9. Die verwandelte Nacht

Der ferne Widerhall eines hartnäckigen Klopfens riss Simone aus einer Welt voller tanzender Bilder und Monde, die zu glühenden Silbermünzen verschmolzen. Das Geräusch drang erneut an ihre Ohren, und diesmal wurde Simone endgültig wach und begriff, dass die Müdigkeit stärker gewesen war als ihr Vorsatz, vor Mitternacht noch ein paar Kapitel zu lesen. Als sie ihre Lesebrille aufhob, hörte sie es wieder. Jemand klopfte leise an das Fenster, das zur Veranda hinausging. Simone stand auf und erkannte Lazarus’ lächelndes Gesicht auf der anderen Seite der Scheibe. Sofort spürte sie, wie ihr das Blut in die Wangen schoss. Während sie die Tür öffnete, betrachtete sie sich im Spiegel im Vorraum. Ein Desaster.

»Guten Abend, Madame Sauvelle. Vielleicht komme ich ungelegen…«, sagte Lazarus.

»Überhaupt nicht. Ich… Ehrlich gesagt habe ich gelesen und bin fest eingeschlafen.«

»Das heißt, Sie sollten das Buch wechseln«, bemerkte Lazarus.

»Vermutlich. Aber kommen Sie doch herein.«

»Ich möchte Ihnen nicht lästig fallen.«

»Reden Sie keinen Unsinn. Bitte, treten Sie näher.«

Lazarus nickte höflich und trat ins Haus. Seine Augen schweiften rasch durch den Raum.

»Das Haus war nie in einem besseren Zustand«, stellte er fest. »Gratuliere.«

»Das ist allein Irenes Verdienst. Sie ist die Dekorateurin in der Familie. Eine Tasse Tee? Kaffee?«

»Ein Tee wäre perfekt, aber…«

»Kein Wort mehr. Mir wird er auch guttun.«

Ihre Blicke begegneten sich für einen Moment. Lazarus lächelte freundlich. Simone senkte verwirrt den Blick und konzentrierte sich darauf, den Tee für sie beide zuzubereiten.

»Sie werden sich nach dem Grund meines Besuchs fragen«, begann der Spielzeugfabrikant.

In der Tat, dachte Simone bei sich.

»Ich mache jeden Abend einen kleinen Spaziergang durch den Wald bis zu den Klippen. Es hilft mir, mich zu entspannen«, hörte sie Lazarus sagen.

Es entstand eine Pause zwischen ihnen, während das Wasser im Teekessel summte.

»Haben Sie schon von dem jährlichen Maskenball in Baie Bleue gehört, Madame Sauvelle?«

»Am letzten Vollmond im August…«, rief Simone sich in Erinnerung.

»So ist es. Ich habe mich gefragt… Nun, Sie sollen wissen, dass mein Vorschlag Sie zu nichts verpflichtet, andernfalls würde ich es nicht wagen, ihn auszusprechen. Also, ich weiß nicht, ob ich mich verständlich mache…«

Lazarus schien mit sich zu ringen wie ein nervöser Pennäler. Sie lächelte ihm aufmunternd zu.

»Ich habe mich gefragt, ob Sie wohl Lust hätten, mich dieses Jahr zu begleiten«, schloss der Mann schließlich.

Simone schluckte. Lazarus’ Lächeln erstarb.

»Es tut mir leid. Ich hätte Sie nicht fragen sollen. Nehmen Sie meine Entschuldigung an…«

»Mit oder ohne Zucker?«, warf Simone freundlich ein.

»Bitte?«

»Der Tee. Mit oder ohne Zucker?«

»Zwei Löffel.«

Simone nickte und rührte die beiden Löffel Zucker langsam um. Dann reichte sie Lazarus lächelnd die Tasse.

»Womöglich habe ich Sie beleidigt…«

»Das haben Sie nicht. Ich bin es nur nicht mehr gewöhnt, dass mich jemand einlädt, mit ihm auszugehen. Aber ich würde gerne mit Ihnen zu diesem Ball gehen«, antwortete sie, überrascht über ihre eigene Entscheidung.

