewebe, als M’Hael sie erschuf.

Nach ihrem Aufstieg stand Egwene oben auf dem Plateau, auf gleicher Höhe mit M’Hael. Irgendwo tief in ihrem Inneren wusste sie, dass ihr Körper bald Ruhe brauchen würde.

Im Augenblick war das ein unerschwinglicher Luxus. Im Augenblick war allein der Kampf wichtig.

Feuer blitzte ihr entgegen, und sie schlug es mit Luft zur Seite. Die Funken fingen sich im Wind und wirbelten in einer hellen Wolke um sie herum, während sie Erde webte. Sie schickte ein Aufbäumen durch den bereits zerstörten Boden und versuchte M’Hael von den Beinen zu holen, aber er zerschnitt das Gewebe.

Er wird langsamer, dachte sie.

Egwene trat vor Macht berstend vor. Sie webte zwei Gewebe, eines über jeder Hand, und schleuderte Feuer auf ihn.

Als Erwiderung schickte er einen Strahl aus purem Weiß, so dünn wie ein Draht, der sie um eine Handbreite verfehlte. Das Baalsfeuer hinterließ ein Nachglühen in ihrem Sichtfeld, und der Boden unter ihnen stöhnte auf, während sich die Luft verzerrte. Überall breiteten sich blitzschnell die Spinnweben aus, Brüche ins Nichts.

»Du Narr!«, schrie sie ihn an. »Du wirst das Muster selbst vernichten!« Ihr Kampf drohte das bereits an. Dieser Wind war nicht natürlich, genauso wenig wie die knisternde Luft. Die Spalten im Boden pflanzten sich von M’Hael aus fort und wurden größer.

»Er webt es schon wieder!«, rief Narishma. Der Sturm erfasste seine Stimme.

M’Hael schickte erneut Baalsfeuer auf den Weg und spaltete den Boden, aber Egwene war bereit. Sie sprang zur Seite, und ihr Zorn loderte auf. Baalsfeuer. Sie musste ihm etwas entgegensetzen!

Ihnen ist egal, was sie zerstören. Sie sind hier, um alles zu vernichten. Das ist der Befehl ihres Herrn. Zerstört. Brennt es nieder. Tötet.

Gawyn …

Sie schrie ihre Wut heraus und webte eine Feuersäule nach der anderen. Narishma rief, was M’Hael tat, aber das Rauschen in ihren Ohren hinderte Egwene daran, es zu verstehen. Aber bald sah sie, dass er eine Barriere aus Luft und Feuer errichtet hatte, um ihre Angriffe abzuwehren.

Sie setzte sich in Bewegung und deckte ihn unaufhörlich mit Geweben ein. Das ließ ihm keine Zeit zur Erholung, keine Zeit anzugreifen. Sie hielt im Rhythmus nur so lange inne, um eine Abschirmung zu weben, die sie bereithielt. Ein von seinem Wall abprallender Feuerstrom ließ M’Hael zurückstolpern, seine Stränge zerfaserten, und er hob die Hand, um vielleicht erneut Baalsfeuer einzusetzen.

Egwene schlug die Abschirmung zwischen ihn und die Quelle. Sie schnitt ihn nicht vollständig ab, denn er stemmte sich mit reiner Willenskraft dagegen. Sie standen sich nun nahe genug gegenüber, dass sie seinen Unglauben und Zorn sehen konnte. Er wehrte sich, war aber schwächer als sie. Egwene drängte weiter, brachte diese Abschirmung immer näher an den unsichtbaren Faden, der ihn mit der Einen Macht verband. Sie zwang sie mit ihrer ganzen Kraft vorwärts …

M’Hael spannte sich an, schickte einen kleinen Strom Baalsfeuer nach oben durch die Lücke, wo die Abschirmung noch nicht zugeschnappt war. Das Baalsfeuer zerstörte das Gewebe – genau wie die Luft und tatsächlich das Muster selbst.

Egwene stolperte zurück, als M’Hael das Gewebe auf sie richtete, aber der glühend heiße Balken war zu klein und zu schwach, um sie zu erreichen. Er verblasste, bevor er traf. M’Hael fauchte, dann verschwand er einfach, verzerrte die Luft mit einer Form des Reisens, die Egwene unbekannt war.

Egwene atmete tief ein, hielt die Hand auf die Brust. Licht! Um ein Haar wäre sie aus dem Muster gelöscht worden.

Er verschwand, ohne ein Wegetor zu weben! Die Wahre Macht. Die einzige Erklärung. Sie wusste so gut wie gar nichts darüber – es war die Essenz des Dunklen Königs, die Verheißung, die im Zeitalter der Legenden die Machtlenker dazu gebracht hatte, die Bohrung überhaupt erst in Angriff zu nehmen.

Baalsfeuer. Licht. Beinahe wäre ich gestorben. Es wäre sogar schlimmer als der Tod gewesen.

Ihr stand keine Möglichkeit zur Verfügung, sich gegen Baalsfeuer zu wehren.

Es ist doch nur ein Gewebe … Nur ein Gewebe. Perrins Worte.

Der Augenblick war vorbei, und M’Hael war geflohen. Sie würde Narishma in ihrer Nähe behalten müssen, damit er sie warnte, wenn ein Mann anfing, die Macht zu lenken.

Es sei denn, M’Hael benutzt wieder die Wahre Macht. Kann ein anderer Mann das überhaupt wahrnehmen?

»Mutter!«

Merise zeigte in die Richtung, in der die meisten Aes Sedai und Asha’man noch immer gegen die sharanischen Streitkräfte kämpften. Viele Schwestern in farbigen Kleidern lagen tot auf dem Hang.

Gawyns Tod suchte ihre Gedanken wie ein Attentäter in Schwarz heim. Egwene biss die Zähne zusammen und fachte ihren Zorn an, füllte sich mit der Einen Macht und stürzte sich auf die Sharaner.


Hurin kämpfte zusammen mit den anderen Grenzländern auf der Polov-Anhöhe, die Nase mit einem Tuch verbunden.

Selbst durch den Stoff roch er den Krieg. So viel Gewalt um ihn herum, der Gestank von Blut und verfaulendem Fleisch. Er klebte am Boden, an seinem Schwert, sogar an seiner Kleidung. Während der Schlacht hatte er sich bereits mehrere Male heftig übergeben müssen.

Trotzdem kämpfte er weiter. Er warf sich zur Seite, als ein Trolloc mit den Zügen eines Bären über die Leichen kroch und auf ihn einschlug. Das Schwert der Bestie ließ den Boden erzittern, und Hurin schrie auf.

Die Kreatur lachte ein unmenschliches Lachen und hielt Hurins Aufschrei für Furcht. Sie machte einen Satz nach vorn, also duckte sich Hurin darunter hinweg und schlitzte ihr im Vorbeigehen den Leib auf. Das Ungeheuer kam stolpernd zum Stehen und sah zu, wie sich seine stinkenden Eingeweide auf den Boden ergossen.

Ich muss Zeit für Lord Rand erkaufen, dachte Hurin und wartete darauf, dass der nächste Trolloc über die Leichen stieg. Sie kamen die Ostseite der Anhöhe hinauf, die Flussseite. Hier war der Hang so steil, dass sie stellenweise beinahe klettern mussten, aber beim Licht, es waren so viele von ihnen.

Kämpf weiter, kämpf weiter.

Lord Rand war zu ihm gekommen, um sich zu entschuldigen. Zu ihm! Nun, er würde dafür sorgen, dass er stolz auf ihn sein konnte. Der Wiedergeborene Drache brauchte die Vergebung eines kleinen Diebefängers nicht, trotzdem hielt sich bei Hurin das Gefühl, als hätte sich die Welt selbst wieder zurechtgerückt. Lord Rand war wieder Lord Rand. Lord Rand würde sie retten, wenn sie ihm nur genug Zeit verschaffen konnten.

Es gab eine Atempause. Er runzelte die Stirn. Die Bestien waren zahllos erschienen. Unmöglich konnten sie alle tot sein. Vorsichtig trat er weiter nach vorn und spähte über die Leichen den steilen Hang hinunter.

Nein, sie waren nicht besiegt. Noch immer schien das Meer der Bestien kein Ende zu nehmen. Die unten brennenden Feuer beleuchteten sie noch immer. Die Trollocs hatten mit ihrem Aufstieg innegehalten, weil sie die Kadaver auf dem Hang aus dem Weg schaffen mussten. Viele davon waren von Tams Bogenschützen niedergemäht worden. Viel weiter darunter kämpfte ein weitaus größeres Heer Trollocs gegen Elaynes Armee am Flussbett.

»Wir sollten ein paar Minuten lang Ruhe haben«, sagte Lan Mandragoran vom Sattel seines Hengstes aus zu den Soldaten. Nicht weit entfernt ritt auch Königin Alliandre und unterhielt sich völlig ruhig mit ihren Männern. Zwei Monarchen in Sichtweite. Sie wussten, wie man Befehle zu geben hatte. Das gab Hurin neue Zuversicht.

»Sie bereiten sich auf einen letzten Sturm vor«, sagte Lan, »einen Ansturm, der uns vom Hang vertreiben soll, damit sie uns hier auf ebenem Boden bekämpfen können. Ruht euch aus, während sie die Kadaver wegräumen. Das Licht schenke euren Schwertern seine Gunst, Freunde. Der nächste Angriff wird der schlimmste sein.« Der nächste Angriff würde der schlimmste sein? Licht!

Hinter ihnen in der Mitte des Plateaus bedrängte der Rest von Mats Heer weiterhin die sharanische Armee und versuchte sie nach Südwesten zurückzuwerfen. Falls ihm das gelang und er sie nach unten gegen die Trollocs zwingen konnte, die gegen Elaynes Soldaten kämpften, würde das ein großes Durcheinander verursachen, das er zu seinem Vorteil nutzen könnte. Aber im Augenblick gaben die Sharaner keinen Zoll an Boden preis; tatsächlich drängten sie Mats Heer zurück, das anfing nachzugeben.

Hurin legte sich hin und lauschte dem Stöhnen überall um sich herum, hörte die fernen Rufe und das Klirren aufeinandertreffender Waffen, roch den Geruch der Gewalt, der in einem Ozean aus Gestank um ihn herumhing.

Das Schlimmste stand ihnen noch bevor.

Das Licht stehe ihnen bei …


Berelain wischte sich mit einem Lappen das Blut von den Händen, als sie den Festsaal ihres Palastes betrat. Die Tische waren zu Feuerholz verarbeitet worden, um die riesigen Kamine an beiden Seiten des langen Raumes zu beheizen; die Möbel waren durch Reihen von Verwundeten ersetzt.

Die Tür zur Küche wurde aufgestoßen, und eine Gruppe Kesselflicker eilte hinein. Einige von ihnen schleppten Tragen, andere halfen verwundeten Männern, in den Raum zu hinken. Beim Licht!, dachte Berelain. Noch mehr? Der Palast war bis zum Bersten mit Verwundeten gefüllt.

»Nein, nein!«, sagte sie und ging den Neuankömmlingen entgegen. »Nicht hier herein. Den Korridor hinten. Wir werden sie dort unterbringen müssen. Rosil! Wir haben neue Verwundete.«

Die Kesselflicker wandten sich dem Korridor zu und redeten tröstend auf die Verwundeten ein. Man brachte nur jene zurück, die gerettet werden konnten. Berelain war gezwungen gewesen, den Anführerinnen der Tuatha’an-Frauen genau zu erklären, welche Verletzungen zu aufwendig zu Heilen waren. Es war besser, zehn Männer mit schlimmen Verletzungen zu retten, als dieselbe Kraft für die Rettung eines Mannes zu verbrauchen, der sich nur noch mit einem Faden Hoffnung ans Leben klammerte.

Diese Erklärung war eines der schrecklichsten Dinge gewesen, die sie je in ihrem Leben hatte tun müssen.

Die Kesselflicker marschierten weiter in einer Reihe, und sie hielt nach dem Schimmer weißer Kleidung Ausschau. Es waren Weißmäntel darunter, aber nicht derjenige, den sie suchte.

So viele … dachte sie erneut. Die Kesselflicker hatten keine Hilfe, die Verwundeten zu transportieren. Jeder einsatzfähige Mann und die meisten Frauen im Palast waren zum Schlachtfeld gegangen, um entweder zu kämpfen oder den Flüchtlingen aus Caemlyn zu helfen, Pfeile zu sammeln.

Rosil rauschte herein; ihre Kleidung war blutverschmiert, was sie aber ignorierte. Augenblicklich übernahm sie den Befehl über die Verwundeten und suchte nach jenen, die sofort ihre Hilfe brauchten. Unglücklicherweise wurde die Küchentür in genau diesem Augenblick erneut aufgestoßen, und eine Gruppe blutverschmierter Andoraner und Aiel stolperte herein, von den Kusinen von einem anderen Abschnitt des Schlachtfelds geschickt.

Was nun folgte, kam Wahnsinn schon sehr nahe, als Berelain jeden antrieb, den sie finden konnte – Stallburschen, Alte, nicht einmal fünfjährige Kinder –, um den Neuankömmlingen zu helfen. Von den Aiel kamen nur die schlimmsten Verwundeten; sie neigten dazu, so lange auf dem Schlachtfeld auszuharren, wie sie eine Waffe halten konnten. Das bedeutete, dass vielen von denen, die nach Mayene kamen, nicht mehr zu helfen war. Sie musste für sie Platz schaffen, den sie nicht hatte, und zusehen, wie sie Blut ausspuckten und starben.

