PROLOG Durch die Gnade des Lichts und in den Staub getretene Banner

Bayrd drückte fest mit Daumen und Zeigefinger auf die Münze. Das Metall gab mit einem feuchten Laut nach, der an den Nerven zerrte.

Er hob den Daumen. Im flackernden Fackelschein zeigte das harte Kupfer nun seinen Abdruck. Bayrd fröstelte, als hätte er den ganzen Abend in einem Keller verbracht.

Sein Magen knurrte. Schon wieder.

Der Nordwind frischte auf und ließ die Fackeln noch heftiger flackern. Bayrd saß nahe der Mitte des Kriegslagers mit dem Rücken an einen großen Stein gelehnt. Hungrige Männer wärmten sich die Hände an den Feuergruben und murrten; die Vorräte waren schon vor langer Zeit verdorben. In der Nähe breiteten Soldaten alle metallenen Gegenstände – Schwerter, Rüstungsschnallen, Kettenhemden – auf dem Boden aus, als wäre es Wäsche zum Trocknen. Vielleicht hofften sie ja, dass das Material bei Sonnenaufgang wieder normal wurde.

Bayrd rollte die Münze zwischen den Fingern zu einer Kugel. Das Licht beschütze uns, dachte er. Das Licht … Er ließ die Kugel ins Gras fallen, dann beugte er sich vor und nahm die Steine wieder auf, mit denen er gearbeitet hatte.

»Ich will wissen, was hier passiert ist, Karam«, fauchte Lord Jarid. Jarid und seine Berater standen in der Nähe an einem mit Karten übersäten Tisch. »Ich will wissen, wie sie so nahe kommen konnten, und ich will den Kopf dieser verfluchten Aes-Sedai-Königin und Schattenfreundin!« Jarid schlug mit der Faust auf den Tisch. Früher hatte in seinem Blick nicht dieser irre Fanatismus gelegen. Der auf ihm lastende Druck veränderte alles – der verdorbene Proviant, die seltsamen Vorkommnisse in der Nacht.

Hinter ihm lag das Befehlszelt in einem unordentlichen Haufen auf dem Boden. Das Haar wehte ihm ins vom Fackelschein erhellte Gesicht – es war sehr lang geworden im Exil. Noch immer klebte Gras an seinem Mantel, weil er aus dem zusammengebrochenen Zelt hatte kriechen müssen.

Verwirrte Diener machten sich an den eisernen Zeltnägeln zu schaffen, die wie alles Metall im Lager weich geworden waren. Die Befestigungsringe hatten sich wie warmes Wachs gedehnt und waren gerissen.

Die Nacht roch falsch. Sie roch muffig, nach Kammern, die jahrelang keiner mehr betreten hatte. Auf einer Waldlichtung sollte die Luft nicht nach altem Staub riechen. Bayrds Magen grollte erneut. Beim Licht, wie gern hätte er etwas gegessen. Er wandte seine Aufmerksamkeit wieder seiner Arbeit zu und schlug mit einem Stein auf den anderen ein.

Er hielt die Steine, wie es ihm sein Großvater beigebracht hatte, als er noch ein kleiner Junge gewesen war. Das Gefühl, wie die Steine aufeinanderprallten, half Hunger und Kälte zu vergessen. Zumindest etwas in seiner Welt war noch verlässlich.

Lord Jarid starrte stirnrunzelnd in seine Richtung. Bayrd war einer von zehn Männern, die den Lord in dieser Nacht zu beschützen hatten. »Ich hole mir Elaynes Kopf, Karam«, sagte Jarid und wandte sich wieder seinen Hauptleuten zu. »Diese unnatürliche Nacht ist das Werk ihrer Hexen.«

»Ihren Kopf?«, ertönte Eris skeptische Stimme von der Seite. »Und wie genau soll Euch jemand ihren Kopf bringen?«

Lord Jarid drehte sich um, genau wie die anderen an dem von Fackelschein beleuchteten Tisch. Eri starrte in den Himmel; der Mann trug das Zeichen des goldenen Ebers vor dem roten Speer. Es war das Zeichen von Jarids Leibwache, aber Eris Stimme verriet nur wenig Respekt. »Womit soll er denn diesen Kopf herunterbekommen, Jarid? Mit seinen Zähnen?«

Der ausgesprochen aufsässige Satz ließ im Lager Stille einkehren. Bayrd hörte auf, mit seinen Steinen zu hantieren, und zögerte. Ja, es hatte Gerede darüber gegeben, wie irrsinnig Lord Jarid geworden war. Aber das jetzt?

Jarid plusterte sich auf, sein Gesicht lief vor Zorn rot an. »Du wagst es, in diesem Ton mit mir zu sprechen? Einer meiner Leibwächter

Eri schaute weiter in den wolkenverhüllten Himmel.

»Dein Sold ist für die nächsten beiden Monate gestrichen«, fauchte Jarid, aber seine Stimme zitterte. »Du bist degradiert und bis auf Weiteres zum Latrinendienst abkommandiert. Bei den nächsten Widerworten schneide ich dir die Zunge heraus.«

Der kalte Wind ließ Bayrd frösteln. Eri war der beste Mann von den Resten ihres Rebellenheeres. Die anderen Leibwächter scharrten mit den Füßen und schauten zu Boden.

Eri schaute den Lord an und lächelte. Er sagte kein Wort, aber das war irgendwie auch nicht nötig. Seine Zunge herausschneiden? Jedes Stück Metall im Lager war so weich wie ein Klumpen Fett geworden. Jarids Messer lag völlig unbrauchbar auf dem Tisch – die Klinge hatte sich in die Länge gezogen, als er sie aus der Scheide zog. Jarids Mantelschöße klafften auf; er hatte Silberknöpfe gehabt.

»Jarid …«, sagte Karam. Der Lord eines unbedeutenden Hauses, das loyal zu Sarand stand, hatte ein schmales Gesicht und große Lippen. »Glaubt Ihr wirklich, dass das … das soll das Werk von Aes Sedai sein? Das ganze Metall im Lager?«

»Natürlich«, bellte Jarid. »Was sollte es sonst sein? Kommt mir ja nicht mit diesen Lagerfeuergeschichten. Die Letzte Schlacht? Lächerlich.« Er schaute wieder auf den Tisch. Dort lag die Karte von Andor, an den Ecken mit kleinen Steinen beschwert.

Bayrd wandte sich wieder seinen Steinen zu. Klack, klack, klack. Schiefer und Granit. Es hatte einige Mühe gekostet, aber sein Großvater hatte ihm beigebracht, Mineralien zu erkennen. Der alte Mann hatte sich verraten gefühlt, als Bayrds Vater losgezogen war, um in der Stadt Metzger zu werden, statt sich dem Familienhandwerk zuzuwenden.

Weicher, glatter Schiefer. Grober, kantiger Granit. Ja, manche Dinge in der Welt waren noch immer solide. Einige wenige Dinge. In diesen Tagen konnte man sich nur noch auf wenige Dinge verlassen. Einst unerschütterliche Lords waren nun so weich wie … nun, weich wie Eisen. Am Himmel pulsierte Finsternis, und mutige Männer – Männer, zu denen Bayrd einst aufgesehen hatte – zitterten und wimmerten in der Nacht.

»Ich mache mir Sorgen, Jarid«, sagte Davies. Lord Davies, ein älterer Mann, kam dem noch am nächsten, was man als Jarids Vertrauten hätte bezeichnen können. »Schon seit Tagen haben wir niemanden mehr gesehen. Keinen Bauern, keine Soldaten der Königin. Etwas geschieht. Etwas, das falsch ist.«

»Sie hat die Menschen weggebracht«, knurrte Jarid. »Sie wird bald zuschlagen.«

»Ich glaube, sie ignoriert uns«, sagte Karam und betrachtete den Himmel. Noch immer war nur eine dicke Wolkenschicht zu sehen. Es kam Bayrd so vor, als wäre es Monate her, dass er einen klaren Himmel gesehen hatte. »Warum sollte sie sich für uns interessieren? Unsere Männer verhungern. Die Vorräte verderben ständig. Die Zeichen …«

»Sie will Druck auf uns ausüben«, behauptete Jarid verbissen. »Das ist das Werk der Aes Sedai.«

Plötzlich trat im Lager Stille ein. Stille, die allein von Bayrds Steinen gebrochen wurde. Der Metzgerberuf hatte ihm nie zugesagt, aber in der Leibwache seines Lords hatte er ein Zuhause gefunden. Kühe abschlachten oder Männer, das war sich sehr ähnlich. Es machte ihm zu schaffen, wie einfach dieser Wechsel für ihn gewesen war.

Klack, klack, klack.

Eri drehte sich um. Jarid musterte den Wächter misstrauisch, als wäre er bereit, noch drakonischere Strafen zu brüllen.

Er war nicht immer so schlimm, oder?, dachte Bayrd. Er wollte den Thron für seine Frau, aber welcher Lord würde das nicht wollen? Es fiel schwer, den Namen nicht länger ernst zu nehmen. Bayrds Familie diente den Sarand schon seit Generationen treu.

Eri drehte dem Kommandoposten den Rücken zu und setzte sich in Bewegung.

»Was glaubst du, wo du hingehst?«, schrie Jarid.

Eri griff zur Schulter und riss das Abzeichen der Hausgarde Sarands ab. Er warf es weg und verließ den Lichtkreis, ging hinaus in die Nacht auf den Wind aus dem Norden zu.

Die meisten Männer im Lager waren nicht schlafen gegangen. Sie saßen um die Feuergruben herum, weil sie in der Nähe von Wärme und Licht sein wollten. Ein paar versuchten, Gras, Blätter oder sogar Lederriemen zu kochen, damit sie etwas zu essen hatten, ganz egal, was es auch war.

Sie standen auf, als Eri ging, und blickten ihm hinterher.

»Deserteur«, brüllte Jarid. »Nach allem, was wir durchgemacht haben, geht er. Nur weil die Dinge schwierig geworden sind.«

»Die Männer verhungern, Jarid«, wiederholte Davies.

»Dessen bin ich mir bewusst. Danke, dass Ihr mich mit jedem verdammten Atemzug auf unsere Schwierigkeiten hinweist!« Mit zitternder Hand wischte sich Jarid die Stirn ab, dann schlug er auf die Karte. »Wir müssen eine der Städte angreifen; wir können ihr nicht entkommen, jetzt, da sie weiß, wo wir sind. Weißbrücke. Wir nehmen es ein und rüsten uns dort neu aus. Ihre Aes Sedai müssen nach ihrem Werk heute Nacht erschöpft sein, denn sonst hätte sie angegriffen.«

Bayrd spähte mit zusammengekniffenen Augen in die Dunkelheit. Weitere Männer standen auf, nahmen Bauernspieße oder Keulen. Andere verzichteten auf Waffen. Sie nahmen ihre Decken, luden sich Kleiderbündel auf die Schultern. Dann verließen sie das Lager, ganz lautlos, wie eine Parade aus Geistern. Keine Kettenhemden klirrten, keine Schnallen. Es gab kein Metall mehr. Als hätte man ihm seine Seele geraubt.

»Elayne wird es nicht wagen, uns mit vielen Männern anzugreifen«, behauptete Jarid und versuchte offensichtlich, sich selbst davon zu überzeugen. »In Caemlyn muss Unruhe herrschen. All die Söldner, von denen Ihr berichtet habt, Shiv. Vielleicht gibt es ja Aufstände. Elenia wird natürlich gegen Elayne arbeiten. Weißbrücke. Ja, Weißbrücke ist perfekt.

Wir halten die Stadt und teilen die Nation in zwei Hälften, versteht Ihr? Wir rekrutieren dort, zwingen die Männer des westlichen Andor unter unser Banner. Marschieren zu diesem Ort, wie heißt er noch mal? Die Zwei Flüsse. Dort sollten wir fähige Hände finden.« Jarid schnaubte. »Dort hat es seit Jahrzehnten keinen Lord mehr gegeben, habe ich gehört. Gebt mir vier Monate, und ich habe ein Heer, mit dem man rechnen muss. Groß genug, dass sie es niemals wagt, uns mit ihren Hexen anzugreifen …«

Bayrd hielt seinen Stein ins Fackellicht. Der Kniff, eine ordentliche Speerspitze herzustellen, lag darin, außen anzufangen und sich nach innen weiterzuarbeiten. Mit Kreide hatte er die Umrisse auf ein Stück Schiefer gemalt, dann hatte er sich auf die Mitte zugearbeitet, um die Form zu vollenden. Von dort wechselte man von harten Schlägen zu behutsamem Hämmern und schälte kleine Splitter ab.

Eine Seite hatte er bereits vor einiger Zeit fertiggestellt; die andere war fast vollendet. Beinahe vermeinte er die leise Stimme seines Großvaters zu hören. Wir stammen vom Stein ab, Bayrd. Ganz egal, was dein Vater sagt. Tief im Inneren stammen wir vom Stein ab.

Weitere Soldaten verließen das Lager. Schon merkwürdig, wie wenige von ihnen sprachen. Endlich bemerkte Jarid es. Er packte eine der Fackeln und hielt sie in die Höhe. »Was tun sie da? Gehen sie auf die Jagd? Wir haben schon seit Wochen kein Wild mehr gesichtet. Stellen sie Fallen auf?«

Niemand gab eine Antwort.

»Vielleicht haben sie etwas gesehen«, murmelte der Lord. »Vielleicht glauben sie es auch nur. Ich will nichts mehr von Geistern oder anderem Unsinn hören; die Hexen erschaffen Trugbilder, um uns den Mut zu rauben. Das … das muss es sein.«

In der Nähe raschelte es. Karam wühlte in seinem zusammengestürzten Zelt herum. Er fand ein kleines Bündel.

»Karam?«, sagte Jarid.

Karam warf dem Lord einen Blick zu, dann senkte er den Blick und schnürte einen Geldbeutel an den Gürtel. Plötzlich hielt er inne und lachte, leerte ihn. Die Goldmünzen waren zu einem einzigen Klumpen geschmolzen. Karam steckte den Klumpen ein. Er fischte in dem Beutel herum und holte einen Ring heraus. Der blutrote Edelstein in der Mitte war noch immer einwandfrei. »Vermutlich reicht das heute nicht einmal mehr, um einen Apfel zu kaufen«, murmelte er.

»Ich verlange zu wissen, was Ihr da tut«, knurrte Jarid. »Ist das Euer Werk?« Er deutete auf die abrückenden Soldaten. »Ihr habt eine Meuterei angezettelt, ist es das?«

»Damit habe ich nichts zu tun.« Karam sah beschämt aus. »Und Ihr eigentlich auch nicht. Ich … es tut mir leid.«

Karam verließ den Lichtkreis. Bayrd verspürte Überraschung. Lord Karam und Lord Jarid waren Jugendfreunde.

Lord Davies war der Nächste, lief hinter Karam her. Wollte er den jüngeren Mann aufhalten? Nein, er setzte sich an Karams Seite. Sie verschwanden in der Dunkelheit.

»Dafür bringe ich euch irgendwann zur Strecke!«, brüllte ihnen Jarid mit schriller Stimme hinterher. »Ich werde der Ehemann der Königin sein! Zehn Generationen lang wird euch oder den Angehörigen eurer Häuser kein Mann Unterschlupf gewähren!«

Bayrd betrachtete wieder den Stein in seiner Hand. Nur noch ein Arbeitsschritt war übrig, das Glätten. Eine gute Speerspitze musste geglättet werden, um gefährlich zu sein. Er nahm ein weiteres Stück Granit, das er für den Zweck gesucht hatte, und fing an, die Schieferkante sorgfältig zu schleifen.

Anscheinend kann ich das noch besser als erwartet, dachte er, während Lord Jarid weiterhin tobte.

Eine Speerspitze herzustellen hatte etwas Machtvolles. Die einfache Tätigkeit schien das Zwielicht zurückzudrängen. In der letzten Zeit hatte ein Schatten auf ihm und dem Rest des Lagers gelegen. Es war, als wäre … als könnte er einfach nicht im Licht stehen, ganz egal, wie sehr er sich bemühte. Jeden Morgen erwachte er mit dem Gefühl, als wäre am Vortag ein geliebter Mensch gestorben.

Eine derartige Verzweiflung konnte einen zermürben. Aber etwas zu erschaffen – ganz egal was – kämpfte dagegen an. Das war eine Möglichkeit, um ihn herauszufordern. Der, den niemand beim Namen nannte. Von dem sie alle wussten, dass er dahintersteckte, ganz egal, was Lord Jarid auch sagte.

Bayrd stand auf. Eigentlich hatte er später noch weiter glätten wollen, aber tatsächlich sah die Speerspitze bereits gut aus. Er hob den Speerschaft aus Holz – die Eisenspitze war abgefallen, als das Böse das Lager getroffen hatte – und band die neue Speerspitze genauso fest, wie es ihm sein Großvater vor vielen Jahren beigebracht hatte.

Die anderen Wächter sahen ihn an. »Davon brauchen wir mehr«, sagte Morear. »Falls Ihr dazu bereit seid.«

Bayrd nickte. »Wir kommen auf dem Weg an dem Hügel vorbei, wo ich den Schiefer fand.«

Endlich hörte Jarid auf zu brüllen; im Fackelschein erschienen seine Augen weit aufgerissen. »Nein. Ihr seid meine Leibwache. Ihr verlasst mich nicht!«

Mit Mordlust im Blick warf sich Jarid auf Bayrd, aber Morear und Rosse ergriffen den Lord von hinten. Rosse schien selbst über seine verräterische Tat bestürzt zu sein. Trotzdem ließ er nicht los.

Bayrd steckte ein paar Dinge ein, die neben seiner Bettrolle lagen. Dann nickte er den anderen zu, und sie schlossen sich ihm an – acht Männer aus Lord Jarids Leibwache, die den brüllenden Lord durch die Überreste des Lagers zerrten. Sie passierten rauchende Feuer und eingestürzte Zelte, die von den Männern zurückgelassen wurden, die nun in immer größerer Zahl in die Dunkelheit gingen. Nach Norden. Hinein in den Wind.

Am Lagerrand suchte Bayrd einen knorrigen Baum aus. Er winkte die anderen herbei, und sie nahmen das Seil, das er mitgenommen hatte, und fesselten Lord Jarid an den Stamm. Der Mann brüllte herum, bis Morear ihn mit dem Taschentuch knebelte.

Bayrd trat an ihn heran. Er stopfte ihm einen Wasserschlauch in die Armbeuge. »Wehrt Euch nicht zu sehr, sonst lasst Ihr den fallen, mein Lord. Ihr solltet den Knebel entfernen können, er sieht nicht sehr fest aus, und dann aus dem Schlauch trinken können. Hier, ich schraube ihn auf.«

Jarid starrte Bayrd wild an.

»Das ist nichts Persönliches, mein Lord«, fuhr Bayrd fort. »Ihr habt meine Familie stets anständig behandelt. Aber, nun ja, wir können nicht zulassen, dass Ihr uns folgt und uns das Leben schwer macht. Da gibt es etwas, das wir tun müssen, und Ihr hindert alle daran, es zu tun. Vielleicht hätte jemand früher etwas sagen sollen. Nun, dazu ist es nun zu spät. Manchmal lässt man das Fleisch einfach zu lange hängen, und dann muss das ganze Stück weg.«

Er nickte den anderen zu, die losliefen, um das Bettzeug zu holen. Er zeigte Rosse, in welche Richtung der Schieferbruch lag, und erklärte ihm genau, wonach er suchen musste, um gutes Material für Speerspitzen zu bekommen.

Dann wandte er sich wieder an den noch immer gegen die Fesseln ankämpfenden Lord Jarid. »Das sind nicht die Hexen, mein Lord. Das ist auch nicht Elayne … obwohl ich sie wohl Königin nennen sollte. Schon komisch, ein so hübsches junges Ding als Königin zu betrachten. Ich würde sie lieber in einem Gasthaus auf dem Schoß schaukeln, als mich vor ihr zu verneigen, aber Andor braucht eine Herrscherin, der man nach der Letzten Schlacht folgen kann, und Eure Gemahlin ist das nicht. Es tut mir leid.«

Jarid sackte in seinen Fesseln zusammen, der ganze Zorn schien aus ihm herauszusickern. Er weinte. Irgendwie ein seltsamer Anblick.

»Den Leuten, denen wir begegnen, falls wir welchen begegnen, werde ich sagen, wo Ihr seid«, versprach Bayrd, »und dass Ihr vermutlich ein paar Juwelen habt. Möglicherweise kommen sie Euch holen. Vielleicht.« Er zögerte. »Ihr hättet Euch nicht in den Weg stellen sollen. Alle scheinen zu wissen, was kommt, nur Ihr nicht. Der Drache wurde wiedergeboren, alte Bande werden zerrissen, alte Eide haben ihren Wert verloren … und ich lasse mich eher aufhängen, als dass ich Andor zur Letzten Schlacht marschieren lasse, ohne dabei zu sein.«

Bayrd ging in die Nacht hinein und legte den neuen Speer auf die Schulter. Es gibt sowieso einen Eid, der älter als der zu Eurer Familie ist. Einen Eid, den nicht einmal der Drache ungeschehen machen kann. Es war ein Eid dem Land gegenüber. Die Steine lagen ihm im Blut, und sein Blut war ein Teil der Steine dieser Nation namens Andor.

Bayrd scharte die anderen um sich, und sie gingen nach Norden. Hinter ihnen wimmerte ihr Lord alleingelassen, als schließlich die Geister durch das Lager huschten.


Talmanes zog an Selfars Zügeln und ließ das Pferd tänzeln und den Kopf schütteln. Der Rotschimmel erschien voller unterdrücktem Eifer. Vielleicht spürte er ja die nervöse Stimmung seines Herrn.

Dichter Rauch erfüllte die Nachtluft. Rauch und Schreie. Talmanes führte die Bande an einer Straße entlang, auf der sich rußverschmierte Flüchtlinge drängten. Sie bewegten sich wie Dreck auf der Oberfläche eines schlammigen Flusses.

Die Männer der Bande betrachteten die Flüchtlinge voller Sorge. »Ganz ruhig!«, rief Talmanes ihnen zu. »Wir können nicht den ganzen Weg nach Caemlyn rennen. Ganz ruhig!« Er führte die Männer so schnell an, wie er es wagte, fast schon im Laufschritt. Ihre Rüstungen klirrten. Elayne hatte die Hälfte der Bande zum Feld von Merrilor mitgenommen, einschließlich Estean, und fast die gesamte Kavallerie. Vielleicht glaubte sie, sich für einen schnellen Rückzug bereithalten zu müssen.

Nun, in den Straßen würde man kaum Kavallerie einsetzen können, denn sie waren zweifellos genauso verstopft wie diese Landstraße, davon war Talmanes überzeugt. Selfar schnaubte und schüttelte den Kopf. Sie waren jetzt schon ganz nahe; direkt voraus erhoben sich die Stadtmauern wie ein Schatten in der Nacht und sperrten einen wütenden Lichtschein ein. Als wäre die ganze Stadt eine Feuergrube.

Durch die Gnade des Lichts und in den Staub getretene Banner, zitierte Talmanes fröstelnd in Gedanken. Gewaltige Rauchwolken stiegen aus der Stadt auf. Das war schlimm. Viel schlimmer als bei den Aiel in Cairhien.

Schließlich ließ er Selfar seinen Willen. Der Rotschimmel galoppierte eine Weile am Straßenrand entlang, dann erzwang sich Talmanes zögernd den Weg auf die andere Seite und ignorierte dabei jede Bitte um Hilfe. Die mit Mat verbrachte Zeit ließ ihn sich wünschen, mehr für diese Leute tun zu können. Es war schon äußerst seltsam, dieser Einfluss, den Matrim Cauthon auf einen hatte. Talmanes sah die einfachen Leute mittlerweile in einem ganz anderen Licht. Vielleicht lag es auch nur daran, dass er noch immer nicht wusste, ob er Mat nun als Lord betrachten sollte oder doch nicht.

Auf der anderen Seite der Straße musterte er die brennende Stadt und wartete darauf, dass ihn seine Männer einholten. Er hätte sie alle reiten lassen können – auch wenn es sich nicht um ausgebildete Kavalleristen handelte, verfügte jeder Angehörige der Bande für lange Reisen über ein Pferd. Aber heute Nacht wagte er das nicht. Weil Trollocs und Myrddraal in den Straßen lauerten, brauchte er seine Männer sofort kampfbereit. Armbrustmänner marschierten mit geladenen Waffen neben dicht gedrängten Reihen Pikenträger. Er würde seine Soldaten keineswegs schutzlos einem Trolloc-Angriff aussetzen, ganz egal, wie dringend ihr Einsatz auch war.