Auf Lazarus’ Gesicht erschien ein strahlendes Lächeln. Für einen Augenblick fühlte sich Simone dreißig Jahre jünger. Es war ein zwiespältiges Gefühl, auf halbem Wege zwischen erhebend und lächerlich. Ein gefährlich berauschendes Gefühl. Ein Gefühl, das stärker war als Scham, Bedenken oder ein schlechtes Gewissen. Sie hatte vergessen, wie beflügelnd es war, zu spüren, dass sich jemand für sie interessierte.

Zehn Minuten später ging das Gespräch auf der Veranda des Hauses am Kap weiter. Die Öllampen, die an der Wand hingen, schaukelten im Seewind. Lazarus saß auf der hölzernen Brüstung und sah zu den Baumkronen des Waldes hinüber, die rauschten wie ein schwarzes, wogendes Meer.

Simone betrachtete das Gesicht des Spielzeugfabrikanten.

»Es freut mich zu hören, dass Sie sich in dem Haus wohlfühlen«, bemerkte Lazarus. »Wie leben sich Ihre Kinder in der Blauen Bucht ein?«

»Ich kann nicht klagen. Im Gegenteil. Irene scheint schon mit einem Jungen aus dem Dorf angebandelt zu haben. Einem gewissen Ismael. Kennen Sie ihn?«

»Ismael… Ja, natürlich. Ein anständiger Junge, scheint mir«, sagte Lazarus zurückhaltend.

»Das hoffe ich. Offen gestanden warte ich noch darauf, dass sie ihn mir vorstellt.«

»So sind die jungen Leute. Man muss sich in sie hineinversetzen…«, warf Lazarus ein.

»Wahrscheinlich mache ich mich wie alle Mütter lächerlich, indem ich meine fast fünfzehnjährige Tochter überbehüte.«

»Das ist doch nur natürlich.«

»Ich weiß nicht, ob sie das genauso sieht.«

Lazarus lächelte, sagte aber nichts.

»Was wissen Sie über ihn?«, fragte Simone.

»Über Ismael? Nun ja, nicht sehr viel«, begann er. »Fest steht, dass er ein guter Seemann ist. Ich halte ihn für einen in sich gekehrten jungen Mann, der sich nicht leicht damit tut, Freunde zu finden. Ehrlich gesagt kenne ich mich im Dorfleben auch nicht besonders gut aus… Aber ich glaube nicht, dass Sie sich Sorgen machen müssen.«


Das Stimmengemurmel stieg in unregelmäßigen Spiralen zu seinem Fenster herauf wie der Rauch einer schlecht ausgedrückten Zigarette. Es zu ignorieren, war unmöglich. Das Rauschen des Meeres übertönte kaum die Worte von Lazarus und seiner Mutter dort unten auf der Veranda, obwohl sich Dorian für einen Moment wünschte, dass es so wäre und er diese Unterhaltung niemals mit angehört hätte. Da war etwas in jedem Satz, in jeder Betonung, das ihn beunruhigte. Etwas Unbestimmbares, Unsichtbares, das jede Wendung des Gesprächs zu durchdringen schien.

Womöglich war es einfach die Vorstellung, seine Mutter vergnügt mit einem Mann plaudern zu hören, der nicht sein Vater war, selbst wenn es sich bei diesem Mann um Lazarus handelte, den Dorian als Freund betrachtete. Vielleicht war es diese Vertrautheit, die jedes Wort zwischen den beiden zu durchtränken schien. Vielleicht, sagte sich Dorian schließlich, war es nur Eifersucht und der dumme, trotzige Anspruch, dass seine Mutter nie wieder Freude an einem Gespräch mit einem anderen erwachsenen Mann empfinden dürfe. Und das war ziemlich egoistisch. Egoistisch und ungerecht. Schließlich war Simone nicht nur seine Mutter, sondern eine Frau aus Fleisch und Blut, die sich vermutlich Freunde wünschte und andere Gesellschaft als nur die ihrer Kinder. Das konnte man in jedem Buch lesen, das etwas auf sich hielt. Dorian ging das Ganze noch einmal theoretisch durch. Auf dieser Ebene erschien ihm alles bestens. In der Praxis allerdings sah das ganz anders aus.