»Das ist doch Unsinn!«, sagte sie und stand auf. Ihre Hände waren wieder nass vom Blut, und sie hatte keinen sauberen Lappen mehr. Licht! »Wir müssen mehr Hilfe kommen lassen! Ihr da!« Sie zeigte auf einen Aiel, der geblendet worden war. Er saß an die Wand gelehnt und trug einen Verband um die Augen. »Ihr da, der blinde Aiel.«

»Ich heiße Ronja.«

»Gut, Ronja. Ich habe ein paar Gai’shain hier, die mir helfen. Aber wenn ich richtig informiert bin, müsste es doch viel mehr von ihnen geben. Wo stecken sie?«

»Sie warten auf das Ende der Schlacht, damit sie den Siegern helfen können.«

»Wir holen sie«, sagte sie. »Wir brauchen jeden, der beim Kampf helfen kann.«

»Vielleicht kommen sie zu Euch, Berelain Paendrag, um bei der Versorgung der Verletzten zu helfen«, sagte der Mann. »Aber sie werden nicht kämpfen. Das ist nicht ihr Platz.«

»Sie werden Vernunft annehmen«, erwiderte sie energisch. »Das ist die Letzte Schlacht!«

»Ihr mögt hier ja der Clanhäuptling sein«, sagte der Aiel und musste lächeln, »aber Ihr seid nicht der Car’a’carn. Und nicht einmal er könnte den Gai’shain befehlen, das Ji’e’toh zu verletzen.«

»Wer könnte es dann?«

Das schien den Mann zu überraschen. »Niemand. Das ist unmöglich.«

»Und die Weisen Frauen?«

»Die würden das nicht tun. Niemals.«

»Wir werden ja sehen«, verkündete Berelain.

Der Mann lächelte breiter. »Ich glaube, dass sich kein Mann und keine Frau wünschen sollte, sich Eurem Zorn auszusetzen, Berelain Paendrag. Aber sollte man mein Augenlicht wiederherstellen, würde ich sie mir eher wieder ausstechen, als zuzusehen, wie Gai’shain kämpfen.«

»Dann sollen sie eben nicht kämpfen«, erwiderte Berelain. »Vielleicht können sie ja helfen, die Verwundeten zu bergen. Rosil, seid Ihr mit dieser Gruppe fertig?«

Die erschöpfte Frau nickte. Es gab nicht eine Aes Sedai im Palast, die nicht so aussah, als würde sie jeden Moment umkippen. Berelain blieb auf den Beinen, weil sie ein paar Kräuter genommen hatte, von denen sie sich nicht vorstellen konnte, dass Rosil sie gutheißen würde.

Nun, hier konnte sie nichts mehr ausrichten. Besser, sie sah nach den Verwundeten in den Lagerräumen. Sie hatten …

»Meine Lady die Erste?«, fragte da eine Stimme. Es war Kitan, eine der Mägde, die zurückgeblieben waren, um bei der Versorgung der Verwundeten zu helfen. Die schlanke Frau nahm ihren Arm. »Da gibt es etwas, das Ihr Euch ansehen müsst.«

Berelain seufzte, nickte dann aber. Welches Grauen erwartete sie jetzt schon wieder? Eine weitere Blase des Bösen, die Gruppen von Verwundeten hinter Mauern einsperrte, die es eben noch nicht gegeben hatte? Waren ihnen schon wieder die Verbände ausgegangen? Vermutlich gab es in der ganzen Stadt kein Laken, Tischtuch oder Unterzeug mehr, das nicht bereits zu Verbänden zerschnitten worden war.

Das Mädchen führte sie die Stufen zu ihren eigenen Gemächern hinauf, wo ein paar der Verwundeten versorgt wurden. Sie betrat eines der Zimmer und entdeckte überrascht ein bekanntes Gesicht. Annoura saß auf der Bettkante. Sie trug mit Grau geschlitztes Rot, ihre unweigerlichen Zöpfe waren zurückgelegt und auf eine sehr unvorteilhafte Weise gebunden. Um ein Haar hätte Berelain sie nicht erkannt.

Annoura erhob sich bei ihrem Eintreten und verneigte sich, obwohl sie so aussah, als würde sie gleich vor Erschöpfung zusammenbrechen.

Auf dem Bett lag Galad Damodred.

Berelain keuchte auf und eilte an seine Seite. Er war es, obwohl er eine hässliche Wunde im Gesicht hatte. Noch atmete er, aber er war bewusstlos. Berelain wollte nach seiner Hand greifen, entdeckte aber, dass der Arm in einem Stumpf endete. Einer der Feldscher hatte ihn bereits kauterisiert, damit er nicht verblutete.

»Aber wie?«, fragte Berelain, umklammerte seine andere Hand und schloss die Augen. Die Hand fühlte sich warm an. Als sie gehört hatte, was Demandred da brüllte, dass er den Mann in Weiß besiegt hatte …

»Ich war der Meinung, dass ich Euch das schuldete«, sagte Annoura. »Ich entdeckte ihn auf dem Schlachtfeld, nachdem Demandred seinen Sieg verkündet hatte. Ich zog ihn dort fort, während er gegen einen Mann von der Schwarzen Burg kämpfte.« Sie ließ sich auf einen Hocker neben dem Bett fallen, beugte sich vor. »Ich konnte ihn nicht Heilen, Berelain. Ich war bloß dazu fähig, ein Wegetor zu machen, um ihn herzubringen. Es tut mir leid.«

»Schon gut«, erwiderte Berelain. »Kitan, holt eine der Schwestern. Annoura, Ihr werdet Euch besser fühlen, wenn Ihr Euch ausgeruht habt. Vielen Dank.«

Annoura nickte. Sie schloss die Augen, und Berelain sah entsetzt, dass sich dort Tränen bildeten.

»Was ist? Annoura, was ist los?«

»Nichts, was Euch betrifft, Berelain«, sagte sie und stand auf. »Wisst Ihr, das bringt man allen bei. Lenkt nicht die Macht, wenn ihr zu müde seid. Es kann Komplikationen geben. Aber ich brauchte ein Wegetor zurück in den Palast. Um ihn in Sicherheit zu bringen, um …«

Annoura brach zusammen. Berelain sank neben ihr auf die Knie, hielt ihren Kopf hoch. Erst jetzt fiel ihr auf, dass nicht die Zöpfe Annoura so anders hatten aussehen lassen. Auch das Gesicht war nicht richtig. Es war verändert. Nicht länger alterslos, sondern jugendlich.

»Ach, beim Licht, Annoura«, sagte sie. »Ihr habt Euch selbst ausgebrannt, nicht wahr?«

Die Frau war in Ohnmacht gefallen. Berelains Herz verkrampfte sich. In letzter Zeit hatten sie ihre Differenzen gehabt, aber Annoura war davor jahrelang ihre Vertraute und auch Freundin gewesen. Die arme Frau. Wenn man Aes Sedai zuhörte, betrachteten sie so etwas als schlimmer als den Tod.

Sie hob die Schwester auf das Sofa des Zimmers und deckte sie mit einer Decke zu. Dabei kam sie sich so schrecklich hilflos vor. Vielleicht … vielleicht kann man sie ja irgendwie Heilen …

Sie ging zurück zu Galad, um seine Hand zu halten, rückte den Hocker zurecht und setzte sich. Nur einen Moment ausruhen. Sie schloss die Augen. Er lebte. Zwar hatte er einen schrecklichen Preis entrichtet, aber er lebte.

Sie zuckte zusammen, als er sprach. »Wie?«

Als sie die Augen öffnete, sah er sie an.

»Wie bin ich hergekommen?«, fragte er leise.

»Annoura«, erklärte sie. »Sie fand Euch auf dem Schlachtfeld.«

»Meine Wunden?«

»Andere Heiler werden kommen, wenn sie Zeit haben. Eure Hand …« Sie stählte sich. »Eure Hand ist verloren, aber diesen Schnitt in Eurem Gesicht können wir entfernen.«

»Nein«, flüsterte er. »Das ist doch bloß … ein kleiner Schnitt. Spart Euch das Heilen für diejenigen auf, die sonst sterben würden.« Er schien so müde zu sein. Kaum wach.

Sie biss sich auf die Unterlippe, nickte aber. »Natürlich.« Sie zögerte. »Die Schlacht verläuft schlecht, oder?«

»Ja.«

»Also … hoffen wir einfach?«

Er entzog sich ihrer Hand und wollte unter sein Hemd greifen. Wenn die Aes Sedai kam, würden sie ihn ausziehen und seine Verletzungen behandeln müssen. Bis jetzt war nur der Stumpf provisorisch versorgt, da das die schlimmste Wunde war.

Galad seufzte, dann erbebte er. Seine Hand glitt vom Hemd fort. Hatte er es ausziehen wollen?

»Hoffnung …«, flüsterte er, dann verlor er das Bewusstsein.


Rand weinte.

Er kauerte in der Finsternis, und vor ihm drehte sich das Muster, gewebt aus den Lebensfäden der Menschen. So viele dieser Fäden endeten.

So viele.

Er hätte sie beschützen müssen. Warum konnte er das nicht? Obwohl er es nicht wollte, spulten sich in seinem Verstand wieder die Namen ab. Die Namen all jener, die für ihn gestorben waren. Es fing zuerst mit den Frauen an, weitete sich dann aber auf jede Person aus, die er hätte retten müssen – aber es nicht getan hatte.

Während die Menschheit in Merrilor und am Shayol Ghul kämpfte, war Rand gezwungen, ihrem Tod zuzusehen. Er konnte sich nicht abwenden.

Der Dunkle König wählte den Augenblick zu einem machtvollen Angriff. Wieder kam der Druck und versuchte Rand zu zermalmen, bis nichts mehr von ihm übrig war. Er konnte sich nicht bewegen. Jeder noch so kleine Teil seiner Essenz, seiner Entschlossenheit und seiner Kraft konzentrierte sich darauf, den Dunklen König davon abzuhalten, ihn in Stücke zu reißen.

Er konnte bloß zusehen, wie sie starben.

Rand verfolgte, wie Davram Bashere bei einem Sturmangriff fiel, und seine Frau folgte ihm nur kurze Zeit später. Er schrie auf, als er seinen Freund sterben sah. Er weinte um Davram Bashere.

Der liebe, treue Hurin fiel bei einem Angriff der Trollocs auf der Anhöhe, wo Mat sein letztes Aufgebot anführte. Rand weinte um Hurin. Um den Mann, der so sehr an ihn geglaubt hatte, den Mann, der ihm überallhin gefolgt wäre.

Jori Congar lag unter einem Trolloc-Kadaver begraben und wimmerte um Hilfe, bis er verblutete. Rand weinte um Jori, als sein Faden schließlich verschwand.

Enaila, die sich entschieden hatte, den Far Dareis Mai zu entsagen, und dem Siswai’aman Leiran einen Brautstrauß zu Füßen gelegt hatte, rammten vier Trollocs ihre Speere in den Leib. Rand weinte um sie.

Karldin Manfor, der ihm so lange gefolgt war und bei den Brunnen von Dumai dabei gewesen war, starb, als er nicht länger die Macht lenken konnte und erschöpft zusammenbrach. Sharaner warfen sich auf ihn und stachen mit ihren schwarzen Dolchen auf ihn ein. Seine Aes Sedai Beldeine stolperte und fiel Augenblicke später. Rand weinte um sie beide.

Er weinte um Gareth Bryne und Siuan. Er weinte um Gawyn.

So viele. So furchtbar viele.

DU VERLIERST.

Rand krümmte sich noch mehr zusammen. Was konnte er tun? Sein Traum, den Dunklen König aufzuhalten … tat er das, würde er einen Albtraum erschaffen. Verraten von den eigenen Absichten.

GIB AUF, WIDERSACHER. WOZU NOCH KÄMPFEN? HÖR AUF, DICH ZU WEHREN, UND RUHE DICH AUS.

Es war verlockend. Oh, wie verlockend das doch war. Licht! Was würde Nynaeve denken? Er konnte sie sehen, wie sie versuchte, Alanna zu retten. Wie schrecklich würden sie und Moiraine sich schämen, hätten sie gewusst, dass er in diesem Augenblick einfach aufgeben wollte.

Schmerzen begruben ihn unter sich, und er schrie wieder.

»Bitte, lass es aufhören!«

DAS KANN ES.

Rand kauerte sich zusammen, zitterte und bebte am ganzen Leib. Und noch immer prasselten ihre Schreie auf ihn herab. Ein Tod nach dem anderen. Er hielt kaum noch durch. »Nein«, flüsterte er.

NUN GUT, sagte der Dunkle König. ICH HABE DIR NOCH EINES ZU ZEIGEN. EIN WEITERES VERSPRECHEN, WAS SEIN KANN …

Ein letztes Mal webte der Dunkle König die Fäden der Möglichkeiten.

Alles wurde dunkel.


Taim schlug mit der Einen Macht zu und prügelte Mishraile mit Peitschen aus Luft. »Geht zurück, Ihr Narr! Kämpft! Wir werden diese Stellung nicht verlieren!«

Der Schattenlord wich geduckt zurück, nahm seine beiden Begleiter und schlich sich wie befohlen davon. Taim kochte innerlich, dann zerschmetterte er mit der Macht einen Stein in der Nähe. Diese verfluchte Aes-Sedai-Hure! Wie konnte sie es wagen, ihn zurückzuschlagen?

