15 Euren Hals in einer Schlinge

Der Tarasin-Palast in Ebou Dar war bei Weitem nicht das schwierigste Gebäude, in das Mat je eingebrochen war. Das sagte er sich immer wieder, als er zwei Stockwerke über dem Garten an einem Balkon hing.

Mit der einen Hand klammerte er sich an einen Marmorvorsprung, während er mit der anderen den Hut festhielt; der Ashandarei war auf seinen Rücken geschnallt. Sein Bündel hatte er unten im Garten versteckt. Die Nachtluft fühlte sich kühl auf dem Schweiß an, der ihm das Gesicht herunterlief.

Über ihm knirschte die Rüstung von zwei Totenwächtern, als sie den Balkon betraten. Blut und verdammte Asche. Zogen diese Burschen denn niemals ihre Rüstung aus? Sie sahen aus wie verdammte Käfer. Er konnte sie kaum erkennen. Der Balkon wurde von einem hohen schmiedeeisernen Sichtschutz umgeben, der verhindern sollte, dass Leute von unten hineinsehen konnten, aber Mat war nahe genug dran, um die Wächter erkennen zu können.

Beim Licht, sie hielten sich dort wirklich lange auf. Mats Arm fing langsam an zu schmerzen. Die beiden Männer murmelten etwas. Vielleicht wollten sie sich ja setzen und Tee trinken. Oder ein Buch hervorholen und bis spät in die Nacht hinein lesen. Tuon würde diese beiden wirklich entlassen müssen. Warum plauderten sie gemütlich auf einem Balkon? Wo hier doch überall Attentäter herumschleichen konnten!

Dank des Lichts gingen die beiden schließlich wieder hinein. Mat versuchte, bis zehn zu zählen, bevor er sich nach oben schwang, hielt aber nur bis sieben durch. Er stieß eine der unverriegelten Sichtschutzblenden auf und stieg über die Balkonbrüstung.

Dann atmete er leise aus; seine Arme schmerzten. Dieser Palast war trotz der beiden Wächter nicht einmal annähernd so unzugänglich, wie es der Stein von Tear gewesen war, und in ihn hatte sich Mat Zugang verschafft. Und er hatte hier auch noch einen anderen Vorteil: Er war in diesem Palast nach Belieben ein und aus gegangen. Jedenfalls meistens. Er kratzte sich durch das Halstuch im Nacken. Einen Augenblick lang kam es ihm wie eine Kette vor.

Sein Vater hatte dieses Sprichwort gehabt: Man muss immer die Richtung kennen, in die man reiten will. Kein anderer Mann war so ehrlich wie Abell Cauthon gewesen, das hatte jeder gewusst, aber manchen Leuten konnte man nicht weiter trauen, als sie spucken konnten – vor allem das Volk oben in Taren-Fähre. Beim Pferdehandel musste man sich immer bereithalten loszureiten, und man musste immer wissen, in welche Richtung es gehen sollte. Hatte Abell gesagt.

Nun, in den zwei Monaten, in denen Mat in diesem Palast gelebt hatte, hatte er sich mit jedem Ausgang vertraut gemacht – mit jedem Gang und jeder Tür, jedem lockeren Fensterriegel. Welche Sichtschutzblenden leicht zu öffnen und welche für gewöhnlich fest verschlossen waren. Wenn man sich rausschleichen konnte, konnte man sich auch reinschleichen. Einen Moment lang ruhte er sich auf dem Balkon aus, betrat aber nicht das dazugehörige Zimmer. Der zweite Stock war für Gäste bestimmt. Er hätte sich hier einschleichen können, aber das Innere eines Gebäudes war immer besser bewacht als die Außenseite. Es war besser, weiter an der Fassade emporzuklettern.

Dabei durfte man sich nie verleiten lassen, nach unten zu blicken. Glücklicherweise war die Fassade nicht schwierig zu erklettern. Stein- und Holzornamente sorgten für ausreichende Klettervorsprünge. Er musste daran denken, dass er Tylin deswegen einmal gewarnt hatte.

Schweißtropfen krochen Mats Stirn hinunter wie Ameisen ihren Hügel, als er wieder über die Brüstung stieg, sich nach oben zog und an der Mauer in Richtung drittes Stockwerk kletterte. Gelegentlich schlug der Ashandarei gegen seine Beine. Der Wind trug den Geruch des Meeres herbei. Hoch oben roch immer alles besser. Vielleicht war das der Grund, warum Köpfe besser als Füße rochen.

Was für ein blöder Gedanke, schalt sich Mat. Alles, nur um nicht an die Höhe zu denken. Er zog sich auf einen Vorsprung, rutschte mit einem Fuß ab und baumelte kurz. Keuchend atmete er ein und aus, dann machte er weiter.

Da. Über ihm kam Tylins Balkon in Sicht. Natürlich hatten ihre Gemächer mehrere davon; sein Ziel war der am Schlafzimmer und nicht der am Wohnzimmer. Der sah schließlich auf den Mol-Hara-Platz hinaus, und dort wäre seine Kletterei so verräterisch wie eine Fliege auf einem weißen Pudding gewesen.

Wieder schaute er zu dem aufwendig mit Schmiedearbeiten verzierten Balkongeländer hinauf. Er hatte sich immer gefragt, ob er es wohl schaffen würde, dort hinaufzuklettern. Mit Sicherheit hatte er in Betracht gezogen, dort herunterzuklettern.

Nun, eine solche Kletterpartie würde er auf keinen Fall noch einmal in Angriff nehmen, so ein Narr war er nicht, so viel stand fest. Nur dieses eine Mal und das auch nur widerstrebend. Matrim Cauthon wusste schließlich, wie er auf seinen Hals aufpassen musste. Er hatte nicht so lange überlebt, indem er unberechenbare Risiken einging, ob ihm das Glück nun zur Seite stand oder nicht. Wenn Tuon in einer Stadt leben wollte, wo das Oberhaupt ihrer Heere sie umbringen wollte, dann war das ihre Sache.

Er nickte. Er würde dort einsteigen, ihr in einem ganz vernünftigen Tonfall erklären, dass sie diese Stadt verlassen musste und dieser General Galgan sie verriet. Dann konnte er fröhlich seiner Wege gehen und eine anständige Würfelpartie finden. Dazu war er ja schließlich in diese Stadt gekommen. Falls Rand oben im Norden war, wo sich die vielen Trollocs herumtrieben, dann wollte er so weit von diesem Mann entfernt sein, wie das nur möglich war. Zwar tat Rand ihm leid, aber jeder vernünftige Mensch würde einsehen, dass das für ihn die einzige Möglichkeit darstellte. Der Farbenwirbel bildete sich, aber er unterdrückte ihn.

Vernünftig. Er würde ausgesprochen vernünftig sein.

Schwitzend, fluchend und mit schmerzenden Händen zog sich Mat auf den Balkon im dritten Stock. Einer der Riegel der Sichtschutzblenden war locker, genau wie zu der Zeit, als er in diesem Palast gelebt hatte. Ein schneller Ruck mit einer Drahtschlinge reichte aus, um dort hineinzukommen. Er betrat den geschlossenen Balkon, nahm den Ashandarei ab, legte sich auf den Rücken und keuchte, als wäre er den ganzen Weg von Andor nach Tear gelaufen.

Nach ein paar Minuten kam er wieder auf die Füße, dann schaute er über die Brüstung die drei Stockwerke nach unten. Wenn er diese Kletterpartie jetzt von dieser Perspektive aus betrachtete, fühlte er sich ziemlich gut.

Er hob den Ashandarei auf und trat an die Balkontür. Zweifellos würde Tuon mittlerweile Tylins Gemächer bezogen haben. Es waren die besten im ganzen Palast. Mat öffnete die Tür einen Spalt. Er würde einen schnellen Blick hineinwerfen und …

Etwas schoss aus den Schatten vor ihm und bohrte sich direkt über seinem Kopf in den Türrahmen.