Aber wenn sie diese Drachen verlören …

Das Licht erleuchte uns, dachte er. Die Stadt schien zu kochen, wenn man den ganzen Rauch über ihr betrachtete. Doch ein paar Teile der Altstadt – die sich hoch auf dem Hügel erhob und oberhalb der Mauern zu sehen war – brannten noch nicht. Der Palast brannte noch nicht. Ob ihn die dort stationierten Soldaten wohl hielten?

Von der Königin war keine Nachricht gekommen, und soweit er wusste, war keine Hilfe für die Stadt eingetroffen. Die Königin musste noch immer ahnungslos sein, und das war schlimm.

Sehr, sehr schlimm.

Voraus entdeckte er Sandip mit einigen Kundschaftern der Bande. Der schlanke Mann versuchte, sich von einer Gruppe Flüchtlinge zu lösen.

»Bitte, guter Herr«, schluchzte eine junge Frau. »Mein Kind, meine Tochter, auf den Höhen der nördlichen …«

»Ich muss zu meinem Laden«, brüllte ein stämmiger Mann. »Meine Glaswaren …«

»Ihr guten Menschen«, rief Talmanes und drängte sein Pferd zwischen sie, »wenn ihr uns wirklich helfen wollt, dann könntet ihr aus dem Weg gehen und uns erlauben, die verdammte Stadt zu erreichen!«

Widerstrebend machten die Flüchtlinge Platz, und Sandip nickte Talmanes dankbar zu. Mit brauner Haut und dunklen Haaren war Sandip einer der Befehlshaber der Bande und ein erfahrener Feldscher. Aber heute trug der sonst so umgängliche Mann eine grimmige Miene.

»Sandip«, sagte Talmanes und streckte den Arm aus. »Dort!«

In der Nähe drängte sich eine große Gruppe Kämpfer und betrachtete die Stadt.

»Söldner«, stieß Sandip mit einem Grunzen hervor. »Wir sind einigen Gruppen davon begegnet. Niemand schien geneigt zu sein, auch nur einen Finger zu rühren.«

»Das werden wir ja sehen«, sagte Talmanes. Noch immer strömten Menschen hustend aus den Stadttoren, hastig zusammengeraffte Besitztümer auf den Armen, mit weinenden Kindern an der Hand. Dieser Strom würde nicht so bald versiegen. Caemlyn war so voll wie eine Schenke am Markttag; verglichen mit jenen, die noch drinnen waren, würden die, die das Glück gehabt hatten, entkommen zu können, nur einen kleinen Bruchteil ausmachen.

»Talmanes«, sagte Sandip leise. »Diese Stadt wird sich bald in eine Todesfalle verwandeln. Es gibt nicht genügend Ausgänge. Wenn wir zulassen, dass die Bande drinnen eingekesselt wird …«

»Ich weiß. Aber …«

An den Toren durchfuhr die Flüchtlinge ein Gefühl, das sich weiter fortpflanzte. Beinahe war es körperlich zu spüren, ein Schauder. Die Schreie wurden noch lauter. Talmanes fuhr herum; riesige Gestalten bewegten sich in den Schatten des Tores.

»Beim Licht!«, stieß Sandip hervor. »Was ist das?«

»Trollocs!«, sagte Talmanes. »Licht! Sie wollen das Tor erobern, die Flüchtlinge einsperren.« Die Stadt verfügte über fünf Tore; falls die Trollocs sie alle hielten …

Das war bereits ein Gemetzel. Falls die Trollocs die angsterfüllten Menschen an ihrer Flucht hindern konnten, würde es noch viel schlimmer werden.

»Lasst die Reihen schneller vorrücken!«, brüllte Talmanes. »Alle Männer zu den Stadttoren!« Er trieb Selfar zum Galopp an.


An jedem anderen Ort hätte man das Gebäude als Gasthaus bezeichnet, aber außer der Frau mit dem abgestumpften Blick, die sich um die paar schmucklosen Zimmer kümmerte und fade Mahlzeiten zubereitete, war Isam hier noch niemand anderem begegnet. Ein Besuch an diesem Ort war niemals erfreulich. Er saß auf einem harten Hocker an einem Tisch aus Pinienholz, der so alt war, dass er vermutlich schon lange vor seiner Geburt jede Farbe verloren hatte. Er vermied es, zu oft mit der Oberfläche in Berührung zu kommen, damit er sich nicht mehr Splitter einfing, als Aiel Speere hatten.

Ein verbeulter Zinnbecher war mit einer dunklen Flüssigkeit gefüllt, aber Isam trank nicht. Er saß nahe genug am einzigen Fenster des Schenkraums an der Wand, um die ungepflasterte Straße zu beobachten, die jetzt am Abend von ein paar an den Nachbarhäusern hängenden verrosteten Laternen kaum ausreichend beleuchtet wurde. Er achtete darauf, sein Profil nie durch das verdreckte Glas sehen zu lassen. Er schaute nie direkt nach draußen. In dieser Stadt war es immer besser, keine Aufmerksamkeit auf sich zu ziehen.

Die Stadt. Das war der einzige Name, den der Ort hatte, falls man das überhaupt als Namen bezeichnen konnte. Im Verlauf von zweitausend Jahren war diese Siedlung aus primitiv gezimmerten Gebäuden zahllose Male neu errichtet worden. Tatsächlich ähnelte sie sogar einer Stadt von ordentlicher Größe, wenn man die Augen zusammenkniff und nicht genau hinsah. Die meisten Häuser waren von Gefangenen gebaut worden, die oftmals kaum oder auch gar keine Ahnung vom Handwerk hatten. Überwacht hatten sie Männer, die genauso inkompetent gewesen waren. Eine ordentliche Zahl der Gebäude schien lediglich von den Nebenhäusern aufrechterhalten zu werden.

Schweiß rann Isam die Schläfen hinunter, während er verstohlen die Straße im Auge behielt. Wer würde zu ihm kommen?

In der Ferne konnte er nur mühsam die Umrisse des Berges ausmachen, der den Nachthimmel spaltete. Irgendwo scharrte Eisen über Eisen; es klang wie ein stählerner Herzschlag. Auf der Straße bewegten sich Gestalten. In Umhänge gehüllte Männer, deren Gesichter bis zu den Augen von blutroten Schleiern verborgen wurden.

Isam achtete darauf, die Blicke nicht auf ihnen ruhen zu lassen.

Donner grollte. Die Hänge dieses Berges waren voller seltsamer Blitze, die nach oben in die allgegenwärtigen grauen Wolken zuckten. Nur wenige Menschen wussten von dieser Stadt, die nicht weit vom Thakan’dar-Tal entfernt lag, über das sich der Shayol Ghul erhob. Selbst Gerüchte darüber waren nur wenigen bekannt. Isam hätte nichts dagegen gehabt, zu den Unwissenden zu gehören.

Wieder ging ein Mann vorbei. Rote Schleier. Sie hatten sie ständig hochgezogen. Nun, jedenfalls so gut wie immer. Wenn man sah, wie einer den Schleier senkte, war es höchste Zeit, ihn zu töten. Tat man das nicht, tötete er dich. Die meisten der rot verschleierten Männer schienen keinen Grund zu haben, auf der Straße zu sein, wenn man davon absah, dass sie einander finstere Blicke zuwarfen und nach den zahlreichen umherstreunenden wilden Hunden mit den hervortretenden Rippen traten. Die wenigen Frauen, die ihre Unterkünfte verlassen hatten, huschten mit gesenkten Blicken am Straßenrand entlang. Kinder waren keine zu sehen, und vermutlich würde es auch wenige geben. Die Stadt war kein Ort für Kinder. Das wusste Isam. Er war hier aufgewachsen.

Einer der auf der Straße vorbeigehenden Männer schaute zu Isams Fenster und blieb stehen. Isam verharrte reglos. Die Samma N’Sei, die Sichtblender, waren schon immer empfindlich und voller Stolz gewesen. Nein, empfindlich traf es nicht einmal annähernd. Sie brauchten keinen besonderen Grund, um mit dem Messer auf einen der Talentlosen loszugehen. Für gewöhnlich war es einer der Diener, der daran glauben musste. Für gewöhnlich.

Der rot verschleierte Mann starrte weiterhin in seine Richtung. Isam beruhigte seine Nerven und starrte bewusst nicht zurück. Der Befehl, sich hier einzufinden, war dringend gewesen, und man ignorierte solche Dinge nicht, wenn man überleben wollte. Trotzdem … sollte der Mann noch einen Schritt auf das Gebäude zu machen, würde er hinüber ins Tel’aran’rhiod wechseln, in dem sicheren Wissen, dass ihm von diesem Ort nicht einmal einer der Auserwählten würde folgen können.

Abrupt wandte sich der Samma N’Sei vom Fenster ab. Wie ein Blitz bewegte er sich von dem Haus fort. Isams Anspannung ließ etwas nach, aber sie würde nie ganz verschwinden, nicht an diesem Ort. Obwohl er seine Kindheit hier verbracht hatte, war dieser Ort nicht sein Zuhause. Dieser Ort war der Tod.

Etwas bewegte sich. Isam blickte zum Ende der Straße. Ein hochgewachsener Mann kam auf ihn zu; er trug einen schwarzen Mantel und einen ebenfalls schwarzen Umhang, und sein Gesicht war entblößt. Unglaublicherweise leerte sich die Straße, als Samma N’Sei fluchtartig in Gassen und Nebenstraßen verschwanden.

Also handelte es sich um Moridin. Isam hatte den ersten Besuch des Auserwählten in der Stadt nicht miterlebt, aber er hatte davon gehört. Die Samma N’Sei hatten Moridin für einen der Talentlosen gehalten, bis er ihnen das Gegenteil bewies. Ihm waren ihre Einschränkungen fremd.

Die Zahl der toten Samma N’Sei unterschied sich je nach Erzähler, aber es waren nie weniger als ein Dutzend. Was er jetzt beobachtete, verriet Isam, dass es sich wohl um die Wahrheit handeln musste.

Als Moridin die Schenke erreichte, waren nur noch die Hunde auf der Straße. Und Moridin ging daran vorbei. Isam verfolgte seinen Weg so aufmerksam, wie er es wagte. Moridin schien weder an ihm noch an der Schenke interessiert zu sein, aber der Befehl hatte gelautet, hier zu warten. Vielleicht hatte der Auserwählte noch etwas anderes zu erledigen, und er war zweitrangig.

Nachdem Moridin außer Sicht war, nahm Isam endlich ein Schluck von der dunklen Flüssigkeit. Bei den Stadtbewohnern hieß sie bloß »Feuer«. Sie machte ihrem Namen alle Ehre. Angeblich hatte sie Ähnlichkeit mit einem Getränk aus der Wüste. Wie alles andere in der Stadt war es die korrumpierte Version des Originals.

Wie lange würde Moridin ihn wohl warten lassen? Es gefiel ihm hier nicht. Es erinnerte ihn zu sehr an seine Kindheit. Eine Dienerin kam – das Kleid der Frau bestand praktisch nur noch aus Lumpen – und knallte einen Teller auf den Tisch. Sie wechselten kein Wort.

Isam warf einen Blick auf die Mahlzeit. Klein geschnittenes und zerkochtes Gemüse – hauptsächlich Zwiebeln und Pfefferschoten. Er probierte, dann seufzte er und schob den Teller weg. Das Gemüse war so geschmacklos wie ungewürzter Hirsebrei. Fleisch gab es gar keins. Das war eigentlich sogar von Vorteil; er aß nicht gern Fleisch, solange er es nicht selbst erlegt hatte. Das rührte noch aus seiner Kindheit her. Hatte man es nicht selbst geschlachtet, konnte man sich nie sicher sein. Jedenfalls nicht hundertprozentig. Hier oben bestand bei Fleisch durchaus die Möglichkeit, dass das Tier im Süden gefangen worden war oder es sich um eines handelte, das hier oben aufgezogen worden war, also eine Kuh oder eine Ziege.

Es konnte aber auch etwas ganz anderes sein. Verlor jemand beim Spiel und konnte seine Wettschulden nicht bezahlen, dann verschwand er. Und oft wurden die Samma N’Sei, die nicht so zur Welt gekommen waren, wie sie sollten, bei der Ausbildung aussortiert. Sie verschwanden. Nur selten erlebten Leichen noch ihr Begräbnis.

Man sollte diesen Ort niederbrennen, dachte Isam mit aufgewühltem Magen. Ihn einfach niederbrennen, und zwar mit …

Jemand betrat die Schenke. Unglücklicherweise konnte Isam von seinem Platz aus nicht beide Zugänge beobachten. Sie war eine hübsche Frau in einem schwarzen, mit Rot abgesetzten Kleid. Isam erkannte weder ihre schlanke Gestalt noch das zarte Gesicht. Eigentlich war er der festen Überzeugung, sämtliche der Auserwählten erkennen zu können; er hatte sie oft genug im Traum beobachtet. Natürlich wussten sie das nicht. Sie hielten sich für die Herren dieses Ortes, und einige von ihnen waren sehr geschickt.

Aber er war genauso geschickt und außerordentlich gut darin, nicht gesehen zu werden.

Wer auch immer das war, sie hatte also eine Verkleidung angelegt. Warum sich an diesem Ort damit abgeben? Aber was nun auch dahintersteckte, sie musste diejenige sein, die ihn herbefohlen hatte. Keine Frau kam mit solcher Selbstsicherheit und hochmütigem Ausdruck in die Stadt, als würde sie noch von den Steinen erwarten, dass sie sprangen, wenn man es ihnen befahl. Isam ließ sich langsam auf ein Knie sinken.

Die Bewegung weckte den Schmerz in seinem Bauch, wo er verwundet worden war. Er hatte sich noch immer nicht von dem Kampf mit dem Wolf erholt. Etwas regte sich in ihm; Luc hasste Aybara. Ungewöhnlich. Normalerweise war Luc eher derjenige, der Verständnis hatte, und Isam der Harte. Nun, so sah er sich eben.

Aber was diesen besonderen Wolf anging, teilten sie eine Meinung. Einerseits war Isam begeistert; als Jäger hatte er es nur selten mit einer Herausforderung wie Aybara zu tun gehabt. Aber sein Hass saß tief. Er würde Aybara töten.

Isam überspielte die schmerzerfüllte Grimasse und senkte den Kopf. Die Frau ließ ihn dort knien und setzte sich an den Tisch. Ein paar Augenblicke lang klopfte sie mit dem Finger gegen den Zinnbecher, starrte den Inhalt an und schwieg.

Isam verhielt sich still. Viele der Narren, die sich selbst hochtrabend Schattenfreunde nannten, wanden sich, wenn jemand Macht über sie hatte. Tatsächlich würde sich Luc vermutlich ebenfalls winden, wie er zögernd zugeben musste.

Isam war ein Jäger. Mehr wollte er auch nicht sein. Wenn man damit zufrieden war, was man darstellte, dann gab es auch keinen Grund, sich darüber zu ärgern, wenn man auf seinen Platz verwiesen wurde.

Verflucht, die Seite seines Bauches brannte wirklich.

»Ich will ihn tot sehen«, sagte die Frau. Ihre Stimme war leise, aber voller Gefühle.

Isam sagte nichts.

»Ich will, dass man ihn wie ein Tier ausweidet, dass seine Gedärme zu Boden purzeln, dass sein Blut von den Raben getrunken wird, dass seine Knochen in der Hitze der Sonne bleichen und schließlich ganz grau werden und zerspringen. Ich will ihn tot sehen, Jäger.«

»Al’Thor.«

»Ja. Du hast in der Vergangenheit versagt.« Ihre Stimme war wie Eis. Ein Frösteln überkam ihn. Diese Frau war hart. So hart wie Moridin.

Nach den vielen Jahren seiner Dienste hatte er für die meisten Auserwählten schließlich nur noch Verachtung übrig. Trotz ihrer Macht und angeblichen Weisheit stritten sie sich wie die Kinder. Diese Frau ließ ihn aufhorchen, und er fragte sich, ob er sie tatsächlich alle ausspioniert hatte. Sie schien anders zu sein.

»Und?«, fragte sie. »Kannst du deine Fehlschläge rechtfertigen?«

»Jedes Mal, wenn mich einer der anderen mit dieser Jagd beauftragte, berief mich ein anderer wieder ab und wies mir eine neue Aufgabe zu.«

In Wahrheit hätte er lieber seine Jagd auf den Wolf fortgesetzt. Er würde keine Befehle ignorieren, jedenfalls nicht, wenn sie direkt von den Auserwählten kamen. Abgesehen von Aybara war eine Jagd für ihn genau wie die andere. Falls es sein musste, würde er diesen Drachen töten.

»Das wird dieses Mal nicht geschehen«, verkündete die Auserwählte, die noch immer seinen Becher anstarrte. Bis jetzt hatte sie ihn noch nicht angesehen, und sie hatte ihm auch nicht die Erlaubnis erteilt aufzustehen, also blieb er knien. »Die anderen haben alle ihren Anspruch auf dich aufgegeben. Und solange der Große Herr selbst dir keinen anderen Befehl erteilt, solange er dich nicht selbst zu sich zitiert, wirst du diese Aufgabe behalten. Töte al’Thor.«

Eine Bewegung vor dem Fenster veranlasste Isam, zur Seite zu blicken. Die Auserwählte sah nicht hin, als eine Gruppe Gestalten mit schwarzen Kapuzen vorbeieilte. Der Wind schien ihren Umhängen nichts anhaben zu können.

Begleitet wurden sie von Kutschen; ein in der Stadt ungewöhnlicher Anblick. Die Kutschen bewegten sich langsam und schaukelten dennoch auf der schlechten Straße. Isam brauchte keinen Blick auf die mit Vorhängen verhüllten Kutschenfenster zu werfen, um zu wissen, dass dort dreizehn Frauen fuhren. Genau die gleiche Anzahl wie die Myrddraal. Keiner der Samma N’Sei kehrte auf die Straße zurück. Für gewöhnlich mieden sie derartige Prozessionen. Aus offensichtlichen Gründen hatten sie tief verwurzelte Ansichten, was solche Dinge anging.

Die Kutschen passierten die Schenke. Hatte man also noch einen erwischt. Isam hätte geglaubt, dass diese Praxis nach der Säuberung des Makels ein Ende fand.

Bevor er den Blick wieder dem Boden der Schenke zuwenden konnte, sah er zufällig etwas, das überhaupt nicht hierherpasste. Aus den Schatten einer auf der anderen Straßenseite abzweigenden Gasse schaute ein kleines, schmutziges Gesicht zu. Weit aufgerissene Augen, aber eine verstohlene Haltung. Moridin und das Kommen mehrerer Dreizehn hatten die Samma N’Sei von der Straße vertrieben. Waren sie nicht da, konnten sich die Straßenkinder einer gewissen Sicherheit erfreuen. Vielleicht.

Isam wollte dem Kind zubrüllen, dort zu verschwinden. Einfach loszurennen, das Risiko einzugehen und zu versuchen, die Fäule zu durchqueren. Im Magen eines Wurms zu sterben war immer noch besser, als in dieser Stadt zu leben und zu erleiden, was sie mit einem anstellte. Geh! Flieh! Stirb!

Der Augenblick ging schnell vorüber, der Straßenbengel zog sich in die Schatten zurück. Isam wusste noch ganz genau, wie es war, dieses Kind zu sein. Damals hatte er so viel gelernt. Wie man etwas zu essen fand, das halbwegs vertrauenswürdig war und man nicht wieder auskotzen musste, sobald man herausgefunden hatte, was es eigentlich war. Wie man mit dem Messer kämpfte. Wie man vermied, gesehen oder bemerkt zu werden.

Und natürlich wie man einen Mann tötete. Jeder, der lange genug in der Stadt überlebte, lernte diese besondere Lektion.

Die Auserwählte starrte seinen Becher noch immer an. Ihm wurde klar, dass sie ihr Spiegelbild betrachtete. Was sah sie wohl darin?

»Ich werde Hilfe brauchen«, sagte er schließlich. »Der Wiedergeborene Drache hat Leibwächter, und er hält sich nur sehr selten im Traum auf.«

»Für Hilfe ist gesorgt«, erwiderte sie leise. »Aber du musst ihn finden, Jäger. Keines deiner üblichen Spielchen, zu versuchen, ihn zu dir zu locken. Lews Therin wird eine solche Falle spüren. Davon abgesehen wird er jetzt nicht mehr von seiner Sache abrücken. Die Zeit wird knapp.«

Sie sprach von dem katastrophalen Einsatz in den Zwei Flüssen. Damals hatte Luc das Kommando gehabt. Denn was wusste Isam schon von echten Städten und echten Menschen? Fast hätte er so etwas wie ein Verlangen nach diesen Dingen verspürt, obwohl das vermutlich Lucs Gefühle waren. Isam war bloß ein Jäger. Menschen waren nur von geringem Interesse für ihn, abgesehen von Dingen wie der besten Stelle für einen Pfeil, um das Herz zu treffen.

Dieses Unternehmen in den Zwei Flüssen allerdings … Das stank wie ein Kadaver, den man einfach zum Verwesen liegen gelassen hatte. Er kannte noch immer nicht die wahren Gründe. Sollte wirklich al’Thor damit angelockt werden, oder hatte man Isam bloß von irgendwelchen wichtigen Ereignissen fernhalten wollen? Er wusste, dass die Auserwählten von seinen Fähigkeiten fasziniert waren; er konnte etwas tun, das ihnen verwehrt blieb. Sicher, sie konnten die Weise imitieren, auf die er den Traum betrat, aber sie mussten dazu die Macht lenken, brauchten Wegetore und Zeit.

Er war es leid, eine Figur in ihren Spielen zu sein. Sollte man ihn doch einfach nur jagen lassen; sollte man aufhören, jede Woche ein neues Wild auszusuchen.

Aber so etwas sagte man den Auserwählten nicht ins Gesicht. Er behielt seine Einwände für sich.

Schatten verdunkelten den Eingang der Schenke, und die Magd verschwand im hinteren Raum. Damit waren allein Isam und die Auserwählte im Gemeinschaftsraum.

»Du darfst aufstehen«, sagte sie.

Isam gehorchte hastig, als zwei Männer den Raum betraten. Groß, muskulös und mit roten Schleiern. Sie trugen braune Kleidung wie Aiel, hatten aber weder Speere noch Bögen. Diese Kreaturen töteten mit viel tödlicheren Waffen.

Obwohl Isam sich nichts anmerken ließ, stiegen in ihm Gefühle auf. Eine Kindheit voller Schmerzen, Hunger und Tod. Ein ganzes Leben lang die Bemühung, den Blick solcher Männer zu meiden. Es kostete ihn große Anstrengung, nicht zu zittern, als die Männer mit der Anmut natürlicher Raubtiere zum Tisch kamen.

Die Männer senkten die Schleier und entblößten die Zähne. Soll man mich doch zu Asche verbrennen! Ihre Zähne waren spitz zugefeilt.

Sie waren Umgedreht worden. Man konnte es in ihren Augen sehen – Augen, die nicht ganz richtig waren, nicht ganz menschlich.

Um ein Haar wäre Isam in diesem Augenblick in den Traum gegangen. Er konnte diese Männer nicht beide töten. Er wäre nur noch Asche gewesen, bevor ihm gelungen wäre, einen von ihnen zu erwischen. Er hatte die Samma N’Sei töten sehen. Manchmal taten sie es bloß, um neue Möglichkeiten in der Benutzung ihrer Macht auszuprobieren.

Sie griffen nicht an. Wussten sie, dass diese Frau eine Auserwählte war? Aber warum senkten sie dann die Schleier? Samma N’Sei senkten niemals die Schleier, solange sie nicht töten wollten – und das auch nur, wenn sie es ganz besonders gierig erwarteten.

»Sie werden dich begleiten«, verkündete die Auserwählte. »Du sollst auch eine Handvoll der Talentlosen bekommen, um mit al’Thors Leibwächtern fertigzuwerden.« Sie wandte sich ihm zu und erwiderte zum ersten Mal seinen Blick. Sie erschien … angewidert. Als ekelte es sie an, seine Hilfe zu brauchen.

Sie werden dich begleiten, hatte sie gesagt. Und nicht, sie werden dir »dienen«.

Verflucht. Das würde ein wirklich abscheulicher und hassenswerter Auftrag werden.


Talmanes warf sich zur Seite und entging nur knapp der Axt des Trollocs. Der Boden erbebte, als die Axt auf dem Straßenpflaster zerbrach; er duckte sich und rammte der Kreatur seine Klinge in den Oberschenkel. Das Ding hatte eine Stierschnauze, und es warf den Kopf zurück und blökte.