»M’Hael«, sagte eine ruhige Stimme.

Taim … M’Hael. Er musste sich als M’Hael betrachten. Er ging auf die Stimme zu, die ihn gerufen hatte. Voller Panik hatte er sich mit einem Wegetor auf die andere Seite der Anhöhe in Sicherheit gebracht und befand sich nun am Südosthang. Demandred überwachte die Schlacht von dieser Position aus und schickte Zerstörung in die Reihen der Andoraner, Cairhiener und Aiel.

Demandreds Trollocs hielten den Korridor zwischen der Polov-Anhöhe und dem Moor, und sie erschöpften die Verteidiger an dem ausgetrockneten Fluss. Es war nur noch eine Frage der Zeit. Unterdessen kämpften die Sharaner nordöstlich von hier auf dem Plateau. M’Hael fand es bedenklich, dass Cauthon so schnell eingetroffen war, um den Vorstoß der Sharaner zu vereiteln. Aber egal. Das war bloß ein verzweifelter Zug des Mannes. Gegen das sharanische Heer würde er nicht standhalten können. Aber im Augenblick am wichtigsten war die Vernichtung jener Aes Sedai auf der anderen Seite der Anhöhe. Das war der Schlüssel, um diese Schlacht zu gewinnen.

M’Hael passierte misstrauische Sharaner in ihrer seltsamen Kleidung und Tätowierungen. Demandred saß mit untergeschlagenen Beinen in ihrer Mitte. Seine Augen waren geschlossen, er atmete langsam ein und aus. Dieses Sa’angreal, das er benutzte … es forderte ihm etwas ab, mehr als nur die übliche Kraft, die das Machtlenken benötigte.

Was konnte M’Hael nur einen Vorteil verschaffen? Wie es ihn anwiderte, sich jemandem unterzuordnen. Ja, er hatte viel von diesem Mann gelernt, aber jetzt war Demandred offensichtlich nicht mehr dazu in der Lage, sie zu führen. Er verhätschelte diese Sharaner, und er verschwendete Kraft für seine Vendetta mit al’Thor. Die Schwäche von anderen hatte sich M’Hael schon immer zunutze gemacht.

»Ich höre, dass Ihr scheitert«, sagte Demandred.

Auf der anderen Seite des ausgetrockneten Flussbettes gab die andoranische Verteidigung endlich langsam nach. Die Trollocs versuchten ununterbrochen die Schwachstellen in ihren Linien zu finden, und am ganzen Fluss brachen sie nun in die Pikenhaufen ein. Die schwere Kavallerie der Legion und die leichte der Cairhiener waren jetzt ständig im Einsatz und ritten verzweifelte Angriffe gegen die Tiermenschen, die die Verteidigung der Andoraner durchbrachen. Unweit des Moores hielten die Aiel sie noch immer zurück, und die Armbrustmänner der Legion verhinderten zusammen mit andoranischen Piken, dass sie ihre rechte Flanke umgingen. Aber der ständige Sturm des Schattengezüchts war gnadenlos, und Elaynes Truppen wichen auf das shienarische Territorium zurück.

»M’Hael?« Demandred öffnete die Augen. Uralte Augen. M’Hael ließ sich nicht einschüchtern und erwiderte den Blick. Er würde sich nicht einschüchtern lassen! »Sagt mir doch, wie Ihr scheitern konntet.«

»Die Aes-Sedai-Hexe.« M’Hael spuckte aus. »Sie besitzt ein Sa’angreal von großer Macht. Ich hatte sie fast so weit, aber die Wahre Macht ließ mich im Stich.«

»Es gibt einen Grund, warum Ihr nur auf ein Rinnsal zugreifen könnt«, sagte Demandred und schloss wieder die Augen. »Für jemanden, der nicht an sie gewöhnt ist, ist sie unberechenbar.«

M’Hael schwieg. Er würde mit der Wahren Macht üben, er würde ihre Geheimnisse ergründen. Die anderen Verlorenen waren alt und langsam. Bald würde neues Blut herrschen.

Demandred erhob sich entspannt. Er vermittelte den Eindruck eines gewaltigen Felsens, der gerade seine Position verändert hatte. »Ihr werdet zurückkehren und sie umbringen, M’Hael. Ich habe ihren Behüter getötet. Sie sollte leichte Beute sein.«

»Das Sa’angreal …«

Demandred hielt sein Zepter mit dem goldenen Pokal an der Spitze hoch.

War das eine Prüfung? Diese unvorstellbare Macht. M’Hael hatte die Kraft gespürt, die davon ausging, wenn Demandred es einsetzte.

»Ihr behauptet, sie hat ein Sa’angreal«, sagte Demandred. »Hiermit habt Ihr ebenfalls eins. Ich überlasse Euch Sakarnen, damit Ihr keine Ausflüchte für weitere Fehlschläge habt. Habt Erfolg oder sterbt dabei, M’Hael. Erweist Euch würdig, zu den Auserwählten zu gehören.«

M’Hael befeuchtete sich die Lippen. »Und falls der Wiedergeborene Drache endlich zu Euch kommt?«

Demandred lachte. »Ihr glaubt, ich würde ihn damit bekämpfen? Was würde das beweisen? Unsere Kräfte müssen gleich sein, wenn ich mich als der Bessere erweisen soll. Nach allen Berichten kann er Callandor nicht ohne Gefahr einsetzen, und den Choedan Kal hat er närrischerweise vernichtet. Er wird kommen, und wenn er das tut, werde ich ihm ohne Hilfsmittel entgegentreten und mich als der wahre Herr dieses Reiches beweisen.«

Die Dunkelheit in ihm …, dachte Taim. Er hat völlig den Verstand verloren, oder? Es war seltsam, in diese Augen zu blicken, die so klar erschienen, und sich den Wahnsinn anzuhören, der ihm über die Lippen kam. Als Demandred das erste Mal zu ihm gekommen war und das Angebot gemacht hatte, dem Großen Herrn zu dienen, war der Mann nicht so gewesen. Überheblich, das schon. Alle Auserwählten waren arrogant. Demandreds Entschlossenheit, al’Thor persönlich zu töten, hatte wie ein Feuer in ihm gelodert.

Aber das … das war etwas völlig anderes. Das Leben in Shara hatte ihn verändert. Ihn auf jeden Fall geschwächt. Und jetzt das. Welcher Mann gab denn seinem Rivalen freiwillig ein so mächtiges Artefakt?

Nur ein Narr, dachte M’Hael und griff nach dem Sa’angreal. Dich zu töten, das wird sein, als würde man ein Pferd mit drei gebrochenen Beinen erlösen, Demandred. Ich hatte gehofft, dich als Rivalen vernichten zu können.

Demandred wandte sich ab, und M’Hael zog die Eine Macht durch Sakarnen und trank gierig von seinem Geschenk. Die Süße Saidins tränkte ihn, ein tobender Strom köstlicher Macht. Wenn er ihn hielt, war er gewaltig. Er konnte alles tun. Berge zerbrechen, Armeen vernichten, und das alles ganz allein.

Es juckte M’Hael in den Fingern, Ströme zu nehmen, sie zu verweben und diesen Mann zu vernichten.

»Passt auf«, sagte Demandred. Seine Stimme klang armselig, schwach. Das Quieken einer Maus. »Lenkt diese Macht nicht gegen mich. Ich habe Sakarnen an mich gebunden. Versucht Ihr es gegen mich zu benutzen, brennt es Euch aus dem Muster.«

War das eine Lüge? Konnte ein Sa’angreal überhaupt an eine bestimmte Person gebunden werden? Er wusste es nicht. Er dachte nach, dann senkte er Sakarnen und verspürte trotz der ihn durchströmenden Macht Bitterkeit.

»Ich bin kein Narr, M’Hael«, sagte Demandred trocken. »Ich gebe Euch gewiss nicht die Schlinge, mit der man mich aufhängt. Geht und tut, was man Euch befohlen hat. Ihr seid in dieser Angelegenheit mein Diener, die Hand, die meine Axt hält, um den Baum zu fällen. Vernichtet die Amyrlin; nehmt Baalsfeuer. Wir haben unsere Befehle, und wir werden gehorchen, was das angeht. Die Fäden der Welt müssen aufgelöst werden, bevor wir sie nach unserer Vision wieder neu weben.«

M’Hael knurrte den Mann an, gehorchte aber und webte ein Tor. Er würde die Aes-Sedai-Hexe vernichten. Und dann … dann würde er entscheiden, wie er mit Demandred verfuhr.


Elayne sah frustriert zu, wie ihre Pikenformationen zurückgedrängt wurden. Dass es Birgitte gelungen war, sie davon zu überzeugen, sich aus der vordersten Linie zurückzuziehen – jeden Augenblick konnten die Trollocs durchbrechen –, gefiel ihr gar nicht.

Sie war fast bis zu den Ruinen geritten, wo sie im Augenblick nicht in unmittelbarer Gefahr schwebte. Ein doppelter Kreis aus Gardisten umgab sie; die meisten davon saßen auf dem Boden und aßen, sammelten so viel neue Kraft wie möglich in den Kampfpausen.

Elayne hatte ihr Banner nicht aufgezogen, aber sie hatte Boten ausgeschickt, um ihre Kommandanten wissen zu lassen, dass sie noch immer lebte. Sie hatte sich so bemüht, ihre Truppen gegen die Trollocs zu führen, aber es hatte nicht gereicht. Ihre Streitkräfte wurden sichtlich schwächer.

»Wir müssen zurück«, sagte sie zu ihrer Behüterin. »Sie müssen mich sehen, Birgitte.«

»Ich weiß nicht, ob das etwas ändern würde«, erwiderte Birgitte. »Die Formationen können einfach nicht gegen Trollocs und das verfluchte Machtlenken standhalten. Ich …«

»Was ist?«

Birgitte wandte den Blick ab. »Ich könnte schwören, ich hätte mich einst an eine vergleichbare Situation erinnert.«

Elayne biss die Zähne zusammen. Birgittes Verlust ihrer Erinnerungen brach ihr das Herz, aber das war bloß das Problem einer Frau. Tausende ihrer Untertanen starben.

In der Nähe durchsuchten die Flüchtlinge aus Caemlyn die Gegend noch immer nach Pfeilen und Verwundeten. Mehrere Gruppen kamen zu ihrer Garde und unterhielten sich leise mit den Soldatinnen, erkundigten sich nach der Schlacht oder ihrer Königin. Unversehens verspürte Elayne einen wilden Stolz auf die Flüchtlinge und ihre Zähigkeit. Die Stadt war nur noch eine Ruine, aber Städte konnte man wieder aufbauen. Die Menschen, das wahre Herz von Caemlyn, würden nicht so leicht aufgeben.

Wieder traf eine Lichtlanze das Schlachtfeld, tötete Männer und brachte Unordnung in die Piken. Auf der weit abgelegenen Seite der Anhöhe lenkten Frauen in verbissenem Kampf die Macht. Sie konnte die Lichtblitze in der Nacht sehen, obwohl das auch schon alles war. Sollte sie sich zu ihnen gesellen? Als Befehlshaberin war sie nicht gut genug gewesen, um die Soldaten zu retten, aber sie hatte für Führung gesorgt.

»Ich fürchte um unsere Armee, Elayne«, sagte Birgitte. »Ich fürchte, dass der Tag verloren ist.«

»Der Tag kann nicht verloren sein«, erwiderte sie hitzig, »denn dann sind wir alle verloren. Ich weigere mich, eine Niederlage zu akzeptieren. Wir beide werden zurückkehren. Soll Demandred doch versuchen, uns zu töten. Vielleicht wird mein Anblick den Soldaten neuen Mut einflößen und sie …«

Flüchtlinge aus Caemlyn griffen ihre Gardisten und Gardistinnen an.

Fluchend drehte Elayne Mondschatten und umarmte die Eine Macht. Die Leute, die sie auf den ersten Blick für Flüchtlinge in schmutziger, rußverschmierter Kleidung gehalten hatte, trugen Kettenhemden darunter verborgen. Sie kämpften gegen ihre Garde, töteten mit Schwert und Axt. Es waren gar keine Flüchtlinge, sondern Söldner.

»Verrat!«, rief Birgitte. Sie hob den Bogen und schoss einen Söldner in den Hals. »Zu den Waffen!«

»Das ist kein Verrat«, knurrte Elayne. Sie webte Feuer und tötete drei Männer. »Die gehören nicht zu uns! Passt auf die Diebe in der Kleidung von Bettlern auf!«

Sie drehte sich, als sich eine weitere Gruppe vorgeblicher Flüchtlinge auf die geschwächten Reihen der Garde stürzte. Sie waren überall! Sie hatten sich angeschlichen, während alle Aufmerksamkeit auf das ferne Schlachtfeld gerichtet gewesen war.

Als eine Gruppe Söldner die Linien durchbrach, webte sie Saidar, um ihnen zu zeigen, wie dumm es war, eine Aes Sedai anzugreifen. Sie schleuderte einen mächtigen Strang Luft.

Als er einen der Angreifer traf, fiel das Gewebe auseinander und löste sich auf. Elayne fluchte und wollte ihr Pferd zur Flucht antreiben, aber einer der Männer warf sich vorwärts und rammte Mondschatten das Schwert in den Hals. Das Pferd stieg vor Schmerz kreischend auf die Hinterbeine, und Elayne erhielt bloß einen Eindruck von überall kämpfenden Gardisten, während sie zu Boden stürzte und voller Panik an die Sicherheit ihrer ungeborenen Kinder dachte. Grobe Hände packten sie bei den Schultern und drückten sie zu Boden.