Mat ließ sich fallen, rollte sich ab, zog ein Messer mit der einen und hielt den Ashandarei mit der anderen Hand. Die Wucht des Armbrustbolzens ließ die Tür aufschwingen.

Einen Augenblick später schaute Selucia hinaus. Ihre rechte Kopfseite war glatt rasiert, die andere Seite verbarg ein Tuch. Ihre Haut hatte die Farbe von Sahne, aber jeder Mann, der sie für weich hielt, würde sehr schnell eines Besseren belehrt. Selucia hätte noch einem Schmirgelpapier ein paar Dinge über das Hartsein beibringen können.

Sie richtete eine kleine Armbrust auf Mat, und er musste lächeln. »Ich wusste es!«, rief er aus. »Ihr seid eine Leibwächterin. Das seid Ihr immer schon gewesen.«

Selucia warf ihm einen finsteren Blick zu. »Was macht Ihr denn hier, Ihr Narr?«

»Ach, ich mache bloß einen Spaziergang«, erwiderte Mat, stand auf und steckte das Messer weg. »Angeblich soll Nachtluft einem guttun. Die Meeresbrise. Eben diese Dinge.«

»Seid Ihr etwa hier raufgeklettert?«, fragte Selucia und warf einen Blick über die Balkonbrüstung, als suche sie nach einem Seil oder einer Leiter.

»Was denn? Klettert Ihr hier nicht für gewöhnlich herauf? Das ist wirklich gut für die Arme. Verbessert den Griff.«

Sie schenkte ihm einen Blick, der deutlich zum Ausdruck brachte, dass sie sich fragte, womit sie das verdient hatte, und Mat musste grinsen. Wenn Selucia nach Attentätern Ausschau hielt, dann ging es Tuon vermutlich gut. Er deutete mit dem Kopf auf die Armbrust, die noch immer auf ihn gerichtet war. »Würdet Ihr …«

Sie dachte nach, dann seufzte sie und senkte die Waffe.

»Vielen Dank. Mit diesem Ding könntet Ihr einem Mann das Auge ausschießen, und normalerweise wäre mir das egal, aber ich habe im Moment nicht mehr so viele davon.«

»Was habt Ihr gemacht?«, fragte Selucia trocken. »Mit einem Bär gewürfelt?«

»Selucia!« Mat ging an ihr vorbei, um das Zimmer zu betreten. »Das war ja fast so etwas wie ein Scherz. Vielleicht könnten wir Euch ja mit ein bisschen Mühe doch noch so etwas wie einen Sinn für Humor beibringen. Das wäre dann so unerwartet, dass wir Euch in eine Menagerie stecken und Eintritt für Euch verlangen könnten. ›Kommt und seht die unvergleichliche lachende So’jhin. Heute Abend nur zwei Kupferstücke …‹«

»Das Auge war bestimmt ein Wetteinsatz, nicht wahr?«

Mat stieß die Tür auf. Er kicherte. Beim Licht! Das kam der Wahrheit fast schon seltsam nahe. »Sehr drollig.«

Diese Wette habe ich gewonnen, dachte er, ganz egal, wie andere das vielleicht sehen. Matrim Cauthon war der einzige Mann, der um das Schicksal der Welt selbst im Gewinnbeutel gewürfelt hatte. Natürlich würden sie das nächste Mal einen anderen hirnverbrannten Helden finden müssen, der seinen Platz einnahm. Jemanden wie Rand oder Perrin. Diesen beiden kam das Heldentum ja fast schon aus dem Mund und tropfte ihnen vom Kinn. Er unterdrückte die Bilder, die sich bilden wollten. Licht! Er musste endlich aufhören, an die beiden zu denken.

»Wo ist sie?«, fragte er und sah sich im Schlafgemach um. Die Laken waren zerwühlt – diese pinkfarbenen Bänder am Kopfteil bildete er sich tatsächlich nicht ein –, aber Tuon war nirgendwo zu sehen.

»Unterwegs«, sagte Selucia.

»Unterwegs? Frau, es ist mitten in der Nacht!«

»Ja. Eine Zeit, in der nur Meuchelmörder zu Besuch kommen. Ihr habt Glück, dass ich nicht richtig gezielt habe, Matrim Cauthon.«

»Das ist verdammt noch mal egal«, erwiderte Mat. »Ihr seid ihre Leibwächterin.«

»Ich weiß nicht, was Ihr damit meint«, sagte Selucia und ließ die kleine Armbrust in ihrem Gewand verschwinden. »Ich bin So’jhin der Kaiserin, möge sie ewig leben. Ich bin ihre Stimme und ihre Wahrheitssprecherin.«

»Toll«, sagte Mat und betrachtete das Bett. »Ihr spielt den Lockvogel, nicht wahr? Liegt in ihrem Bett. Die Armbrust bereit, sollten Attentäter versuchen, sich einzuschleichen?«

Selucia schwieg.

»Nun, wo ist sie?«, verlangte Mat zu wissen. »Verdammte Asche, Frau! Das ist eine ernste Angelegenheit. General Galgan persönlich hat Männer bezahlt, um sie zu töten!«

»Darum geht es?«, fragte Selucia. »Darum seid Ihr besorgt?«

»Und ob ich das verdammt noch mal bin.«

»Wegen Galgan braucht sich niemand Sorgen zu machen«, sagte Selucia. »Er ist ein zu guter Soldat, um unsere derzeitigen Bemühungen um Stabilität zu sabotieren. Um Krisa solltet Ihr Euch Sorgen machen. Sie hat drei Meuchelmörder aus Seanchan geholt.« Selucia warf einen Blick zur Balkontür. Zum ersten Mal fiel Mat ein Fleck auf dem Boden auf, der möglicherweise Blut war. »Bis jetzt habe ich zwei erwischt. Schade. Ich hatte Euch für den dritten gehalten.« Sie musterte ihn, als würde sie in Betracht ziehen, dass er sämtlicher Logik zum Trotz dieser Attentäter war.

»Ihr seid einfach bloß verrückt«, verkündete Mat, zog seinen Hut zurecht und holte den Ashandarei. »Ich gehe zu Tuon.«

»Das ist nicht länger ihr Name, möge sie ewig leben. Man kennt sie als Fortuona, aber Ihr solltet sie mit keinem dieser Namen ansprechen, sondern bloß als ›Höchstgeborene‹ oder ›Größte‹.«

»Ich nenne sie, wie ich es verdammt noch mal für richtig halte«, sagte Mat. »Wo ist sie?«

Selucia musterte ihn.

»Ich bin kein Attentäter!«

»Dafür halte ich Euch auch nicht. Ich versuche lediglich zu entscheiden, ob es ihr recht wäre, wenn ich Euch den Ort verrate.«

»Ich bin ihr Ehemann, oder nicht?«

»Seid still«, sagte Selucia. »Ihr habt gerade versucht, mich davon zu überzeugen, dass Ihr kein Attentäter seid, und dann kommt Ihr damit? Dummer Mann. Sie ist im Palastgarten.«

»Es ist …«

»… mitten in der Nacht«, unterbrach Selucia ihn. »Ja, ich weiß. Sie hört nicht immer auf die Logik.« Er entdeckte einen Hauch von Verzweiflung in ihrer Stimme. »Sie hat eine ganze Abteilung Totenwächter um sich.«

»Es interessiert mich nicht, ob sie den Schöpfer selbst dabeihat«, fauchte Mat und ging zurück zum Balkon. »Ich werde sie auf einen Stuhl setzen und ihr ein paar Dinge erklären.«

Selucia folgte ihm, lehnte sich gegen den Türrahmen und sah ihn skeptisch an.

»Nun, vielleicht setze ich sie nicht auf einen Stuhl«, sagte Mat und schaute über das Geländer nach unten in den Garten. »Aber ich werde ihr – mit logischen Argumenten – erklären, warum sie nicht auf diese Weise in der Nacht herumspazieren kann. Zumindest werde ich es erwähnen. Blut und verdammte Asche. Wir sind wirklich ganz schön hoch hier, was?«

»Normale Menschen nehmen die Treppe.«

»Jeder Soldat in der Stadt hält nach mir Ausschau«, sagte Mat. »Ich glaube, Galgan will mich verschwinden lassen.«

Selucia schürzte die Lippen.