Ohne das Licht in seinem Zimmer anzumachen, trat Dorian vorsichtig ans Fenster und warf einen flüchtigen Blick auf die Terrasse. »Ein Egoist, und darüber hinaus auch noch ein Spion«, schien eine Stimme in seinem Inneren zu flüstern. Aus seinem bequemen Versteck in der Dunkelheit sah Dorian den Schatten seiner Mutter, der auf die Veranda fiel. Lazarus stand schwarz und reglos daneben und blickte aufs Meer hinaus. Dorian schluckte. Der Wind bewegte die Vorhänge, hinter denen er sich verbarg, und der Junge trat instinktiv einen Schritt zurück. Die Stimme seiner Mutter formte einige unverständliche Wörter. Es ging ihn nichts an, beschloss er, beschämt darüber, dass er heimlich spioniert hatte.

Der Junge wollte gerade leise seinen Platz am Fenster verlassen, als er aus dem Augenwinkel eine Bewegung im Zimmer wahrnahm. Dorian fuhr herum, während er spürte, wie sich ihm sämtliche Nackenhaare aufstellten. Das Zimmer lag im Dunkeln, nur durchzogen von schmalen, bläulichen Lichtstreifen, die durch die wehenden Vorhänge sickerten. Seine Hand tastete langsam über den Nachttisch, um nach dem Lichtschalter zu suchen. Das Holz war kalt. Erst nach einigen Sekunden fanden seine Finger den Knopf. Die Metallspirale im Inneren der Glühbirne flammte kurz auf und verlosch dann zischend. Das plötzliche Aufleuchten blendete ihn für einen Augenblick. Danach wurde die Dunkelheit noch finsterer, wie ein tiefer, schwarzer Brunnen.

»Die Glühbirne ist durchgebrannt«, sagte er sich. »Nichts Besonderes. Das Wolfram, aus dem der Glühfaden gemacht wird, hat eben nur eine begrenzte Lebensdauer.« Das hatte er in der Schule gelernt.

All diese beruhigenden Gedanken versagten, als Dorian erneut diese Bewegung in der Dunkelheit wahrnahm. Genauer gesagt war es die Dunkelheit selbst, die sich bewegte.

Es überlief ihn eiskalt, als er bemerkte, dass sich in der Schwärze vor ihm eine Gestalt herauszubilden schien. Der schwarze, dichte Schemen verharrte in der Zimmermitte. »Er beobachtet mich«, flüsterte die Stimme in seinem Inneren. Der Schatten schien in der Dunkelheit näherzukommen, und Dorian stellte fest, dass es nicht der Boden war, der sich bewegte, sondern seine Knie, die beim Anblick dieser gespenstischen Gestalt, die Schritt für Schritt näherkam, vor lauter Angst schlotterten.

Dorian wich einige Schritte zurück, bis er in dem schwachen Lichtfleck stand, der durchs Fenster fiel. Der Schatten hielt an der Schwelle der Dunkelheit inne. Der Junge spürte, wie seine Zähne klapperten, aber er presste die Kiefer fest aufeinander und unterdrückte seinen Drang, die Augen zu schließen. Plötzlich schien jemand etwas zu sagen. Es dauerte einige Sekunden, bis er begriff, dass er selbst es war. Mit fester Stimme und ohne eine Spur von Angst.

»Verschwinde«, sagte er in die Dunkelheit hinein. »Verschwinde, habe ich gesagt.«

Ein furchterregendes Geräusch war zu hören, ein Geräusch, das wie das ferne Echo eines grausamen, bösartigen Lachens klang. Im gleichen Augenblick tauchten die Gesichtszüge des Schattens aus der Dunkelheit auf wie ein Spiegelbild auf tiefschwarzem Wasser. Düster. Dämonisch.

»Verschwinde«, hörte Dorian sich selbst sagen.