Etwas glitzerte silbrig in der Nacht. Ein Fuchskopf-Medaillon. Ein weiteres Paar Hände drückte es direkt über ihren Brüsten gegen ihre Haut. Das Metall war eiskalt.

»Hallo, meine Königin«, sagte Mellar, der neben ihr in der Hocke saß. Der ehemalige Gardist – von dem so viele angenommen hatten, er sei der Vater ihrer Kinder – sah sie lüstern an. »Du bist schwer zu finden gewesen.«

Elayne spuckte ihn an, aber er hatte damit gerechnet und fing den Speichel mit der Hand ab. Lächelnd stand er auf und ließ sie von zwei Söldnern festhalten. Obwohl einige ihrer Gardistinnen noch kämpften, waren die meisten zurückgedrängt oder getötet worden.

Mellar drehte sich um, als zwei Männer Birgitte herbeischleiften. Sie bäumte sich in ihrem Griff auf, und ein dritter Mann packte sie. Mellar zog das Schwert und musterte einen Augenblick lang die Klinge, als würde er sich in ihrem Funkeln betrachten. Dann rammte er sie Birgitte in den Leib.

Birgitte stöhnte auf, sackte auf die Knie. Mellar köpfte sie mit einem bösartigen Hieb.

Elayne saß wie erstarrt da und konnte weder denken noch reagieren, als Birgittes Leichnam nach vorn fiel und sich ihr Blut aus dem Hals ergoss. Der Behüterbund verblich, und an seine Stelle trat … Schmerz. Ein schrecklicher Schmerz.

»Darauf habe ich lange Zeit gewartet«, verkündete Mellar. »Blut und verdammte Asche, das hat sich richtig gut angefühlt.«

Birgitte … Ihre Behüterin war tot. Ihre Behüterin war umgebracht worden. Dieses harte und doch so großzügige Herz, diese unglaubliche Loyalität – vernichtet. Der Verlust machte es beinahe unmöglich zu denken.

Mellar versetzte Birgittes Leichnam einen Tritt, als ein Mann angeritten kam. Hinter ihm lag ein regloser Körper auf dem Pferd. Der Mann trug eine andoranische Uniform, und von der kopfüber hängenden Leiche baumelte blondes Haar. Wer auch immer die bedauernswerte Frau war, sie trug die gleiche Kleidung wie Elayne.

O nein …

»Geht«, sagte Mellar. Der Mann ritt los, begleitet von ein paar falschen Gardisten. Sie trugen Elaynes Banner, und einer rief plötzlich: »Die Königin ist tot! Die Königin ist gefallen!«

Mellar wandte sich Elayne zu. »Deine Leute kämpfen noch. Nun, das sollte Unruhe in ihre Reihen bringen. Und was dich angeht … anscheinend hat der Große Herr eine Verwendung für deine Kinder. Ich habe den Befehl, sie zum Shayol Ghul zu bringen. Mir ist aber der Gedanke gekommen, dass du ja gar nicht unbedingt dabei sein musst.« Er sah einen seiner Gefährten an. »Kriegt Ihr das hin?«

Der Mann kniete neben ihr nieder, dann drückte er die Hände auf ihren Bauch. Eiskaltes Entsetzen durchzuckte ihre Benommenheit. Ihre Kinder!

»Sie ist weit genug«, sagte der Mann. »Ich kann die Kinder vermutlich mit einem Gewebe am Leben erhalten, wenn Ihr sie herausschneidet. Das wird schwierig werden. Sie sind noch sehr jung. Im sechsten Monat. Aber mit den Geweben, die mir die Auserwählten gezeigt haben … ja, ich glaube, ich kann sie eine Stunde lang am Leben halten. Aber Ihr werdet sie zu M’Hael bringen müssen, um sie zum Shayol Ghul zu schaffen. Normale Wegetore funktionieren dort nicht länger.«

Mellar schob das Schwert in die Scheide und zog ein Jagdmesser. »Das reicht mir. Wir schicken die Kinder weiter, wie es der Große Herr will. Aber du, meine Königin … du gehörst mir.«

Elayne bäumte sich auf, aber der Griff der Männer war eisern. Immer wieder krallte sie nach Saidar, aber das Medaillon hatte die Wirkung von Spaltwurzel. Genauso gut hätte sie versuchen können, Saidin zu umarmen.

»Nein!«, schrie sie, als sich Mellar neben sie kniete. »NEIN!«

»Gut«, sagte er. »Ich hatte so gehofft, dass du schreist.«


Nichts.

Rand drehte sich um. Er versuchte sich umzudrehen. Er hatte weder Form noch Gestalt.

Nichts.

Er wollte sprechen, aber er hatte keinen Mund. Schließlich gelang es ihm, die Worte zu denken und sie damit zu manifestieren.

SHAI’TAN, dachte Rand. WAS IST DAS?

UNSER BUND, erwiderte der Dunkle König. UNSERE ÜBEREINKUNFT.

UNSERE ÜBEREINKUNFT IST DAS VERGESSEN?, verlangte Rand zu wissen.

JA.

Er verstand. Der Dunkle König bot eine Abmachung an. Das konnte Rand akzeptieren … Das Vergessen konnte er akzeptieren. Sie hatten sich für das Schicksal der Welt duelliert. Rand hatte Frieden, Ruhm und Liebe haben wollen. Der Dunkle König suchte das Gegenteil. Qualen. Leiden.

In gewisser Weise war das ein Gleichgewicht zwischen beidem. Der Dunkle König würde zustimmen, das Rad nicht neu zu schmieden, um sein grimmiges Verlangen zu stillen. Weder würde die Menschheit versklavt, noch würde es eine Welt ohne Liebe geben. Es würde überhaupt keine Welt geben.

DAS HAST DU ELAN VERSPROCHEN, sagte Rand. DU VERSPRACHST IHM EIN ENDE SEINER EXISTENZ.

ICH BIETE ES AUCH DIR AN, erwiderte der Dunkle König. UND ALLEN MENSCHEN. DU WOLLTEST FRIEDEN. ICH GEBE IHN DIR. DEN FRIEDEN DES VERGESSENS, DEN DU SO OFT SUCHST. ICH GEBE DIR NICHTS UND ALLES.

Rand lehnte das Angebot nicht sofort ab. Er griff danach und wog es in seinen Gedanken ab. Keine Qualen mehr. Kein Leid mehr. Keine Bürden mehr.

Ein Ende. Hatte er sich das nicht gewünscht? Eine Möglichkeit, den ewigen Zyklus zu beenden?

NEIN, sagte er. DAS ENDE DER EXISTENZ IST KEIN FRIEDEN. ICH ENTSCHIED MICH BEREITS EINMAL DAFÜR. WIR MACHEN WEITER.

Wieder legte sich die Macht des Dunklen Königs um ihn und drohte ihn in Stücke zu reißen.

DIESES ANGEBOT MACHE ICH NICHT NOCH EINMAL, sagte der Dunkle König.

»Das erwarte ich auch nicht von dir«, sagte Rand, als sein Körper zurückkehrte und die Fäden der Möglichkeiten verblassten.

Dann kam der richtige Schmerz.


Min wartete bei den versammelten seanchanischen Streitkräften. Offiziere schritten die Reihen mit Laternen ab, um die Männer vorzubereiten. Sie waren nicht nach Ebou Dar zurückgekehrt, sondern durch Wegetore auf eine große Ebene geflohen, die ihr unbekannt war. Hier wuchsen Bäume mit seltsamer Rinde und großen Farnwedeln. Sie vermochte nicht zu sagen, ob es sich wirklich um Bäume handelte oder bloß um große Farne. Das lag vor allem daran, dass alles verwelkt war; den Bäumen waren Blätter gewachsen, aber sie hingen herab, als hätten sie schon zu lange kein Wasser mehr gehabt. Min versuchte sich vorzustellen, wie sie wohl aussahen, wenn sie gesund waren.

Die Luft roch auch anders – nach ihr unbekannten Pflanzen und nach Meerwasser. Die seanchanischen Soldaten warteten in strenger Formation, bereit zum Abmarsch, jeder vierte Mann hatte eine Laterne, von denen aber nur eine von zehn entzündet war. Auch mit Wegetoren konnte man ein Heer nicht besonders schnell bewegen, aber Fortuona standen Hunderte Damane zur Verfügung. Der Rückzug war effizient vollzogen worden, und Min vermutete, dass die Rückkehr auf das Schlachtfeld genauso schnell vonstattenging.

Falls Fortuona sich zur Rückkehr entschied. Die Kaiserin saß auf einer Säule in der Nacht, war mit ihrer von blauen Laternen beleuchteten Sänfte dort hinaufbefördert worden. Es handelte sich nicht um einen Thron, sondern um eine strahlend weiße Säule von etwa sechs Fuß Höhe, die man oben auf einem kleinen Hügel errichtet hatte. Min hatte einen Sitz neben der Säule und bekam die eintreffenden Berichte mit.

»Diese Schlacht verläuft nicht gut für den Prinz der Raben«, sagte General Galgan. Er sprach vor Fortuona zu seinen Generälen, und er redete die Männer und Frauen direkt an, damit sie ihm antworten konnten, ohne die Kaiserin direkt anzusprechen. »Seine Bitte um unsere Rückkehr ist eben erst eingetroffen. Er hat viel zu lange gewartet, um unsere Hilfe zu suchen.«

»Ich spreche das nur zögernd aus«, meinte Yulan, »aber auch wenn die Weisheit der Kaiserin grenzenlos ist, fehlt mir doch die Zuversicht in den Prinzen. Er mag der auserwählte Gemahl der Kaiserin sein, und offensichtlich war er eine weise Wahl für diese Rolle. Aber in der Schlacht hat er sich als leichtsinnig erwiesen. Vielleicht beanspruchen ihn die Geschehnisse über Gebühr.«

»Ich bin sicher, dass er einen Plan hat«, sagte Beslan ernst. »Ihr müsst Mat vertrauen. Er weiß, was er tut.«

»Mich hat er beeindruckt«, meinte Galgan. »Die Omen scheinen ihn zu begünstigen.«

»Er verliert, Generalhauptmann«, widersprach Yulan. »Verliert schwer. Die Omen eines Mannes können sich schnell ändern, genau wie das Glück einer Nation.«

Min blickte den kleinen Lufthauptmann mit zusammengekniffenen Augen an. Er trug jetzt die beiden letzten Fingernägel einer jeden Hand lackiert. Er hatte den Angriff auf Tar Valon angeführt, und der Erfolg dieses Unternehmens hatte ihm bei Fortuona große Gunst eingebracht. Symbole und Omen wirbelten über seinem Kopf, genau wie bei Galgan – und tatsächlich sogar auch Beslan.

Beim Licht, dachte Min. Fange ich jetzt schon ernsthaft an, sie als Omen zu bezeichnen wie Fortuona? Ich muss von diesen Leuten weg. Sie sind verrückt.

»Meiner Ansicht nach betrachtet der Prinz diese Schlacht zu sehr als Spiel«, fuhr Yulan fort. »Auch wenn seine ersten Züge sehr scharfsinnig waren, hat er sich jetzt übernommen. Wie viele Männer standen schon am Dactolk-Tisch und wurden wegen ihrer Wetten bewundert, obwohl sie der reine Zufall fähig aussehen ließ? Der Prinz hat anfangs gewonnen, aber jetzt sehen wir, wie gefährlich es ist, auf seine Weise zu spielen.«

Yulan neigte den Kopf in Richtung Kaiserin. Seine Behauptungen wurden zusehends mutiger, da sie ihm keinen Anlass gab, sich zurückzuhalten. In dieser Situation war das für ihn ein Wink der Kaiserin, damit weiterzumachen.

»Ich habe … Gerüchte über ihn gehört«, sagte Galgan.

»Mat ist ein Spieler, ja«, gab Beslan zu. »Aber er ist ungewöhnlich gut darin. Er gewinnt, General. Bitte, Ihr müsst zurückgehen und helfen.«

Yulan schüttelte energisch den Kopf. »Die Kaiserin, möge sie ewig leben, hat uns aus guten Gründen vom Schlachtfeld abgezogen. Wenn der Prinz nicht einmal seinen eigenen Kommandoposten beschützen kann, hat er auch die Schlacht nicht im Griff.«

Immer kühner. Galgan rieb sich das Kinn, dann blickte er eine andere der Versammelten an. Min wusste nicht viel über Tylee. Sie hielt sich bei diesen Besprechungen stets zurück. Mit dem ergrauenden Haar und den breiten Schultern ging von der dunkelhäutigen Frau eine unbestimmbare Kraft aus. Das war eine Generalin, die ihre Soldaten viele Male selbst in die Schlacht geführt hatte. Die Narben bewiesen es.