»Verflucht, du stinkst ja schrecklich aus dem Maul«, knurrte Talmanes, riss das Schwert heraus und trat zurück. Die Kreatur brach zusammen, und er hackte ihre Waffenhand ab.

Keuchend tänzelte er zurück, während zwei seiner Gefährten dem Trolloc die Speere in den Rücken rammten. Trollocs bekämpfte man immer am besten als Gruppe. Nun, eigentlich kämpfte man immer am besten als Gruppe, egal gegen wen, aber zog man Größe und Kraft der Tiermenschen in Betracht, war es bei ihnen noch wichtiger.

Leichen lagen wie Müllhaufen in der Nacht. Talmanes war gezwungen gewesen, die Wächterhäuser am Stadttor anzuzünden, damit sie Licht hatten; das ungefähr halbe Dutzend Wächter, die übrig geblieben waren, waren für den Augenblick Rekruten der Bande.

Einer schwarzen Welle gleich zogen sich die Trollocs vom Tor zurück. Der Angriff hatte sie ihre Reihen zu sehr auseinanderziehen lassen. Natürlich hatte man sie dazu gedrängt. Ein Halbmensch war bei der Gruppe gewesen. Talmanes berührte die Wunde in seiner Seite. Sie war feucht.

Die Wächterhäuser brannten kaum noch. Er würde den Befehl geben müssen, ein paar der umstehenden Läden anzuzünden. Zwar ging man dabei das Risiko ein, dass sich das Feuer weiter ausbreitete, aber die Stadt war ohnehin verloren. Sinnlos, jetzt noch Zurückhaltung üben zu wollen. »Brynt!«, rief er. »Zündet den Stall da an!«

Sandip kam herbei, während Brynt mit einer Fackel loslief. »Die kommen wieder. Vermutlich schon bald.«

Talmanes nickte. Da der Kampf im Augenblick beendet war, fluteten die Einwohner aus Gassen und Verstecken, schlugen zaghaft die Richtung zum Tor und damit zur vermeintlichen Sicherheit ein.

»Wir können nicht hierbleiben und dieses Tor halten«, sagte Sandip. »Die Drachen …«

»Ich weiß. Wie viele Männer haben wir verloren?«

»Ich habe noch keine Zählung veranlasst. Mindestens hundert.«

Beim Licht, Mat zieht mir die Haut ab, wenn er davon hört. Mat hasste es, Männer zu verlieren. Dieser Mann verfügte über eine Weichheit, die in etwa seinem Genie gleichkam – eine merkwürdige, aber durchaus inspirierende Kombination. »Schickt ein paar Späher los, die in der Nähe die Straßen überwachen und nach anrückendem Schattengezücht Ausschau halten sollen. Schichtet ein paar dieser Trolloc-Kadaver auf, um Straßensperren zu errichten; die funktionieren dazu genauso gut wie alles andere. Ihr da, Soldat!«

Einer der erschöpften Soldaten, die gerade vorbeigingen, erstarrte. Er trug die Farben der Königin. »Mein Lord?«

»Wir müssen die Leute wissen lassen, dass dieses Tor sicher ist, wenn man die Stadt verlassen will. Gibt es ein Hornsignal, das andoranische Untertanen erkennen würden? Etwas, das sie herbringt?«

»›Untertanen‹«, wiederholte der Mann nachdenklich. Das Wort schien ihm nicht zu gefallen. Hier in Andor wurde es nur selten benutzt. »Ja, der Königinnenmarsch.«

»Sandip?«

»Ich setze die Signaltrompeter darauf an, Talmanes«, sagte Sandip.

»Gut.« Talmanes kniete nieder, um sein Schwert am Hemd eines toten Trollocs zu säubern; seine Seite schmerzte. Die Wunde war nicht schlimm. Nicht nach normalen Maßstäben. Eigentlich kaum mehr als ein Kratzer.

Das Hemd war so dreckig, dass er seine Waffe beinahe nicht damit gereinigt hätte, aber Trolloc-Blut war schlecht für eine Klinge, also wischte er das Schwert ab. Die Schmerzen in seiner Seite ignorierend, erhob er sich wieder und ging zurück zum Tor, wo er Selfar angebunden hatte. Er hatte es nicht gewagt, das Pferd gegen Schattengezücht einzusetzen. Er war ein guter Wallach, der aber nicht in den Grenzländern ausgebildet worden war.

Keiner der Männer hatte etwas dagegen einzuwenden, als er in den Sattel stieg und Selfar nach Westen lenkte, aus der Stadt heraus zu den Söldnern, die er zuvor dabei beobachtet hatte, wie sie bloß zuschauten. Es überraschte ihn nicht, dass sie der Stadt in der Zwischenzeit näher gekommen waren. Ein Kampf zog Krieger an wie ein Feuer frierende Reisende in einer Winternacht.

Sie hatten nicht in den Kampf eingegriffen. Talmanes wurde von einer kleinen Gruppe Söldner begrüßt: sechs Männer mit überaus starken Armen und vermutlich wenig Hirn im Schädel. Sie erkannten ihn und die Bande. Mat war in letzter Zeit zu einer richtigen Berühmtheit geworden, und damit auch die Bande. Zweifellos entging ihnen auch nicht das Trolloc-Blut an seiner Kleidung und der Verband an seiner Seite.

Mittlerweile brannte diese Wunde wirklich schlimm. Talmanes zügelte Selfar, dann klopfte er geduldig die Satteltaschen ab. Irgendwo habe ich hier noch Tabak …

»Und?«, fragte einer der Söldner. Der Anführer war leicht zu erkennen; er trug die teuerste Rüstung. Oftmals wurde man zum Anführer einer solchen Gruppe, einfach weil man am Leben blieb.

Talmanes fischte seine zweitbeste Pfeife aus der Satteltasche. Wo war der Tabak? Er nahm nie die beste Pfeife mit in die Schlacht. Sein Vater hatte immer behauptet, das würde nur Unglück bringen.

Ah, dachte er und zog den Tabaksbeutel hervor. Er stopfte etwas davon in den Pfeifenkopf, dann zog er einen Zündzweig hervor und beugte sich vor, um ihn in die Fackel zu halten, die ein misstrauischer Söldner hielt.

»Solange man uns nicht bezahlt, kämpfen wir auch nicht«, verkündete der Anführer. Er war ein stämmiger Mann, überraschend sauber, allerdings hätte sein Bart mal geschnitten werden müssen.

Talmanes zündete die Pfeife an und blies ein paar Rauchwolken. Hinter ihm ertönten die Signalhörner. Wie sich herausstellte, hatte der Königinnenmarsch eine eingängige Melodie. Die Signale wurden von Schreien untermalt, und Talmanes drehte sich um. Trollocs kamen die Hauptstraße herunter, diesmal ein größerer Haufen.

Armbrustmänner nahmen in Reihen Aufstellung und eröffneten nach einem Befehl, den Talmanes nicht hören konnte, das Feuer.

»Solange man uns nicht …«, fing der Anführer wieder an.

»Wisst Ihr, was das ist?«, fragte Talmanes leise um das Mundstück seiner Pfeife herum. »Das ist der Anfang vom Ende. Das ist der Untergang der Nationen und die Vereinigung aller Menschen. Das ist die Letzte Schlacht, Ihr verfluchter Narr!«

Die Männer scharrten unbehaglich mit den Füßen.

»Sprecht Ihr … sprecht Ihr für die Königin?«, fragte der Anführer und versuchte noch etwas zu retten. »Ich will bloß dafür sorgen, dass meine Männer versorgt sind.«

»Wenn ihr kämpft«, sagte Talmanes, »dann verspreche ich euch allen eine große Belohnung.«

Der Mann wartete.

»Ich verspreche euch, dass ihr weiteratmen könnt«, sagte Talmanes und sog den Rauch ein.

»Soll das eine Drohung sein, Cairhiener?«

Talmanes blies den Rauch aus, dann beugte er sich auf seinem Sattel vor und näherte sich mit seinem Gesicht dem Anführer. »Heute Nacht tötete ich einen Myrddraal, Andoraner«, sagte er leise. »Er fügte mir einen Kratzer mit einer Thakan’dar-Klinge zu, und die Wunde ist schwarz. Das bedeutet, dass ich bestenfalls ein paar Stunden habe, bevor mich das Gift der Klinge von innen verbrennt und ich auf die schmerzhafteste Weise sterben werde, auf die ein Mann sterben kann. Darum schlage ich vor, mein Freund, dass Ihr mir glaubt, wenn ich Euch sage, dass ich wirklich nichts mehr zu verlieren habe.«

Der Mann blinzelte.

»Ihr habt zwei Möglichkeiten«, sagte Talmanes, drehte sein Pferd und wandte sich laut an die Gruppe. »Ihr könnt wie der Rest von uns kämpfen und helfen, dass diese Welt noch neue Tage erlebt, und vielleicht bekommt ihr am Ende sogar ein paar Münzen. Ich kann das nicht versprechen. Oder ihr könnt hier rumsitzen, zusehen, wie Menschen abgeschlachtet werden, und euch sagen, dass ihr nicht umsonst arbeitet. Wenn ihr Glück habt und es dem Rest von uns gelingt, die Welt auch ohne eure Hilfe zu retten, dann atmet ihr lange genug, damit man euch an euren feigen Hälsen aufknüpfen kann.«

Schweigen. Hinter ihnen bliesen Hörner in der Dunkelheit.

Der Söldnerführer sah seine Gefährten an. Sie nickten zustimmend.

»Geht und helft, dieses Tor zu halten«, sagte Talmanes. »Ich rekrutiere die anderen Söldnergruppen, damit sie uns unterstützen.«


Leilwin betrachtete die vielen verschiedenen Lager, die sich an dem Ort ausbreiteten, der als Feld von Merrilor bekannt war. Da die Wolken am Himmel nun in der Nacht den Mond und die Sterne völlig verdeckten, konnte sie sich beinahe vorstellen, dass die Kochfeuer Schiffslaternen in einem belebten Hafen waren.

Vermutlich ein Anblick, den sie nie wieder zu Gesicht bekommen würde. Leilwin Schiffslos war kein Kapitän, und sie würde es auch nie wieder sein. Es sich zu wünschen würde der Natur dessen widersprechen, wozu sie geworden war.

Bayle legte ihr die Hand auf die Schulter. Dicke Finger, schwielig von vielen arbeitsreichen Tagen. Sie griff nach oben und legte ihre Hand darauf. Es war leichtgefallen, sich in Tar Valon durch eines dieser Wegetore zu schleichen. Bayle kannte sich in der Stadt aus, auch wenn ihn der Aufenthalt dort nicht glücklich gemacht hatte. »Dieser Ort bereiten mir eine Gänsehaut«, hatte er gesagt, »ich wollten nie wieder durch diese Straßen gehen. Das wollten ich wirklich nicht.«

Trotzdem hatte er sie begleitet. Ein guter Mann, dieser Bayle Domon. Wie sie keinen besseren in diesem fremden Land hätte finden können, auch wenn er in seiner Vergangenheit zwielichtigen Handel betrieben hatte. Aber das lag hinter ihm. Falls er nicht begriff, wie man sich richtig zu verhalten hatte, versuchte er es zumindest.

»Das sein ein Anblick«, sagte er und betrachtete das stumme Lichtermeer. »Was wollen du jetzt machen?«

»Wir finden Nynaeve al’Meara oder Elayne Trakand.«

Bayle kratzte sich das bärtige Kinn; er trug den Bart in der Mode der Illianer: mit glatt rasierter Oberlippe. Die Haare auf seinem Kopf wiesen unterschiedliche Längen auf; nachdem sie ihm die Freiheit geschenkt hatte, hatte er aufgehört, die eine Kopfseite zu rasieren. Natürlich hatte sie das nur getan, damit sie heiraten konnten.

Aber jetzt erwies es sich als Vorteil; der rasierte Schädel hätte hier nur Aufmerksamkeit erregt. Er war ein ganz ordentlicher So’jhin gewesen, nachdem gewisse … Dinge geregelt gewesen waren. Aber am Ende hatte sie sich jedoch eingestehen müssen, dass Bayle Domon nicht zum So’jhin bestimmt war. Dazu hatte er einfach zu viele Kanten, und keine Dünung würde diese scharfen Ecken jemals glätten. Genauso wollte sie ihn auch, obwohl sie das niemals zugegeben hätte.

»Es sein schon spät, Leilwin«, sagte er. »Vielleicht wir sollten warten bis morgen früh.«

Nein. Die Lager strahlten Ruhe aus, das schon, aber es war nicht die Ruhe von Schlaf. Es war die Ruhe von Schiffen, die auf den richtigen Wind warteten.

Sie wusste nur wenig über das, was hier vorging – sie hatte es nicht gewagt, in Tar Valon Fragen zu stellen, denn ihr Akzent hätte sie als Seanchanerin entlarvt. Eine Versammlung dieser Größe geschah nicht ohne vorherige genaue Planung. Die Ausdehnung überraschte sie; sie hatte nur gehört, dass hier ein Treffen stattfinden sollte, an dem die meisten Aes Sedai teilnahmen. Das hier übertraf jede Erwartung.

Leilwin setzte sich in Bewegung, und Bayle folgte ihr. Sie gesellten sich wieder zu der Gruppe Diener aus Tar Valon, die sie dank Bayles Bestechungsgeld hatten begleiten dürfen. Seine Methoden erfreuten sie nicht, aber ihr war auch keine andere Möglichkeit eingefallen. Sie bemühte sich, nicht zu intensiv über seine früheren Kontakte in Tar Valon nachzudenken. Nun, wenn sie nie wieder ein Schiff betreten würde, würde Bayle auch keine Gelegenheit zum Schmuggeln haben. Immerhin ein kleiner Trost.

Du bist Schiffskapitän. Das ist alles, was du kannst, alles, was du willst. Und jetzt, schiffslos. Ein Frösteln durchfuhr sie, und sie ballte die Hände zu Fäusten, damit sie nicht die Arme um den Körper schlang. Den Rest ihrer Tage auf dem ewig gleichen Land verbringen zu müssen, sich niemals schneller bewegen zu können, als ein Pferd lief, niemals mehr die Luft weit draußen auf dem Meer riechen zu können, niemals wieder den Bug auf den Horizont zu richten, den Anker zu lichten, die Segel zu setzen und einfach …

Sie schüttelte sich. Nynaeve und Elayne finden. Sie mochte schiffslos sein, aber sie würde nicht zulassen, dass sie in die Tiefe sank und ertrank. Sie schlug ihren Kurs ein und ging los. Bayle duckte sich misstrauisch zusammen und versuchte, alle um sie herum gleichzeitig im Auge zu behalten. Ein paarmal sah er auch sie an, die Lippen zu einem schmalen Strich verzogen. Mittlerweile wusste sie, was das bedeutete.

»Was ist?«

»Leilwin, was wir hier wollen?«

»Das habe ich dir doch erklärt. Wir müssen sie finden!«

»Ja, aber warum? Was glaubst du können zu tun? Sie sind Aes Sedai.«

»Sie erwiesen mir schon zuvor Respekt.«

»Also du glauben, sie nehmen uns auf?«

»Vielleicht.« Sie musterte ihn. »Sprich es aus, Bayle. Du deutest etwas an.«

Er seufzte. »Warum muss man uns aufnehmen? Wir könnten irgendwo ein Schiff für uns finden, in Arad Doman. Wo sein weder Aes Sedai oder Seanchaner.«

»Ich würde nicht die Art Schiff führen, wie du sie schätzt.«

Er sah sie ausdruckslos an. »Ich weiß, wie man führt ein ehrliches Geschäft, Leilwin. Es wäre kein …«

Sie hob die Hand und brachte ihn zum Schweigen, dann legte sie sie ihm auf die Schulter. Sie blieben auf dem Pfad stehen. »Ich weiß, mein Geliebter. Ich weiß. Ich sage Dinge, um mich abzulenken, damit wir uns auf einem Strom drehen, der nirgendwohin führt.«

»Warum?«

Das eine Wort quälte sie wie ein Splitter unter einem Fingernagel. Warum? Warum war sie diesen langen Weg gegangen, war mit Matrim Cauthon gereist, hatte sich in die gefährliche Nähe der Tochter der Neun Monde begeben? »Mein Volk sieht die Welt auf eine gravierende Weise verkehrt. Und damit erschafft es ein Unrecht.«

»Man hat dich verstoßen, Leilwin«, sagte er leise. »Du sein nicht länger eine von ihnen.«

»Ich werde immer eine von ihnen sein. Mein Name wurde mir genommen, aber nicht mein Blut.«

»Die Beleidigung tun mir leid.«

Sie nickte knapp. »Ich stehe noch immer loyal zur Kaiserin, möge sie ewig leben. Aber die Damane … sie sind das Fundament ihrer Herrschaft. Mit ihnen sorgt sie für Ordnung, mit ihnen hält sie das Kaiserreich zusammen. Und die Damane sind eine Lüge.«

Sul’dam konnten die Macht lenken. Dieses Talent konnte erlernt werden. Noch Monate nachdem sie die Wahrheit entdeckt hatte, konnte sie längst nicht sämtliche Folgen überblicken. Ein anderer wäre mehr am politischen Nutzen interessiert gewesen, ein anderer wäre nach Seanchan zurückgekehrt und hätte diese Entdeckung dazu benutzt, um Macht zu erlangen. Beinahe wünschte sie sich, sie hätte genau das getan. Beinahe.

Aber das Flehen der Sul’dam … als sie diese Aes Sedai näher kennengelernt hatte, die so ganz anders waren, als man ihr ein Leben lang eingehämmert hatte …

Etwas musste geschehen. Aber wenn sie es tat, ging sie dann nicht das Risiko ein, das Kaiserreich zu Fall zu bringen? Sie musste sich sehr sorgfältig überlegen, wie sie vorging, wie bei den letzten Zügen einer Partie Shal.

Sie folgten der Dienerreihe in der Dunkelheit; Aes Sedai schickten oft Diener nach Dingen, die sie in der Weißen Burg zurückgelassen hatten, also war es nichts Besonderes, dass jemand hin- und herreiste – für Leilwin ein Vorteil. Sie passierten die Grenze des Aes-Sedai-Lagers, ohne angehalten zu werden.

Diese Mühelosigkeit überraschte sie, bis sie mehrere Männer am Wegesrand entdeckte. Sie waren leicht zu übersehen; etwas an ihnen ließ sie mit ihrer Umgebung verschmelzen, vor allem in der Dunkelheit. Sie bemerkte sie erst, als sich einer von ihnen bewegte und nur ein kurzes Stück hinter ihr und Bayle herging.

Sekunden später war es offensichtlich, dass er sie beide ausgesondert hatte. Vielleicht lag es an ihrer Gangart, ihrer Haltung. Sie hatten sich absichtlich schlicht gekleidet, allerdings wies Bayles Bart ihn als Illianer aus.

Leilwin blieb stehen, legte eine Hand auf Bayles Arm und drehte sich dann um, um sich ihrem Verfolger zu stellen. Anhand von Beschreibungen schloss sie, dass er ein Behüter war.

Der Behüter trat näher. Noch immer befanden sie sich an der Lagergrenze; die Zelte waren kreisförmig aufgestellt. Mit Unbehagen war ihr aufgefallen, dass einige Zelte von einem Licht erhellt wurden, das zu gleichmäßig brannte, um von einer Kerze oder Lampe zu stammen.

»Ho«, sagte Bayle und hob freundlich eine Hand. »Wir suchen eine Aes Sedai mit Namen Nynaeve al’Meara. Sein sie nicht hier, dann vielleicht die, die Elayne Trakand heißen?«

»Keine von ihnen hat hier ihr Lager aufgeschlagen«, sagte der Behüter. Er war ein kleiner Mann, aber stämmig. Mit diesen kräftigen Beinen hätte er einen guten Matrosen abgegeben. Seine Züge sahen … unfertig aus. Von einem Bildhauer aus dem Stein gemeißelt, der dann nach halber Arbeit das Interesse verloren hatte.

»Ah«, sagte Bayle. »Das sein dann unser Fehler. Könntet Ihr uns zeigen, wo sie lagern? Ihr müssen wissen, es sein eine Sache von großer Dringlichkeit.« Er sprach flüssig, ohne Umschweife. Falls nötig konnte Bayle sehr charmant sein. Auf jeden Fall mehr als Leilwin.

»Das kommt darauf an«, sagte der Behüter. »Eure Gefährtin, will die auch zu diesen Aes Sedai?«

»Sie will …«, setzte Bayle an, aber der Behüter hob die Hand. »Ich möchte es von ihr hören«, sagte er und musterte Leilwin.

»Ich wünschen es«, sagte Leilwin. »Meine alte Großmutter! Diese Frauen, sie uns haben eine Bezahlung versprochen, und ich werden sie bekommen! Aes Sedai lügen nicht. Das weiß jeder. Wenn Ihr uns nicht zu ihnen bringt, dann holt jemanden, der es tut!«

Der Behüter zögerte, seine Augen weiteten sich bei dem Wortschwall. Dann nickte er. »Hier entlang.« Er führte sie zur Lagerseite, fort vom Zentrum, aber er schien nicht länger misstrauisch zu sein.

Leilwin stieß leise die Luft aus und ging neben Bayle hinter dem Behüter her. Bayle sah sie stolz an und grinste so breit, dass er sie mit Sicherheit verraten hätte, hätte sich der Behüter umgedreht. Aber sie musste selbst ein Lächeln unterdrücken.

Der illianische Akzent war ihr nicht leichtgefallen, aber sie waren beide zu dem Schluss gekommen, dass ihr seanchanischer Akzent gefährlich war, vor allem wenn sie sich unter Aes Sedai bewegten. Bayle behauptete noch immer, dass kein wahrer Illianer sie als eine der Ihren akzeptieren würde, aber offensichtlich war sie gut genug, um einen Fremden zu täuschen.

Sie verspürte Erleichterung, als sie sich vom Lager der Aes Sedai entfernten. Zwei Freundinnen zu haben, die Aes Sedai waren – und es waren Freundinnen, trotz ihrer Schwierigkeiten miteinander –, bedeutete nicht, dass sie in einem Lager voller Schwestern sein wollte. Der Behüter führte sie zu einer Fläche ungefähr in der Mitte des Feldes von Merrilor. Dort befand sich ein sehr großes Lager mit vielen kleinen Zelten.

»Aiel«, raunte Bayle. »Es müssen Zehntausende sein.«

Interessant. Von den Aiel erzählte man sich Furcht einflößende Geschichten, Legenden, die unmöglich alle der Wahrheit entsprechen konnten. Trotzdem ließen diese Geschichten trotz ihrer Übertreibungen erahnen, dass es die besten Krieger auf dieser Seite des Ozeans waren. Unter anderen Umständen hätte Leilwin gern mit einem oder auch zwei von ihnen einen Übungskampf absolviert. Sie legte eine Hand auf die Seite ihres Rucksacks; sie hatte ihre Keule in einer langen Tasche an der Seite griffbereit untergebracht.

Auf jeden Fall waren diese Aiel groß. Sie kamen an einigen vorbei, die anscheinend völlig entspannt an Lagerfeuern saßen. Aber diese Augen beobachteten deutlich schärfer als der Behüter. Gefährliche Männer, zum Töten bereit, während sie sich am Feuer entspannten. Sie konnte die Banner nicht erkennen, die über diesem Lager am Nachthimmel flatterten.

»Welcher König oder welche Königin herrscht in diesem Lager, Behüter?«, fragte sie laut.

Der Mann sah sie an; seine Züge blieben in den nächtlichen Schatten unergründlich. »Euer König, Illianerin.«

Bayle erstarrte.

Mein …

Der Wiedergeborene Drache. Es erfüllte sie mit Stolz, dass sie nicht aus dem Tritt kam, aber es war knapp. Ein Mann, der die Macht lenken konnte. Das war schlimmer als die Aes Sedai, viel schlimmer.

Der Behüter führte sie zu einem Zelt in der ungefähren Lagermitte. »Ihr habt Glück, ihr Licht brennt.« Am Zelteingang standen keine Wächter, also rief er und erhielt die Erlaubnis zum Eintreten. Mit einer Hand zog er die Plane zur Seite und nickte ihnen zu, aber seine andere Hand lag auf dem Schwertgriff, und seine Haltung war kampfbereit.