»Das habt Ihr nicht gewusst?«

Sie zögerte, dann aber schüttelte sie den Kopf. »Es ist nicht unvorstellbar, dass Galgan nach Euch Ausschau hält. Unter normalen Umständen wäre der Prinz der Raben eine Konkurrenz. Er ist der General unserer Heere, aber diese Aufgabe wird oft dem Prinzen der Raben übertragen.«

Der Prinz der Raben. »Erinnert mich bloß nicht daran«, sagte Mat. »Ich habe das immer für meinen Titel gehalten, als ich mit der Tochter der Neun Monde verheiratet wurde. Hat der sich nicht mit ihrer Thronbesteigung geändert?«

»Nein«, erwiderte Selucia. »Noch nicht.«

Mat nickte, dann seufzte er, als er den Abstieg betrachtete. Er schob ein Bein über die Brüstung.

»Es gibt einen anderen Weg«, sagte Selucia. »Kommt mit, bevor Ihr Euch noch Euren blöden Hals brecht. Ich weiß noch immer nicht, was sie eigentlich mit Euch will, aber ich bezweifle, dass sie Euch in den Tod stürzen sehen will.«

Dankbar hüpfte Mat von der Brüstung und folgte Selucia in das Gemach. Sie öffnete einen Schrank, dann schob sie die Hinterwand zur Seite und enthüllte einen finsteren Gang, der in die steinernen Palastwände führte.

»Blut und verfluchte Asche«, sagte Mat und steckte den Kopf hinein. »Hat es den immer schon gegeben?«

»Ja.«

»So ist er vielleicht hereingekommen«, murmelte Mat. »Ihr müsst den Gang versperren, Selucia.«

»Ich tat etwas Besseres. Wenn die Kaiserin schläft – möge sie ewig leben –, schläft sie auf dem Dachboden. Sie schläft niemals in diesem Gemach. Wir haben nicht vergessen, wie mühelos Tylin ermordet wurde.«

»Das ist gut.« Mat erschauderte. »Ich habe die Kreatur aufgespürt, die das getan hat. Der wird keine Kehlen mehr herausreißen. Tylin und Nalesean können zusammen ein kleines Tänzchen deswegen veranstalten. Lebt wohl, Selucia. Vielen Dank.«

»Für den Gang? Oder weil ich Euch nicht mit der Armbrust getötet habe?«

»Weil Ihr mich nicht mit verfluchte Hoheit angesprochen habt wie Musenge und die anderen«, murmelte Mat und betrat den geheimen Gang. An der Wand hing eine Laterne, und er entzündete sie.

Hinter ihm lachte Selucia. »Wenn Euch das stört, Cauthon, dann steht Euch ein ausgesprochen nervenaufreibendes Leben bevor. Es gibt nur eine Möglichkeit, nicht länger der Prinz der Raben zu sein, wenn Euch jemand eine Schlinge um den Hals legt.« Sie schloss die Schrankwand.

Was für eine reizende Frau, dachte Mat. Als sie nicht mit ihm gesprochen hatte, da hatte sie ihm besser gefallen. Oder doch nicht? Kopfschüttelnd ging er los, und erst jetzt fiel ihm auf, dass sie ihm gar nicht verraten hatte, wo der Gang eigentlich hinführte.


Begleitet von ein paar Töchtern ging Rand durch Elaynes Lager am Ostrand des Braemwaldes. Jetzt am Abend war hier alles dunkel, aber kaum einer schlief. Man traf Vorbereitungen, die Zelte abzubauen und das Heer am nächsten Morgen nach Osten in Richtung Cairhien zu verlegen.

Für ihn gab es heute Abend nur zwei Wächterinnen. Damit kam er sich beinahe schon nackt vor, obwohl er einst der Meinung gewesen war, dass sämtliche Leibwächter überflüssig waren. Die unweigerliche Drehung des Rades hatte seine Ansichten so sicher verändert, wie es die Jahreszeiten veränderte.

Er benutzte einen von Laternen beleuchteten Pfad, der offensichtlich einst ein Wildpfad gewesen war. Dieses Lager hatte nicht lange genug bestanden, um andere Pfade zu erschaffen. Leise Geräusche flüsterten durch den Abend; Karren wurden mit Vorräten beladen, Klingen an Schleifsteinen gewetzt, Mahlzeiten an hungrige Soldaten ausgeteilt.

Die Männer riefen einander nichts zu, denn es war Abend, die Streitkräfte des Schattens befanden sich in der Nähe im Wald, und Trollocs hatten gute Ohren. Die Laternen waren mit Schiebern versehen, um nur wenig Licht abzugeben, und die Kochfeuer waren auf ein Minimum reduziert.

Rand verließ mit seinem langen Bündel den Pfad und ging durch das raschelnde Gras auf Tams Zelt zu. Das würde ein kurzer Besuch werden. Er nickte den salutierenden Soldaten zu, an denen er vorbeikam. Zwar waren sie schockiert, ihn zu sehen, aber es überraschte sie nicht, ihn im Lager anzutreffen. Elayne hatte seinen früheren Besuch allgemein bekannt gemacht.

Ich führe diese Heere an, hatte sie gesagt, als sie sich das letzte Mal voneinander verabschiedet hatten, aber du bist ihr Herz. Du hast sie versammelt, Rand. Sie kämpfen für dich. Bitte lass sie dich sehen, wenn du kommst.

Und das tat er. Er wünschte sich, er könnte sie besser beschützen, aber das war eine Last, die er nun einmal tragen musste. Wie sich herausgestellt hatte, hatte das Geheimnis nicht darin gelegen, sich so hart zu machen, dass er kurz vor dem Zerbrechen stand. Oder einfach nur seine Gefühle abzutöten. Stattdessen musste man vom Schmerz erfüllt einfach weitermachen, so wie er die Schmerzen der Wunden an seiner Seite ertragen hatte, und den Schmerz als einen Teil von sich akzeptieren.

Zwei Männer aus Emondsfelde bewachten Tams Zelt. Rand nickte ihnen zu, als sie salutierten. Ban al’Seen und Dav al’Thone – einst hätte er niemals geglaubt, sie jemals salutieren zu sehen. Und sie machten das auch noch zackig.

»Ihr habt eine ernste Aufgabe, Männer«, sagte Rand zu ihnen. »So wichtig wie jeder andere auf diesem Schlachtfeld.«

»Andor zu verteidigen, mein Lord?«, fragte Dav verwirrt.

»Nein«, erwiderte Rand. »Auf meinen Vater aufzupassen. Sorgt dafür, dass ihr das gut tut.« Er schob sich in das Zelt und ließ die Töchter draußen warten.

Tam stand über einen Reisetisch gebeugt und studierte Karten. Rand lächelte. Er trug den gleichen Ausdruck, mit dem er ein Schaf gemustert hätte, das sich in einem Gebüsch verfangen hatte.

»Du scheinst der Ansicht zu sein, dass man auf mich aufpassen muss«, sagte Tam.

Auf diese Bemerkung zu reagieren würde genauso sein, wie zu einer Gruppe Bogenschützen zu gehen und die Männer herauszufordern, ihn zu treffen, entschied Rand. Stattdessen legte er sein Bündel auf den Tisch. Tam betrachtete den langen verhüllten Gegenstand, dann zupfte er an dem Stoff. Er teilte sich und enthüllte ein majestätisches Schwert mit einer schwarz lackierten Scheide, auf die man ineinander verschlungene Drachen aus Rot und Gold gemalt hatte.

Tam sah fragend auf.