»Diese Festländer kämpfen besser, als ich je gedacht hätte«, sagte Tylee. »Ich habe an der Seite von Cauthons Soldaten gekämpft. Ich glaube, sie werden Euch überraschen, General. Auch ich schlage demütig vor, dass wir zurückkehren und helfen.«

»Aber ist das im besten Interesse des Kaiserreiches?«, fragte Yulan. »Cauthons Truppen werden den Schatten schwächen, genau wie es der Marsch des Schattens von Merrilor nach Ebou Dar tun wird. Wir können die Trollocs unterwegs aus der Luft angreifen. Der lange Sieg sollte unser Ziel sein. Vielleicht können wir den Prinzen von Damane holen und in Sicherheit bringen lassen. Er schlug sich gut, aber in dieser Schlacht ist er dem Gegner nicht gewachsen.«

Min runzelte die Stirn und beugte sich vor. Eines der Bilder über Yulans Kopf … es war so seltsam. Eine Kette. Warum sollte er eine Kette über dem Kopf haben?

Er ist ein Gefangener, dachte sie plötzlich. Licht! Jemand zupft an seinen Saiten wie auf einem Instrument.

Mat fürchtete einen Spion. Min wurde es eiskalt.

»Die Kaiserin, möge sie ewig leben, hat ihre Entscheidung getroffen«, sagte Galgan. »Wir kehren zurück. Es sei denn natürlich, sie hat in ihrer Weisheit die Meinung geändert …?« Er wandte sich ihr mit einem fragenden Gesichtsausdruck zu.

Unser Spion kann die Macht lenken, erkannte Min und musterte Yulan. Dieser Mann steht unter einem Zwang.

Machtlenker. Schwarze Ajah? Eine Damane als Schattenfreundin? Ein Schattenlord? Es konnte jeder sein. Und der Spion würde sich aller Voraussicht nach mit einem Gewebe tarnen.

Wie sollte sie also diesen Spion jemals entlarven?

Ihre Visionen. Aes Sedai und andere Machtlenker verbreiteten stets Bilder. Immer. War darin ein Hinweis zu finden? Yulans Kette bedeutete, dass er jemandes Gefangener war, das verriet ihr der Instinkt. Also war er nicht der eigentliche Spion, sondern eine Marionette.

Sie fing mit den anderen Adligen und Generälen an. Natürlich hatten viele Omen über dem Kopf schweben, wie es für solche Leute nun einmal üblich war. Wie sollte sie etwas Ungewöhnliches entdecken? Min betrachtete die Menge, und ihr stockte der Atem, als ihr zum ersten Mal eine der So’jhin ins Auge fiel, eine jung aussehende Frau mit Sommersprossen. Über ihrem Kopf schwebte eine Reihe Bilder.

Die Frau war ihr unbekannt. Hatte sie hier die ganze Zeit über gedient? Sicherlich wäre ihr doch aufgefallen, wenn die Frau bereits zuvor in ihrer Nähe beschäftigt gewesen wäre. Menschen, die keine Machtlenker, Behüter oder Ta’veren waren, wiesen nur selten so viele Bilder auf. Ob sie nun bloß nicht daran gedacht oder es einfach übersehen hatte, sie war eben nicht auf den Gedanken gekommen, sich die Diener genau anzusehen.

Jetzt war ihr die Tarnung offensichtlich. Sie blickte weg, um nicht das Misstrauen der Frau zu erregen, und dachte über ihren nächsten Schritt nach. Ihr Instinkt flüsterte ihr zu, einfach anzugreifen, ein Messer zu ziehen und ohne Vorwarnung zu werfen. Falls diese Dienerin ein Schattenlord war – oder gar eine der Verlorenen, beim Licht! –, war ein unvermuteter Angriff vielleicht die einzige Möglichkeit, sie zu besiegen.

Aber es war durchaus möglich, dass die Frau unschuldig war. Min zerbrach sich den Kopf, dann stand sie einfach auf. Mehrere Angehörige des Blutes raunten über den Bruch der Etikette, aber sie ignorierte sie. Sie kletterte auf die Armlehne ihres Stuhls und balancierte dort, um auf gleicher Höhe mit Tuon zu sein. Sie beugte sich vor.

»Mat hat uns um unsere Rückkehr gebeten«, sagte sie leise. »Wie lange wollt Ihr noch darüber nachdenken, seinen Wunsch zu erfüllen?«

Tuon musterte sie. »Bis ich überzeugt bin, dass es für mein Kaiserreich das Beste ist.«

»Er ist Euer Gemahl.«

»Das Leben eines Mannes ist nicht das tausend anderer wert«, sagte Tuon, aber sie klang ehrlich besorgt. »Wenn die Schlacht tatsächlich so schlecht verläuft, wie Yulans Kundschafter sagen …«

»Ihr habt mich Wahrheitssprecherin genannt«, sagte Min. »Was bedeutet das genau?«

»Es ist Eure Pflicht, mich in der Öffentlichkeit zu tadeln, wenn ich etwas Falsches tue. Aber Ihr seid für diese Stellung nicht vorbereitet. Es wäre das Beste für Euch, Ihr haltet Euch zurück, bis ich für die richtige …«

Min wandte sich den Generälen und der versammelten Menge zu. Ihr Herz pochte wild. »Als Wahrheitssprecherin der Kaiserin Fortuona verkünde ich nun die Wahrheit. Sie hat die Heere der Menschheit im Stich gelassen, und sie verweigert in einer Zeit der Not ihre Stärke. Ihr Stolz wird die Vernichtung aller Menschen herbeiführen, auf der ganzen Welt.«

Das Blut sah sprachlos aus.

»So einfach ist das nicht, junge Frau«, sagte Galgan. Nach den Blicken der anderen zu urteilen, hatte er einer Wahrheitssprecherin nicht zu widersprechen. Trotzdem machte er weiter. »Das ist eine verworrene Situation.«

»Ich hätte mehr Verständnis«, sagte Min, »wüsste ich nicht, dass ein Spion des Schattens unter uns ist.«

Die sommersprossige So’jhin schaute abrupt auf.

Erwischt, dachte Min, dann zeigte sie auf General Yulan. »Abaldar Yulan, ich klage Euch an! Ich habe Omen gesehen, die mir beweisen, dass Ihr nicht zum Wohle des Kaiserreichs handelt!«

Die wahre Spionin entspannte sich, und Min entging nicht die Andeutung eines Lächelns auf ihren Lippen. Das reichte. Als Yulan lautstark gegen die Anschuldigung protestierte, ließ Min ein Messer in die Hand gleiten und schleuderte es auf die Frau.

Die Klinge wirbelte auf sie zu – und blieb kurz vor der Frau in der Luft hängen.

In der Nähe keuchten Damane und Sul’dam auf. Die Spionin warf Min einen hasserfüllten Blick zu, dann öffnete sie ein Wegetor und warf sich hinein. Gewebe der Macht flogen hinter ihr her, aber sie war verschwunden, bevor die meisten Versammelten überhaupt begriffen, was geschah.

»General Yulan, es tut mir leid«, verkündete Min, »aber Ihr leidet unter einem Zwang. Fortuona, es ist offensichtlich, dass der Schatten tut, was in seiner Macht steht, um uns von der Schlacht fernzuhalten. In Anbetracht dessen – verfolgt Ihr noch immer diesen Kurs der Unentschlossenheit?«

Min erwiderte Tuons Blick.

»Ihr spielt dieses Spiel sehr gut«, flüsterte Tuon mit eiskalter Stimme. »Wenn man bedenkt, dass ich um Eure Sicherheit besorgt war, weil ich Euch an meinen Hof brachte. Anscheinend hätte ich mich um mich selbst sorgen sollen.« Tuon seufzte kaum hörbar. »Ich schätze, Ihr gebt mir die Gelegenheit … vielleicht sogar den Auftrag … der Entscheidung meines Herzens zu folgen, ob sie nun klug ist oder nicht.« Sie stand auf. »General Galgan, sammelt Eure Truppen. Wir kehren zum Feld von Merrilor zurück.«


Egwene webte Erde und vernichtete die Felsen, hinter denen sich Sharaner versteckt hatten. Die anderen Aes Sedai schlugen sofort zu und schleuderten Gewebe durch die knisternde Luft. Die Sharaner starben in Feuer, Blitzen und Explosionen.

Dieser Hang der Polov-Anhöhe war dermaßen mit Geröll übersät und von Gräben durchzogen, dass er aussah wie die Trümmer einer Stadt nach einem Erdbeben. Noch immer war Nacht, und sie kämpften nun schon seit … Licht, wie lange war es jetzt her, dass Gawyn gestorben war? Stunden.

Egwene verdoppelte ihre Anstrengungen und weigerte sich, sich von dem Gedanken an ihn überwältigen zu lassen. Im Verlauf der letzten Stunden hatten ihre Aes Sedai und die Sharaner am Westhang Boden gewonnen und wieder verloren. Beharrlich drängte Egwene sie nach Osten.

Manchmal schien ihre Seite zu gewinnen, aber in letzter Zeit fielen immer mehr Aes Sedai ihrer Erschöpfung oder der Einen Macht zum Opfer.

Eine neue Gruppe Machtlenker trat aus den Rauchwolken und griff nach der Macht. Egwene konnte sie mehr fühlen als sehen.

»Wehrt ihre Gewebe ab!«, rief sie von ihrem Platz an der Front aus. »Ich greife an, ihr verteidigt!«

Die anderen Frauen gaben ihren Befehl entlang der Linie weiter. Sie kämpften nicht länger allein in Widerstandsnestern; Frauen sämtlicher Ajahs hatten sich zu beiden Seiten Egwenes in Reihen aufgestellt, ihre alterslosen Gesichter verrieten grimmige Konzentration. Vor ihnen standen Behüter. Feindliche Gewebe mit ihren Körpern abzufangen war der einzige Schutz, den sie jetzt bieten konnten.

Egwene fühlte Leilwin hinter sich näher kommen. Die neue Behüterin nahm ihre Pflichten sehr ernst. Eine Seanchanerin, die in der Letzten Schlacht als ihre Behüterin kämpfte. Warum nicht? Die Welt selbst löste sich auf. Die zahllosen Spalten zu ihren Füßen bewiesen das. Sie waren nicht wie zuvor verblichen – die Finsternis blieb jetzt. Hier war zu viel Baalsfeuer eingesetzt worden.

Egwene webte Feuer zu einer sich bewegenden, brausenden Wand. Leichen gingen in Flammen auf, als diese Wand über sie hinwegbrauste. Zurück blieben nur qualmende Knochenhaufen. Ihr Angriff verbrannte und schwärzte den Boden, und die Sharaner kamen zusammen, um diese Stränge zu bekämpfen. Sie tötete ein paar von ihnen, bevor sie den Angriff abwehren konnten.

Die anderen Aes Sedai wehrten die feindlichen Gewebe ab oder zerstörten sie, und Egwene sammelte ihre Kraft, um weiterzumachen. So müde …, wisperte ein Teil von ihr. Du bist so müde. Langsam wird das gefährlich.

Leilwin stolperte über einen zerborstenen Stein, gesellte sich dann an der Front zu ihr. »Ich überbringe eine Nachricht, Mutter«, sagte sie mit ihrem seanchanischen Akzent. »Die Asha’man haben die Siegel. Ihr Anführer trägt sie.«

Egwene atmete erleichtert auf. Sie webte Feuer und schickte es dieses Mal in Säulen auf den Weg. Die Flammen erhellten den zerstörten Boden vor ihnen. Die von M’Hael verursachten Spalten bereiteten ihr große Sorgen. Sie setzte zum nächsten Gewebe an, hielt aber inne. Etwas stimmte nicht.

Ein Strahl Baalsfeuer von der Dicke eines Männerarms fuhr durch die Reihen der Aes Sedai und löste ein halbes Dutzend Frauen auf. Wie aus dem Nichts brachen Explosionen über sie herein, und weitere Frauen starben innerhalb eines Herzschlages.

Das Baalsfeuer brannte Frauen weg, die die feindlichen Gewebe daran gehindert hatten, uns zu töten … aber diese Frauen wurden aus dem Muster entfernt, bevor sie die Abwehr weben und die Angriffe der Sharaner aufhalten konnten. Baalsfeuer brannte einen Faden rückwärts aus dem Muster.

Die folgende Ereigniskette war katastrophal. Sharanische Machtlenker, die eben noch tot gewesen waren, lebten plötzlich wieder und griffen an – Männer liefen geduckt wie Hunde über das zerstörte Terrain, Frauen gingen in verknüpften Gruppen zu viert oder fünft. Egwene suchte die Quelle des Baalsfeuers. Noch nie zuvor hatte sie einen so gewaltigen Strahl zu Gesicht bekommen, der so mächtig gewesen war, dass er Fäden ein paar Stunden zurück verbrannt haben musste.

Sie entdeckte M’Hael oben am Rand der Anhöhe. Die Luft verzerrte sich in einer Blase um ihn. Schwarze Tentakel schoben sich schlingpflanzengleich um ihn herum aus den Rissen im Stein. Eine sich ausbreitende Krankheit. Finsternis. Das Nichts. Es würde sie alle verschlingen.

Ein weiterer Strahl Baalsfeuer brannte ein Loch durch den Boden und berührte Frauen, ließ ihre Umrisse aufglühen und sie dann verschwinden. Die Luft selbst zerbrach, als wäre sie eine Blase der Macht, die von M’Hael ausging. Der Sturm kehrte zurück, nur stärker.

»Ich dachte, ich hätte dir beigebracht, dich zu verkriechen«, knurrte Egwene und sammelte ihre Kraft. Der Boden zu ihren Füßen brach auseinander und führte ins Nichts.