Leilwin verabscheute die Vorstellung, dieses Schwert im Rücken zu haben, aber sie trat wie gebeten ein. Das Zelt wurde von einer dieser unnatürlichen Lichtkugeln erhellt, und eine vertraute Frau in einem grünen Kleid saß an einem Schreibtisch und schrieb einen Brief. Nynaeve al’Meara war eine Telarti, wie man in Seanchan gesagt hätte – eine Frau mit Feuer in der Seele. Leilwin hatte gelernt, dass Aes Sedai eigentlich so ruhig wie die Oberfläche eines Teichs sein sollten. Nun, gelegentlich mochte das auf diese Frau auch zutreffen – aber sie war die Art von stillem Wasser, das man nur eine Biegung von einem wilden Wasserfall entfernt fand.

Nynaeve schrieb weiter, als sie eintraten. Sie trug keinen Zopf mehr; ihr Haar fiel nur noch locker bis zu ihren Schultern. Der Anblick war so seltsam wie ein Schiff ohne Mast.

»Ich habe sofort Zeit für Euch, Sleete«, sagte sie. »Ehrlich, so wie Ihr Euch in letzter Zeit in meiner Nähe herumtreibt, lässt mich an eine Vogelmutter denken, die ein Ei verloren hat. Hatte Eure Aes Sedai nichts für Euch zu tun?«

»Lan ist für viele von uns wichtig, Nynaeve Sedai«, erwiderte der Behüter – Sleete – ganz ruhig mit grollender Stimme.

»Ach, und für mich ist er unwichtig? Also wirklich, ich frage mich, ob man Euch und Euresgleichen nicht losschicken sollte, um Holz zu hacken. Wenn noch ein Behüter kommt und fragt, ob ich etwas brauche …«

Sie schaute auf und erblickte endlich Leilwin. Augenblicklich wurde ihre Miene reglos. Kalt. Eiskalt. Leilwin brach der Schweiß aus. Die Frau hielt ihr Leben in den Händen. Warum hatte dieser Sleete sie nicht zu Elayne bringen können? Vielleicht hätten sie Nynaeve besser gar nicht erst erwähnt.

»Diese beiden wollten Euch sehen«, sagte Sleete. Sein Schwert hatte die Scheide verlassen. Leilwin hatte das gar nicht bewusst wahrgenommen. Domon murmelte leise etwas. »Sie behaupteten, Ihr hättet ihnen eine Arbeit gegeben, und sie seien wegen der Bezahlung hier. Allerdings haben sie nicht in der Burg vorgesprochen und eine Möglichkeit gefunden, durch eines der Wegetore zu schlüpfen. Der Mann kommt aus Illian. Die Frau aus einem anderen Land. Sie verbirgt ihren Akzent.«

Vielleicht war sie ja doch nicht so gut mit dem Akzent, wie sie gedacht hatte. Sie warf einen Blick auf das Schwert. Wenn sie sich zur Seite rollte, verfehlte er sie vielleicht, vorausgesetzt, er zielte auf Brust oder Hals. Sie konnte die Keule ziehen und …

Sie stand einer Aes Sedai gegenüber. Niemals würde sie ausweichen können. Sie wäre in einem Gewebe der Einen Macht gefangen oder Schlimmeres. Sie schaute Nynaeve an.

»Ich kenne sie, Sleete«, sagte Nynaeve mit kühler Stimme. »Das war richtig von Euch, sie zu mir zu bringen. Vielen Dank.«

Sein Schwert glitt zurück in die Scheide, und Leilwin verspürte einen kühlen Luftzug, als er so leise wie ein Flüstern aus dem Zelt verschwand.

»Falls Ihr gekommen seid, um Verzeihung zu erbitten«, sagte Nynaeve, »dann steht Ihr vor der falschen Person. Ich hätte nicht übel Lust, Euch den Behütern zur Befragung zu übergeben. Vielleicht können sie ja aus Eurem verräterischen Verstand etwas Nützliches über Euer Volk herausbluten lassen.«

»Ich freue mich auch, Euch wiederzusehen, Nynaeve«, erwiderte Leilwin kühl.

»Also was ist passiert?«, verlangte Nynaeve zu wissen.

Was passiert war? Wovon sprach die Frau da überhaupt?

»Ich haben es versucht«, sagte Bayle plötzlich voller Bedauern. »Ich haben gegen sie gekämpft, aber sie haben mich mühelos überwältigt. Sie hätten mein Schiff anzünden können, uns versenken und meine Männer töten.«

»Es wäre besser, Ihr und alle an Bord wärt gestorben, Illianer«, sagte Nynaeve. »Das Ter’angreal geriet in die Hände einer der Verlorenen; Semirhage verbarg sich unter den Seanchanern, gab vor, irgendeine Art Richterin zu sein. Eine Wahrheitssprecherin? Heißt das so?«

»Ja«, sagte Leilwin leise. Jetzt war ihr alles klar. »Ich bedaure es, meinen Eid gebrochen zu haben, aber …«

»Ihr bedauert es, Egeanin?«, stieß Nynaeve hervor, schoss in die Höhe und stieß dabei ihren Stuhl um. »›Bedauern‹ ist nicht unbedingt das Wort, das ich wählen würde, wenn ich die Welt selbst in Gefahr gebracht hätte, wenn ich uns an den Rand der Finsternis geführt und fast in den Abgrund gestoßen hätte! Sie hat von dem Gerät Kopien herstellen lassen, Frau. Eine endete um den Hals des Wiedergeborenen Drachen. Der Wiedergeborene Drache, der von einer der Verlorenen kontrolliert wird!«

Nynaeve warf die Hände in die Luft. »Beim Licht! Euretwegen trennten uns nur ein paar Herzschläge vom Ende! Dem Ende von allem. Kein Muster mehr, keine Welt mehr, nichts. Wegen Eurer Sorglosigkeit hätten Millionen von Leben ausgelöscht werden können.«

»Ich …« Plötzlich erschienen Leilwin ihre Fehler monumental. Ihre Existenz – weg. Ihr Name – weg. Ihr Schiff hatte ihr die Tochter der Neun Monde höchstpersönlich weggenommen. Und doch war das angesichts dieser Tat alles völlig bedeutungslos.

»Ich haben gekämpft«, sagte Bayle entschieden. »Ich haben gekämpft mit allem, was mir zur Verfügung stand.«

»Anscheinend hätte ich mich dir anschließen sollen«, sagte Leilwin.

»Ich haben versucht, das zu erklären«, sagte Bayle grimmig. »Viele Male, verflucht, aber das haben ich.«

»Pah!« Nynaeve rieb sich die Stirn. »Was macht Ihr hier, Egeanin? Ich hatte gehofft, dass Ihr tot seid. Wärt Ihr bei dem Versuch gestorben, Euren Eid zu erfüllen, dann hätte ich Euch keinen Vorwurf machen können.«

Ich übergab es Suroth persönlich, dachte Leilwin. Einen Preis, den ich für mein Leben bezahlte, der einzige Ausweg.

»Nun?« Nynaeve starrte sie finster an. »Heraus damit, Egeanin.«

»Diesen Namen trage ich nicht länger.« Leilwin ging auf die Knie. »Man hat mir alles genommen, einschließlich meiner Ehre, wie es jetzt scheint. Ich übergebe mich Euch als Bezahlung.«

Nynaeve schnaubte. »Im Gegensatz zu Euch Seanchanern halten wir keine Menschen wie Tiere.«

Leilwin blieb knien. Bayle legte ihr die Hand auf die Schulter, versuchte sie aber nicht auf die Füße zu ziehen. Er verstand durchaus, warum sie das tun musste. Er war fast zivilisiert geworden.

»Hoch mit Euch«, fauchte Nynaeve. »Beim Licht, Egeanin. Ihr wart doch einmal so stark, dass Ihr Steine kauen und Sand ausspucken konntet.«

»Es ist meine Kraft, die mich dazu verpflichtet«, sagte sie und senkte den Blick. Begriff Nynaeve denn nicht, wie schwierig das war? Es wäre viel leichter gewesen, sich selbst die Kehle durchzuschneiden, nur dass sie einfach nicht mehr genug Ehre hatte, um ein so einfaches Ende verlangen zu können.

»Steht auf!«

Leilwin gehorchte.

Nynaeve schnappte sich ihren Umhang von der Pritsche und warf ihn sich über. »Kommt. Wir bringen Euch zur Amyrlin. Vielleicht weiß sie ja, was man mit Euch anstellen soll.«

Nynaeve stürmte in die Nacht hinaus, und Leilwin folgte ihr. Ihre Entscheidung war getroffen. Es gab nur einen Weg, der Sinn machte, einen Weg, um wenigstens einen Funken Ehre zu bewahren und vielleicht dabei ihrem Volk zu helfen, die Lügen zu überleben, die es sich schon so lange erzählte.

Leilwin Schiffslos gehörte jetzt zur Weißen Burg. Was auch immer sie sagen würden, was auch immer sie mit ihr anstellten, diese Tatsache würde sich nicht ändern. Sie war ihr Besitz. Sie würde die Da’covale dieser Amyrlin sein und diesen Sturm absegeln wie ein Schiff, dessen Segel der Wind zu Fetzen zerrissen hatte.

Vielleicht konnte sie ja mit den kläglichen Resten ihrer Ehre das Vertrauen dieser Frau erwerben.


»Das ist Teil einer alten Schmerzlinderung der Grenzländer«, sagte Melten und entfernte den Verband von Talmanes’ Seite. »Die Blasenblätter verlangsamen den Makel des verfluchten Metalls.«

Melten war ein schlanker Mann mit einem dichten Haarschopf. Er kleidete sich wie ein andoranischer Waldläufer, trug ein einfaches Hemd und einen Umhang, sprach aber wie ein Grenzländer. In seinem Beutel trug er einen Satz farbiger Kugeln, mit denen er manchmal für die Mitglieder der Bande jonglierte. In einem anderen Leben musste er ein Gaukler gewesen sein.

Eigentlich passte er nicht in die Bande, andererseits galt das auf die eine oder andere Weise für sie alle.

»Ich weiß nicht, wie es das Gift dämpft«, sagte er. »Aber das tut es. Es handelt sich ja nicht um normales Gift. Man kann es nicht aus der Wunde saugen.«

Talmanes drückte die Hand auf die Seite. Der brennende Schmerz fühlte sich an, als arbeite sich ein Dornenstrauch langsam unter der Haut nach oben und risse mit jeder Bewegung am Fleisch. Er konnte fühlen, wie das Gift durch seinen Körper zirkulierte. Beim Licht, tat das weh.

In der Nähe kämpften sich die Männer der Bande durch Caemlyn auf den Palast zu. Sie waren durch das Südtor eingedrungen und hatten es den Söldnergruppen unter Sandips Befehl überlassen, das Westtor zu halten.

Wenn es irgendwo in der Stadt noch einen menschlichen Widerstand gab, dann beim Palast. Unglücklicherweise zogen Fäuste Trollocs durch das Gebiet zwischen Talmanes’ Position und dem Königinnenpalast. Ständig stießen sie auf die Ungeheuer und wurden in Kämpfe verwickelt.

Talmanes hatte keine Möglichkeit, herauszufinden, ob es dort tatsächlich noch Widerstand gab; dazu musste er sich dorthin begeben. Das bedeutete, dass er seine Männer zum Palast führen musste, sich den ganzen Weg freikämpfen und das Risiko eingehen musste, von den umherstreifenden Tiermenschen eingekreist zu werden. Aber dafür gab es keine Alternative. Er musste herausfinden, was von der Verteidigung des Palastes noch übrig war – ob überhaupt noch etwas übrig war. Von dort konnte er wieder einen Ausfall in die Stadt anführen und versuchen, an die Drachen zu kommen.

Die Luft roch nach Rauch und Blut; während einer kurzen Kampfpause hatten sie tote Trollocs an der rechten Straßenseite aufgeschichtet, um Platz zu schaffen.

Auch in diesem Stadtteil gab es Flüchtlinge, auch wenn es kein großer Strom war. Eher ein Rinnsal, das aus der Dunkelheit tröpfelte, während Talmanes und die Bande Teile der Durchgangsstraße zum Palast freikämpften. Diese Flüchtlinge verlangten nicht, dass die Bande ihren Besitz beschützte oder ihre Häuser rettete; menschlichen Widerstand zu finden ließ sie vor Freude schluchzen. Madwin hatte den Befehl, sie durch den Sicherheitskorridor, den die Bande freigehackt hatte, in die Freiheit zu schicken.

Talmanes wandte sich dem Palast oben auf dem Hügel zu, aber in der Nacht waren seine Umrisse kaum auszumachen. Obwohl der größte Teil der Stadt brannte, stand der Palast nicht in Flammen; in der rauchigen Nacht erhoben sich seine weißen Mauern Phantomen gleich. Kein Feuer. Das musste doch ein Hinweis auf Widerstand sein, oder nicht? Hätten ihn die Trollocs nicht als Erstes angegriffen?

Er hatte Kundschafter die Straße hinauf ausgeschickt, während er sich und seinen Männern eine kurze Atempause gönnte.

Melten band die Kräuterbinde fest.

»Danke, Melten.« Talmanes nickte dem Mann zu. »Ich kann schon fühlen, wie die Kräuter wirken. Ihr sagtet, sie sind ein Teil des Schmerzmittels. Was ist der andere Teil?«

Melten hakte eine Metallflasche vom Gürtel und gab sie ihm. »Unverfälschter shienarischer Branntwein.«

»Im Kampf zu trinken ist keine gute Idee, Mann.«

»Nehmt es«, sagte Melten leise. »Nehmt die Flasche und trinkt ordentlich, mein Lord. Oder Ihr steht beim nächsten Glockenschlag nicht mehr auf den Beinen.«

Talmanes zögerte, dann nahm er die Flasche und trank einen großen Schluck. Es brannte wie die Wunde. Er hustete, dann steckte er die Flasche ein. »Ich glaube, Ihr habt Eure Flaschen verwechselt. Das da habt Ihr in einem Färberbottich gefunden.«

Melten grinste. »Und da heißt es, Ihr hättet keinen Sinn für Humor, Lord Talmanes.«

»Habe ich auch nicht. Bleibt mit Eurem Schwert in der Nähe.«

Melten nickte. »Schattenschlächter«, flüsterte er.

»Was ist das?«

»Ein Titel aus den Grenzlanden. Ihr habt einen Blassen getötet. Schattenschlächter.«

»In dem steckten da aber bereits siebzehn Pfeile.«

»Das ist egal.« Melten schlug ihm auf die Schulter. »Schattenschlächter. Wenn Ihr die Schmerzen nicht länger ertragt, ballt beide Fäuste und hebt sie in meine Richtung. Ich kümmere mich dann um den Rest.«

Talmanes stand auf und konnte ein Stöhnen nicht unterdrücken. Sie verstanden sich. Die Grenzländer in der Bande waren sich da alle einig; von einer Thakan’dar-Klinge geschlagene Wunden waren unberechenbar. Einige entzündeten sich schnell, andere bewirkten langes Siechtum. Aber wenn die Wunde wie bei Talmanes schwarz wurde … das war das Schlimmste. Er konnte nur gerettet werden, wenn sie in den nächsten paar Stunden eine Aes Sedai fanden.

»Es ist gut, dass ich keinen Sinn für Humor habe, müsst Ihr wissen«, murmelte er. »Andernfalls würde ich glauben, dass mir das Muster einen Streich spielt. Dennel! Habt Ihr einen Stadtplan?« Beim Licht, was vermisste er doch Vanin.

»Mein Lord«, sagte Dennel und eilte mit einer Fackel und einem flüchtig hingekritzelten Stadtplan über die dunkle Straße. Er war einer der Drachenhauptmänner der Bande. »Ich glaube, ich habe einen schnelleren Weg zu dem Ort gefunden, an dem Aludra die Drachen untergestellt hat.«

»Zuerst kämpfen wir uns zum Palast durch«, erwiderte Talmanes.

»Mein Lord.« Dennels Worte kamen nun ganz leise über seine Lippen. Er fummelte an seiner Uniform herum, als würde sie nicht richtig sitzen. »Falls der Schatten diese Drachen erreicht …«

»Ich bin mir der Gefahren durchaus bewusst, Dennel, danke. Wie schnell könnt Ihr diese Dinger bewegen, falls wir sie erreichen? Ich sorge mich, dass wir uns verzetteln, und diese Stadt brennt schneller als ein ölgetränkter Liebesbrief an die Geliebte eines Hohen Herrn. Ich will die Waffen holen und die Stadt dann so schnell wie möglich verlassen.«

»Mit einem oder zwei Schüssen kann ich eine Feindstellung dem Erdboden gleichmachen, mein Lord, aber diese Drachen bewegen sich alles andere als schnell. Sie sind auf Karren montiert, was schon hilfreich ist, aber sie werden nicht schneller als … sagen wir ein Zug Proviantwagen sein. Und sie brauchen ihre Zeit, bis man sie richtig aufgebaut hat, um schießen zu können.«

»Dann gehen wir weiter zum Palast«, erwiderte Talmanes.

»Aber …«

»Mit etwas Glück könnten wir im Palast Frauen finden, die mit der Einen Macht ein Wegetor direkt zu Aludras Lagerhaus erschaffen. Davon abgesehen hätten wir Freunde im Rücken, falls die Palastgarde noch kämpft. Wir holen diese Drachen, aber wir tun es mit Klugheit.«

Er sah, dass Ladwin und Mar von hügelaufwärts herbeieilten. »Dort oben sind Trollocs!«, verkündete Mar. »Mindestens hundert von ihnen, auf der Straße.«

»Nehmt Aufstellung, Männer!«, rief Talmanes. »Wir kämpfen uns zum Palast durch!«


Im Schweißzelt kehrte tiefes Schweigen ein.

Aviendha hatte möglicherweise Unglauben über ihre Geschichte erwartet. Mit Sicherheit aber Fragen. Nicht diese quälende Stille.

Aber auch wenn das unerwartet kam, verstand sie es dennoch. Schließlich hatte sie genauso empfunden, nachdem sie in ihrer Vision erlebt hatte, wie die Aiel in der Zukunft langsam das Ji’e’toh verloren. Sie hatte das Sterben, die Entehrung und die Vernichtung ihres Volkes miterlebt. Zumindest hatte sie jetzt jemanden, mit dem sie diese Last teilen konnte.

Die erhitzten Steine im Kessel zischten leise. Jemand hätte mehr Wasser nachgießen müssen, aber keine der sechs Frauen im Zelt machte Anstalten dazu. Die anderen fünf waren alle Weise Frauen, die genau wie Aviendha nach der Art der Schweißzelte nackt dasaßen. Sorilea, Amys, Bair, Melaine und Kymer von den Tomanelle Aiel. Jede von ihnen starrte geradeaus; in diesem Moment war jede von ihnen ganz allein mit ihren Gedanken.

Eine nach der anderen setzten sie sich wieder gerade auf, als hätten sie eine neue Last geschultert. Das tröstete Aviendha; nicht, dass sie erwartet hatte, diese Neuigkeit würde sie verzweifeln lassen. Trotzdem war es gut zu sehen, dass sie ihren Blick auf die Gefahr richteten, statt ihn abzuwenden.

»Der Sichtblender ist der Welt nun viel zu nahe gekommen«, sagte Melaine. »Das Muster ist irgendwie verbogen. Im Traum sehen wir noch immer zu viele Dinge, die vielleicht eintreten oder auch nicht, aber es gibt zu viele Möglichkeiten; wir können sie nicht länger voneinander unterscheiden. Den Traumgängerinnen ist das Schicksal unseres Volkes völlig unklar, genau wie das Schicksal des Car’a’carn, sobald er Sichtblender am Letzten Tag ins Auge gespuckt hat. Wir wissen nicht, ob Aviendha die Wahrheit sah.«

»Wir müssen das prüfen«, sagte Sorilea. Ihre Augen waren wie Steine. »Wir müssen es wissen. Erlebt von nun an jede Frau diese Vision statt der anderen, oder war das eine einzigartige Erfahrung?«

»Elenar von den Daryne«, sagte Amys. »Ihre Ausbildung ist so gut wie beendet. Sie wird Rhuidean als Nächste besuchen. Wir könnten Hayde und Shanni bitten, sie etwas zu ermutigen.«

Aviendha unterdrückte ein Schaudern. Sie wusste nur zu gut, wie »ermutigend« die Weisen Frauen sein konnten.

»Das wäre gut«, sagte Bair und beugte sich vor. »Vielleicht geschieht das ja immer, wenn jemand ein zweites Mal durch die Glassäulen tritt? Vielleicht ist es darum verboten.«

Niemand sah Aviendha an, aber sie spürte genau, dass die anderen über sie nachdachten. Was sie getan hatte, war verboten. Über das in Rhuidean Erlebte zu sprechen war ebenfalls ein Frevel.

Eine Zurechtweisung würde es nicht geben. Rhuidean hatte sie nicht umgebracht; so hatte sich das Rad eben gedreht. Bair starrte noch immer in die Ferne. Schweiß floss an Aviendhas Wangen und Brüsten herunter.

Ich vermisse Bäder nicht, dachte sie. Sie war keine verweichlichte Feuchtländerin. Trotzdem war ein Schweißzelt auf dieser Seite der Berge eigentlich nicht erforderlich. Die Nächte waren nicht bitterlich kalt, also fühlte sich die Hitze im Zelt bloß erdrückend und nicht erfrischend an. Und wenn es genügend Wasser zum Baden gab …

Nein. Entschlossen reckte sie das Kinn. »Darf ich sprechen?«

»Sei nicht albern, Mädchen«, sagte Melaine. Der Bauch der Frau war weit vorgewölbt, die Geburt stand kurz zuvor. »Du bist jetzt eine von uns. Du musst nicht um Erlaubnis bitten.«

Mädchen? Es würde noch dauern, bis sie sie wirklich als eine der Ihren betrachteten, aber sie gaben sich Mühe. Keiner befahl ihr, Tee zu machen oder Wasser auf die Steine zu gießen. Ohne Lehrling und Gai’shain in der Nähe wechselten sie sich mit diesen Aufgaben ab.

»Ich mache mir weniger Sorgen darüber, dass sich diese Vision wiederholen könnte«, sagte Aviendha, »sondern vielmehr über das, was ich sah. Wird es geschehen? Können wir es aufhalten?«

»Rhuidean zeigt zwei Arten von Visionen«, sagte Kymer. Sie war noch nicht so alt, vielleicht nicht ganz zehn Jahre älter als Aviendha, hatte dunkelrotes Haar und ein langes gebräuntes Gesicht. »Der erste Besuch zeigt das, was sein könnte, der zweite in den Säulen das, was sich zugetragen hat.«

»Diese dritte Vision könnte das eine wie das andere sein«, sagte Amys. »Die Säulen haben die Vergangenheit stets getreu wiedergegeben; warum sollten sie die Zukunft nicht mit der gleichen Genauigkeit zeigen?«

Aviendhas Herz setzte einen Schlag aus.

»Aber warum sollten die Säulen eine Verzweiflung zeigen, die man nicht ändern kann?«, meinte Bair leise. »Nein. Ich weigere mich, das zu glauben. Rhuidean hat uns immer das gezeigt, was wir sehen mussten. Um uns zu helfen und nicht, um uns zu vernichten. Auch diese Vision muss einen Sinn haben. Soll sie uns zu einer größeren Ehre anspornen?«

»Das spielt keine Rolle«, sagte Sorilea kurz angebunden.

»Aber …«, begann Aviendha.

»Das spielt keine Rolle«, wiederholte Sorilea. »Falls diese Vision nicht zu ändern ist, falls es unser Schicksal ist, diesen tiefen … Sturz … zu erleiden, von dem du erzählt hast, würde auch nur eine von uns aufhören, dagegen anzukämpfen, um ihn zu verhindern?«

Wieder kehrte Stille ein. Aviendha schüttelte den Kopf.

»Wir müssen damit umgehen, als könnte man es ändern«, sagte Sorilea. »Es ist besser, nicht über deine Frage zu grübeln, Aviendha. Wir müssen entscheiden, was wir tun sollen.«

Aviendha ertappte sich bei einem Nicken. »Ich … ja, ja, du hast recht, Weise Frau.«

»Aber was machen wir?«, fragte Kymer. »Was ändern wir? Im Augenblick muss die Letzte Schlacht gewonnen werden.«

»Beinahe wünschte ich, dass die Vision nicht zu ändern ist«, sagte Amys, »denn zumindest beweist sie, dass wir diesen Kampf gewinnen.«

»Sie beweist gar nichts«, erwiderte Sorilea. »Sichtblenders Sieg würde das Muster zerbrechen, darum kann keine Vision der Zukunft vertrauenswürdig sein. Selbst wenn es um Prophezeiungen weit in der Zukunft liegender Zeitalter geht, wenn Sichtblender diese Schlacht gewinnt, findet alles sein Ende.«

»Diese Vision, die ich hatte, hat mit dem zu tun, was Rand gerade plant«, sagte Aviendha.