»Du hast mir dein Schwert gegeben«, sagte Rand. »Und ich konnte es nicht zurückgeben. Das ist ein Ersatz.«

Tam zog das Schwert aus seiner Scheide, und seine Augen weiteten sich. »Das ist ein zu kostbares Geschenk, mein Sohn.«

»Nichts ist zu kostbar für dich«, flüsterte Rand. »Nichts.«

Tam schüttelte den Kopf und schob die Klinge zurück in ihre Scheide. »Das endet doch nur wieder in einer Truhe, so vergessen wie das letzte. Ich hätte dieses Ding niemals mit nach Hause nehmen sollen. Du misst dieser Klinge zu viel Wert bei.« Er wollte ihm das Schwert zurückgeben.

Rand hinderte ihn daran. »Bitte. Ein Klingenmeister verdient eine ihm entsprechende Waffe. Nimm sie – es würde mein Gewissen erleichtern. Das Licht allein weiß, dass jede erleichterte Bürde in den kommenden Tagen helfen wird.«

Tam verzog das Gesicht. »Das ist ein schmutziger Trick, Rand.«

»Ich weiß. In letzter Zeit habe ich mich nur mit widerwärtigen Typen umgeben. Könige, Sekretäre, Lords und Ladys.«

Widerstrebend nahm Tam das Schwert wieder an sich.

»Betrachte es als Dankeschön der ganzen Welt«, sagte Rand. »Hättest du mir nicht vor so vielen Jahren das mit der Flamme und dem Nichts beigebracht … Beim Licht, Tam. Ich wäre jetzt nicht hier. Ich wäre tot, davon bin ich überzeugt.« Er betrachtete das Schwert. »Schon seltsam. Hättest du nicht gewollt, dass ich ein guter Bogenschütze werde, hätte ich nie die eine Sache gelernt, die mich in schwierigen Zeiten bei Verstand hielt.«

Tam schnaubte. »Die Flamme und das Nichts haben aber nichts mit Bogenschießen zu tun.«

»Ja, ich weiß. Das ist eine Schwertkampftechnik.«

»Das hat auch nichts mit Schwertern zu tun«, sagte Tam und schnallte das Schwert an seinen Gürtel.

»Aber …«

»Bei der Flamme und dem Nichts geht es darum, seinen Mittelpunkt zu finden«, sagte Tam. »Und um Frieden. Wenn ich könnte, würde ich das jedem in diesem Land beibringen, nicht nur Soldaten.« Seine Miene wurde sanfter. »Aber beim Licht, was mache ich denn hier? Dich belehren? Sage mir, wo hast du diese Waffe her?«

»Ich habe sie gefunden.«

»So eine prächtige Klinge habe ich noch nie gesehen.« Tam zog sie wieder aus der Scheide und studierte die Faltungen im Metall. »Sie ist uralt. Und wurde benutzt. Oft benutzt. Sicherlich ist sie gepflegt worden, aber sie lag nicht bloß im Trophäenschrank eines Kriegsherrn. Diese Klinge ist von Männern geschwungen worden. Sie haben mit ihr getötet.«

»Sie gehörte … einer verwandten Seele.«

Tam sah ihn an und versuchte, den Ausdruck in seinen Augen zu erforschen. »Nun, dann sollte ich sie wohl ausprobieren. Komm mit.«

»Jetzt noch?«

»Es ist noch früh am Abend«, sagte Tam. »Das ist eine gute Zeit. Das Übungsgelände wird nicht überfüllt sein.«

Rand hob eine Braue, ging aber aus dem Weg, als Tam den Tisch umrundete und das Zelt verließ. Er schloss sich ihm an, die Töchter folgten ihm, und sie begleiteten seinen Vater zu dem in der Nähe gelegenen Übungsgelände, wo ein paar Behüter im Licht von ein paar an Pfählen aufgehängten Laternen miteinander kämpften.

Neben einem Gestell mit hölzernen Übungswaffen zog Tam das neue Schwert und ging ein paar Schwertfiguren durch. Obwohl sein Haar ergraut war und viele Falten seine Augen umringten, bewegte sich Tam al’Thor wie ein Seidentuch im Wind. Rand hatte seinen Vater niemals kämpfen sehen, nicht einmal bei einem Übungskampf. Tatsächlich hatte ein Teil von ihm immer noch Probleme mit der Vorstellung, dass der sanfte Tam al’Thor mehr als Birkhühner für den Kochtopf tötete.

Jetzt sah er es. Im Schein der flackernden Laternen schlüpfte Tam al’Thor in die Schwertfiguren wie in ein bequemes Paar Stiefel. Seltsamerweise verspürte Rand Eifersucht. Nicht unbedingt auf seinen Vater, sondern auf jeden, der sich in den Frieden der Schwertübungen versenken konnte. Er hob seine Hand, dann den Stumpf auf der anderen Seite. Viele der Figuren benötigten zwei Hände. So wie Tam zu kämpfen war nicht das Gleiche, wie mit Kurzschwert und Schild zu kämpfen, wie es die meisten Infanteristen taten. Das war etwas völlig anderes. Rand konnte noch immer kämpfen, aber das hier blieb ihm jetzt für alle Zeiten verwehrt. Wie einem einfüßigen Mann der Tanz.

Tam vollendete ›Der Hase findet sein Loch‹ und ließ die Waffe mit einer glatten Bewegung in ihre Scheide gleiten. Die Klinge reflektierte das Laternenlicht, als sie in ihrer Hülle verschwand. »Wunderschön«, sagte Tam. »Beim Licht, das Gewicht, die Schmiedearbeit … Ist es mit der Macht geschmiedet worden?«

»Das weiß ich nicht«, sagte Rand.

Er hatte nie Gelegenheit gehabt, mit der Klinge zu kämpfen.

Tam nahm von einem Diener einen Becher mit Wasser entgegen. In der Ferne übten ein paar junge Rekruten Pikenformationen, arbeiteten bis tief in die Nacht. Jeder Augenblick Ausbildung war kostbar, vor allem für jene, die nicht oft in der Frontlinie standen.

Neue Rekruten, dachte Rand und sah ihnen zu. Auch sie sind meine Bürde. Jeder Mann, der kämpft.

Er würde eine Möglichkeit finden, den Dunklen König zu besiegen. Falls ihm das nicht gelang, war der Kampf dieser Männer völlig sinnlos.

»Du bist besorgt, mein Sohn«, sagte Tam und gab dem Jungen den Becher zurück.

Rand beruhigte sich wieder, fand Frieden und wandte sich seinem Vater zu. Ihm fiel etwas aus seinen alten Erinnerungen ein, etwas aus einem Buch. Der Schlüssel zur Führung liegt in den sich kräuselnden Wellen. Auf einer Wasseroberfläche gab es keine Ruhe, wenn darunter Unruhe herrschte. Genauso wenig konnte man Frieden und Konzentration in einer Gruppe finden, wenn der Anführer keinen inneren Frieden kannte.

Tam musterte ihn, fragte ihn aber nicht nach seinem plötzlich so beherrschten Gesichtsausdruck. Stattdessen nahm er eines der ausgewogenen Übungsschwerter vom Gestell. Er warf es Rand zu, der es auffing, während er den anderen Arm auf dem Rücken hielt.

»Vater«, sagte Rand warnend, als Tam selbst ein Übungsschwert nahm. »Das ist keine gute Idee.«

»Ich habe gehört, dass du ein echter Schwertkämpfer geworden bist«, sagte Tam und führte ein paar Schläge mit dem Übungsschwert aus, um seine Balance zu prüfen. »Ich würde gern sehen, was du kannst. Nenn es väterlicher Stolz, wenn du willst.«

Rand seufzte und hielt den anderen Arm in die Höhe, um den Stumpf zu zeigen. Die Blicke der Leute neigten dazu, ihn zu ignorieren, als würden sie einen Grauen Mann sehen. Ihnen gefiel die Vorstellung nicht, dass ihr Wiedergeborener Drache mit einem Makel behaftet war.