Licht! Sie konnte die Leere dieses Lochs fühlen. Sie setzte zum nächsten Gewebe an, aber ein weiterer Strahl Baalsfeuer loderte über das Schlachtfeld und tötete Frauen, die sie geliebt hatte. Das nachfolgende Beben schleuderte sie in die Luft. Schreie wurden immer lauter, als die Sharaner ihre Leute abschlachteten. Aes Sedai rannten auseinander und versuchten sich in Sicherheit zu bringen.

Die Bodenspalten breiteten sich aus, als wäre das Plateau von einem riesigen Hammer getroffen worden.

Baalsfeuer. Sie musste es selbst einsetzen. Nur so konnte sie ihn bekämpfen! Sie erhob sich auf die Knie und fing an, das verbotene Gewebe zu weben, obwohl sich dabei etwas in ihrem Inneren verkrampfte.

NEIN. Der Einsatz von Baalsfeuer würde die Welt nur weiter ihrer Vernichtung entgegenführen.

Aber was dann?

Es ist doch nur ein Gewebe, Egwene. Perrins Worte, als er ihr in der Welt der Träume begegnet war und einen Treffer Baalsfeuer einfach verhindert hatte. Aber es war nicht nur ein weiteres Gewebe. Es gab nichts Vergleichbares.

So erschöpft. Jetzt, da sie kurz innegehalten hatte, konnte sie die lähmende Müdigkeit spüren. Tief in ihrem Inneren pulsierte der bittere Verlust durch Gawyns Tod.

»Mutter!«, rief Leilwin und zerrte an ihrer Schulter. Die Frau war bei ihr geblieben. »Mutter, wir müssen gehen! Die Aes Sedai weichen zurück! Die Sharaner überrennen uns.«

Über ihr entdeckte M’Hael sie. Er lächelte und setzte sich in Bewegung, in der einen Hand ein Zepter, mit der erhobenen Handfläche der anderen auf sie deutend. Was würde geschehen, wenn er sie mit Baalsfeuer wegbrannte? Die letzten beiden Stunden würden verschwinden. Wie sie die Aes Sedai gesammelt hatte, die Aberdutzende Sharaner, die sie getötet hatte …

Nur ein Gewebe …

Nichts Vergleichbares.

Aber so funktioniert das nicht, dachte sie. Jede Münze hat zwei Seiten. Die beiden Hälften der Macht. Heiß und kalt, Licht und Dunkel, Frau und Mann.

Für jedes Gewebe muss es also auch das Gegenteil geben.

M’Hael schleuderte Baalsfeuer, und Egwene tat … etwas. Das Gewebe, das sie bereits zuvor an den Bodenspalten ausprobiert hatte, jetzt aber mit viel mehr Macht und Reichweite gewebt: ein majestätisches, wunderbares Gewebe, eine Kombination aller Fünf Mächte. Es glitt vor sie. Sie schrie auf, ließ es los, eine weiße Säule von makelloser Reinheit, die der Tiefe ihrer Seele zu entspringen schien. Sie traf M’Haels Gewebe genau in seinem Zentrum.

Die beiden löschten einander aus, als würde man kochendes und eiskaltes Wasser zusammenschütten. Ein mächtiger Lichtblitz überwältigte alles andere und blendete Egwene, aber das, was sie da tat, vermittelte ihr einen genauen Eindruck. Das Muster wurde gestützt. Die Risse breiteten sich nicht weiter aus, eine stabilisierende Kraft quoll in ihnen nach oben. Eine Wucherung, wie Schorf auf einer Wunde. Keine perfekte Heilung, aber zumindest ein Pflaster.

Egwene schrie auf und zwang sich auf die Füße. Sie würde sich ihm nicht auf den Knien stellen! Sie zog jeden Fetzen Macht in sich, den sie halten konnte, und warf sich dem Verlorenen mit dem Zorn der Amyrlin entgegen.

Die beiden Ströme der Macht schleuderten Licht gegeneinander, und um M’Hael herum zerbrach der Boden, während er sich um Egwene herum wieder neu formte. Sie wusste noch immer nicht, was sie da eigentlich webte. Das Gegenteil von Baalsfeuer. Ihr eigenes Feuer, ein Gewebe aus Licht und Erneuerung.

Die Flamme von Tar Valon.

Einen endlos erscheinenden Augenblick lang standen sie wie erstarrt da und waren einander ebenbürtig. In diesem Augenblick breitete sich in Egwene tiefer Friede aus. Der Schmerz über Gawyns Tod verblich. Er würde wiedergeboren. Das Muster würde weitergehen. Dieses Gewebe, das sie da gewebt hatte, besänftigte ihren Zorn und ersetzte ihn durch Frieden. Sie schöpfte noch tiefer in Saidar, diesem leuchtenden Trost, der sie so lange geführt hatte.

Und sie füllte sich mit noch mehr von der Einen Macht.

Wie ein Schwertstich bahnte sich ihr Strom durch M’Haels Baalsfeuer, stieß es einfach zur Seite und reiste den Strahl entlang in seine ausgestreckte Hand. Er durchbohrte erst sie und dann seine Brust.

Das Baalsfeuer verschwand. M’Hael keuchte auf, taumelte mit weit aufgerissenen Augen, und dann verwandelte er sich von innen heraus in Kristall. Als würde er zu Eis gefrieren. Ein wunderschöner vielfarbiger Kristall wuchs aus seinem Körper. Ungeschliffen und grob, als käme er aus dem Kern der Erde selbst. Irgendwie wusste Egwene, dass die Flamme bei jemandem, der sich nicht dem Schatten verschworen hatte, eine weit geringere Wirkung haben würde.

Sie klammerte sich an der Macht fest, die sie hielt. Sie hatte zu viel aufgenommen. Sie wusste genau, dass sie in dem Moment, in dem sie ihren Griff lockerte, ausbrennen und nie wieder auch nur einen Tropfen davon lenken würde. In diesem letzten Augenblick loderte die Eine Macht in ihr.

Weit im Norden erbebte etwas. Rands Kampf ging weiter. Die Risse im Land breiteten sich weiter aus. M’Hael und Demandreds Baalsfeuer hatten ihr Werk getan. Die Welt zerbröckelte. Schwarze Linien rasten über die Anhöhe, und Egwene sah sie vor ihrem inneren Auge aufklaffen, sah, wie das Land zerbrach und ein Nichts erschien, das sämtliches Leben in sich hineinzog.

»Haltet Ausschau nach dem Licht«, flüsterte sie.

»Mutter?« Noch immer kniete Leilwin an ihrer Seite. Um sie herum standen Hunderte Sharaner wieder auf.

»Haltet Ausschau nach dem Licht, Leilwin«, sagte Egwene. »Als Amyrlin-Sitz befehle ich Euch – findet die Siegel des Dunklen Königs Kerker und zerbrecht sie. Tut es in dem Augenblick, in dem das Licht leuchtet. Nur dann kann es uns retten.«

»Aber …«

Egwene webte ein Wegetor, umschlang Leilwin mit Luft und stieß sie in Sicherheit. Dabei löste sie den Behüterbund mit der Frau und trennte ihre kurze Verbindung.

»Nein!«, rief Leilwin.

Das Wegetor schloss sich. Schwarze Spalten ins Nichts breiteten sich um Egwene herum aus, als sie sich den Hunderten Sharanern stellte. Ihre Aes Sedai hatten heldenmutig und mit aller Kraft gekämpft, aber die sharanischen Machtlenker gab es noch immer. Sie umzingelten sie, einige zaghaft, andere mit einem triumphierenden Lächeln.

Sie schloss die Augen und zog noch mehr Macht in sich hinein. Mehr, als eine Frau fähig sein sollte, mehr, als richtig war. Jenseits jeder Sicherheit, jenseits jeder Vernunft. Ihr Sa’angreal hatte keinen Puffer, um so etwas zu verhindern.

Ihr Körper war verbraucht. Sie gab ihn auf und verwandelte sich in eine Säule aus Licht, in die Flamme von Tar Valon, die sich tief in den Boden senkte und hoch in den Himmel schoss. Die Macht verließ sie in einer lautlosen, wunderschönen Explosion, schlug wie eine Welle über den Sharanern zusammen und versiegelte die Spalten, die der Kampf mit M’Hael geschaffen hatte.

Egwenes Seele trennte sich von ihrem zusammenbrechenden Körper und streckte sich auf dieser Welle aus, ritt darauf ins Licht.


Egwene starb.

Rand schrie vor Verdrängung, vor Zorn, vor Trauer.

»Nicht sie! NICHT SIE!«

DIE TOTEN GEHÖREN MIR.

»Shai’tan!«, schrie Rand. »Nicht sie!«

ICH WERDE SIE ALLE TÖTEN, WIDERSACHER.

Rand krümmte sich zusammen und kniff die Augen zu. Ich beschütze dich, dachte er. Was auch sonst geschehen mag, ich sorge für deine Sicherheit, ich schwöre es. Ich schwöre es …

O beim Licht. Egwenes Name kam auf die Liste der Toten. Diese Liste wuchs unaufhörlich und toste durch seine Gedanken. Sein Versagen. So oft hatte er versagt.

Er hätte sie retten müssen.

Die Angriffe des Dunklen Königs gingen weiter, versuchten Rand in Stücke zu reißen und ihn zu zermalmen.

O beim Licht. Nicht Egwene.

Rand schloss die Augen und brach zusammen, konnte dem nächsten Angriff kaum standhalten.

Finsternis hüllte ihn ein.


Leane hob den Arm und beschattete die Augen gegen den prächtigen Lichtschwall. Er spülte die Dunkelheit vom Hang und hinterließ einen Augenblick lang nur strahlende Helligkeit. Sharaner erstarrten auf der Stelle und warfen Schatten, als sie sich in Kristall verwandelten.

Die Säule aus Macht stieg wie ein Leuchtfeuer hoch in den Himmel und erlosch.

Leane ließ sich auf die Knie fallen und stützte sich mit einer Hand ab. Eine Kristallschicht überzog den Boden, wuchs über dem zerstörten Stein, bedeckte die vernarbte Landschaft. Wo auch immer sich Spalten geöffnet hatten, waren sie nun mit Kristall gefüllt und sahen wie kleine Flüsse aus.

Leane kämpfte sich auf die Füße und schlich nach vorn, passierte in Kristall eingefrorene Sharaner. In der Zeit erstarrt und tot.

Im Zentrum der Explosion entdeckte Leane eine Kristallsäule von der Größe und Breite eines uralten Zwerglorbeerbaumes, die sich ungefähr fünfzig Fuß in den Himmel erhob. In ihrer Mitte hing ein mit Rillen versehener Stab, Voras Sa’angreal. Von der Amyrlin selbst war nichts zu sehen, aber Leane kannte die Wahrheit.

»Der Amyrlin-Sitz ist gefallen«, rief eine Aes Sedai in der Nähe zwischen den kristallisierten Sharanern. »Der Amyrlin-Sitz ist gefallen!«


Donner grollte. Berelain schaute von der Bettkante auf, dann erhob sie sich. Galads Hand entglitt ihr, als sie zu dem Fenster in der Steinmauer ging.

Das Meer brandete gegen die Felsen, als wäre es zornig. Vielleicht auch voller Schmerz. Weiße Gischt sprühte entfesselt in Richtung der Wolken, in denen Blitze ein zerbrochenes Licht warfen. Während sie zusah, wurden die Wolken dichter in der Nacht, falls das überhaupt noch möglich war. Dunkler.

Die Morgendämmerung war noch eine Stunde entfernt. Aber die Wolken waren so schwarz, dass sie sie nicht sehen würde, wenn sie aufging. Das war ihr klar. Sie ging zurück an Galads Seite, setzte sich und nahm seine Hand. Wann würde eine Aes Sedai kommen, um ihn zu Heilen? Er war noch immer bewusstlos, aber Albträume flüsterten ihm etwas zu. Er wand sich, und etwas an seinem Hals funkelte.

Berelain griff unter sein Hemd und zog ein Medaillon hervor. Es trug die Form eines Fuchskopfes. Sie rieb den Finger darüber.

»… zurück zu Cauthon …«, flüsterte Galad mit geschlossenen Augen. »… Hoffnung …«

Berelain dachte einen Augenblick lang nach, und es kam ihr so vor, als gehörte die Dunkelheit draußen dem Dunklen König, und sie erstickte das Land und kroch durch Fenster und unter Türen herein. Sie stand auf, verließ Galad und ging schnell, trug das Medaillon fort.


»Die Amyrlin ist tot«, berichtete Arganda.

Blut und verdammte Asche, dachte Mat. Egwene. Egwene auch? Es traf ihn wie ein Schlag ins Gesicht.

»Außerdem berichten die Aes Sedai«, fuhr Arganda fort, »dass sie die Hälfte ihrer Zahl verloren haben. Die übrig gebliebenen behaupten, und das ist ein Zitat, dass sie ›nicht einmal genug Macht lenken könnten, um eine Feder zu heben‹. Sie sind aus der Schlacht raus.«

Mat grunzte. »Wie viele von den sharanischen Machtlenkern haben sie erledigt?«, fragte er und machte sich auf alles gefasst.

»Alle.«

Mat sah Arganda stirnrunzelnd an. »Was?«

»Alle Machtlenker«, sagte Arganda. »Alle, die gegen die Aes Sedai kämpften.«

»Immerhin etwas«, sagte Mat. Aber Egwene …

Nein. Daran durfte er im Augenblick nicht denken. Sie und ihre Gefährten hatten die sharanischen Machtlenker aufgehalten.

Sharaner und Trollocs zogen sich von den Frontlinien zurück, um sich neu zu gruppieren. Mat nutzte die Gelegenheit, um das Gleiche zu tun.