Die schwarze Nebelgestalt löste sich vor seinen Augen auf, und der Schatten bewegte sich rasend schnell wie eine Wolke aus glühendem Gas durch das Zimmer zur Tür. Dort verwandelte sich das Gebilde in eine schwebende Spirale, die von einer unsichtbaren Kraft durch das Schlüsselloch gesogen wurde wie ein Tornado aus dunkelster Schwärze.

Erst jetzt flammte die Glühbirne wieder auf und tauchte das Zimmer in warmes Licht. Der Junge schrie beinahe vor Schreck. Sein Blick schoss in jeden Winkel des Zimmers, doch nirgendwo war eine Spur der Erscheinung zu entdecken, die er Sekunden zuvor zu sehen geglaubt hatte.

Dorian atmete tief durch und ging zur Tür. Als er die Hand auf den Türgriff legte, war das Metall eiskalt. Entschlossen öffnete er die Tür und spähte in den dunklen Flur. Nichts.

Leise schloss er sie wieder und trat erneut ans Fenster. Unten auf der Veranda verabschiedete sich Lazarus von seiner Mutter. Bevor er sich auf den Weg machte, beugte sich der Spielzeugfabrikant hinunter und küsste sie auf die Wange. Es war ein kurzer Kuss, beinahe hingehaucht. Dorian spürte, wie sich sein Magen zur Größe einer Erbse zusammenkrampfte. In diesem Moment blickte der Mann aus der Dunkelheit zu ihm auf und lächelte ihm zu. Das Blut gefror ihm in den Adern.

Im Mondlicht ging der Spielzeugfabrikant langsam auf den Wald zu, doch sosehr Dorian sich auch bemühte, er konnte nicht sehen, wohin Lazarus’ Schatten fiel. Kurz darauf verschluckte ihn die Dunkelheit.


Nachdem sie einem langen Korridor gefolgt waren, der die Spielzeugfabrik mit dem Wohnhaus verband, betraten Ismael und Irene das Innerste von Cravenmoore. Unter dem Mantel der Nacht wirkte Lazarus’ Anwesen wie ein Palast der Finsternis, dessen von unzähligen mechanischen Geschöpfen bevölkerte Galerien in alle Himmelsrichtungen in die Dunkelheit abzweigten. Die bunte Laterne, die über der spindelförmigen Treppe in der Mitte des Hauses hing, versprühte einen Regen aus roten, goldenen und blauen Lichtreflexen, die im Inneren von Cravenmoore zurückstrahlten wie aus einem Kaleidoskop entwichene Glasperlen.

Irene musste bei den erstarrten Figuren der Automaten und den ausdruckslosen Gesichtern entlang der Wände an einen unheimlichen Zauber denken, der die Seelen früherer Hausbewohner gefangen hielt. Ismael war da nüchterner und sah in ihnen lediglich den verworrenen, unergründlichen Geist ihres Schöpfers. Doch das beruhigte ihn keinesfalls; im Gegenteil, je weiter sie in Lazarus Janns Privatgemächer vordrangen, desto intensiver war die unsichtbare Gegenwart des Spielzeugfabrikanten zu spüren. Seine Persönlichkeit steckte in jedem kleinen Detail dieses barocken Baus, von den mit Fresken bemalten Decken, die Szenen aus bekannten Märchen zeigten, bis zu dem Boden, über den sie gingen, ein nicht enden wollendes Schachbrett, dessen hypnotisches Muster dem Auge in einem raffinierten optischen Effekt endlose Tiefe vortäuschte. Durch Cravenmoore zu streifen war, als wandelte man durch einen atemberaubenden und zugleich beängstigenden Traum.

Ismael blieb am Fuß der Treppe stehen und betrachtete, wie sie sich in die Höhe wand. Unterdessen bemerkte Irene, wie eines von Lazarus’ mechanischen Uhrengesichtern in Form einer Sonne die Augen aufschlug und ihnen zulächelte. Als der Stundenzeiger auf Mitternacht wanderte, drehte sich die Scheibe um und an die Stelle der Sonne trat ein Mond, von dem ein gespenstisches Leuchten ausging. Die dunkel glänzenden Augen des Mondes wanderten langsam hin und her.