Er ließ sie nie wissen, wie müde er sich im Inneren fühlte. Sein Körper war abgenutzt wie ein seit Generationen benutzter Mühlstein. Er war noch robust genug, um seine Aufgabe zu erfüllen, und das würde er auch, aber beim Licht, manchmal fühlte er sich schrecklich erschöpft. Die Hoffnungen von Millionen zu tragen war schwerer, als einen Berg in die Höhe zu stemmen.

Tam nahm auf den Stumpf keine Rücksicht. Er zog ein Taschentuch hervor, wickelte es um eine Hand und knotete es mithilfe der Zähne fest. »Ich werde mit dieser Hand nichts anfassen können«, sagte er und schwang das Holzschwert erneut. »Es wird ein fairer Kampf sein. Komm schon, Sohn.«

In Tams Stimme lag Autorität – die Autorität eines Vaters. Es war der gleiche Tonfall, den er einst benutzt hatte, damit Rand aus den Federn kroch, um den Melkschuppen auszumisten.

Es war Rand unmöglich, diesem Tonfall nicht zu gehorchen, nicht, wenn er von Tam kam. Das war in ihm verwurzelt. Mit einem Seufzen trat er vor. »Ich brauche kein Schwert mehr für den Kampf. Ich habe die Eine Macht.«

»Das wäre von Bedeutung«, sagte Tam, »wenn Üben etwas mit richtigem Kämpfen zu tun hätte.«

Rand runzelte die Stirn. Was …

Tam griff an.

Rand parierte halbherzig. Tam wechselte zu ›Federn schweben im Wind‹, drehte das Schwert und teilte einen zweiten Schlag aus. Rand wich zurück und parierte wieder. In ihm regte sich etwas, ein Verlangen. Als Tam wieder angriff, hob er das Schwert und brachte instinktiv die Hände zusammen.

Aber da war keine zweite Hand, um den unteren Teil des Schwertgriffs zu umfassen. Damit blieb sein Griff schwach, und als Tam nachsetzte, schlug er Rand um ein Haar die Waffe aus der Hand.

Rand biss die Zähne zusammen und wich noch einen Schritt zurück. Was würde Lan wohl sagen, wenn er bei einem seiner Schüler eine so beklagenswerte Leistung beobachtet hätte? Was er sagen würde? Er würde sagen: »Rand, lass dich nicht auf einen Schwertkampf ein. Du kannst ihn nicht gewinnen. Das ist vorbei.«

Beim nächsten Angriff fintierte Tam rechts, schlug aber links zu und traf ihn am Oberschenkel. Rand tänzelte mit brennender Haut zurück. Tam hatte ihn tatsächlich geschlagen, und zwar hart. Der Mann hielt sich wirklich nicht zurück.

Wie lange war es her, dass jemand mit ihm einen Übungskampf ausgetragen hatte und tatsächlich bereit gewesen war, ihn zu verletzen? So viele behandelten ihn, als wäre er zerbrechlich. Lan hatte das nie getan.

Rand stürzte sich in den Kampf und probierte es mit ›Der Keiler stürmt bergab‹. Ein paar Augenblicke lang schlug er auf Tam ein, aber dann hebelte ihm sein Vater das Schwert beinahe wieder aus der Hand. Die langen, für Schwertmeister gemachten Klingen waren ohne zweite Hand schwierig zu stabilisieren.

Rand knurrte und verfiel wieder in den zweihändigen Stand und scheiterte auch wieder. Mittlerweile hatte er gelernt, mit allem zurechtzukommen, was er verloren hatte – zumindest, was sein Alltagsleben betraf. Seit dem Verlust seiner Hand hatte er sich nicht viel im Kampf geübt, obwohl er das eigentlich gewollt hatte.

Er kam sich vor wie ein Stuhl, dem ein Bein fehlte. Mit einiger Mühe konnte er das Gleichgewicht bewahren, wenn auch nicht besonders gut. Er kämpfte und probierte eine Figur nach der anderen aus, aber er konnte Tams Angriffe kaum bewältigen.

Es ging nicht! Jedenfalls nicht gut, also warum versuchte er es überhaupt? Was diese Aktivität betraf, war er beschädigtes Gut. Ein Übungskampf machte keinen Sinn. Schweißüberströmt wandte er sich ab, zog den Mantel aus und schleuderte ihn zur Seite. Er versuchte es erneut, suchte sich auf dem niedergetrampelten Gras einen festen Stand, aber wieder war Tam überlegen und trat ihm beinahe die Beine unter dem Körper weg.

Das ist sinnlos! Warum einhändig kämpfen? Warum nicht eine andere Möglichkeit finden? Warum …

Tam tat es.

Rand kämpfte defensiv weiter, richtete die Aufmerksamkeit aber auf seinen Vater. Tam musste den Kampf mit nur einer Hand geübt haben; Rand las es seinen Bewegungen ab, wie er instinktiv nicht versuchte, den Schwertgriff mit seiner verbundenen Hand zu ergreifen. Wenn er so darüber nachdachte, hätte er sich wohl die Mühe machen sollen, ebenfalls mit nur einer Hand zu üben. Schließlich konnten Hände im Kampf leicht verletzt werden, und einige Schwertfiguren konzentrierten sich auf Angriffe auf die Arme. Lan hatte ihm gesagt, er solle üben, seinen Griff zu wechseln. Vielleicht hätte der Kampf mit nur einer Hand später auf dem Lehrplan gestanden.

»Lass los, mein Sohn«, sagte Tam.

»Was soll ich loslassen?«

»Alles.« Tam stürmte auf ihn ein und ließ im Laternenlicht Schatten zucken, und Rand suchte das Nichts. Sämtliche Gefühle gingen in die Flamme und ließen ihn zugleich völlig leer und mit sich im Reinen zurück.

Der nächste Angriff traf beinahe seinen Kopf. Fluchend glitt Rand in ›Der Reiher watet durch das Schilf‹, wie Lan es ihm beigebracht hatte, hob die Holzklinge, um den nächsten Hieb zu parieren. Wieder versuchte seine fehlende Hand, den Schwertgriff zu packen. Man konnte jahrelangen Drill nicht an einem Nachmittag ungeschehen machen!

Lass los.

Ein Windstoß strich über das Feld und trug den Geruch eines sterbenden Landes mit sich. Moos, Schimmel, Fäulnis.

Moos lebte. Schimmel war eine lebendige Sache. Damit ein Baum verfaulen konnte, musste das Leben weitergehen.

Ein Mann mit nur einer Hand war noch immer ein Mann, und wenn diese Hand ein Schwert hielt, war er noch immer gefährlich.

Tam nahm ›Der Falke entdeckt den Hasen‹ ein, eine sehr aggressive Schwertfigur. Wieder griff er an. Rand sah die nächsten paar Augenblicke vor sich, bevor sie geschahen. Er sah sich selbst, wie er das Schwert auf die richtige Weise hob, um die feindliche Klinge abzuwehren – eine Figur, die erforderte, dass er sein Schwert einem mangelhaften Gleichgewicht aussetzte, weil ihm die zweite Hand fehlte. Er sah, wie Tam das Schwert aushebelte, um es ihm aus der Hand zu schlagen. Er sah den darauf erfolgenden Angriff, der seinen Hals treffen würde.

Tam würde innehalten, bevor er zuschlug. Rand würde den Kampf verlieren.

Lass los.

Rand veränderte seine Griffposition. Er dachte nicht darüber nach; er tat das, was sich richtig anfühlte. Als Tam in seine Nähe kam, riss er den linken Arm hoch, um seine rechte Seite zu stabilisieren, während er die Klinge kreiseln ließ. Tams Schwert glitt daran ab, schlug sie ihm aber nicht aus der Hand.

Tams Rückhandschlag kam wie erwartet, traf aber Rands Ellbogen, den Ellbogen seines nutzlosen Arms. Er war also doch nicht so nutzlos. Effektiv blockierte er das Schwert, obwohl der Aufprall einen stechenden Schmerz hervorrief.