Alle Blicke wandten sich ihr zu.

»Morgen«, sagte sie. »Wie ihr mir gesagt habt, bereitet er sich auf eine wichtige Enthüllung vor.«

»Der Car’a’carn hat eine … Schwäche … für dramatische Auftritte«, sagte Bair, aber ihre Worte klangen liebevoll. »Er ist wie ein Crockobur, der die ganze Nacht geschuftet hat, um ein Nest zu bauen, damit er allen am nächsten Morgen davon vorsingen kann.«

Es hatte Aviendha überrascht, die Zusammenkunft bei Merrilor zu entdecken; sie hatte sie nur gefunden, weil sie ihren Bund mit Rand al’Thor dazu benutzt hatte, seinen Aufenthaltsort zu bestimmen. Als sie hier eingetroffen war und die versammelten Streitkräfte der Feuchtländer gesehen hatte, hatte sie sich gefragt, ob das wohl schon ein Teil dessen war, was sie gesehen hatte. War diese Zusammenkunft der Beginn der Ereignisse, die sich in ihrer Vision zugetragen hatten?

»Ich fühle mich, als wüsste ich mehr, als ich sollte.« Es war beinahe, als würde sie mit sich selbst sprechen.

»Du hattest einen tiefen Einblick darein, was die Zukunft möglicherweise bringt«, meinte Kymer. »Das wird dich verändern, Aviendha.«

»Der morgige Tag ist der Schlüssel«, sagte Aviendha. »Sein Plan.«

»Deinen Worten zufolge hat es den Anschein, als wollte er die Aiel ignorieren, sein eigenes Volk«, sagte Kymer. »Warum sollte er jedem anderen eine Gunst erweisen, sie aber ausgerechnet denen verweigern, die sie am meisten verdienen? Will er uns beleidigen?«

»Ich glaube nicht, dass das der Grund ist«, erwiderte Aviendha. »Ich glaube, er will den Versammelten Forderungen stellen und keine Gunst erweisen.«

»Er erwähnte einen Preis«, sagte Bair. »Einen Preis, den die anderen zahlen sollen. Niemand konnte ihm das Geheimnis dieses Preises entlocken.«

»Am frühen Abend ist er durch ein Wegetor nach Tear gegangen und hat etwas geholt«, sagte Melaine. »Die Töchter berichteten es – er hält sich jetzt an seinen Eid, sie mitzunehmen. Als wir uns nach dem Preis erkundigten, sagte er, es sei etwas, worüber sich die Aiel keine Sorgen zu machen bräuchten.«

Aviendha runzelte die Stirn. »Er lässt sich von Männern für das bezahlen, von dem wir alle wissen, dass er es tun muss? Vielleicht hat er einfach nur zu viel Zeit mit den Leuten vom Meervolk verbracht.«

»Nein, das ist schon richtig so«, meinte Amys. »Diese Leute verlangen viel vom Car’a’carn. Er hat das Recht, im Gegenzug etwas von ihnen zu verlangen. Sie sind weich; vielleicht will er sie ja stärker machen.«

»Und darum lässt er uns außen vor, weil er weiß, dass wir bereits stark sind«, sagte Bair leise.

Schweigen setzte ein. Mit besorgter Miene löffelte Amys Wasser auf die erhitzten Steine im Kessel. Zischend stieg Dampf in die Höhe.

»Das ist es«, sagte Sorilea. »Er will uns nicht beleidigen. Er will uns ehren, so wie er es versteht.« Sie schüttelte den Kopf. »Eigentlich sollte er es besser wissen.«

»Der Car’a’carn beleidigt oft, ohne es zu wollen«, stimmte Kymer ihr zu, »als wäre er ein Kind. Wir sind stark, also spielt seine Forderung, wie auch immer sie aussieht, keine Rolle. Wenn es ein Preis ist, den die anderen zahlen können, dann gilt das für uns erst recht.«

»Er würde diese Fehler nicht machen, hätte man ihn anständig in unseren Sitten unterwiesen«, murmelte Sorilea.

Aviendha erwiderte gleichmütig ihren Blick. Nein, sie hatte ihn nicht so gut unterrichtet, wie es möglich gewesen wäre – aber alle wussten, dass Rand al’Thor dickköpfig war. Außerdem war sie ihnen nun gleichgestellt. Auch wenn es ihr schwerfiel, das zu verinnerlichen, während sie sich Sorileas Missachtung ausgesetzt sah.

Vielleicht lag es an der vielen Zeit, die sie mit Feuchtländern wie Elayne verbracht hatte, aber plötzlich sah sie die Dinge aus Rands Sicht. Die Aiel von seinem Preis auszunehmen – immer unter der Voraussetzung, dass er es wirklich vorhatte – war eine Tat der Ehre. Hätte er ihn von ihnen genau wie von den anderen verlangt, dann wären die Weisen Frauen vermutlich beleidigt gewesen, zusammen mit den Feuchtländern in einen Topf geworfen zu werden.

Was hatte er vor? In ihren Visionen hatte es ein paar Andeutungen gegeben, aber sie war zusehends davon überzeugt, dass der nächste Tag die Aiel auf den Weg in ihren Untergang schicken würde.

Sie musste dafür sorgen, dass das nicht geschah. Das war ihre erste Aufgabe als Weise Frau, und vermutlich die wichtigste, die sie je erhielt. Sie würde nicht scheitern.

»Ihre Aufgabe bestand nicht nur darin, ihn zu unterrichten«, sagte Amys. »Was würde ich dafür geben, wenn er unter der Aufsicht einer guten Frau stünde.« Sie schaute Aviendha bedeutungsvoll an.

»Er wird mir gehören«, sagte Aviendha entschieden. Aber nicht für dich, Amys, oder für unser Volk. Die Stärke dieser Empfindung schockierte sie. Sie war Aiel. Ihr Volk bedeutete ihr alles.

Aber diese Entscheidung konnte es nicht treffen. Diese Entscheidung gehörte allein ihr.

»Sei gewarnt, Aviendha«, sagte Bair und legte ihr die Hand auf den Unterarm. »Er hat sich verändert, seit du gegangen bist. Er ist stark geworden.«

Aviendha runzelte die Stirn. »Auf welche Weise?«

»Er hat den Tod umarmt«, sagte Amys und klang stolz. »Er mag noch immer ein Schwert tragen und sich wie ein Feuchtländer anziehen, aber er ist jetzt endlich und wahrhaftig einer von uns.«

»Davon will ich mich selbst überzeugen«, sagte Aviendha und stand auf. »Ich werde sehen, was ich über seine Pläne herausfinden kann.«

»Dazu ist aber nicht mehr viel Zeit«, warnte Kymer.

»Eine ganze Nacht«, erwiderte Aviendha. »Das reicht.«

Die anderen nickten, und Aviendha zog sich an. Unerwarteterweise folgten die Frauen ihrem Beispiel. Anscheinend hielten sie ihre Neuigkeiten für wichtig genug, um sie mit anderen Weisen Frauen zu teilen, statt hier weiter zu beratschlagen.

Aviendha trat als Erste in die Nacht hinaus; nach der drückenden Hitze des Schweißzeltes fühlte sich die kalte Luft gut auf ihrer Haut an. Sie nahm einen tiefen Atemzug. Ihr Geist war schrecklich erschöpft, aber Schlaf würde warten müssen.

Hinter den anderen Weisen Frauen raschelte der Zelteingang. Melaine und Amys unterhielten sich leise, als sie in die Nacht eilten. Kymer schritt energisch auf das Lager der Tomanelle zu. Vermutlich würde sie mit ihrem Onkel Han sprechen, dem Häuptling der Tomanelle.

Eine knochige Hand legte sich auf Aviendhas Arm. Sie blickte über die Schulter und sah Bair in Bluse und Rock gekleidet dort stehen.

»Weise Frau«, sagte Aviendha automatisch.

»Weise Frau«, erwiderte Bair lächelnd.

»Kann ich etwas tun …?«

»Ich möchte nach Rhuidean gehen«, sagte Bair und schaute in den Himmel. »Würdest du mir freundlicherweise ein Wegetor öffnen?«

»Du gehst durch die Glassäulen.«

»Eine von uns muss es tun. Egal, was Kymer sagt, Elenar ist noch nicht so weit, vor allem nicht, um so etwas zu sehen. Das Mädchen verbringt die Hälfte seiner Tage damit, wie ein Bussard über den letzten Fetzen eines verfaulenden Kadavers zu krächzen.«

»Aber …«

»Ach, jetzt fang du nicht auch noch an. Du bist jetzt eine von uns, aber ich bin noch immer alt genug, um mich um deine Großmutter gekümmert zu haben, als sie ein Kind war.« Bair schüttelte den Kopf; ihr weißes Haar schien im Mondlicht beinahe zu leuchten. »Von allen bin ich die beste Kandidatin«, fuhr sie fort. »Machtlenker werden für die kommende Schlacht gebraucht. Ich lasse nicht zu, dass jetzt irgendein Kind zwischen diese Säulen tritt. Ich tue das. Was ist jetzt mit dem Wegetor? Erfüllst du mir die Bitte, oder muss ich Amys dazu überreden?«

Aviendha hätte gern dabei zugesehen, wie jemand Amys zu etwas überredete. Vielleicht hätte Sorilea das ja geschafft. Aber sie hielt den Mund und erschuf das nötige Gewebe, um ein Wegetor zu öffnen.

Die Vorstellung, dass ein anderer das sah, was sie gesehen hatte, drehte ihr den Magen um. Was würde es bedeuten, falls Bair mit genau derselben Vision zurückkehrte? Dass diese Zukunft sehr wahrscheinlich war?

»So schrecklich war das also?«, fragte Bair leise.

»Es war furchtbar. Es hätte Speere weinen und Steine zerbröckeln lassen können. Ich hätte eher mit dem Sichtblender getanzt.«

»Dann ist es viel besser, wenn ich statt einer anderen gehe. Es sollte die Stärkste von uns tun.«

Aviendha konnte verhindern, eine Braue zu heben. Bair war so zäh wie gutes Leder, aber die anderen Weisen Frauen waren auch nicht gerade Blümchen. »Bair«, sagte sie, als ihr ein Gedanke kam. »Bist du je einer Frau namens Nakomi begegnet?«

»Nakomi.« Bair sprach das Wort langsam aus, als müsste sie es schmecken. »Ein uralter Name. Ich kenne keinen, der ihn benutzt hätte. Warum?«

»Auf der Reise nach Rhuidean begegnete ich einer Aiel«, erklärte Aviendha. »Sie behauptete, keine Weise Frau zu sein, aber sie hatte eine Art an sich …« Sie schüttelte den Kopf. »Die Frage war reine Neugier.«

»Nun, wir werden wissen, welchen Wahrheitsgehalt diese Visionen haben«, sagte Bair und machte einen Schritt auf das Wegetor zu.

»Und wenn sie zutreffen?«, stieß Aviendha unwillkürlich hervor. »Was ist, wenn wir nichts dagegen unternehmen können?«

Bair drehte sich um. »Du sagst, du sahst deine Kinder?«

Aviendha nickte. Über diesen Teil der Vision hatte sie nicht in allen Einzelheiten gesprochen. Das war ihr zu persönlich erschienen.

»Gib einem einen anderen Namen«, schlug Bair vor. »Sprich nie den Namen aus, den das Kind in dieser Vision trug, nicht einmal, wenn wir unter uns sind. Dann wirst du es wissen. Wenn sich eine Sache anders verhält, dann ist es auch bei anderen denkbar. Nein, so wird es sein. Das ist nicht unser Schicksal, Aviendha. Es ist ein Weg, den wir vermeiden werden. Zusammen.«

Unwillkürlich nickte Aviendha. Ja. Eine einfache Veränderung, eine kleine Veränderung, aber so bedeutungsvoll. »Danke, Bair.«

Die alte Weise Frau nickte ihr zu, dann trat sie durch das Wegetor und lief durch die Nacht auf die vor ihr liegende Stadt zu.


Talmanes rammte die Schulter gegen einen riesigen Trolloc mit Eberschnauze und primitiver Rüstung. Die Bestie stank schrecklich, nach Rauch, nassem Fell und Schweiß. Die Gewalt seines Angriffs entlockte ihr ein Grunzen; es schien die Kreaturen stets zu überraschen, wenn er sie angriff.

Talmanes wich zurück und riss das Schwert aus der Seite des Tiermenschen, der daraufhin zusammenbrach. Dann sprang er wieder vor und rammte ihm die Klinge in den Hals, ohne darauf zu achten, dass die rissigen Fingernägel über seine Beine kratzten. Aus den kleinen, viel zu menschlichen Augen wich das Leben.

Männer kämpften, brüllten, grunzten, töteten. Die Straße führte steil zum Palast hinauf. Dort hatten sich Trolloc-Horden festgesetzt; sie hielten ihre Position und hinderten die Bande daran, die Hügelkuppe zu erreichen.

Talmanes sackte gegen eine Hauswand – die nächste brannte, warf wilde Farben auf die Straße und tauchte ihn in ihre Hitze. Verglichen mit den schrecklichen Schmerzen seiner Wunde erschien dieses Feuer ziemlich kalt. Die lodernde Pein raste sein Bein bis zu den Zehen hinunter und fing langsam an, sich quer über seine Schultern vorzuarbeiten.

Blut und verdammte Asche, dachte er. Was würde ich nur für ein paar Stunden mit einer Pfeife und einem Buch geben, ganz allein und in Frieden. Diejenigen, die etwas von einem glorreichen Tod in der Schlacht erzählten, waren schreckliche Narren. In diesem Chaos aus Feuer und Blut zu sterben, das war nicht glorreich. Er hätte jederzeit einen stillen Tod vorgezogen.

Talmanes kämpfte sich auf die Füße, Schweiß tropfte von seinem Gesicht. Ein Stück hügelabwärts versammelte sich Schattengezücht in seinem Rücken. Die Tiermenschen hatten hinter Talmanes’ Streitmacht die Straße blockiert, aber er konnte sich noch bewegen und schnitt sich einen Weg durch die Ungeheuer vor ihm.

Ein Rückzug würde kaum möglich sein. Ein Kampf in der Stadt bedeutete, dass sich die Bestien nicht nur in den Hauptstraßen formierten, sondern in kleinen Gruppen durch die Nebenstraßen kommen und seine Flanken angreifen konnten, und zwar während ihres Vorstoßes und später dann bei ihrem Rückzug.

»Werft ihnen alles entgegen, was ihr habt, Männer!«, brüllte er, sprang auf die Straße und stellte sich den Trollocs entgegen, die den Weg versperrten. Der Palast war mittlerweile in unmittelbarer Nähe. Mit dem Schild fing er die Klinge einer ziegengesichtigen Kreatur ab, bevor sie Dennel den Kopf abhacken konnte. Er bemühte sich, die Waffe der Bestie zur Seite zu drücken, aber Trollocs waren stark, beim Licht! Er konnte den Tiermenschen kaum davon abhalten, ihn zu Boden zu schicken, während sich Dennel wieder fasste, den Oberschenkel als Ziel aussuchte und darauf einschlug.

Melten stand plötzlich an Talmanes’ Seite. Der Grenzländer hielt sein Wort, in der Nähe zu bleiben, falls Talmanes ein Schwert brauchte, das sein Leben beendete. Die beiden führten den Vorstoß den Hügel hinauf an. Die Trollocs wichen zurück, dann scharten sie sich im Feuerlicht zusammen, ein knurrender, brüllender Haufen aus schwarzem Fell, Augen und Waffen.

Es waren einfach zu viele. Talmanes hatte weniger als fünfhundert Mann, denn er hatte Männer am Tor zurücklassen müssen, die den Rückzug ermöglichten.

»Nicht nachlassen!«, rief er. »Für Lord Mat und die Bande der Roten Hand!«

Wäre Mat hier gewesen, hätte er vermutlich viel geflucht, sich noch mehr beklagt und sie dann alle mit irgendeinem Schlachtfeldwunder gerettet. Talmanes konnte Mats Mischung aus Wahnsinn und Inspiration nicht nachahmen, aber sein Ruf schien die Männer zu ermutigen. Die Reihen rückten enger zusammen. Gavid brachte seine zwei Dutzend Armbrustmänner – die letzten, die Talmanes noch hatte – auf einem Haus in Stellung, das noch nicht niedergebrannt war. Sie feuerten eine Bolzensalve nach der anderen in die Masse der Ungeheuer.

Einen menschlichen Feind hätte das vielleicht auseinandergetrieben, aber nicht Trollocs. Die Bolzen holten ein paar von den Beinen, aber bei Weitem nicht so viele, wie Talmanes gehofft hätte.

Dort hinten muss noch ein Blasser sein, dachte er. Der sie antreibt. Beim Licht, ich kann nicht gegen noch einen antreten. Ich hätte schon gegen den Letzten nicht kämpfen sollen.

Eigentlich hätte er nicht mehr auf den Beinen sein dürfen. Meltens Schnapsflasche war schon längst geleert, um zu betäuben, was möglich war. Sein Verstand war bereits so benommen, wie er es wagte. Zusammen mit Dennel und Londraed setzte er sich an die Front, konzentrierte sich und kämpfte. Ließ Trollocs auf dem Kopfsteinpflaster ausbluten, damit ihr Blut hügelabwärts strömte.

Die Bande lieferte einen guten Kampf, aber sie waren in der Unterzahl und erschöpft. Hinter ihnen stieß eine weitere Faust Trollocs zu den anderen.

Das war das Ende. Entweder musste er die Streitmacht hinter ihm angreifen und damit der vor ihm den Rücken zuwenden, oder er musste seine Männer in kleinere Gruppen aufteilen und sie sich durch die Nebenstraßen zurückziehen lassen, um sich unten am Tor erneut zu sammeln.

Talmanes bereitete sich vor, den Befehl zu geben.

»Der Weiße Löwe vorwärts!«, riefen Stimmen. »Für Andor und die Königin!«

Talmanes fuhr herum, als Männer in Weiß und Rot die Reihen der Trollocs oben auf dem Hügel durchbrachen. Aus einer Seitengasse strömte eine zweite Streitmacht andoranischer Pikenträger und setzte sich hinter die Trolloc-Horde, die ihn gerade einkreiste. Die Kreaturen konnten den herbeieilenden Pikenmännern nicht standhalten, und Augenblicke später platzte die Horde wie eine Eiterblase auseinander. Die Tiermenschen verteilten sich in alle Richtungen.

Talmanes taumelte zurück. Einen Augenblick lang musste er sich auf sein Schwert stützen, während Madwin den Befehl über den Gegenangriff übernahm und seine Männer viele der fliehenden Ungeheuer töteten.

Eine Gruppe Offiziere in blutverschmierten Uniformen der Königlichen Garde eilte den Hügel hinunter. Sie sahen keineswegs besser als die Bande aus. Guybon führte sie an. »Söldner«, begrüßte er Talmanes, »ich danke Euch für Euer Kommen.«

Talmanes runzelte die Stirn. »Ihr tut so, als hätten wir Euch gerettet. Von meiner Perspektive war es genau andersherum.«

Guybon verzog das Gesicht. »Ihr habt uns Luft verschafft, diese Trollocs griffen das Palasttor an. Ich muss mich dafür entschuldigen, dass wir so lange brauchten, Euch zu erreichen – uns war im ersten Moment nicht klar, was sie in diese Richtung lockte.«

»Beim Licht. Der Palast steht noch?«

»Ja«, sagte Guybon. »Aber er ist mit Flüchtlingen überfüllt.«

»Was ist mit den Machtlenkern?«, fragte Talmanes hoffnungsvoll. »Warum sind die Heere Andors nicht mit der Königin zurückgekehrt?«

»Schattenfreunde.« Guybon runzelte die Stirn. »Ihre Majestät nahm die meisten der Kusinen mit, auf jeden Fall die Stärksten unter ihnen. Sie ließ vier zurück, die stark genug waren, um gemeinsam ein Wegetor zu erschaffen, aber … der Angriff … ein Meuchelmörder tötete zwei von ihnen, bevor die anderen beiden ihn aufhalten konnten. Allein sind die beiden nicht stark genug, um Hilfe zu rufen. Sie setzen ihre Kräfte zum Heilen ein.«

»Blut und verfluchte Asche«, stieß Talmanes hervor, obwohl er bei den Worten einen Stich der Hoffnung verspürte. Vielleicht konnten diese Frauen keine Wegetore machen, aber vielleicht, nur vielleicht würden sie seine Wunde Heilen können. »Ihr solltet die Flüchtlinge aus der Stadt schaffen, Guybon. Meine Männer halten das Südtor.«

»Ausgezeichnet«, sagte Guybon. »Aber Ihr werdet die Flüchtlinge führen müssen. Ich muss den Palast verteidigen.«

Talmanes blickte ihn stirnrunzelnd an; von Guybon nahm er keine Befehle entgegen. Die Bande hatte ihre eigene Befehlsstruktur und erstattete allein der Königin Bericht. Dafür hatte Mat gesorgt, als er den Kontrakt unterschrieben hatte.

Leider nahm Guybon auch keine Befehle von ihm entgegen. Er holte tief Luft und schwankte, als ihn Schwindel erfasste. Melten griff nach seinem Arm, damit er nicht umkippte.

Beim Licht, diese Schmerzen. Konnte seine Seite nicht mitspielen und einfach jedes Gefühl verlieren? Blut und verdammte Asche. Er musste zu diesen Kusinen.

»Die beiden Frauen, die Heilen können?«, sagte er hoffnungsvoll.

»Ich schickte bereits nach ihnen«, sagte Guybon. »Sobald wir diese Streitmacht sahen.«

Nun, das war doch etwas.

»Ich bleibe hier, das ist mein Ernst«, warnte Guybon. »Ich verlasse diesen Posten nicht.«

»Warum? Die Stadt ist verloren, Mann!«

»Die Königin befahl, durch Wegetore regelmäßig Bericht zu erstatten«, sagte Guybon. »Irgendwann fragt sie sich, warum wir keinen Boten geschickt haben. Sie wird einen Machtlenker schicken, und dieser Bote wird auf dem Reisegelände des Palastes eintreffen. Er …«

»Mein Lord!«, rief eine Stimme. »Mein Lord Talmanes!«

Guybon verstummte, und Talmanes drehte sich um. Filger, einer der Späher, eilte die blutigen Pflastersteine des Hügels hinauf. Er war ein schlanker Mann mit schütterem Haar, und sein Anblick erfüllte Talmanes mit einer bösen Vorahnung. Filger gehörte zu den Männern, die sie am Stadttor zurückgelassen hatten.

»Mein Lord«, stieß Filger keuchend hervor, »die Trollocs haben die Stadtmauern erobert. Sie besetzen die Zinnen und beschießen jeden, der sich zu nahe heranwagt. Oder werfen Speere. Leutnant Sandip schickt mich als Boten.«

»Blut und Asche! Was ist mit dem Tor?«

»Das halten wir«, sagte Filger. »Noch.«

»Guybon.« Talmanes drehte sich wieder um. »Seht es doch ein, Mann; jemand muss dieses Tor verteidigen. Bitte holt die Flüchtlinge und verstärkt meine Männer. Das Tor wird unsere einzige Fluchtmöglichkeit aus der Stadt sein.«

»Aber der Bote der Königin …«

»Die Königin wird schon verdammt noch mal selbst daraufkommen, was hier geschieht, sobald sie nachsehen kommt. Schaut Euch doch um! Den Palast verteidigen zu wollen ist Wahnsinn. Ihr habt keine Stadt mehr, nur noch einen Scheiterhaufen.«

Guybons Miene zeigte alle möglichen Gefühle, seine Lippen waren ein schmaler Strich.