»Gehen wir rauf«, flüsterte Ismael. »Hannahs Zimmer war im zweiten oder dritten Stock.«

»Hier gibt es Dutzende von Zimmern, Ismael. Woher sollen wir wissen, welches ihres war?«

»Hannah hat mir mal erzählt, dass ihr Zimmer am Ende eines Korridors lag. Mit Blick auf die Bucht, glaube ich.«

Irene nickte, obwohl sie diese Erklärung nicht sehr erhellend fand. Der Junge schien von der Atmosphäre dieses Ortes genauso beeindruckt zu sein wie sie, aber das würde er in hundert Jahren nicht zugeben. Beide warfen einen letzten Blick auf die Uhr.

»Es ist schon Mitternacht. Lazarus wird bald zurück sein«, sagte Irene.

»Dann mal los.«

Die Treppe wand sich in einer byzantinischen Spirale nach oben, die das Gesetz der Schwerkraft aufzuheben schien. Nach einem schwindelerregenden Aufstieg ließen sie den ersten Stock hinter sich. Ismael packte Irenes Hand und stieg weiter hinauf. Die Wölbung der Wände wurde nun stärker, und der Weg glich allmählich einem in den Stein gehauenen, klaustrophobischen Schlund.

»Nur noch ein kleines Stück«, sagte der Junge, der Irenes ängstliches Schweigen richtig deutete.

Eine Ewigkeit später– in Wirklichkeit waren es dreißig Sekunden– konnten die beiden die beklemmende Treppe hinter sich lassen und erreichten den Zugang zum zweiten Stockwerk von Cravenmoore. Vor ihnen lag der Hauptkorridor des Ostflügels. Eine Schar versteinerter Figuren lauerte in der Dunkelheit.

»Am besten, wir teilen uns auf«, stellte Ismael fest.

»Ich wusste, dass du das sagen würdest.«

»Dafür darfst du dir aussuchen, welchen Teil du dir vornimmst«, versuchte Ismael zu scherzen.

Irene sah sich um. Nach Osten waren drei in Kapuzen gehüllte Figuren rings um einen riesigen Kessel zu erkennen: Hexen. Das Mädchen zeigte in die entgegengesetzte Richtung.

»Diesen.«

»Es sind nur Maschinen, Irene«, sagte Ismael. »Sie sind leblos. Nichts weiter als Spielzeug.«

»Erzähl mir das morgen früh.«

»In Ordnung, ich sehe mir diesen Teil an. Wir treffen uns in fünfzehn Minuten hier. Wenn wir nichts gefunden haben, Pech. Dann gehen wir, versprochen.«

Sie nickte. Ismael reichte ihr seine Streichholzschachtel.

»Für alle Fälle.«

Irene steckte sie in ihre Jackentasche und warf Ismael einen letzten Blick zu. Der Junge beugte sich vor und küsste sie sacht auf den Mund.

»Viel Glück«, murmelte er.

Bevor sie antworten konnte, ging er den Korridor hinunter, der in tiefschwarze Finsternis getaucht war. »Viel Glück«, dachte Irene.

Die Schritte des Jungen verhallten hinter ihr. Irene atmete tief durch und ging zum entgegengesetzten Ende der Galerie, die durch die zentrale Kuppel des Hauses lief. Die Galerie teilte sich, als sie auf die Treppe traf. Irene beugte sich leicht über den Abgrund, der bis ins Erdgeschoss reichte. Ein Bündel gebrochenen Lichts fiel senkrecht von der Laterne in der Kuppel herab und formte einen Regenbogen, der durch die Dunkelheit brach.