Tam erstarrte, seine Augen weiteten sich – zuerst vor Überraschung, dass sein Hieb abgewehrt worden war, dann in offensichtlicher Sorge, weil er Rand einen ordentlichen Treffer zugefügt hatte. Vermutlich hatte er sogar einen Knochen gebrochen.

»Rand«, sagte er. »Ich …«

Rand trat einen Schritt zurück, legte den verletzten Arm auf den Rücken und hob das Schwert. Er atmete die überwältigenden Gerüche einer verwundeten Welt ein – verwundet, aber nicht tot.

Er griff an. ›Der Eisvogel räubert in den Nesseln‹. Rand wählte die Schwertfigur nicht bewusst, es passierte einfach. Vielleicht war es seine Haltung, das Schwert gerade ausgestreckt, den anderen Arm auf den Rücken gelegt. Das führte ihn automatisch in die offensive Figur.

Tam wehrte den Angriff misstrauisch ab, machte einen Schritt zur Seite. Rand glitt in seine nächste Schwertfigur. Er versuchte, seine Instinkte auszuschalten, und sein Körper passte sich der Herausforderung an. Sicher geborgen im Nichts erübrigte sich die Frage, wie das möglich war.

Jetzt begann der Wettkampf richtig. Die Schwerter trafen mit scharfen Hieben aufeinander, Rand hielt die Hand auf dem Rücken und fühlte, wie sein nächster Schlag aussehen sollte. Er kämpfte nicht so gut wie früher. Das konnte er nicht; manche Figuren waren ihm unmöglich, und er konnte auch nicht mit so viel Kraft wie gewohnt zuschlagen.

Er war Tam ebenbürtig. Bis zu einem gewissen Grad. Jeder Schwertkämpfer vermochte zu sagen, wer bei einem Kampf der bessere von ihnen war. Oder zumindest, wer im Vorteil war. Das war Tam eindeutig. Rand war jünger und stärker, aber Tam war einfach so unerschütterlich. Er hatte den Kampf mit nur einer Hand geübt. Davon war Rand überzeugt.

Es war ihm egal. Diese Konzentration … diese Konzentration hatte er vermisst. Dank der Sorgen, die so schwer auf ihm lasteten, seiner Bürde, hatte er für etwas so Einfaches wie ein Übungsduell keine Zeit gehabt. Jetzt fand er sie und warf sich mit Leib und Seele hinein.

Eine Weile war er nicht der Wiedergeborene Drache. Er war nicht einmal ein Sohn mit seinem Vater. Er war ein Schüler mit seinem Meister.

Und so erinnerte er sich daran, dass ganz egal, wie gut er geworden war, ganz egal, woran er sich nun an alles erinnerte, er noch immer so viel lernen konnte.

Sie kämpften weiter. Rand zählte nicht, wer bei welchem Schlagabtausch den Vorteil gehabt hatte; er kämpfte einfach und genoss den Frieden, den ihm das brachte. Schließlich war er erschöpft – aber es war eine gute Art der Erschöpfung, die nichts mit der bleiernen Zermürbung gemeinsam hatte, die er in letzter Zeit immer häufiger verspürt hatte. Es war die Erschöpfung einer hinreichend erledigten Arbeit.

Schwitzend salutierte er Tam mit dem Übungsschwert und zeigte damit an, dass er genug hatte. Sein Vater trat zurück und hob ebenfalls das Schwert. Er grinste.

In der Nähe neben den Laternen fing eine Handvoll Behüter an, zu applaudieren. Kein großes Publikum – nur sechs Männer –, aber Rand hatte sie nicht bemerkt. Die Töchter hoben ihre Speere zum Salut.

»Das war eine ganz schöne Last, nicht wahr?«, fragte Tam.

»Welche Last?«

»Diese verlorene Hand, mit der du dich abgemüht hast.«

Rand betrachtete seinen Stumpf. »Ja. Ich glaube, das war es tatsächlich.«


Tylins Geheimgang führte zum Garten und endete an einem winzigen Loch, das sich nicht weit von der Stelle befand, an der Mat mit seiner Kletterpartie begonnen hatte. Er kroch hinaus, klopfte sich den Staub von den Schultern und den Knien, dann legte er den Kopf in den Nacken und schaute zu dem Balkon in der Höhe empor. Er war zu den Höhen des Gebäudes emporgeklettert und durch seine Eingeweide wieder herausgekrochen. Vielleicht lag darin ja irgendeine Lektion oder Metapher. Vielleicht die, dass Matrim Cauthon nach Geheimgängen suchen sollte, bevor er sich entschied, an einem Gebäude mit verfluchten vier Stockwerken hochzuklettern.

Leise betrat er den Garten. Dem Grünzeug ging es gar nicht gut. Diese Farne hätten viel mehr Wedel haben müssen, und die Bäume waren so nackt wie eine Tochter im Schweißzelt. Eigentlich keine Überraschung. Das ganze Land welkte schneller dahin als ein Junge bei Bel Tine ohne Tanzpartnerin. Mat war sich ziemlich sicher, dass Rand daran schuld war. Rand oder der Dunkle König. Er konnte jedes verdammte Problem seines Lebens zu dem einen oder anderen zurückverfolgen.

Das Moos lebte noch. Mat hatte noch nie davon gehört, dass man Moos in einem Garten pflegte, aber er hätte schwören können, dass man es hier in Mustern auf Steinen wachsen ließ. Vielleicht nahmen die Gärtner ja alles, was noch da war, nachdem der Rest abgestorben war.

Er musste eine Weile suchen und durch vertrocknete Büsche und vorbei an toten Blumenbeeten spähen, um Tuon zu finden. Eigentlich erwartete er, sie friedlich sitzend vorzufinden, wie sie über etwas nachdachte, aber er hätte es besser wissen sollen.

Neben einem Farn ging Mat in die Hocke, ohne von dem Dutzend Totenwächtern bemerkt zu werden, die in einem Kreis um Tuon standen, die sich gerade im waffenlosen Kampf übte. Sie wurde von zwei Laternen angestrahlt, die ein seltsames, gleichmäßiges blaues Licht abgaben. Etwas brannte in ihnen, aber es war keine normale Flamme.

Das Licht leuchtete auf ihrer glatten Haut, die den Farbton besonders dunkler Erde hatte. Sie trug ein helles A’solma, ein an den Seiten geschlitztes Gewand, das die engen blauen Beinkleider darunter enthüllte. Tuon war zierlich; einst hatte er fälschlicherweise angenommen, sie sei eine zarte Person. Das war sie nicht.

Sie hatte sich wieder den Kopf rasiert, da sie sich nicht länger verbarg. Die Kahlheit stand ihr, so seltsam das auch war. Sie bewegte sich in dem blauen Lichtschein und führte mit geschlossenen Augen eine Reihe Handbewegungen des waffenlosen Kampfes aus. Sie schien mit ihrem eigenen Schatten zu kämpfen.

Mat zog dem Kampf mit leeren Händen ein gutes Messer vor – oder noch besser, seinen Ashandarei. Je mehr Abstand er zwischen sich und einen Burschen brachte, der ihn umzubringen versuchte, umso besser. Tuon schien beides nicht zu brauchen. Als er ihr so zusah, wurde ihm bewusst, wie viel Glück er in der Nacht gehabt hatte, in der er sie entführt hatte. Ohne Waffen war sie tödlich.

Sie wurde langsamer und beschrieb ein sanftes Muster vor dem Körper, dann stieß sie die Hände schnell zur Seite. Sie atmete ein und brachte sie zur anderen Seite, wobei sich ihr ganzer Körper drehte.

Liebte er sie?

Die Frage bereitete ihm Unbehagen. Schon seit Wochen nagte sie am Rand seines Verstandes, wie eine Ratte, die unbedingt zum Korn wollte. Es war nicht die Art von Frage, die ein Matrim Cauthon stellen sollte. Matrim Cauthon interessierte sich allein für das Mädchen auf seinem Schoß und den nächsten Wurf der Würfel. Fragen über Liebesangelegenheiten überließ man besser den Ogiern, die hatten genug Zeit zu sitzen und den Bäumen beim Wachsen zuzusehen.