Seine Streitkräfte – zumindest das, was davon noch übrig war – waren über das ganze Plateau verteilt. Er hatte alles aufgeboten, was er noch hatte. Die Grenzländer, die Drachenverschworenen, Loial und die Ogier, Tams Truppen, die Weißmäntel, Soldaten der Bande der Roten Hand. Sie hatten hart gekämpft, aber ihr Gegner war ihnen zahlenmäßig weit überlegen. Es war schlimm genug gewesen, als sie es bloß mit den Sharanern zu tun gehabt hatten, aber sobald die Trollocs am Osthang durchgebrochen waren, waren sie gezwungen gewesen, sich an zwei Fronten zu verteidigen. Im Verlauf der letzten Stunde waren sie mehr als tausend Schritte zurückgedrängt worden, und zwar nach Norden, und ihre hinteren Reihen hatten beinahe den Rand der Anhöhe erreicht.

Das würde der letzte Sturm sein. Das Ende der Schlacht. Ohne die sharanischen Machtlenker würde man ihn nicht sofort auslöschen, aber Licht … es waren noch immer so viel verfluchte Trollocs übrig. Er hatte diesen Tanz gut getanzt. Das wusste er. Aber ein Mann konnte allein nur so viel erreichen. Möglicherweise würde nicht einmal Tuons Rückkehr ausreichen. Falls sie kam.

Arganda überreichte Berichte von anderen Abschnitten des Schlachtfeldes – der Mann war so schlimm verwundet, dass er nicht kämpfen konnte, und niemand konnte mehr genug Machtlenken, um zu Heilen. Er erledigte seine Aufgabe gut. Ein guter Mann. Mat hätte ihn bei der Bande brauchen können.

Die Trollocs sammelten sich für ihren Vorstoß, schleppten Leichen aus dem Weg und formierten sich zu Fäusten, die die Myrddraal anführen würden. Das ließ Mat fünf oder zehn Minuten, um sich vorzubereiten. Dann würden sie kommen.

Lan kam mit grimmiger Miene heran. »Was sollen meine Männer tun, Cauthon?«

»Macht euch bereit, diese Trollocs zu bekämpfen«, sagte Mat. »Hatte jemand in letzter Zeit Kontakt mit Mayene? Jetzt wäre der richtige Augenblick, um ein paar Reihen Geheilte Männer zurückzubekommen.«

»Ich erkundige mich für Euch«, sagte Lan. »Und dann bereite ich meine Männer vor.«

Als er ging, griff Mat tief in die Satteltasche. Er zog Rands Banner hervor, das Banner der alten Aes Sedai. Er hatte es sich zuvor besorgt, weil er gedacht hatte, es vielleicht brauchen zu können. »Jemand soll dieses Ding aufziehen. Wir kämpfen in Rands verdammtem Namen. Zeigen wir dem Schatten, dass wir stolz darauf sind.«

Dannil nahm das Banner und suchte sich einen Speer als Stab. Mat holte tief Luft. So wie die Grenzländer redeten, glaubten sie, dass das in einem ruhmreichen, heroischen, selbstmörderischen Sturmangriff enden würde. So hatten auch Thoms Lieder immer geendet … die Art Lieder, von denen er gehofft hatte, sich niemals in ihnen wiederzufinden. Andererseits spielte diese Hoffnung keine große Rolle mehr.

Denk nach, denk. In der Ferne stießen die Trollocs in ihre Hörner. Tuon hatte sich verspätet. Würde sie kommen? Insgeheim hoffte er, dass sie es nicht tun würde. Da die Schlacht so schlecht verlief, würden vermutlich nicht einmal die Seanchaner mehr einen Unterschied machen.

Er brauchte dringend einen Vorteil. Komm schon, Glück! Ein weiteres Wegetor öffnete sich, und Arganda ging, um den Bericht des Boten entgegenzunehmen. Mat brauchte die Neuigkeit gar nicht zu hören, denn Argandas Miene bei seiner Rückkehr war finster.

»Also gut«, sagte Mat seufzend. »Her damit.«

»Die Königin von Andor ist tot«, sagte Arganda.

Verfluchte Asche! Nicht Elayne! Etwas in Mat zog sich zusammen. Rand … Es tut mir so leid. »Wer führt sie jetzt an? Bashere?«

»Tot«, sagte Arganda. »Seine Frau auch. Alle fielen bei einem Angriff auf andoranische Pikenträger. Wir haben auch sechs Clanhäuptlinge der Aiel verloren. Niemand führt die Andoraner oder die Aiel am Flussufer. Sie weichen schnell zurück.«

»Das ist das Ende!« Demandreds verstärkte Stimme hallte vom anderen Ende des Plateaus. »Lews Therin hat euch im Stich gelassen! Schreit auf, wenn ihr sterbt. Lasst ihn euren Schmerz fühlen.«

Sie waren bei den letzten paar Zügen ihres Spiels angekommen, und Demandred hatte gut gespielt. Mat betrachtete sein Heer aus erschöpften Soldaten, von denen viele verwundet waren. Es war nicht abzustreiten, ihre Lage war verzweifelt.

»Schickt nach den Aes Sedai«, sagte Mat. »Es ist mir egal, ob sie behaupten, dass sie keine Feder mehr heben können. Vielleicht finden sie ja noch genug Kraft für ein paar kleine Feuerbälle, wenn es um ihr Leben geht. Außerdem können ihre Behüter ja wohl noch kämpfen.«

Arganda nickte. In der Nähe öffnete sich ein Wegetor, und zwei zerzaust aussehende Asha’man stolperten heraus. Naeff und Neald wiesen Brandverletzungen auf, und Naeffs Aes Sedai begleitete sie nicht.

»Und?«, fragte er sie.

»Es ist vollbracht«, sagte Neald mit einem Knurren.

»Was ist mit Tuon?«

»Anscheinend haben sie den Spion gefunden«, sagte Naeff. »Die Kaiserin wartet darauf, auf Euer Zeichen zurückzukehren.«

Mat atmete ein, schmeckte die Luft des Schlachtfelds und fühlte den Rhythmus des Kampfes, den er angefangen hatte. Er wusste nicht, ob er siegen konnte, nicht einmal mit Tuons Hilfe. Nicht, wo sich Elaynes Armee in der Auflösung befand, nicht, wo die Aes Sedai so geschwächt waren, dass sie nicht länger die Macht lenken konnten. Nicht ohne Egwene, ihre Zwei-Flüsse-Sturheit, ihr eisernes Rückgrat. Nicht ohne ein Wunder.

»Gebt ihr Bescheid, Naeff«, sagte er. Er verlangte nach Papier und Stift und kritzelte eine Botschaft, die er dem Asha’man übergab. Er verdrängte den selbstsüchtigen Wunsch, Tuon in die Sicherheit fliehen zu lassen. Verdammte Asche, es gab keine Sicherheit, nirgendwo mehr. »Gebt das der Kaiserin, Naeff; richtet Ihr aus, dass diese Befehle wortwörtlich ausgeführt werden müssen.«

Dann wandte er sich Neald zu. »Ich will, dass Ihr zu Talmanes geht«, sagte er. »Er soll mit dem Plan weitermachen.«

Die beiden Machtlenker gingen, um ihre Botschaften zu überbringen.

»Reicht das denn?«, fragte Arganda.

»Nein«, erwiderte Mat.

»Aber wozu dann das Ganze?«

»Weil ich eher zum Schattenfreund werde, bevor ich diese Schlacht aufgebe, ohne vorher alles versucht zu haben, Arganda.«

»Lews Therin!«, donnerte Demandred. »Komm und stell dich mir! Ich weiß, dass du diese Schlacht beobachtest! Komm endlich! Kämpfe!«

»So langsam geht mir dieser Mann auf die Nerven«, meinte Mat.

»Cauthon, seht, diese Trollocs haben sich neu gruppiert«, sagte Arganda. »Ich glaube, gleich greifen sie an.«

»Das ist es dann; stellen wir uns auf«, sagte Mat. »Wo steckt Lan? Ist er schon wieder da? Ich möchte das wirklich nicht ohne ihn tun.«

Er ließ die Blicke über die Linien schweifen, während Arganda Befehle bellte. Aber seine Aufmerksamkeit wurde plötzlich in eine andere Richtung gedrängt, als Arganda ihn am Arm packte und auf die Tiermenschen zeigte. Ein Frösteln durchfuhr ihn, als er im Licht der großen Feuer einen einsamen Reiter auf einem schwarzen Hengst sah, der zur rechten Flanke der Trolloc-Horde galoppierte, auf den Osten der Polov-Anhöhe zu. In Richtung Demandred.

Lan war aufgebrochen, um einen eigenen Krieg zu führen.


Die Trollocs zerrten an Olvers Arm, griffen in die Felsspalte und versuchten ihn dort herauszuzerren. Andere gruben an den Seiten, und Erde regnete auf ihn herab, blieb an den Tränen auf seinen Wangen und dem Blut auf seinen Kratzern kleben.

Er konnte nicht aufhören zu zittern. Er konnte sich auch zu keiner Bewegung überwinden. Voller Angst bebte er, während die Bestien mit ihren dreckigen Krallen an ihm zerrten und sich immer näher an ihn herangruben.


Loial saß auf einem Baumstumpf und ruhte sich aus, bevor die Schlacht weiterging.

Ein Sturmangriff. Ja, das würde ein gutes Ende sein. Loial fühlte sich überall wund. Er hatte viel über Schlachten gelesen, und er hatte auch schon andere Kämpfe ausgetragen, also hatte er gewusst, was da auf ihn zukam. Aber etwas zu wissen und es erlebt zu haben, das war ein fundamentaler Unterschied; darum hatte er das Stedding ja überhaupt erst verlassen.

Nach mehr als einem Tag ununterbrochener Kämpfe brannte eine tiefe Erschöpfung in seinen Gliedern. Wenn er die Axt hob, fühlte sich ihr Kopf so schwer an, dass er sich fragte, warum er den Schaft nicht zerbrach.

Krieg. Er hätte auch ohne diese Erfahrung leben können. Das war so viel mehr als die verzweifelte Schlacht in den Zwei Flüssen. Dort hatten sie immerhin Zeit gehabt, die Toten zu bergen und ihre Verwundeten zu versorgen. Dort war es darum gegangen, die Stellung zu halten und gegen die Angriffswellen zu bestehen.

Hier gab es weder Zeit zu warten noch um zu denken. Erith saß neben seinem Stumpf auf dem Boden, und er legte ihr die Hand auf die Schulter. Sie schloss die Augen und lehnte sich an ihn. Sie war wunderschön, mit perfekten Ohren und großartigen Augenbrauen. Loial sah nicht auf die Blutflecken auf ihrer Kleidung; er fürchtete, dass etwas davon ihres war. Er rieb ihre Schulter mit Fingern, die so müde waren, dass er sie kaum spürte.

Auf dem Schlachtfeld hatte er sich ein paar Notizen machen können, für sich selbst und für andere, um festzuhalten, wie die Schlacht bis jetzt verlaufen war. Ja, ein letzter Angriff. Das würde ein gutes Ende für die Geschichte sein, wenn er sie schrieb.

Er tat so, als würde er diese Geschichte noch schreiben. Eine so kleine Lüge schadete niemandem.

Ein Reiter brach aus den Reihen der Soldaten hervor und galoppierte auf die rechte Flanke der Trollocs zu. Das würde Mat bestimmt nicht gefallen. Ein Mann, ganz allein, würde sterben. Loial war überrascht, dass er nach dem ganzen Tod, dessen Zeuge er geworden war, noch Trauer für das Leben eines einzelnen Mannes verspüren konnte.

Er sieht vertraut aus, dachte er. Ja, es war das Pferd. Dieses Pferd hatte er schon zuvor gesehen, und zwar viele Male. Lan, dachte er wie betäubt. Das ist Lan, der da ganz allein reitet.

Loial stand auf.

Erith schaute zu ihm auf, als er die Axt schulterte.

»Warte«, sagte er zu ihr. »Kämpfe an der Seite der anderen. Ich muss gehen.«

»Gehen?«

»Ich muss das bezeugen«, sagte Loial. Der Fall des letzten Königs der Malkieri. Das musste in seinem Buch stehen.


»Bereitet euch auf den Sturmangriff vor!«, brüllte Arganda. »Männer, formiert euch! Die Bogenschützen nach vorn, dann die Kavallerie, die Fußsoldaten bereiten sich vor, ihr zu folgen!«

Ein Sturmangriff, dachte Tam. Ja, das ist unsere einzige Hoffnung. Sie mussten ihren Druck auf den Gegner aufrechterhalten, aber ihre Reihe war so dünn. Er konnte erkennen, was Mat versucht hatte, aber es würde nicht funktionieren.

Sie würden es trotzdem durchkämpfen müssen.

»Nun, er ist tot«, sagte ein Söldner in Tams Nähe und deutete mit dem Kopf auf Lan Mandragoran, als er auf die Flanke der Trollocs zuritt. »Verfluchte Grenzländer.«

»Tam …«, sagte Abell neben ihm.

Über ihnen wurde der Himmel dunkler. War das in der Nacht überhaupt möglich? Diese schrecklichen brodelnden Wolken schienen immer niedriger zu hängen. Tam verlor beinahe Lans Gestalt auf dem mitternachtsschwarzen Hengst aus dem Auge, obwohl hier überall Feuer loderten. Ihr Licht erschien schwach.