An diesem Punkt gabelte sich die Galerie in zwei Richtungen, nach Süden und nach Westen. Der Westflügel war der einzige, der Sicht auf die Bucht bot. Ohne einen Augenblick zu zögern, betrat Irene den langen Gang und ließ die beruhigende Helligkeit hinter sich, die von der Laterne ausging. Plötzlich bemerkte das Mädchen, das ein durchscheinender Stoff den Gang abtrennte, ein dünner Gazevorhang, hinter dem der Korridor auffällig anders aussah als überall sonst. Es waren keine Figuren mehr zu sehen, die in der Dunkelheit lauerten. Ein Buchstabe war auf den Ring gestickt, der den trennenden Vorhang hielt. Eine Initiale:


A


Irene schlug den Vorhang mit den Händen beiseite und passierte diese sonderbare Grenze, die den Westflügel zweizuteilen schien. Ein kalter Hauch streifte ihr Gesicht, und das Mädchen bemerkte zum ersten Mal, dass die Wände über und über mit Holzschnitzereien bedeckt waren. Es waren nur drei Türen zu sehen. Zwei zu beiden Seiten des Korridors und eine dritte, größere, an der Stirnseite, auch sie verziert mit der Initiale, die sie auf dem Vorhang gesehen hatte.

Irene ging langsam auf die Tür zu. Die Holzreliefs ringsum zeigten geheimnisvolle Szenen, die von merkwürdigen Kreaturen bevölkert waren. Eine ging in die nächste über, einen Ozean aus Hieroglyphen bildend, deren Bedeutung ihr vollständig verborgen blieb. Als Irene die Tür am Ende des Flurs erreichte, war sie bereits zu der Überzeugung gelangt, dass Hannah unmöglich ein Zimmer in diesem Trakt bewohnt haben konnte. Doch die Anziehungskraft dieses Ortes war stärker als die unheimliche Aura des Verbotenen, die von ihm ausging. Eine intensive Präsenz schien in der Luft zu liegen. Eine fast greifbare Präsenz.

Irene spürte, wie ihr Puls raste. Sie legte ihre zitternde Hand auf den Türknauf. Etwas hielt sie zurück. Eine Vorahnung. Noch war Zeit, umzukehren, zu Ismael zurückzugehen und das Haus zu verlassen, bevor Lazarus ihr Eindringen bemerkte. Der Türknauf drehte sich sachte unter ihren Fingern, glitt an ihrer Haut entlang. Irene schloss die Augen. Es gab keinen Grund, dort hineinzugehen. Sie brauchte nur umzukehren. Es gab keinen Grund, dieser unwirklichen, traumhaften Aura nachzugeben, die ihr einflüsterte, die Tür zu öffnen und unwiderruflich die Schwelle zu übertreten. Das Mädchen öffnete die Augen.

Der Korridor wies den Weg zurück durch die Dunkelheit. Irene seufzte, und ihr Blick blieb an den Lichtschlieren hängen, die über den Gazevorhang huschten. In diesem Moment zeichnete sich eine dunkle Gestalt hinter dem Vorhang ab und blieb auf der anderen Seite stehen.

»Ismael?«, flüsterte Irene.

Die Gestalt verharrte einige Sekunden reglos, dann zog sie sich lautlos in die Dunkelheit zurück.

»Ismael, bist du’s?«, fragte sie noch einmal.

Das langsame Gift der Panik begann sich in ihre Adern zu schleichen. Ohne den Blick von jenem Punkt abzuwenden, öffnete sie die Tür zu dem Zimmer, schlüpfte hinein und schloss sie wieder hinter sich. Für einen Moment wurde sie von dem saphirblauen Licht geblendet, das durch die hohen, schmalen Fenster drang. Als sich ihre Augen an die schillernde Helligkeit im Zimmer gewöhnt hatten, gelang es ihr, mit zitternden Händen eines der Streichhölzer zu entzünden, die Ismael ihr überlassen hatte. Im rötlichen Schein der Flamme wurde ein feudaler Salon sichtbar, dessen Luxus und Pracht einem Märchenbuch zu entstammen schienen.