»Ihr wisst, dass ich recht habe«, sagte Talmanes und verzog das Gesicht vor Schmerz. »Meine Männer am Südtor zu verstärken, um es für so viele Flüchtlinge wie möglich offen zu halten, ist das Beste, das Ihr erreichen könnt.«

»Vielleicht«, erwiderte Guybon. »Aber den Palast brennen zu lassen?«

»Ihr könnt dafür sorgen, dass es sich lohnt. Wie wäre es, wenn Ihr ein paar Soldaten zurücklasst, die den Palast verteidigen? Sollen sie die Trollocs so lange abwehren, wie sie können. So lenken sie die Bestien von den Flüchtlingen ab. Wenn Eure Soldaten die Stellung dann nicht länger halten können, können sie auf der anderen Seite durch die Palastgärten entkommen und es hoffentlich bis zum Südtor schaffen.«

»Ein guter Plan«, gestand Guybon widerwillig ein. »Ich tue, was Ihr vorgeschlagen habt, aber was tut Ihr?«

»Ich muss zu den Drachen«, sagte Talmanes. »Wir können sie nicht dem Schatten überlassen. Sie befinden sich in einem Lagerhaus am Rand der Altstadt. Die Königin wollte sie außer Sicht haben, außer Blickweite der Söldnerbanden vor der Stadt. Ich muss sie finden. Sie falls möglich zurückholen. Falls das nicht geht, werde ich sie zerstören.«

»Also gut.« Guybon wandte sich ab. Er akzeptierte das Unausweichliche, aber es gefiel ihm nicht. »Meine Männer werden Euren Vorschlag befolgen; die Hälfte führt die Flüchtlinge aus der Stadt, dann helfen sie Euren Soldaten, das Südtor zu halten. Die andere Hälfte wird noch eine Weile den Palast halten und sich dann zurückziehen. Aber ich begleite Euch.«


»Brauchen wir hier wirklich so viele Lampen?«, verlangte die Aes Sedai von ihrem Hocker im hinteren Teil des Zimmers zu wissen. Genauso gut hätte er ein Thron sein können. »Denkt doch nur an das Öl, das Ihr verschwendet.«

»Wir brauchen die Lampen«, grunzte Androl. Nächtlicher Regen prasselte gegen das Fenster, aber er ignorierte ihn und versuchte, sich auf das Leder zu konzentrieren, das er nähte. Es würde ein Sattel werden. Im Augenblick war er mit dem Gurt beschäftigt, der um den Bauch des Pferdes führte.

Er stach eine Doppelreihe Löcher in das Leder und ließ sich von der Arbeit beruhigen. Die Ahle machte diamantförmige Löcher; mit dem Hammer wäre es schneller gegangen, aber im Augenblick gefiel ihm das Gefühl, die Löcher ohne Hilfe hineinzustechen.

Er griff nach seinem Stichmarkierer und maß den Abstand für die nächsten Stiche, dann machte er weitere Löcher. Für derartige Löcher mussten die flachen Seiten der Diamanten einander entsprechen, damit das Leder später bei Belastung nicht an den Nähten zog. Die sauberen Stiche würden dafür sorgen, dass der Sattel jahrelang hielt. Die Reihen mussten nahe genug beieinanderliegen, um sich gegenseitig zu unterstützen, aber auch nicht zu nahe, damit sie nicht ausrissen. Die Löcher vorher abzumessen half.

Kleine Dinge. Man musste einfach dafür sorgen, dass die kleinen Dinge richtig gemacht wurden, dann …

Seine Finger rutschten ab, und das Diamantloch zeigte nun in die falsche Richtung.

Ärgerlich hätte er das ganze Teil beinahe quer durch den Raum geworfen. Das passierte ihm nun schon zum fünften Mal in dieser Nacht!

Beim Licht, dachte er und drückte die Hände auf den Tisch. Was ist bloß mit meiner Selbstbeherrschung passiert?

Leider kannte er die Antwort auf diese Frage nur zu gut. Die Schwarze Burg, das ist passiert. Er kam sich vor wie ein sechsbeiniger Nachi, der in einem von der Ebbe hinterlassenen Loch lag und verzweifelt auf die Rückkehr des Wassers wartete, während er zusah, wie sich eine Gruppe Kinder mit Eimern den Strand vorarbeitete und alles einsammelte, das irgendwie essbar aussah …

Er atmete ruhig ein und aus, dann nahm er den Gurt. Das würde die schlampigste Arbeit seit Jahren sein, aber er würde sie beenden. Etwas nicht fertigzustellen war fast genauso schlimm, wie die Einzelheiten zu versauen.

»Merkwürdig«, sagte die Aes Sedai. Ihr Name war Pevara von der Roten Ajah. Er fühlte ihre Blicke im Nacken.

Eine Rote. Nun, übereinstimmende Ziele sorgten für ungewöhnliche Schiffskameraden, wie ein altes tairenisches Sprichwort besagte. Aber vielleicht war das saldaeanische Sprichwort hier zutreffender. Wenn sein Schwert an der Kehle deines Feindes liegt, verschwende keine Zeit damit, darüber nachzugrübeln, wann es an deiner lag.

»Ihr wolltet mir von Eurem Leben vor der Schwarzen Burg erzählen«, sagte Pevara.

»Das glaube ich nicht«, erwiderte Androl und fing an zu nähen. »Warum? Was wollt Ihr wissen?«

»Ich bin einfach nur neugierig. Habt Ihr zu denjenigen gehört, die aus eigenem Antrieb herkamen, um sich prüfen zu lassen, oder ist man auf Euch zugekommen?«

Er zog den Faden fest. »Ich kam aus eigenem Willen, wie Euch meines Wissens nach Evin gestern erzählte, als Ihr ihn fragtet.«

»Hm«, machte sie. »Wie ich sehe, überwacht man mich.«

Er senkte das Leder und wandte sich ihr zu. »Bringt man Euch das eigentlich bei?«

»Was denn?«, fragte Pevara unschuldig.

»Einem das Wort im Mund herumzudrehen. Ihr sitzt da, beschuldigt mich im Grunde, Euch nachzuspionieren – während Ihr diejenige seid, die meine Freunde über mich ausfragt.«

»Ich will nur wissen, welche Möglichkeiten mir zur Verfügung stehen.«

»Ihr wollt wissen, warum sich ein Mann dazu entscheidet, zur Schwarzen Burg zu kommen. Warum er lernen will, wie man die Eine Macht lenkt.«

Sie antwortete nicht. Er konnte sehen, wie sie nach einer Antwort suchte, die nicht gegen die Drei Eide verstieß. Sich mit einer Aes Sedai zu unterhalten war wie der Versuch, einer grünen Schlange zu folgen, die sich durch nasses Gras schlängelte.

»Ja«, sagte sie.

Überrascht blinzelte er.

»Ja, ich will es wissen«, fuhr sie fort. »Wir sind Verbündete, ob wir das wollen oder nicht. Ich will wissen, mit wem ich da unter die Decke geschlüpft bin.« Sie musterte ihn. »Natürlich nur bildlich gesprochen.«

Er holte tief Luft und zwang sich zur Ruhe. Er hasste jede Unterhaltung mit Aes Sedai, die grundsätzlich alles verdrehten. Das zusammen mit der Anspannung dieser Nacht und dem Unvermögen, diesen Sattel richtig hinzubekommen …

Er würde ruhig werden, oder das Licht sollte ihn verbrennen!

»Wir sollten uns darin üben, uns zu einem Zirkel zu verknüpfen«, sagte Pevara. »Das wird ein Vorteil für uns sein, wenigstens ein kleiner, sollten Taims Männer kommen und uns holen.«

Androl verdrängte seine Abneigung gegen diese Frau – er hatte nun wirklich andere Sorgen – und zwang sich zum Nachdenken. »Ein Zirkel?«

»Wisst Ihr nicht, was das ist?«

»Ich fürchte nicht.«

Sie schürzte die Lippen. »Manchmal vergesse ich, wie wenig ihr doch alle wisst …« Sie hielt inne, als wäre ihr bewusst geworden, dass sie zu viel gesagt hatte.

»Männer wissen grundsätzlich gar nichts, Aes Sedai«, erwiderte Androl. »Unsere Bildungslücken mögen sich ändern, aber es ist die Natur der Welt, dass kein Mann etwas weiß.«

Auch das schien nicht die Antwort zu sein, mit der sie gerechnet hatte. Dieser harte Blick zerlegte ihn förmlich in seine Einzelteile. Sie konnte Männer, die die Macht lenken konnten, nicht ausstehen – so wie die meisten Menschen –, aber bei ihr steckte mehr dahinter. Sie hatte ihr ganzes Leben damit verbracht, Männer wie Androl zu jagen und zur Strecke zu bringen.

»Ein Zirkel wird erschaffen, wenn Frauen und Männer ihre Kräfte in der Einen Macht miteinander verknüpfen«, sagte Pevara. »Das muss auf eine ganz bestimmte Weise gemacht werden.«

»Der M’Hael wird darüber Bescheid wissen.«

»Männer können ohne Frauen keinen Zirkel erschaffen«, sagte Pevara. »Tatsächlich muss der Zirkel von sehr wenigen Einzelfällen abgesehen mehr Frauen als Männer enthalten. Ein Mann und eine Frau können sich verknüpfen, so wie zwei Frauen und ein Mann oder zwei Frauen und zwei Männer. Der größte Zirkel, den wir jetzt zustande bringen könnten, bestünde also aus dreien, ich und zwei von euch. Trotzdem könnte das für uns von Nutzen sein.«

»Ich suche zwei der anderen, die mit Euch üben können«, versprach Androl. »Von denen, die ich für vertrauenswürdig halte, ist Nalaam der Stärkste. Emarin ist ebenfalls sehr mächtig, und ich glaube, er hat noch nicht einmal den Höhepunkt seiner Kraft erreicht. Das gilt auch für Jonneth.«

»Sie sind die Stärksten? Ihr nicht?«

»Nein.« Er wandte sich wieder seiner Arbeit zu. Der Regen fiel jetzt stärker, ein kalter Luftzug drang unter der Tür herein. Eine der Lampen war fast niedergebrannt und ließ Schatten ins Zimmer. Er warf einen unbehaglichen Blick auf die Dunkelheit.

»Es fällt mir schwer, das zu glauben, Meister Androl«, sagte sie. »Sie schauen alle zu Euch auf.«

»Glaubt, was Ihr wollt, Aes Sedai. Ich bin der Schwächste von ihnen. Vielleicht sogar der schwächste Mann in der Schwarzen Burg.«

Das brachte sie zum Schweigen, und Androl stand auf, um die Lampe aufzufüllen. Er hatte gerade wieder Platz genommen, als ein Klopfen an der Tür die Ankunft von Emarin und Canler ankündigte. Beide waren nass vom Regen, aber sie waren so gegensätzlich, wie zwei Männer es nur sein konnten. Der eine war hochgewachsen und zurückhaltend, der andere mürrisch und ein Klatschmaul. Aber irgendwie schienen sie Gemeinsamkeiten entdeckt zu haben und die Gesellschaft des anderen zu genießen.

»Und?«, fragte Androl.

»Es könnte funktionieren«, sagte Emarin und nahm den regennassen Umhang ab, um ihn neben der Tür an den Haken zu hängen. Darunter trug er in tairenischem Stil bestickte Kleidung. »Man würde einen kräftigen Regensturm brauchen. Die Wächter sind aufmerksam.«

»Ich komme mir vor wie ein Preisbulle auf dem Markt«, murrte Canler und trat Schlamm von den Stiefeln, nachdem er seinen Umhang aufgehängt hatte. »Egal, wo wir auch hingehen, Taims Lieblinge beobachten uns aus den Augenwinkeln. Blut und Asche, Androl. Sie wissen Bescheid. Sie wissen, dass wir fliehen wollen.«

»Habt Ihr Schwachstellen gefunden?«, fragte Pevara und beugte sich vor. »Orte an der Mauer, die weniger aufmerksam beschützt werden?«

»Das scheint von den eingeteilten Wächtern abzuhängen, Pevara Sedai«, sagte Emarin und nickte ihr zu.

»Hmm … ich vermute, das ist richtig. Habe ich übrigens schon erwähnt, wie interessant ich es finde, dass derjenige, der mir den meisten Respekt entgegenbringt, ein Tairener ist?«

»Jemandem mit Höflichkeit zu begegnen ist kein Zeichen für Respekt, Pevara Sedai«, erwiderte Emarin. »Das verrät lediglich eine gute Erziehung und eine ausgeglichene Natur.«

Androl lächelte. Emarin war großartig, wenn es um Beleidigungen ging. Oft wurde dem anderen erst klar, dass er beleidigt worden war, nachdem sie auseinandergegangen waren.

Pevara schürzte die Lippen. »Nun. Wir beobachten den Wächterwechsel. Dann benutzen wir den nächsten Sturm als Deckung und entkommen dort über die Mauer, wo die unserer Meinung nach am wenigsten aufmerksamen Wächter stehen.«

Die beiden Männer wandten sich Androl zu, der sich dabei ertappte, wie er die Zimmerecke anstarrte, wo der vom Tisch geworfene Schatten besonders dunkel war. Wurde er größer? Griff er nach ihm …

»Es gefällt mir nicht, Männer zurückzulassen«, sagte er und zwang sich, den Blick von der Ecke zu lösen. »Hier sind Dutzende Männer und Knaben, die noch nicht unter Taims Kontrolle stehen. Wir können sie nicht alle wegbringen, ohne Aufmerksamkeit zu erregen. Und lassen wir sie zurück, riskieren wir …«

Er konnte es nicht aussprechen. Sie wussten nicht, was hier vor sich ging, jedenfalls nicht genau. Leute veränderten sich. Vertrauenswürdige Verbündete wurden über Nacht zu Feinden. Sie sahen aus wie zuvor und doch ganz anders. Ihre Augen waren anders, genau wie ihre Seelen. Androl fröstelte.

»Die von den Aes-Sedai-Rebellen geschickten Frauen warten noch immer vor den Toren«, sagte Pevara. Sie lagerten dort nun schon eine Weile und behaupteten, der Wiedergeborene Drache hätte ihnen Behüter zugesagt. Taim hatte noch keiner von ihnen den Zugang gewährt. »Wenn wir es zu ihnen schaffen, dann können wir die Burg stürmen und die anderen retten.«

»Wird das wirklich so einfach sein?«, fragte Emarin. »Taim hat ein ganzes Dorf Geiseln. Viele Männer haben ihre Familien mitgebracht.«

Canler nickte. Seine Familie gehörte dazu. Er würde nicht bereit sein, sie zurückzulassen.

»Davon abgesehen«, sagte Androl leise und drehte sich auf seinem Hocker um, um Pevara anzusehen, »glaubt Ihr ehrlich, dass die Aes Sedai hier siegen könnten?«

»Viele haben die Erfahrung von Jahrzehnten, manche sogar von Jahrhunderten.«

»Und wie lange haben sie davon gekämpft?«

Pevara antwortete nicht.

»Hier sind Hunderte Männer, die die Macht lenken können, Aes Sedai«, fuhr Androl fort. »Jeder davon ist gründlich ausgebildet worden, eine Waffe zu sein. Wir lernen nichts über Politik oder Geschichte. Wir studieren nicht, wie man Nationen manipuliert. Wir lernen zu töten. Jeder Mann und jeder Junge wird hier bis an die Grenzen seiner Fähigkeiten getrieben, wird dazu gezwungen zu wachsen. Noch mehr Macht zu erringen. Zu vernichten. Und viele von ihnen sind schon wahnsinnig. Können Eure Aes Sedai dagegen kämpfen? Vor allem, wenn viele der Männer, denen wir vertrauen, also die Männer, die wir retten wollen, aller Voraussicht nach an der Seite von Taims Männern kämpfen werden, wenn sie sehen, dass die Aes Sedai angreifen?«

»Eure Argumente sind nicht ganz von der Hand zu weisen«, sagte Pevara.

Wie eine Königin, dachte er und war wider Willen von ihrer Haltung beeindruckt.

»Aber wir müssen eine Nachricht nach draußen schicken«, fuhr Pevara fort. »Ein direkter Angriff mag unklug sein, aber hier herumzusitzen, bis man uns einen nach dem anderen holt …«

»Ich halte es für klug, jemanden zu schicken«, sagte Emarin. »Wir müssen den Lord Drachen warnen.«

»Der Lord Drache.« Canler schnaubte und setzte sich auf einen Hocker an der Wand. »Er hat uns im Stich gelassen, Emarin. Wir bedeuten ihm nichts. Es …«

»Der Wiedergeborene Drache trägt die Welt auf seinen Schultern«, sagte Androl leise und schnitt damit Canler das Wort ab. »Ich weiß nicht, warum er uns hier zurückgelassen hat, aber ich ziehe die Vorstellung vor, dass er es getan hat, weil er der Ansicht ist, dass wir uns um uns selbst kümmern können.« Androl strich mit den Fingern über das Leder und stand auf. »Das ist der Augenblick, uns zu beweisen, die Prüfung der Schwarzen Burg. Wenn wir zu den Aes Sedai rennen müssen, um uns vor unseren eigenen Leuten zu schützen, dann überstellen wir uns ihrer Autorität. Wenn wir zum Lord Drachen rennen müssen, dann sind wir ein Nichts, sobald es ihn nicht mehr gibt.«

»Mit Taim kann es keine Versöhnung mehr geben«, sagte Emarin. »Wir alle wissen, was er tut.«

Androl mied Pevaras Blick. Sie hatte genau erklärt, was ihrer Ansicht nach hier geschah, und obwohl sie jahrelang geübt hatte, ihre Gefühle unter Kontrolle zu halten, war sie dennoch nicht in der Lage gewesen, die Furcht aus ihrer Stimme zu halten. Dreizehn Myrddraal und dreizehn Machtlenker konnten jeden, der die Macht lenken konnte, mit einem schrecklichen Ritus auf die Seite des Schattens zwingen. Gegen seinen Willen.

»Was er tut, ist das reine unverfälschte Böse«, stimmte Pevara ihnen zu. »Hier geht es nicht länger um eine Spaltung zwischen Männern, die einem Anführer folgen, und jenen, die einem anderen folgen. Das ist das Werk des Dunklen Königs, Androl. Die Schwarze Burg ist unter den Schatten gefallen. Das müsst Ihr akzeptieren.«

»Die Schwarze Burg ist ein Traum«, sagte er und erwiderte ihren Blick. »Eine Zuflucht für Männer, die die Macht lenken können, ein Platz für uns, wo Männer sich weder zu fürchten brauchen oder fliehen müssen, wo sie keinen Hass erfahren. Ich werde das Taim nicht überlassen. Das lasse ich nicht zu.«

Stille trat in den Raum, nur unterbrochen von den Regentropfen, die gegen das Fenster prasselten. Emarin nickte, und Canler stand auf und nahm Androl beim Arm.

»Ihr habt recht«, sagte er. »Soll man mich verbrennen, wenn Ihr nicht recht habt, Androl. Aber was können wir tun? Wir sind schwach und in der Minderzahl.«

»Emarin, habt Ihr je von der Rebellion von Knoks gehört?«, wollte Androl wissen.

»Das habe ich. Sie hat beträchtliches Aufsehen erregt, sogar außerhalb von Murandy.«

»Verfluchte Murandianer«, fauchte Canler. »Die klauen dir den Mantel und schlagen dich blutig, wenn du ihnen nicht von selbst noch deine Schuhe anbietest.«

Emarin hob eine Braue.

»Knoks war ein ordentliches Stück von Lugard entfernt, Canler«, sagte Androl. »Ich glaube, Ihr wärt erstaunt, dass die Menschen dort viel Ähnlichkeit mit den Andoranern haben. Die Rebellion geschah vor etwa … hm, so ungefähr zehn Jahren.«

»Ein paar Bauern erhoben sich gegen ihren Lehnsherrn«, sagte Emarin. »Allen Berichten zufolge hatte er es verdient – Desartin war ein furchtbarer Mensch, vor allem gegenüber denen, die unter ihm standen. Er verfügte über eine große Streitmacht, eine der größten außerhalb von Lugard, und es sah so aus, als wollte er sein eigenes kleines Königreich gründen. Der König konnte nichts daran ändern.«

»Und Desartin wurde entmachtet?«, fragte Canler.

»Von einfachen Männern und Frauen, die seine Willkür einfach nicht länger ertrugen«, sagte Androl. »Am Ende standen viele der Söldner, die seine Kumpane gewesen waren, auf unserer Seite. Obwohl er so stark erschienen war, führte seine Bösartigkeit zu seinem Sturz. Die Dinge hier erscheinen sehr schlimm, aber die meisten von Taims Männern stehen nicht loyal zu ihm. Männer wie er können in anderen keine Loyalität erzeugen. Sie scharen Komplizen um sich, die hoffen, durch ihn Reichtum oder Macht zu erringen. Wir können und werden eine Möglichkeit finden, ihn zu stürzen.«

Die anderen nickten, aber Pevara schaute ihn bloß mit geschürzten Lippen an. Irgendwie kam sich Androl wie ein Narr vor; er teilte keineswegs die Ansicht, dass die anderen zu ihm aufschauten statt zu einer distinguierten Person wie Emarin oder jemandem mit Macht wie Nalaam.

Aus dem Augenwinkel sah er, wie die Schatten unter dem Tisch länger wurden und nach ihm griffen. Er biss die Zähne zusammen. Sie würden es nicht wagen, ihn vor so vielen Zeugen zu holen, oder? Wenn ihn die Schatten verschlingen wollten, würden sie warten, bis er allein war und zu schlafen versuchte.

Die Nächte jagten ihm schreckliche Angst ein.

Jetzt kommen sie schon, wenn ich kein Saidin halte, dachte er. Verflucht, die Quelle wurde gereinigt! Ich sollte den Verstand nicht noch mehr verlieren!

Er packte den Hockersitz, bis das Entsetzen nachließ und sich die Finsternis zurückzog. Canler, der ungewöhnlich fröhlich aussah, verkündete, ihnen etwas zu trinken zu holen. Er wollte in die Küche, aber niemand sollte allein irgendwohin gehen, also zögerte er.

»Ich glaube, ich könnte ebenfalls etwas vertragen«, sagte Pevara mit einem Seufzen und schloss sich ihm an.

Androl setzte sich wieder an seine Arbeit. Emarin holte sich einen Hocker und nahm neben ihm Platz. Er tat es ganz ungezwungen, als suchte er lediglich eine gute Stelle, wo man bequem sitzen und aus dem Fenster sehen konnte.

Aber Emarin tat nichts grundlos. »Ihr habt in der Knoks-Rebellion gekämpft«, sagte er leise.

»Habe ich das gesagt?« Androl beugte sich wieder über das Leder.

»Ihr sagtet, dass die Söldner mit Euch kämpften, als sie die Seite wechselten. Ihr habt ›uns‹ gesagt, als Ihr die Rebellen meintet.«

Androl zögerte. Verflucht, ich muss wirklich besser aufpassen. Wenn das Emarin aufgefallen war, dann auch Pevara.

»Ich war nur auf der Durchreise«, sagte er dann, »und wurde in etwas hineingezogen, womit ich nicht gerechnet hatte.«

»Ihr habt eine seltsame und vielschichtige Vergangenheit, mein Freund«, meinte Emarin. »Je mehr ich darüber erfahre, umso neugieriger werde ich.«

»Ich würde nicht sagen, dass ich der Einzige mit einer interessanten Vergangenheit bin«, murmelte Androl. »Lord Algarin von Haus Pendaloan.«

Emarin riss die Augen weit auf. »Woher wisst Ihr das?«

»Fanshir hatte ein Buch über tairenische Adelsgeschlechter.« Der Asha’man-Soldat Fanshir war Gelehrter gewesen, bevor es ihn in die Burg verschlagen hatte. »Da stand eine seltsame Anmerkung. Ein Haus, das lange unter Männern mit einem namenlosen Problem litt, und der Letzte hatte das Haus keine Dutzend Jahre zuvor beschämt.«

»Ich verstehe. Nun, ich schätze, es ist keine allzu große Überraschung, dass ich ein Adliger bin.«

»Einer, der Erfahrung mit Aes Sedai hat«, fuhr Androl fort, »der sie trotz allem, was sie seiner Familie antaten, mit Respekt behandelt. Oder vielleicht auch gerade deswegen. Ein tairenischer Adliger, wohlgemerkt. Der keine Probleme damit hat, unter Männern zu dienen, die man als Bauernjungen bezeichnen könnte, und der Sympathien für bürgerliche Rebellen hat. Falls ich das so sagen darf, mein Freund, das ist nicht die vorherrschende Einstellung Eurer Landsleute. Ihr dürftet also ebenfalls eine interessante Vergangenheit aufweisen.«

Emarin lächelte. »Ein Punkt für Euch. Ihr wärt großartig im Spiel der Häuser.«

»Das würde ich nicht sagen.« Androl verzog das Gesicht. »Als ich es das letzte Mal versuchte, habe ich beinahe …« Er hielt inne.

»Was?«

»Das sage ich lieber nicht.« Androl errötete. Diesen Teil seines Lebens würde er nicht erklären. Beim Licht, wenn ich so weitermache, hält man mich noch für den gleichen Geschichtenerzähler wie Nalaam.