Er hatte sie geheiratet. Aber das war so etwas wie ein Zufall gewesen, oder nicht? Die verfluchten Füchse hatten ihm das vorhergesagt. Sie hatte ihn ebenfalls heiraten wollen. Den wahren Grund dafür kannte er noch immer nicht. Hatte es etwas mit diesen Omen zu tun gehabt, von denen sie immer sprach? Ihre Brautwerbung war mehr ein Spiel als eine Romanze gewesen. Er mochte Spiele, und er spielte immer, um zu siegen. Tuons Hand war der Gewinn gewesen. Aber was sollte er jetzt, wo er sie hatte, damit anfangen?

Sie machte weiter mit ihren Übungen und bewegte sich wie ein Schilfrohr im Wind. Eine Neigung in diese Richtung, dann eine anmutige Bewegung in die andere. Die Aiel bezeichneten einen Kampf als Tanz. Was würden sie wohl hiervon halten? Tuon bewegte sich so anmutig wie jeder Aiel. Wenn eine Schlacht tatsächlich ein Tanz war, dann wurde er hauptsächlich zur Musik eines ausgelassenen Schenkraums aufgeführt. Das hier folgte der rhythmischen Melodie eines Meisterbarden.

Hinter Tuons Schulter bewegte sich etwas. Mat spannte sich an und spähte in die Dunkelheit. Ah, es war bloß ein Gärtner. Ein ganz gewöhnlich aussehender Bursche mit einer Mütze auf dem Kopf und Sommersprossen auf den Wangen. Kaum der Beachtung wert. Mat ignorierte ihn und beugte sich vor, um mehr von Tuon sehen zu können. Ihre Schönheit ließ ihn lächeln.

Warum würde ein Gärtner zu dieser Uhrzeit hier arbeiten?, dachte er. Muss ja ein seltsamer Bursche sein.

Mat sah wieder zu dem Mann hin, hatte aber Probleme, ihn auf Anhieb auszumachen. Er trat gerade zwischen zwei Männer der Garde der Totenwache. Es schien sie nicht zu stören. Also hätte es Mat auch nicht stören sollen. Anscheinend vertrauten sie dem Mann ja …

Mat griff in den Ärmel und zog ein Messer. Er hob es, ohne weiter darüber nachzudenken, warum er es tat. Dabei strich seine Hand kaum hörbar über einen Farnwedel.

Tuon riss die Augen auf und blickte trotz des schwachen Lichts direkt in seine Richtung. Sie sah das zum Wurf bereite Messer in seiner Hand.

Dann blickte sie über die Schulter.

Mat warf, und die Klinge wirbelte durch das blaue Licht. Sie passierte Tuons Kinn in einem Abstand von weniger als Fingerbreite und bohrte sich in die Schulter des Gärtners, der ebenfalls gerade mit einem Messer ausholte. Mit einem Keuchen taumelte der Mann zurück. Mat hätte lieber seinen Hals getroffen, aber er hatte nicht das Risiko eingehen wollen, Tuon zu treffen.

Statt das Vernünftige zu tun und aus seiner Nähe zu verschwinden, sprang Tuon auf den Mann zu und schlug mit den Händen nach seiner Kehle. Das ließ Mat lächeln. Unglücklicherweise hatte der Gärtner gerade genug Zeit – und ihr fehlte um Haaresbreite die richtige Position –, um einen Satz rückwärts zu machen und an den verblüfften Totenwächtern vorbeizukommen. Mats zweiter Dolch bohrte sich hinter der Ferse des Attentäters in den Boden, während er in der Nacht verschwand.

In der nächsten Sekunde krachten drei Männer – von denen jeder ungefähr so viel wog wie ein kleines Haus – auf Mat und drückten sein Gesicht in den weichen Boden. Einer trat auf sein Handgelenk, ein anderer nahm ihm den Ashandarei ab.

»Aufhören!«, brüllte Tuon. »Lasst ihn los! Verfolgt den anderen, ihr Narren!«

»Welchen anderen, Majestät?«, fragte ein Wächter. »Da war kein anderer.«

»Und wem gehört dann dieses Blut?«, fragte Tuon und zeigte auf den dunklen Flecken, den der Attentäter auf dem Boden zurückgelassen hatte. »Der Prinz der Raben sah, was ihr nicht gesehen habt. Durchsucht alles!«

Langsam stiegen die Totenwächter von Mat herunter. Er stöhnte. Womit fütterten sie diese Burschen? Mit Ziegelsteinen? Er verabscheute es, »Hoheit« genannt zu werden, aber ein bisschen Respekt wäre ja nett gewesen. Zumindest, wenn es verhindert hätte, dass man sich auf ihn setzte.

Er stand auf und streckte einem verlegen aussehenden Totenwächter die Hand entgegen. Das Gesicht des Burschen hatte mehr Narben als Haut. Er gab Mat den Ashandarei, dann lief auch er los, um den Garten zu durchsuchen.

Offensichtlich vollkommen unerschüttert verschränkte Tuon die Arme. »Ihr habt Euch entschieden, Eure Rückkehr zu mir zu verzögern, Matrim.«

»Meine Rückkehr zu … Ich bin verdammt noch mal hier, um Euch zu warnen, und nicht, um zu Euch ›zurückzukehren‹. Ich bin mein eigener Mann.«

»Wenn Ihr das vorgeben wollt, könnt Ihr das gern tun«, erwiderte Tuon und sah zu, wie die Totenwächter in den Büschen herumsuchten. »Aber Ihr dürft nicht fortbleiben. Ihr seid für das Kaiserreich wichtig, und ich habe Verwendung für Euch.«

»Klingt ja toll«, murrte Mat.

»Was war es?«, fragte sie leise. »Ich habe diesen Mann nicht wahrgenommen, bevor Ihr die Aufmerksamkeit auf ihn lenktet. Diese Wächter sind die Besten im Kaiserreich. Ich habe gesehen, wie Daruo dort vorn mit bloßer Hand einen Pfeil aus der Luft pflückte, und Barrin hat einmal einen Mann daran gehindert, mich anzuhauchen, weil er den Verdacht hatte, ein Attentäter mit einem Mund voll Gift könnte kommen. Er hatte recht.«

»Man nennt es einen Grauen Mann«, sagte Mat und fröstelte. »Sie haben etwas seltsam Gewöhnliches an sich – sie sind schwer zu bemerken, und es kostet große Mühe, sich auf sie zu konzentrieren.«

»Ein Grauer Mann«, sagte Tuon leise. »Und noch mehr Mythen erwachen zum Leben. Wie Eure Trollocs.«

»Trollocs sind real, Tuon. Verdammt …«

»Natürlich sind Trollocs real«, erwiderte sie. »Warum sollte ich das nicht glauben?« Sie sah ihn trotzig an, als fordere sie ihn heraus, die vielen Male zur Sprache zu bringen, in denen sie sie als Mythos bezeichnet hatte. »Dieser Graue Mann scheint ebenfalls real zu sein. Es gibt keine andere Erklärung, warum meine Wächter ihn durchließen.«

»Ich vertraue der Totenwache durchaus«, sagte Mat und rieb sich die Schulter, wo einer von ihnen sein Knie hingestemmt hatte. »Aber ich weiß nicht, Tuon. General Galgan will Euch umbringen lassen; er könnte für den Feind arbeiten.«

»Er meint seine Attentatsversuche nicht ernst«, sagte sie gleichgültig.

»Seid Ihr verdammt noch mal verrückt?«, fragte Mat.