Er reitet zu Demandred, dachte Tam. Aber da steht eine Mauer aus Trollocs im Weg. Tam zog einen Pfeil, hinter dessen Spitze ein mit Harz getränkter Lappen gebunden war, und spannte ihn in die Sehne seines Bogens ein. »Männer von den Zwei Flüssen, macht euch zum Schießen bereit!«

Der Söldner in der Nähe lachte. »Das sind mindestens hundert Schritte! Ihr spickt höchstens ihn mit Pfeilen, wenn überhaupt.«

Tam musterte den Mann, dann hielt er seinen Pfeil an eine Fackel. Der Lumpen hinter der Spitze entflammte sofort. »Erste Reihe, auf mein Signal!«, brüllte Tam und ignorierte die anderen Befehle, die die Linie weitergereicht wurden. »Beleuchten wir Lord Mandragorans Weg!«

Mit einer flüssigen Bewegung spannte Tam den Bogen, der brennende Stoff wärmte seine Finger, und er ließ die Sehne los.


Lan galoppierte auf die Trollocs zu. Seine Lanze war genau wie ihre drei Ersatzlanzen schon vor Stunden zerbrochen. An seinem Hals baumelte das kalte Medaillon, das Berelain mit einer schlichten Notiz durch das Wegetor geschickt hatte.

Ich weiß nicht, wie Galad darangekommen ist, aber ich glaube, er wollte, dass ich es Cauthon schicke.

Lan dachte nicht darüber nach, was er da tat. Das Nichts erlaubte solche Dinge nicht. Manche Männer würden das als tollkühn, närrisch, ja selbstmörderisch bezeichnen. Aber nur selten wurde die Welt von Männern verändert, die nicht bereit waren, zumindest eines davon auszuprobieren. Er sandte, was auch immer er an Trost zustande brachte, durch den Bund zu der fernen Nynaeve, dann bereitete er sich auf den Kampf vor.

Als er sich den Tiermenschen näherte, stellten die Bestien eine Speerreihe auf, um ihn aufzuhalten. Ein Pferd würde sich bei einem Durchbruchsversuch selbst aufspießen. Lan holte Luft, beruhigte sich mit dem Nichts, bereitete sich darauf vor, die Spitze des ersten Speers abzutrennen und sich dann seinen Weg durch die Reihe zu erzwingen.

Ein unmögliches Manöver. Die Trollocs würden bloß näher zusammenrücken müssen, damit er langsamer wurde. Danach konnten sie Mandarb überwältigen und ihn aus dem Sattel zerren.

Aber jemand musste Demandred vernichten. Mit dem Medaillon am Hals hob Lan das Schwert.

Ein brennender Pfeil schoss aus dem Himmel und bohrte sich in den Hals des Trollocs genau vor ihm. Ohne zu zögern, benutzte er die gestürzte Kreatur als Öffnung in der Speerreihe. Er krachte in das Schattengezücht, trampelte über den Gefallenen hinweg. Nun würde er …

Ein weiterer Pfeil raste heran und fällte einen Tiermenschen. Dann war der nächste dran, noch einer, in schneller Folge. Mandarb krachte durch die verwirrten, brennenden und sterbenden Trollocs, als ein ganzer Regen Brandpfeile vor ihm niederging.

»Malkier!«, brüllte Lan, trieb Mandarb an, zertrampelte Kadaver, behielt aber seine Geschwindigkeit bei, als sich vor ihm ein Weg öffnete. Ein Lichthagel regnete herab, jeder Pfeil traf präzise und tötete eine Bestie, die ihn aufhalten wollte.

Er donnerte durch die Reihen, stieß sterbende Ungeheuer zur Seite, und brennende Pfeile beleuchteten seinen Weg durch die Finsternis wie eine Straße. Dicht gedrängt stand das Schattengezücht zu beiden Seiten, aber vor ihm stürzten die Gegner zu Boden und stürzten auch weiterhin, bis dort keiner mehr stand.

Danke, Tam.

Lan galoppierte am Osthang des Plateaus entlang, nun ganz allein, vorbei an Soldaten, vorbei am Schattengezücht. Er war eins mit dem Wind, der durch sein Haar fuhr, eins mit dem sehnigen Tier unter ihm, das ihn vorwärtstrug, eins mit dem Mann, der sein Ziel, sein Schicksal war.

Die lauten Hufschläge ließen Demandred aufsehen, seine sharanischen Gefährten erhoben sich vor ihm.

Mit einem lauten Aufbrüllen führte Lan Mandarb in die Sharaner hinein, die seinen Weg versperrten. Der Hengst machte einen Satz, seine Vorderbeine stießen die Wächter vor ihm zu Boden. Mandarb fuhr herum, seine Flanken schickten noch mehr Feinde zu Boden, seine Vorderhufe trafen neue Ziele.

Lan sprang aus dem Sattel – Mandarb verfügte über keinen Schutz gegen Machtlenken, also würde der Kampf vom Sattel aus Demandred bloß dazu einladen, sein Pferd zu töten – und landete mit gezogener Klinge laufend am Boden.

»Noch einer?«, brüllte Demandred. »Lews Therin, du fängst an, mich …«

Er unterbrach sich, als Lan ihn erreichte und sich in ›Daunenfedern im Sturmwind‹ warf, eine wilde, offensive Schwertfigur. Demandred riss die Klinge hoch, fing den Hieb ab und stolperte durch seine Gewalt einen Schritt zurück. Drei blitzschnelle Schläge tauschten sie aus, Lan blieb in Bewegung, bis der letzte Hieb Demandred an der Wange traf. Lan verspürte einen leichten Widerstand, dann sprühte Blut durch die Luft.

Demandred tastete nach der Verletzung an der Wange, seine Augen öffneten sich weit. »Wer bist du?«, fragte der Verlorene.

»Ich bin der Mann, der dich töten wird.«


Min schaute vom Rücken ihres Torm auf, als er durch das Wegetor zurück auf das Schlachtfeld von Merrilor sprang. Sie hoffte, dass er dem Schlachtengetöse widerstehen würde, sobald sie da waren. In der Ferne brannten große Feuer und Fackeln, wie Glühwürmchen, die Bilder der Tapferkeit und Entschlossenheit beleuchteten. Sie betrachtete die flackernden Lichter, die letzten Scheite eines Feuers, das bald gelöscht werden würde.

Weit im Norden erbebte Rand.


Das Muster wirbelte um Rand und zwang ihn zuzusehen. Er blickte durch Augen, aus denen Tränen strömten. Er sah Menschen kämpfen. Er sah sie sterben. Er sah Elayne, gefangen und allein, während sich ein Schattenlord darauf vorbereitete, ihr die ungeborenen Kinder aus dem Schoß zu schneiden. Er sah Rhuarc, der seinen Geist eingebüßt hatte und nun die Marionette einer der Verlorenen war.

Er sah Mat, der verzweifelt einer schrecklich ungleichen Wette gegenüberstand.

Er sah Lan in seinen Tod reiten.

Demandreds Worte trafen ihn. Die Kraft des Dunklen Königs riss weiter an ihm.

Er hatte versagt.

Aber irgendwo in seinem Hinterkopf erklang eine Stimme. Kaum hörbar, fast in Vergessenheit geraten.

Lass los.


Lan hielt nichts zurück.

Er kämpfte nicht, wie er Rand das Kämpfen beigebracht hatte. Kein vorsichtiges Austesten, keine Erkundung des Terrains, keine sorgfältige Einschätzung. Demandred konnte die Macht lenken, und trotz des Medaillons durfte er seinem Feind keine Zeit zum Nachdenken geben. Oder um Gewebe zu weben und ihm Steine entgegenzuschleudern oder den Boden unter seinen Füßen zu öffnen.

Lan begrub sich tief im Nichts und erlaubte seinem Instinkt, ihn zu leiten. Er ging weit über die fehlenden Empfindungen hinaus, brannte alles weg. Er musste die Gegend nicht einschätzen, denn er hatte das Gefühl, dass das Land ein Teil von ihm war. Er musste nicht Demandreds Kraft ergründen. Einer der Verlorenen mit seinen vielen Jahrzehnten Erfahrung würde der geschickteste Schwertkämpfer sein, dem er je gegenübergestanden hatte.

Lan war sich vage bewusst, dass die Sharaner zurückwichen, um einen großen Kreis um die beiden Kämpfer zu bilden. Anscheinend vertraute Demandred so sehr auf sein Geschick, dass er von anderen keine Einmischung duldete.

Lan führte eine Reihe Angriffe durch. ›Wasser fließt bergab‹ ging über in ›Wirbelwind vom Berg‹ und dann in ›Der Falke taucht ins Gebüsch‹. Seine Figuren waren wie Ströme, die sich zu einem immer größeren Fluss vereinigten. Demandred kämpfte so gut, wie er befürchtet hatte. Auch wenn sich seine Fechtfiguren etwas von denen unterschieden, die er kannte, hatten die Jahre die Grundzüge eines Schwertkampfes nicht verändern können.

»Du bist … gut …«, grunzte Demandred und wich vor ›Wind und Regen‹ zurück; Blut tropfte von seinem Kinn. Lans Klinge blitzte durch die Luft und spiegelte das rote Licht eines Feuers in der Nähe wider.

Demandred griff mit ›Den Funken schlagen‹ an, womit Lan gerechnet hatte und dementsprechend parierte. Er trug einen Kratzer an der Seite davon, den er ignorierte. Der Schlagabtausch hatte ihn einen Schritt zurückgeworfen, was Demandred Gelegenheit gab, mit der Einen Macht nach einem Stein zu greifen und ihn ihm entgegenzuschleudern.

Tief ins Nichts versunken fühlte Lan den Stein kommen. Er begriff den Kampf – es war eine Art von Verstehen, die tief in sein Inneres reichte, bis zum Kern seiner Seele. Wie Demandred seine Schritte setzte, in welche Richtung sein Blick flackerte, das alles verriet Lan genau, was nun passieren würde.

Als er in die nächste Figur glitt, führte Lan die Klinge quer an seiner Brust vorbei nach oben und trat zurück. Ein Stein von der Größe eines Männerkopfs flog direkt vor ihm vorbei. Lan glitt vorwärts, der Arm bewegte sich in eine neue Position, während der nächste Stein so schnell unter ihm vorbeiflog, dass er einen Luftzug hinter sich herzog. Lan hob das Schwert und floss förmlich um den Weg des dritten Steins herum, der ihn nur um Daumenbreite verfehlte.

Demandred blockierte Lans Angriff, aber er atmete schwer. »Wer bist du?«, flüsterte der Verlorene erneut. »In diesem Zeitalter verfügt niemand über ein solches Geschick. Asmodean? Nein, nein. Er hätte nicht so gegen mich kämpfen können. Lews Therin? Das bist du hinter diesem Gesicht, richtig?«

»Ich bin bloß ein Mann«, flüsterte Lan. »Das ist alles, mehr bin ich nie gewesen.«

Demandred knurrte, griff an. Lan reagierte mit ›Steine poltern vom Berg‹, aber die Wucht seines Gegners zwang ihn ein paar Schritte zurück.

Obwohl Lan ursprünglich die Offensive gehabt hatte, war Demandred der bessere Schwertkämpfer. Das verriet ihm das gleiche Gespür, das ihm sagte, wann er zuschlagen musste, wann parieren oder einen Ausfallschritt machen oder sich zurückziehen. Vielleicht wäre es anders gewesen, hätten beide die gleichen Voraussetzungen gehabt. Aber das war nicht der Fall. Lan hatte den ganzen Tag gekämpft, und obwohl er von den schlimmsten Verletzungen Geheilt worden war, schmerzten die kleineren dennoch. Darüber hinaus zehrte jede Heilung an den Kräften.

Demandred war noch immer ausgeruht. Der Verlorene redete nicht länger und vertiefte sich in das Duell. Er hörte auch auf, die Eine Macht zu benutzen, und konzentrierte sich allein auf seine Klinge. Er grinste nicht, wenn er im Vorteil war. Ohnehin erschien er nicht wie ein Mann, der oft grinste.

Lan löste sich von ihm, aber der Verlorene setzte mit ›Der Keiler stürmt bergab‹ nach, stieß Lan erneut an den Rand des Kreises, schlug auf seine Abwehr ein, landete einen Treffer an seinem Arm, dann an der Schulter, schließlich am Oberschenkel.

Ich habe nur Zeit für eine letzte Lektion …

»Ich habe dich«, knurrte Demandred schließlich schwer atmend. »Wer auch immer du bist, ich habe dich. Du kannst nicht gewinnen.«

»Du hast mir nicht zugehört«, flüsterte Lan.

Eine letzte Lektion. Die schwerste …

Demandred schlug zu, und Lan erkannte seine Öffnung. Er lenkte Demandreds Schwertspitze auf seine Seite und stürzte sich in die Klinge.

»Ich bin nicht hergekommen, um zu gewinnen«, flüsterte Lan lächelnd. »Ich kam, um dich zu töten. Der Tod ist leichter als eine Feder.«

Demandred riss die Augen auf und versuchte sich vom Gegner zu lösen. Zu spät. Lans Schwert traf ihn am Hals, durchbohrte ihn.

Die Welt wurde dunkel, als Lan von der gegnerischen Klinge rutschte. Dabei fühlte er Nynaeves Furcht und Schmerz, und er schickte ihr seine Liebe.

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