Emarin heftete den Blick auf den Regen; jeder neue Tropfen verdrängte einen kurzen Augenblick lang das alte Wasser, bevor er ebenfalls seine Form verlor. »Die Knoks-Rebellion hatte nur kurze Zeit Bestand, wenn ich mich richtig erinnere. Innerhalb von zwei Jahren hatte sich das Adelsgeschlecht wieder etabliert, und die Aufrührer wurden vertrieben oder hingerichtet.«

»Ja«, erwiderte Androl leise.

»Also werden wir hier bessere Arbeit leisten«, sagte Emarin und wandte sich ihm zu. »Ich bin Euer Mann, Androl. Das sind wir alle.«

»Nein. Wir sind die Männer der Schwarzen Burg. Wenn es sein muss, führe ich euch an, aber hier geht es nicht um mich oder um euch oder sonst jemanden von uns. Ich habe nur so lange den Befehl, bis Logain zurückkehrt.«

Falls er je zurückkehrt. Wegetore in die Schwarze Burg funktionieren nicht länger. Versucht er zurückzukehren und findet sich ausgesperrt?

»Also gut«, sagte Emarin. »Was also tun wir?«

Draußen krachte der Donner. »Lasst mich nachdenken«, sagte Androl und nahm das Stück Leder und seine Werkzeuge. »Gebt mir eine Stunde.«


»Es tut mir leid«, sagte Jesamyn leise. Sie kniete neben Talmanes. »Ich kann nichts tun. Für meine Fähigkeiten ist diese Wunde viel zu weit fortgeschritten.«

Talmanes nickte und legte den Verband wieder an. An seiner ganzen Seite war die Haut schwarz geworden, wie durch eine schreckliche Erfrierung.

Die Kusine sah ihn stirnrunzelnd an. Sie war eine noch jugendlich aussehende Frau mit blonden Haaren, allerdings konnte ihr Alter wie bei allen Machtlenkerinnen sehr täuschen. »Es erstaunt mich, dass Ihr überhaupt noch laufen könnt.«

»Ich bin mir nicht sicher, dass man es als Laufen bezeichnen kann«, erwiderte Talmanes und hinkte zu den Soldaten zurück. Noch konnte er sich aus eigenen Kräften fortbewegen, aber die Schwindelanfälle kamen jetzt immer häufiger.

Guybon debattierte mit Dennel, der auf seine Karte zeigte und gestikulierte. In der Luft lag so viel Rauch, dass sich viele Männer Taschentücher vors Gesicht geknotet hatten. Sie sahen aus wie ein Haufen verdammter Aiel.

»… selbst die Trollocs ziehen sich aus diesem Viertel zurück«, beharrte Guybon. »Das Feuer wütet zu stark.«

»Die Trollocs ziehen sich in der ganzen Stadt zurück zur Mauer«, erwiderte Dennel. »Sie werden die Stadt die ganze Nacht brennen lassen. Der einzige Teil, der nicht brennt, ist das Viertel mit dem Tor zu den Kurzen Wegen. Dort haben sie sämtliche Gebäude niedergerissen, um eine Bresche zu schlagen.«

»Sie benutzten die Eine Macht«, sagte Jesamyn hinter Talmanes. »Ich spürte es. Schwarze Schwestern. Ich würde nicht vorschlagen, in diese Richtung zu gehen.«

Jesamyn war die letzte der Kusinen; die andere war im Kampf gefallen. Sie war nicht stark genug, um ein Wegetor zu weben, aber sie war auch nicht nutzlos. Talmanes hatte gesehen, wie sie sechs Trollocs verbrannt hatte, die seine Linien durchbrochen hatten.

Er hatte das Scharmützel von der Seitenlinie verfolgt, weil ihn die Schmerzen überwältigt hatten. Glücklicherweise hatte Jesamyn ihm ein paar Kräuter gegeben, die er kauen konnte. Zwar erhöhten sie seine Benommenheit, machten die Schmerzen aber erträglich. Es fühlte sich an, als steckte sein Körper in einem Schraubstock und würde dort langsam zerquetscht, aber immerhin konnte er sich auf den Beinen halten.

»Wir nehmen die schnellste Methode«, sagte er. »Das Viertel, das nicht brennt, ist zu nahe an den Drachen. Ich werde nicht riskieren, dass das Schattengezücht Aludra und ihre Waffen entdeckt.« Vorausgesetzt, das ist nicht schon längst geschehen.

Guybon sah ihn finster an, aber das war ein Einsatz der Bande. Guybon war willkommen, aber er war kein Teil ihrer Befehlskette.

Talmanes’ Streitmacht bewegte sich weiter durch die dunkle Stadt, immer auf der Hut vor Hinterhalten. Obwohl sie den ungefähren Standort des Lagerhauses kannten, war der Weg dorthin problematisch. Viele Hauptstraßen waren durch Trümmer, Feuer oder den Feind blockiert. Die Männer mussten sich im Schneckentempo durch Nebenstraßen und Gassen bewegen, die so gewunden waren, dass selbst Guybon und die anderen aus Caemlyn Mühe hatten, die Orientierung nicht zu verlieren.

Ihr Weg führte sie an Stadtteilen vorbei, wo das Feuer so heiß war, dass es vermutlich die Pflastersteine schmolz. Talmanes starrte in die Flammen, bis sich seine Augen trocken anfühlten, dann führte er seine Männer zum nächsten Umweg.

Zoll für Zoll näherten sie sich Aludras Lagerhaus. Zweimal stießen sie auf Trollocs, die Jagd auf Flüchtlinge machten. Sie erledigten die Bestien, die verbliebenen Armbrustmänner streckten über die Hälfte jeder Gruppe nieder, bevor sie reagieren konnten.

Talmanes sah zu, traute sich aber einen Kampf nicht mehr zu. Die Wunde hatte ihn zu sehr geschwächt. Beim Licht, warum nur hatte er sein Pferd zurückgelassen? Eine dumme Idee. Nun, die Trollocs hätten es eh verjagt.

Ich fange an, immer das Gleiche zu denken. Er zeigte mit dem Schwert auf eine abzweigende Gasse. Die Kundschafter eilten voraus und kontrollierten beide Richtungen, bevor sie freien Weg signalisierten. Ich kann kaum noch denken. Es dauert nicht mehr lange, bevor mich die Dunkelheit überfällt.

Aber zuerst würde er dafür sorgen, dass die Drachen in Sicherheit waren. Das musste er.

Talmanes stolperte aus der Gasse auf eine vertraute Straße. Sie waren ganz in der Nähe. Die Gebäude auf der einen Straßenseite brannten. Die dort stehenden Statuen sahen aus wie arme Seelen, die in den Flammen gefangen waren. Um sie herum wütete das Feuer, aber noch standen sie, während sich ihr weißer Marmor langsam schwärzte.

Auf der anderen Straßenseite herrschte Stille, dort brannte nichts. Von den Statuen geworfene Schatten tanzten wie ausgelassene Feiernde, die zusahen, wie ihre Feinde verbrannten. Die Luft stank unerträglich nach Rauch. Diese Schatten und die brennenden Statuen schienen sich in Talmanes’ benommenem Sichtfeld zu bewegen. Tanzende Schattenkreaturen. Sterbende Schönheiten, die von einer Krankheit verzehrt wurden. Sie überzog die Haut, schwärzte sie, fraß sie und tötete die Seele …

»Wir sind ganz nahe!«, sagte Talmanes und zwang sich zu einem stolpernden Lauf. Er durfte die anderen nicht bremsen. Wenn das Feuer das Lagerhaus erreicht …

Sie kamen zu einer ausgebrannten Stelle; das Feuer war hier gewesen und anscheinend bereits wieder verschwunden. Einst hatte hier ein großes Lagerhaus aus Holz gestanden, aber davon war nicht mehr viel übrig. Hier gab es nur noch qualmende Balken, Trümmer und halb verbrannte Trollocs.

Stumm versammelten sich die Männer um Talmanes. Die einzigen Laute kamen von den prasselnden Flammen. Kalter Schweiß tropfte von Talmanes’ Gesicht.

»Wir waren zu spät«, flüsterte Melten. »Sie haben sie, richtig? Die Drachen wären laut explodiert, hätten sie Feuer gefangen. Das Schattengezücht kam, nahm die Drachen und brannte das Haus nieder.«

Um Talmanes sanken erschöpfte Mitglieder der Bande auf die Knie. Mat, es tut mir leid, dachte er. Wir haben es versucht. Wir haben …

Plötzlich hallte ein Laut wie ein Donnerschlag durch die Stadt. Er erschütterte Talmanes bis in die Knochen, und die Männer schauten auf.

»Beim Licht«, stieß Guybon hervor. »Das Schattengezücht benutzt die Drachen?«

»Nicht unbedingt«, sagte Talmanes. Neue Kraft flackerte in ihm auf, und er lief wieder los. Seine Männer umringten ihn.

Jeder neue Schritt schickte einen stechenden Schmerz durch seine Seite. Er passierte die Statuen, die zu seiner Rechten von Flammen eingehüllt wurden, während zu seiner Linken kalte Stille herrschte.

BUMM!

Die Explosionen klangen nicht laut genug, um von Drachen stammen zu können. Konnten sie auf eine Aes Sedai hoffen? Der Lärm schien Jesamyn aufgemuntert zu haben, und sie lief mit geschürzten Röcken an der Seite der Männer. Die Gruppe stürmte zwei Straßen vom Lagerhaus entfernt um eine Ecke und sah sich mit Reihen fauchenden Schattengezüchts konfrontiert, das ihnen den Rücken zuwandte.

Talmanes stieß einen überraschten lauten Schrei aus und hob mit beiden Händen das Schwert. Das Feuer aus seiner Verletzung hatte sich in seinem ganzen Körper ausgebreitet; selbst seine Finger brannten. Er kam sich vor wie eine der Statuen, dazu verdammt, zusammen mit der Stadt zu brennen.

Er enthauptete einen Trolloc, bevor der überhaupt von seiner Existenz ahnte, dann warf er sich auf die nächste Kreatur. Sie wich mit einer beinahe flüssigen Anmut aus und wandte ihm ein Gesicht zu, das keine Augen hatte; ihr Umhang bewegte sich nicht im Wind. Bleiche Lippen zogen sich zu einem Knurren zurück.

Talmanes musste lachen. Warum nicht? Und die Männer behaupteten, er hätte keinen Sinn für Humor. Er wählte ›Apfelblüten im Wind‹ und schlug mit Kraft und Mut zu, die dem Feuer entsprachen, das ihn umbrachte.

Offensichtlich war der Myrddraal im Vorteil. Im besten Fall hätte Talmanes Hilfe gebraucht, um gegen einen von ihnen zu kämpfen. Das Ding bewegte sich wie ein Schatten, floss von einer Schwertfigur zur nächsten, und seine schreckliche Klinge zuckte Talmanes entgegen. Offensichtlich war das Ungeheuer der Ansicht, ihm bloß einen Kratzer zufügen zu müssen.

Es traf seine Wange, die Schwertspitze schnitt einen sauberen Strich in die Haut. Talmanes lachte nur und schlug die Waffe mit seiner Klinge zur Seite, was den Blassen überrascht den Mund aufreißen ließ. So hatten Männer nicht zu reagieren. Sie sollten durch den brennenden Schmerz aufschreien, weil sie wussten, dass ihr Leben am Ende war.

»Ich hatte bereits eines eurer verdammten Schwerter in mir stecken, du verfluchte Missgeburt«, schrie Talmanes und griff ununterbrochen an. ›Schmied hämmert auf die Klinge‹. Eine so primitive Schwertfigur. Es passte perfekt zu seiner Stimmung.

Der Myrddraal stolperte. Talmanes nahm mit einer anmutigen Bewegung den Fuß zurück, zog das Schwert an die Seite und schlug dem Ding den bleichen weißen Arm am Ellbogen ab. Der Unterarm wirbelte durch die Luft, die Klinge des Blassen löste sich aus den verkrampften Fingern. Talmanes holte aus, führte die Klinge mit beiden Händen und trennte dem Blassen den Kopf von den Schultern.

Dunkles Blut schoss in die Höhe, und das Ungeheuer strauchelte, krallte mit der verbliebenen Hand nach dem blutigen Stumpf, während es zusammenbrach. Talmanes stand über ihn gebeugt, plötzlich war sein Schwert viel zu schwer, um es noch länger festhalten zu können. Es rutschte aus seinen Fingern und landete klirrend auf dem Straßenpflaster. Er verlor das Gleichgewicht und stürzte vornüber, aber eine Hand fing ihn auf.

»Beim Licht!«, rief Melten aus und starrte den Kadaver an. »Noch einen?«

»Ich habe das Geheimnis entdeckt, wie man sie besiegt«, flüsterte Talmanes. »Man muss einfach vorher schon tot sein.« Er kicherte selbstzufrieden, obwohl ihn Melten einfach nur verblüfft anzuschauen schien.

Um sie herum brachen Dutzende Trollocs mit zuckenden Gliedern zusammen. Sie waren mit dem Blassen verbunden gewesen. Die Bande scharte sich um Talmanes, einige trugen Wunden, ein paar waren tot. Sie waren erschöpft und ausgelaugt; diese Gruppe Trollocs hätte sie auslöschen können.

Melten hob Talmanes’ Schwert auf und säuberte es, aber sein Anführer hatte Probleme, aufrecht zu stehen, also schob er es ihm in die Scheide und ließ einen Mann einen Trolloc-Speer holen, auf den er sich stützen konnte.

»He, dahinten auf der Straße!«, rief eine Stimme aus der Ferne. »Wer auch immer Ihr seid, danke!«

Talmanes humpelte vorwärts. Filger und Mar eilten los, ohne einen Befehl zu brauchen. Die Straße war dunkel und mit Tiermenschen übersät, die Augenblicke zuvor verendet waren, also dauerte es einen Moment, bis Talmanes über die Kadaver steigen und sehen konnte, wer da gerufen hatte.

Jemand hatte am Ende der Straße eine Barrikade errichtet. Gestalten standen dort oben, eine davon hielt eine Fackel. Das lange Haar hatte sie zu Zöpfen geflochten, und sie trug ein schlichtes braunes Kleid mit einer weißen Schürze. Es war Aludra.

»Cauthons Soldaten«, sagte Aludra wenig beeindruckt. »Ihr habt euch wirklich Zeit gelassen, um mich zu holen.« In der Hand hielt sie einen Lederzylinder, der größer als eine Männerfaust war; eine kurze dunkle Zündschnur ragte daraus hervor. Talmanes wusste, dass sie explodierten, nachdem man sie anzündete und warf. Die Bande hatte sie bereits eingesetzt und mit Schlingen geschleudert. Sie waren nicht so verheerend wie die Drachen, aber trotzdem wirksam.

»Aludra«, rief Talmanes, »habt Ihr die Drachen? Bitte, sagt mir, dass Ihr sie gerettet habt.«

Sie schnaubte und gab ein paar Leuten ein Zeichen, einen Teil der Barrikade wegzuräumen, damit seine Männer sie passieren konnten. Anscheinend hatte sie dort mehrere Hundert – vielleicht sogar mehrere Tausend – Caemlyner versammelt, die die Straße füllten. Als sie den Weg frei machte, erwartete Talmanes ein wunderbarer Anblick. Umgeben von den Städtern standen dort einhundert Drachen.

Das Bronzerohr war auf einem hölzernen Drachenkarren befestigt, um eine Einheit zu bilden, die von zwei Pferden gezogen wurde. Eigentlich waren sie ganz beweglich, wenn man es mal genau betrachtete. Man konnte diese Karren am Boden verankern und die Drachen abfeuern, sobald die Pferde abgeschirrt waren. Hier befanden sich mehr Menschen als nötig, um die Arbeit der Zugpferde zu erledigen.

»Glaubt Ihr, ich hätte sie zurückgelassen?«, fragte Aludra. »Diesem Haufen da fehlt die nötige Ausbildung, um sie zu bedienen. Aber sie können einen Karren genauso gut ziehen wie jeder andere auch.«

»Wir müssen sie von hier wegschaffen«, sagte Talmanes.

»Ist Euch das gerade eben eingefallen?«, fragte Aludra. »Als hätte ich das nicht schon längst versucht. Euer Gesicht, was ist damit?«

»Ich habe mal zu scharfen Käse gegessen, danach war ich nie wieder derselbe.«

Aludra betrachtete ihn mit schief gelegtem Kopf. Wenn ich vielleicht mehr lächeln würde, wenn ich einen Witz mache, dachte er träge und lehnte sich gegen die Barrikade. Vielleicht würde man mich dann besser verstehen. Natürlich warf das die Frage auf, ob er wirklich wollte, dass man ihn verstand. Oft war es so doch viel amüsanter. Außerdem war ein Lächeln so aufdringlich. Wo blieb da die Subtilität? Und …

Und er hatte wirklich Probleme, sich zu konzentrieren. Er sah Aludra blinzelnd an, deren Miene im Fackellicht echte Besorgnis verriet.

»Was mit meinem Gesicht ist?« Talmanes berührte seine Wange. Blut. Der Myrddraal. Genau. »Bloß ein Schnitt.«

»Und die Adern?«

»Adern?«, fragte er, dann fiel sein Blick auf seine Hand. Schwarze Ranken hatten sich um sein Handgelenk gewunden, waren über den Handrücken gewandert und näherten sich nun den Fingern, als würde Efeu unter seiner Haut wuchern. Sie wurden dunkler, noch während er hinschaute. »Ach, das! Unglücklicherweise sterbe ich. Schrecklich tragisch. Ihr habt nicht zufällig Branntwein?«

»Ich …«

»Mein Lord!«, rief eine Stimme.

Talmanes blinzelte, dann zwang er sich dazu, sich umzudrehen, während er sich schwer auf den Speer stützte. »Ja, Filger?«

»Noch mehr Trollocs, mein Lord. Eine ganze Menge! Sie strömen hinter uns zusammen.«

»Ganz reizend. Deckt die Tafel. Ich hoffe, wir haben genug Geschirr. Ich habe es doch gewusst, wir hätten die Magd diese 5731 Gedecke holen lassen sollen.«

»Geht es Euch … gut?«, fragte Aludra.

»Blut und verfluchte Asche, Frau, sehe ich so aus, als ginge es mir gut? Guybon! Der Rückzug ist abgeschnitten. Wie weit sind wir vom Osttor entfernt?«

»Das Osttor?«, rief der Gardehauptmann. »Vielleicht ein Marsch von einer halben Stunde. Wir müssen den Hügel weiter hinunter.«

»Dann geht es los«, sagte Talmanes. »Nehmt die Späher und geht an der Spitze. Dennel, kümmert Euch darum, dass sich die Städter vernünftig organisieren, um die Drachen zu ziehen! Haltet Euch bereit, die Waffen aufzubauen.«

»Talmanes«, sagte Aludra. »Die Dracheneier und das Pulver, das meiste mussten wir zurücklassen. Wir brauchen die Vorräte aus Baerlon. Wenn Ihr die Drachen heute aufstellt … Ein paar Schüsse, mehr habe ich nicht für Euch.«

Dennel nickte. »Drachen sind nicht dafür gedacht, für sich allein Frontreihen zu bilden, mein Lord. Sie brauchen Unterstützung, um den Feind daran zu hindern, zu nahe zu kommen und die Waffen zu zerstören. Wir können diese Drachen bemannen, aber ohne Infanterie werden wir nicht lange durchhalten.«

»Darum fliehen wir ja«, erwiderte Talmanes. Er machte einen Schritt, und ihm war so schwindelig, dass er beinahe stürzte. »Und ich glaube … ich glaube, ich brauche ein Pferd …«


Moghedien trat auf eine Plattform aus Stein, die mitten auf dem offenen Meer trieb. Gläsern und blau kräuselte sich das Wasser in der schwachen Brise, aber Wellen gab es keine. Es war auch kein Land in Sicht.

Moridin stand an der Seite der Plattform, die Hände auf dem Rücken verschränkt. Vor ihm brannte das Meer. Das Feuer erzeugte keinen Rauch, aber es war heiß, und das Wasser in der Nähe zischte und kochte. Ein Steinfußboden in der Mitte eines grenzenlosen Meeres. Brennendes Wasser. Moridin hatte schon immer seinen Spaß daran gehabt, in seinen Traumsplittern unmögliche Dinge zu erschaffen.

»Setzt Euch«, sagte er, ohne sich umzudrehen.

Sie gehorchte und wählte einen der vier Stühle, die unversehens in der Plattformmitte standen. Der Himmel war tiefblau und wolkenlos, und die Sonne hatte etwa drei Viertel ihres Weges zum Zenit zurückgelegt. Wie lange war es schon her, dass sie in Tel’aran’rhiod die Sonne gesehen hatte? In letzter Zeit hatte der allgegenwärtige schwarze Sturm den Himmel verdeckt. Andererseits war das hier nicht ganz das Tel’aran’rhiod. Es war auch nicht Moridins Traum, sondern eine Vermengung von beidem. Wie ein kurzfristiger Unterstand an der Seite der Traumwelt. Eine Blase miteinander verschmolzener Realitäten.

Moghedien trug ein schwarz-goldenes Gewand, der Spitzenbesatz an den Ärmeln erinnerte vage an ein Spinnennetz. Aber nur vage. Man tat gut daran, nicht jeden Gedanken weiterzuverfolgen.

Als sie sich setzte, versuchte sie Kontrolle und Selbstvertrauen auszustrahlen. Einst war ihr das nicht schwergefallen. Heute war allein der Versuch, auch nur eines davon zustande zu bringen, wie der Versuch, Flocken von Algode aus der Luft zu pflücken, nur damit sie ihr wieder aus der Hand glitten. Sie biss die Zähne zusammen und verspürte Wut. Sie war eine der Auserwählten. Sie hatte Könige zum Weinen gebracht und Heere erzittern lassen. Ganze Generationen von Müttern hatten ihren Kindern mit ihrem Namen Angst gemacht. Und jetzt …

Sie berührte ihren Hals, den dort ruhenden Anhänger. Er war noch immer sicher. Das wusste sie, aber die Berührung brachte ihr Sicherheit.

»Gewöhnt Euch nicht zu sehr daran«, sagte Moridin. Ein Windzug strich über ihn hinweg und kräuselte die makellose Meeresoberfläche. Der Wind trug leise Schreie heran. »Noch hat man Euch nicht alles vergeben, Moghedien. Das ist eine Bewährung. Vielleicht gebe ich die Geistfalle bei Eurem nächsten Versagen Demandred.«

Sie schnaubte. »Er würde sie gelangweilt zur Seite werfen. Demandred interessiert sich nur für eine Sache. Al’Thor. Jeder, der ihn nicht zu diesem Ziel führt, ist für ihn bedeutungslos.«

»Ihr unterschätzt ihn«, sagte Moridin leise. »Der Große Herr ist mit Demandred zufrieden. Sehr zufrieden sogar. Ihr hingegen …«

Moghedien sank in sich zusammen und erinnerte sich deutlich an ihre Qualen. Schmerzen, wie sie auf dieser Welt nur wenige je erlebt hatten. Schmerzen, wie sie ein Körper eigentlich nicht aushalten sollte. Sie umklammerte das Cour’souvra und umarmte Saidar. Das brachte eine gewisse Erleichterung.

Zuvor hatte es quälende Pein mit sich gebracht, im selben Raum wie das Cour’souvra die Macht zu lenken. Aber da jetzt sie die Geistfalle trug und nicht Moridin, war das nicht länger der Fall. Nicht nur ein Anhänger, dachte sie und umfasste ihn fester. Meine Seele. Sie hätte nie gedacht, dass ausgerechnet sie von allen Menschen dem jemals ausgesetzt werden würde. War sie nicht die Spinne, die in allem große Vorsicht walten ließ?

Sie hob die andere Hand und umklammerte die, die bereits die Geistfalle hielt. Was, wenn sie sich von der Kette löste, wenn jemand sie ihr wegnahm? Sie würde sie nicht verlieren. Sie konnte sie nicht verlieren.

Das ist also aus mir geworden? Übelkeit stieg in ihr empor. Ich muss mich erholen. Irgendwie. Sie zwang sich, die Geistfalle loszulassen.

Die Letzte Schlacht war da; Horden von Trollocs strömten bereits in die Länder des Südens. Das war ein neuer Schattenkrieg, aber allein sie und die anderen Auserwählten kannten die wahren Geheimnisse der Einen Macht. Die, die man sie nicht gezwungen hatte, diesen schrecklichen Frauen zu offenbaren …

Nein, nicht daran denken. Die Qualen, das Leid, das Versagen.

In diesem Krieg standen sie keinen hundert Gefährten gegenüber, keinen Aes Sedai, die seit Jahrhunderten ihre Fertigkeiten pflegten. Sie würde sich beweisen, und die Fehler der Vergangenheit würden in Vergessenheit geraten.