»Seid Ihr verdammt noch mal dumm?«, fragte sie zurück. »Er hat doch bloß Meuchelmörder aus diesem Land angeheuert, keine richtigen Attentäter.«

»Dieser Graue Mann kommt aus diesem Land!«

Das ließ sie verstummen. »Mit wem habt Ihr um dieses Auge gespielt?«

Beim Licht! Würde ihn jeder mit diesen Worten danach fragen? »Ich habe eine raue Sache durchgemacht«, antwortete er. »Ich bin lebend davongekommen, nur darauf kommt es an.«

»Hmm. Und habt Ihr sie gerettet? Die, die Ihr retten wolltet?«

»Woher wisst Ihr davon?«

Darauf gab sie keine Antwort. »Ich habe mich entschieden, nicht eifersüchtig zu sein. Ihr könnt Euch glücklich schätzen. Das fehlende Auge passt zu Euch. Ihr wart früher einfach zu hübsch.«

Zu hübsch? Beim Licht! Was sollte das denn schon wieder heißen?

»Übrigens ist es schön, Euch zu sehen«, sagte Mat. Er wartete ein paar Momente. »Wenn ein Bursche so etwas normalerweise sagt, dann gehört es sich, ihm zu erwidern, dass man sich ebenfalls freut, ihn zu sehen.«

»Ich bin jetzt die Kaiserin«, sagte Tuon. »Ich warte nicht auf andere, und ich finde es auch nicht ›schön‹, dass jemand zurückgekehrt ist. Ihre Rückkehr wird vorausgesetzt, da sie mir dienen.«

»Ihr wisst wirklich, wie man dafür sorgt, dass sich ein Bursche geliebt fühlt. Nun, ich weiß, wie Ihr für mich empfindet.«

»Und wie sollte das möglich sein?«

»Ihr habt über die Schulter geblickt.«

Sie schüttelte den Kopf. »Ich hatte vergessen, wie gut Ihr doch darin seid, völlig bedeutungslose Dinge zu sagen, Matrim.«

»Als Ihr mich gesehen habt«, erklärte er, »mit einem Dolch in der Hand und als wollte ich ihn auf Euch schleudern, habt Ihr nicht nach den Wächtern gerufen. Ihr hattet nicht die geringste Angst, dass ich gekommen bin, um Euch zu töten. Ihr habt über die Schulter gesehen, um zu erfahren, worauf ich zielte. Das ist die liebevollste Geste, die ein Mann wohl von einer Frau bekommen kann. Natürlich nur vorausgesetzt, Ihr wollt Euch nicht einen Moment auf meinen Schoß setzen …«

Sie antwortete nicht. Beim Licht, sie erschien so kalt. Würde alles anders sein, jetzt, da sie die Kaiserin war? Er konnte sie doch nicht schon verloren haben, oder?

Furyk Karede, der Hauptmann der Totenwache, traf ein, gefolgt von Musenge. Karede sah aus, als hätte er soeben bemerkt, dass sein Haus brannte. Die anderen Totenwächter salutierten ihm und schienen in sich zusammenzuschrumpfen.

»Kaiserin, mein Blick ist gesenkt worden«, verkündete er und warf sich vor ihr auf den Bauch. »Ich werde mich zu jenen gesellen, die Euch im Stich ließen, und mein Leben vor Euch beenden, sobald eine neue Abteilung eingetroffen ist, um für Euren Schutz zu sorgen!«

»Euer Leben gehört mir«, erwiderte Tuon, »und ihr alle werdet es nicht beenden, bevor ich es erlaube. Dieser Attentäter war nicht von natürlicher Geburt, sondern eine Schöpfung des Schattens. Euer Blick ist nicht gesenkt. Der Prinz der Raben wird euch beibringen, diese Art von Kreatur zu entdecken, also wird man euch auch nicht wieder überraschen.«

Mat war sich ziemlich sicher, dass Graue Männer auf ganz natürliche Weise zur Welt kamen, aber das galt auch für Trollocs und Blasse. Es erschien jedoch nicht angebracht, Tuon darauf hinzuweisen. Außerdem erregte etwas anderes in ihrem Befehl seine Aufmerksamkeit.

»Ich tue was?«, fragte er.

»Sie unterrichten«, sagte Tuon leise. »Ihr seid der Prinz der Raben. Das wird Teil Eurer Pflichten sein.«

»Darüber müssen wir uns noch unterhalten«, erwiderte Mat. »Dass mich jeder ›Hoheit‹ nennt, das geht nicht, Tuon. Das kommt einfach nicht infrage.«

Darauf antwortete sie nicht. Sie wartete, während die Suche fortgeführt wurde, und machte keinerlei Anstalten, in den Palast zurückzukehren.

Schließlich kam Karede zurück. »Höchstgeborene, im Garten ist keine Spur von dem Ding zu finden, aber einer meiner Männer hat Blut an der Mauer entdeckt. Ich vermute, der Attentäter ist in die Stadt geflohen.«

»Er wird es heute Nacht wohl kaum erneut versuchen«, sagte Tuon, »weil wir auf der Hut sind. Sorgt dafür, dass die gemeinen Soldaten und Wächter nichts erfahren. Informiert meine Stimme, dass unser Täuschungsmanöver nicht länger effektiv ist und wir uns ein neues ausdenken müssen.«

»Jawohl, Kaiserin«, sagte Karede und verneigte sich tief.

»Schwärmt jetzt aus und sichert alles«, sagte Tuon. »Ich werde Zeit mit meinem Gemahl verbringen, der darum ersucht, dass ich ihm das ›Gefühl‹ gebe, ›geliebt zu werden‹.«

»So habe ich das aber nicht ausgedrückt …«, sagte Mat, während die Totenwächter in der Dunkelheit verschwanden.

Tuon musterte ihn kurz, dann fing sie an, sich auszuziehen.

»Beim Licht!«, sagte Mat. »Das habt Ihr ernst gemeint?«

»Ich werde mich nicht auf Euren Schoß setzen!«, verkündete Tuon, zog einen Arm aus dem Ärmel und entblößte ihre Brüste, »obwohl ich Euch vielleicht erlaube, Euch auf meinen zu setzen. Heute Nacht habt Ihr mir das Leben gerettet. Damit habt Ihr Euch ein besonderes Privileg verdient. Es …«

Sie verstummte, als Mat sie packte und küsste. Vor Überraschung war sie ganz starr. Im verdammten Garten, dachte er. Wo überall in Hörweite Soldaten rumstehen. Nun, wenn sie etwa glaubte, dass Matrim Cauthon schüchtern war, würde sie eine Überraschung erleben.

Er entließ sie aus dem Kuss. Ihr Körper presste sich an ihn, und er bemerkte erfreut, dass sie atemlos war.

»Ich werde nicht dein Spielzeug sein«, sagte er streng. »Da mache ich nicht mit, Tuon. Wenn du so bist, gehe ich. Denk an meine Worte. Manchmal spiele ich den Narren. Bei Tylin tat ich es mit Sicherheit. Bei dir mache ich da aber nicht mit.«

Überraschend zärtlich berührte sie sein Gesicht. »Wenn ich in Euch bloß ein Spielzeug gefunden hätte, dann hätte ich niemals diese Worte gesagt. Ein Mann, dem ein Auge fehlt, ist sowieso kein Spielzeug. Ihr wart in der Schlacht, das wird von nun an jeder wissen, der Euch sieht. Sie werden Euch nicht mit einem Narren verwechseln, und ich habe keine Verwendung für ein Spielzeug. Ich werde stattdessen einen Prinzen haben.«

»Und liebst du mich?«, fragte er und zwang diese Worte heraus.

»Eine Kaiserin liebt nicht«, sagte sie. »Es tut mir leid. Ich bin mit Euch zusammen, weil es die Omen bestimmt haben, also werde ich Seanchan zusammen mit Euch einen Erben geben.«

Mat verspürte ein flaues Gefühl im Magen.

»Jedoch«, fuhr sie fort. »Vielleicht kann ich zugeben, dass es … schön ist, dich zu sehen.«

Nun, dachte Mat, vermutlich kann ich damit zufrieden sein. Für den Augenblick.

Er küsste sie wieder.

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