Moridin starrte weiter auf die unmöglichen Flammen. Die einzigen Laute kamen von dem Feuer und dem in der Nähe brodelnden Wasser. Irgendwann würde er erklären, warum er sie herbefohlen hatte, nicht wahr? In letzter Zeit hatte er sich zusehends seltsam verhalten. Vielleicht kehrte ja sein Wahnsinn zurück. Einst hätte der Mann namens Moridin – oder Ishamael oder Elan Morin Tedronai – das Cour’souvra einer seiner Rivalen mit Begeisterung behalten. Er hätte sich Strafen einfallen lassen und sich an ihren Qualen ergötzt.

Anfangs war es auch so gewesen, aber dann … hatte er das Interesse verloren. Er verbrachte immer mehr Zeit allein damit, in Flammen zu starren und zu grübeln. Die Strafen, die er ihr und Cyndane auferlegt hatte, waren fast schon wie Routine erschienen.

Diese neue Haltung machte ihn ihrer Meinung nach noch viel gefährlicher.

Neben der Plattform durchschnitt ein Wegetor die Luft. »Müssen wir das wirklich jeden zweiten Tag tun, Moridin?«, fragte Demandred und betrat die Welt der Träume. Gut aussehend und hochgewachsen, hatte er schwarzes Haar und eine große Nase. Er warf Moghedien einen flüchtigen Blick zu und bemerkte die Geistfalle, bevor er weitersprach. »Ich habe wichtige Dinge zu erledigen, und Ihr unterbrecht sie.«

»Es gibt Leute, die Ihr kennenlernen müsst, Demandred«, sagte Moridin leise. »Falls Euch der Große Herr nicht zum Nae’blis ernannte, ohne mich darüber in Kenntnis zu setzen, werdet Ihr tun, was man Euch sagt. Eure Spielzeuge können warten.«

Demandreds Miene verfinsterte sich, aber er sparte sich weitere Einwände. Er schloss das Wegetor, dann drehte er sich um und schaute ins Wasser. Und runzelte die Stirn. Was war in diesem Wasser? Moghedien hatte nicht darauf geachtet. Jetzt kam sie sich dumm vor, dass sie darauf verzichtet hatte. Was war nur aus ihrer Vorsicht geworden?

Demandred trat zu einem der Stühle neben ihr, setzte sich aber nicht. Er stand einfach nur da und betrachtete Moridin nachdenklich von hinten. Womit war Demandred beschäftigt? Während der Zeit, in der sie an die Geistfalle gefesselt gewesen war, hatte sie Moridins Befehle befolgt, aber sie hatte nichts über Demandred herausfinden können.

Der Gedanke an die Wochen unter seiner Kontrolle ließ sie erneut frösteln. Ich werde meine Rache bekommen.

»Ihr habt Moghedien freigelassen«, sagte Demandred. »Was ist mit dieser … Cyndane?«

»Sie geht Euch nichts an«, erwiderte Moridin.

Moghedien war keineswegs entgangen, dass er noch immer Cyndanes Geistfalle trug. Cyndane. In der Alten Sprache bedeutete das »letzte Chance«, aber das Geheimnis der wahren Natur dieser Frau hatte Moghedien entschlüsseln können. Moridin hatte Lanfear höchstpersönlich aus Sindhol gerettet und sie von den Kreaturen befreit, die sich an ihrer Fähigkeit zum Machtlenken labten.

Um sie zu retten und natürlich auch um sie zu bestrafen, hatte Moridin sie getötet. Das hatte es dem Großen Herrn ermöglicht, ihre Seele wieder einzufangen und in einen neuen Körper zu pflanzen. Brutal, aber sehr effektiv. Genau die Art von Lösung, die der Große Herr bevorzugte.

Moridin konzentrierte sich auf seine Flammen, und Demandred auf ihn, also nutzte Moghedien die Gelegenheit, sich von ihrem Stuhl zu erheben und an den Rand der schwebenden Steinplattform zu treten. Das Wasser war völlig klar. Sie konnte deutlich Menschen ausmachen. Ihre Beine waren an etwas in der Tiefe angekettet, die Arme auf den Rücken gefesselt. So trieben sie dort. Wie Seetang.

Es waren Tausende. Jeder von ihnen starrte mit weit aufgerissenen Augen entsetzt gen Himmel. Sie waren in einem ständigen Zustand des Ertrinkens gefangen. Nicht tot, sterben durften sie nicht, aber sie schnappten ständig nach Luft und fanden bloß Wasser. Während Moghedien zuschaute, griff etwas Dunkles aus der Tiefe zu und riss einen von ihnen nach unten. Blut erblühte wie eine sich entfaltende Blume; das ließ die anderen nur noch energischer zappeln.

Moghedien lächelte. Es tat gut, auch mal jemand anders außer ihr leiden zu sehen. Vielleicht handelte es sich bei ihnen ja bloß um Phantasiegebilde, aber durchaus möglich, dass das diejenigen waren, die den Großen Herrn enttäuscht hatten.

An der Seite der Plattform öffnete sich ein weiteres Wegetor, und eine fremde Frau trat hindurch. Die Kreatur hatte schrecklich abstoßende Züge, eine gekrümmte Knollennase und wässrige Augen, die nicht auf gleicher Höhe lagen. Ihr Kleid aus gelber Seide war durchaus kostbar, unterstrich aber bloß die Hässlichkeit dieser Frau.

Moghedien verzog hämisch das Gesicht und kehrte zu ihrem Stuhl zurück. Warum ließ Moridin eine Fremde an einem ihrer Treffen teilnehmen? Diese Frau konnte die Macht lenken; sie konnte nur eine dieser nutzlosen Frauen sein, die sich in diesem Zeitalter als Aes Sedai bezeichneten.

Zugegeben, mächtig ist sie ja, dachte Moghedien, während sie Platz nahm. Wie hatte sie nur so ein Talent unter den Aes Sedai übersehen können? Ihre Späher hatten dieses elende Leichtgewicht Nynaeve fast sofort gefunden, aber diese hässliche Vettel hatten sie übersehen?

»Die da sollen wir kennenlernen?«, fragte Demandred und verzog angewidert die Lippen.

»Nein«, sagte Moridin gedankenverloren. »Ihr kennt Hessalam schon.«

Hessalam? In der Alten Sprache bedeutete das »keine Vergebung«. Die Frau erwiderte stolz Moghediens Blick, und ihre Haltung hatte etwas durchaus Vertrautes.

»Ich habe viel zu tun, Moridin«, sagte die Fremde. »Ich hoffe, es ist wirklich wichtig …«

Moghedien stockte der Atem. Dieser Tonfall …

»Nicht in diesem Ton«, unterbrach Moridin sie. Er sagte es leise, drehte sich noch immer nicht um. »Bei keinem von uns. Im Augenblick steht sogar Moghedien höher in der Gunst als Ihr.«

»Graendal?«, stieß Moghedien entsetzt hervor.

»Benutzt nicht diesen Namen!« Moridin fuhr auf dem Absatz herum. Die Flammen des brennenden Wassers schossen in die Höhe. »Man hat ihn ihr abgenommen.«

Graendal – Hessalam – setzte sich, ohne Moghedien noch einmal anzuschauen. Ja, diese Haltung war vertraut. Sie war es.

Um ein Haar hätte Moghedien vor Vergnügen gekräht. Graendal hatte ihr Aussehen stets als Keule benutzt. Nun, jetzt war es eine Keule der anderen Art. Einfach großartig! Die Frau musste sich innerlich doch ununterbrochen winden. Was hatte sie getan, um eine derartige Strafe zu verdienen? Graendals Status, ihre Autorität, die Mythen, die sie inspiriert hatte – das alles hatte in ihrer Schönheit gefußt. Und jetzt? Ob sie wohl anfing, nach den hässlichsten Menschen auf der Welt zu suchen, um sie sich als Schoßtiere zu halten, als die Einzigen, die mit ihrer Hässlichkeit konkurrieren konnten?

Diesmal musste Moghedien lachen. Ein leises Lachen, aber Graendal hörte es. Der Blick, den die Frau ihr zuwarf, hätte gereicht, um selbst einen Teil des Ozeans anzuzünden.

Moghedien erwiderte ihn seelenruhig und fühlte sich nun selbstbewusster. Sie widerstand dem Drang, das Cour’souvra zu streicheln. Tu, was immer du willst, Graendal, dachte sie. Jetzt sind wir ebenbürtig. Wir werden ja sehen, wer in diesem Rennen einen Kopf voraus ist.

Ein starker Wind kam auf, und die Wasseroberfläche wurde aufgepeitscht, obwohl die Plattform selbst unbewegt blieb. Moridin ließ sein Feuer erlöschen, und in der Nähe stiegen nun Wellen empor. Moghedien konnte darin Körper ausmachen, die kaum mehr als dunkle Schatten waren. Einige waren tot. Andere kämpften sich nun ohne die Ketten nach oben, aber kurz bevor sie die Luft erreichten, zog sie stets etwas nach unten.

»Wir sind nun wenige«, sagte Moridin. »Wir vier und die, die am schlimmsten bestraft wird, wir sind der Rest. Von der Definition her macht uns das zu den Stärksten.«

Einige von uns sind das auch, dachte Moghedien. Aber einer von uns wurde von al’Thor getötet und brauchte die Hilfe des Großen Herrn, um zurückkehren zu können, nicht wahr, Moridin? Warum war er eigentlich nie für sein Versagen bestraft worden? Nun, es war besser, in den Handlungen des Großen Herrn nie zu lange nach Gerechtigkeit zu suchen.

»Trotzdem sind wir zu wenige.« Moridin wedelte mit der Hand, und auf der Seite der Plattform erschien ein Torbogen aus Stein. Kein Wegetor, einfach nur eine Tür. Das war Moridins Traumsplitter; er kontrollierte ihn. Die Tür öffnete sich, und ein Mann trat auf die Plattform.

Er hatte dunkles Haar und die Züge eines Saldaeaners – eine leicht gebogene Nase, leicht schräg gestellte Augen. Er war hochgewachsen und sah gut aus, und Moghedien erkannte ihn. »Der Anführer dieser gerade erst entstandenen männlichen Aes Sedai? Ich kenne diesen Mann, Mazrim …«

»Dieser Name wurde verworfen«, sagte Moridin. »So wie jeder von uns das verwarf, was wir waren und wie uns die Menschen nannten, als wir auserwählt wurden. Von diesem Augenblick an soll dieser Mann allein als M’Hael und einer der Auserwählten bekannt sein.«

»Ein Auserwählter?« Hessalam schien an dem Wort zu ersticken. »Dieses Kind? Er …« Sie verstummte.

Es stand ihnen nicht zu, darüber zu debattieren, wer zum Auserwählten berufen wurde. Sie durften sich untereinander streiten, auch Intrigen schmieden, wenn sie dabei Sorgfalt walten ließen. Aber den Großen Herrn infrage zu stellen … das war nicht erlaubt. Niemals.

Hessalam sprach nicht weiter. Moridin hätte es niemals gewagt, diesen Mann einen Auserwählten zu nennen, hätte der Große Herr dies nicht entschieden. Dagegen gab es keine Einwände. Trotzdem fröstelte Moghedien. Taim … M’Hael … sollte angeblich sehr stark sein, vielleicht sogar so stark wie der Rest von ihnen, aber einen aus diesem Zeitalter zu erheben, die alle nicht das geringste Wissen ihr Eigen nannten … Die Vorstellung, dass dieser M’Hael als ihr ebenbürtig betrachtet werden würde, drehte ihr den Magen um.

»Ich lese Widerspruch aus euren Blicken«, sagte Moridin und sah sie nacheinander an, »auch wenn nur eine von euch dumm genug war, das auszusprechen. M’Hael hat seine Belohnung verdient. Zu viele von uns warfen sich in Auseinandersetzungen mit al’Thor, als man ihn noch für schwach hielt. M’Hael errang stattdessen Lews Therins Vertrauen und übernahm dann den Befehl über die Ausbildung seiner Waffen. Er erhob eine neue Generation von Schattenlords für die Sache des Schattens. Was habt denn ihr drei seit eurer Befreiung vorzuweisen?«

»Ihr werdet die Früchte sehen, die ich erntete, Moridin«, sagte Demandred in gefährlich leisem Tonfall. »Ihr werdet sie in Scheffeln und Herden zählen. Vergesst nur nicht meine Forderung: ich trete al’Thor auf dem Schlachtfeld gegenüber. Sein Blut gehört mir und niemandem sonst.« Er blickte sie nacheinander an, M’Hael als Letzten. Zwischen ihnen schien eine gewisse Vertrautheit zu bestehen. Sie waren einander schon begegnet.

M’Hael lächelte weiterhin. Mit dem hast du einen Rivalen, Demandred, dachte Moghedien. Er will al’Thor fast genauso sehr haben wie du.

In letzter Zeit hatte sich Demandred verändert. Einst wäre es ihm egal gewesen, wer Lews Therin nun tötete – Hauptsache, der Mann starb. Was hatte ihn nur dazu veranlasst, so darauf zu beharren, das selbst zu erledigen?

»Moghedien«, sagte Moridin. »Demandred hat Pläne für den kommenden Krieg. Ihr helft ihm.«

»Ich soll ihm helfen?«, sagte sie. »Ich …«

»Vergesst Ihr Euch so schnell, Moghedien?« Moridins Stimme war freundlich. »Ihr tut das, was man Euch sagt. Demandred will, dass Ihr auf eines der Heere achtet, denen nun eine vernünftige Überwachung fehlt. Beschwert Euch mit nur einem einzigen Wort, und Ihr werdet erfahren, dass die Schmerzen, die Ihr bis jetzt kennengelernt habt, nur ein Schatten wahrer Agonie sind.«

Ihre Hand fuhr zu dem Cour’souvra an ihrem Hals. Sie blickte in seine Augen und fühlte ihre Autorität schwinden. Ich hasse dich, dachte sie. Und ich hasse dich noch mehr, weil du mir das vor den anderen antust.

»Die letzten Tage stehen bevor«, verkündete Moridin und wandte ihnen wieder den Rücken zu. »In diesen Stunden verdient ihr euch eure letzten Belohnungen. Falls ihr Groll hegt, bringt es hinter euch. Falls ihr noch Intrigen spinnt, bringt sie zum Abschluss. Macht euer letztes Spiel, denn dies … dies ist das Ende.«


Talmanes lag auf dem Rücken und starrte in den dunklen Himmel. Die Wolken schienen das Licht von unten widerzuspiegeln, das Licht einer sterbenden Stadt. Das war nicht richtig. Licht kam noch immer von oben, oder nicht? Er schloss die Augen.

Kurz nach dem Aufbruch zum Stadttor war er vom Pferd gestürzt. Daran konnte er sich noch erinnern, jedenfalls meistens. Der Schmerz erschwerte das Denken. Leute brüllten sich an.

Ich hätte … ich hätte Mat viel mehr verspotten sollen, dachte er, und der Anflug eines Lächelns zeigte sich in seinen Mundwinkeln. Ein dämlicher Augenblick, so etwas zu denken. Ich muss … ich muss die Drachen finden. Oder haben wir sie bereits gefunden …

»Ich sage Euch doch, diese verdammten Dinger funktionieren so nicht!« Das war Dennels Stimme. »Das sind keine verdammten Aes Sedai auf Rädern. Wir können keine Feuermauer erschaffen. Wir können diese Eisenkugeln in die Ränge der Trollocs schleudern.«

»Sie explodieren.« Guybons Stimme. »Wir könnten diese Extradinger benutzen, wie ich sagte.«

Talmanes’ Augen schlossen sich wieder.

»Die Kugeln explodieren, ja«, sagte Dennel. »Aber zuerst müssen wir sie abschießen. Sie in einer Linie aufzustellen und die Trollocs drübersteigen zu lassen wird nicht viel ausrichten.«

Eine Hand schüttelte Talmanes’ Schulter. »Lord Talmanes«, sagte Melten. »Es liegt keine Ehrlosigkeit darin, es jetzt enden zu lassen. Ich weiß, dass die Schmerzen groß sind. Möge Euch die letzte Umarmung der Mutter behüten.«

Ein Schwert wurde gezogen. Talmanes stählte sich.

Dann entdeckte er, dass er wirklich nicht sterben wollte. Wirklich nicht.

Er zwang die Augen auf und streckte Melten, der über ihm stand, eine Hand entgegen. In der Nähe stand Jesamyn mit vor der Brust verschränkten Armen und sah besorgt aus.

»Helft mir auf die Füße«, sagte Talmanes.

Melten zögerte, gehorchte dann aber.

»Ihr solltet nicht stehen«, meinte Jesamyn.

»Immer noch besser, als ehrenvoll geköpft zu werden«, murrte Talmanes und biss die Zähne gegen den Schmerz zusammen. Beim Licht, war das seine Hand? Sie war so schwarz, sie sah aus, als wäre sie in einem Feuer verkohlt. »Was … was ist hier los?«

»Wir sind in eine Ecke gedrängt, mein Lord«, sagte Melten ernst und grimmig. Er hielt sie alle schon für so gut wie tot. »Dennel und Guybon streiten über die Ausrichtung der Drachen für ein letztes Gefecht. Aludra wiegt die Ladungen ab.«

Endlich stand Talmanes und sackte sofort gegen Melten. Ungefähr zweitausend Menschen drängten sich vor ihm in der Mitte eines großen Platzes. Sie standen so dicht gedrängt wie Männer in der Wildnis, die in einer kalten Nacht die Wärme ihrer Kameraden suchten. Dennel und Guybon hatten die Drachen zu einem Halbkreis aufgestellt, der ins Zentrum der Stadt zeigte. Die Flüchtlinge standen dahinter. Die Bande war dabei, die Drachen zu bemannen; jede Waffe benötigte drei Paar Hände. Fast jedes Mitglied der Bande war zumindest flüchtig darin ausgebildet.

Die Gebäude in der Nähe hatten Feuer gefangen, aber das Licht tat seltsame Dinge. Warum erreichte es nicht die Straßen? Die waren viel zu dunkel. Als hätte man sie angemalt. Wie mit …

Er blinzelte die Schmerzenstränen aus den Augen, als es ihm dämmerte. Trollocs füllten die Straßen wie ein Tintenstrom, der dem ihm entgegengerichteten Halbkreis der Drachen entgegengeflossen war.

Noch hielt etwas die Kreaturen zurück. Sie warten, bis sie alle für einen Sturmangriff zusammenhaben.

Hinter ihnen ertönten Rufe und Knurren. Talmanes drehte sich um und packte Meltens Arm, als die Welt schwankte. Er wartete, bis sie sich wieder beruhigt hatte. Der Schmerz … tatsächlich war der Schmerz nicht mehr ganz so durchdringend. Mehr wie glühende Flammen, die man nicht mehr mit neuen Scheiten fütterte. Er hatte sich an ihm gelabt, aber jetzt war nicht mehr viel für ihn übrig, das er noch fressen konnte.

Als die Welt wieder feste Konturen annahm, erkannte Talmanes die Quelle des Knurrens. Der Platz grenzte an die Stadtmauer, aber Bürger und Soldaten hielten Abstand dazu, denn Trollocs wucherten wie eine dicke Dreckschicht auf den Zinnen. Sie drohten mit ihren Waffen und brüllten die Menschen an.

»Sie schleudern Speere auf jeden, der zu nahe kommt«, berichtete Melten. »Wir hatten gehofft, die Mauer zu erreichen und dann an ihr entlang zum Tor zu kommen, aber das ist unmöglich – nicht, wenn die Ungeheuer dort oben Tod auf uns herabregnen lassen. Alle anderen Wege sind abgeschnitten.«

Aludra trat auf Guybon und Dennel zu. »Ladungen kann ich unter die Drachen platzieren«, sagte sie leise zu ihnen, aber nicht so leise, wie sie es hätte sagen sollen. »Diese Ladungen zerstören die Waffen. Sie könnten die Leute aber auf unangenehme Weise verletzen.«

»Tut es«, erwiderte Guybon sehr leise. »Was die Trollocs mit ihnen anstellen werden, ist noch viel schlimmer, und wir dürfen nicht zulassen, dass die Drachen in die Hände des Schattens fallen. Darum warten sie. Ihre Anführer hoffen, dass ihnen ein Sturmangriff die nötige Zeit verschafft, um uns zu überrennen und die Waffen zu erbeuten.«

»Sie bewegen sich!«, rief ein Soldat von einem der Drachen. »Beim Licht, sie kommen!«

Das Schattengezücht brodelte einer schleimigen Welle gleich die Straße hinunter. Zähne, Nägel, Klauen, viel zu menschliche Augen. Sie kamen von allen Seiten und konnten es nicht erwarten zu töten. Talmanes nahm einen mühevollen Atemzug.

Die Rufe von der Stadtmauer nahmen an Erregung zu. Wir sind umzingelt, dachte Talmanes. Gegen die Mauer gedrängt, in einem Netz gefangen. Wir …

Gegen die Mauer gedrängt.

»Dennel!«, überschrie Talmanes den Lärm. Der Hauptmann der Drachen drehte sich an seiner Reihe um, wo die Männer bereits mit brennenden Zündstäben auf den Befehl warteten, der die eine Salve auslösen würde, die ihnen zur Verfügung stand.

Talmanes nahm einen tiefen Atemzug, der seine Lungen brennen ließ. »Ihr habt mir gesagt, Ihr könntet ein feindliches Bollwerk mit nur wenigen Schüssen dem Erdboden gleichmachen.«

»Natürlich«, rief Dennel zurück. »Aber wir wollen keine Stellung stürmen …« Er verstummte.

Beim Licht, dachte Talmanes. Wir sind alle so erschöpft. Wir hätten das doch sehen müssen. »Ihr da in der Mitte, Rydens Drachentrupp, alles umdrehen!«, brüllte Talmanes. »Der Rest von euch bleibt in Position und feuert auf die angreifenden Trollocs! Bewegt euch, los, los, los!«

Blitzartig kam Bewegung in die Drachenmänner, Ryden und seine Leute drehten ihre Waffen mit quietschenden Rädern eilig um. Die anderen Drachen feuerten über den ganzen Platz. Die Donnerschläge waren ohrenbetäubend und ließen die Flüchtlinge aufschreien und sich die Ohren zuhalten. Es klang wie das Ende der Welt. Hunderte, Tausende Trollocs krachten blutüberströmt zu Boden, als die Dracheneier in ihrer Mitte explodierten. Der Platz füllte sich mit weißem Qualm, der aus den Drachenmündungen strömte.

Die Flüchtlinge, die bereits das, was sie gerade gesehen hatten, völlig aus dem Gleichgewicht geworfen hatte, schrien auf, als sich Rydens Drachen jetzt auf sie richteten, und die meisten von ihnen warfen sich voll Furcht zu Boden und machten den Weg frei. Ein Weg, der die vom Feind besetzte Stadtmauer entblößte. Rydens Drachenreihe bog sich nach innen wie eine Becheröffnung, eine genau entgegengesetzte Formation der Geschütze, die auf den Platz feuerten. Diese Rohre zeigten alle auf die gleiche Stelle der Stadtmauer.

»Gebt mir einen dieser verfluchten Stäbe!«, rief Talmanes und streckte die Hand aus. Einer der Drachenmänner gehorchte und reichte ihm eine der Stangen mit der glühenden roten Spitze. Er stieß sich von Melten ab, fest entschlossen, einen Augenblick lang allein zu stehen.

Guybon eilte heran. In Talmanes’ überanstrengten Ohren klang die Stimme des Mannes ganz leise. »Diese Mauer steht seit Hunderten von Jahren. Meine arme Stadt. Meine arme, bedauernswerte Stadt.«

»Das ist nicht länger Eure Stadt«, sagte Talmanes und reckte die glühende Stange hoch in die Luft, voller Trotz vor einer Mauer voller Trollocs, eine brennende Stadt im Rücken. »Sie gehört ihnen.«

Talmanes schwang den Stab nach unten und zeichnete eine rot glühende Spur in die Luft. Sein Signal löste tosendes Drachenfeuer aus, das über den Platz hallte.

Trollocs oder vielmehr Stücke von ihnen flogen durch die Luft. Die Mauer unter ihnen explodierte wie ein Stapel Bauklötze, auf den jemand mit voller Kraft eingetreten hatte. Talmanes schwankte und ihm wurde schwarz vor Augen, aber er sah noch, wie die Stadtmauer rings um das Loch herum nach außen einstürzte. Als er das Bewusstsein verlor und umkippte, schien der Boden durch die Gewalt seines Sturzes zu erbeben.

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