Der überbordende Stuck der Decke lief in der Zimmermitte zu einem barocken Strudel zusammen. Am anderen Ende des Raumes stand ein kostbares Himmelbett mit langen, goldfarbenen Vorhängen. In der Mitte des Zimmers befand sich ein Marmortisch mit einem großen Schachspiel darauf, dessen Figuren aus Kristall geschliffen waren. Am anderen Ende des Raumes entdeckte Irene eine weitere Lichtquelle, die zu der unwirklichen Atmosphäre beitrug: der tiefe Rachen eines Kamins, in dem dicke Holzscheite glühten. Darüber hing ein großes Porträt. Ein blasses Antlitz mit den feinsten Gesichtszügen, die man sich vorstellen konnte, umrahmte die unergründlichen, traurigen Augen einer hinreißend schönen Frau. Die Dame auf dem Bild trug ein langes weißes Kleid, und im Hintergrund sah man die Leuchtturminsel in der Bucht liegen.

Irene ging langsam auf das Gemälde zu, wobei sie das brennende Streichholz hochhielt, bis die Flamme ihr die Finger verbrannte. Als sie die Wunde ableckte, sah sie einen Kerzenleuchter auf einem Schreibtisch stehen. Sie brauchte ihn nicht unbedingt, aber sie entzündete dennoch mit einem weiteren Streichholz die Kerze. Die Flamme verbreitete einen hellen Schein ringsum. Auf dem Schreibtisch lag ein ledergebundenes Buch. Es war in der Mitte aufgeschlagen.

Irene erkannte die so vertraute Handschrift auf dem pergamentartigen Papier wieder, bedeckt von einer Staubschicht, die es fast unmöglich machte, die Seiten zu lesen. Das Mädchen pustete vorsichtig, und eine Wolke aus Tausenden glitzernder Teilchen breitete sich auf dem Tisch aus. Sie nahm das Buch zur Hand und blätterte, bis sie auf der ersten Seite angelangt war. Sie hielt das Buch ans Licht und las die silbergeprägten Buchstaben. Während ihr Verstand allmählich erfasste, was das alles bedeutete, setzte sich langsam das Grauen in ihrem Nacken fest wie eine eisige Nadel.


Alexandra Alma Maltisse

Lazarus Joseph Jann

1915


Ein brennendes Holzscheit knackte im Feuer und versprühte kleine Funken, die auf dem Boden verglommen. Irene schloss das Buch und legte es auf den Tisch. In diesem Moment bemerkte sie, dass sie jemand vom anderen Ende des Zimmers durch den Vorhang des Himmelbetts beobachtete. Eine zierliche Gestalt lag auf dem Bett. Eine Frau. Irene trat einige Schritte auf sie zu. Die Frau hob eine Hand.

»Alma?«, wisperte Irene, erschreckt über den Klang ihrer eigenen Stimme.

Sie ging bis zum Bett und blieb auf der anderen Seite der Vorhänge stehen. Das Herz schlug ihr bis zum Hals, und ihr Atem ging stoßweise. Langsam zog sie die Vorhänge beiseite. Im gleichen Augenblick wehte ein eisiger Lufthauch durchs Zimmer und ließ die Kerzen flackern. Irene blickte zur Tür. Ein Schatten breitete sich auf dem Boden aus wie ein großer Tintenfleck, der unter der Tür hindurchsickerte. Ein gespenstisches Geräusch, eine ferne, hasserfüllte Stimme schien etwas aus der Dunkelheit zu flüstern.

Im nächsten Augenblick flog die Tür mit gewaltiger Kraft auf und schlug innen ins Zimmer, wobei sie beinahe die Angeln aus der Wand riss, die sie hielten. Als eine Hand mit langen, messerscharfen stählernen Klauen aus der Dunkelheit auftauchte, schrie Irene, so laut sie konnte.


Ismael begann zu vermuten, dass ihm bei der Lagebestimmung von Hannahs Zimmer ein Fehler unterlaufen war. Als sie ihm das Haus beschrieben hatte, hatte sich der Junge seinen eigenen Plan von Cravenmoore gemacht. Doch einmal in seinem Inneren, kam ihm der labyrinthähnliche Aufbau des Anwesens undurchschaubar vor. Alle Zimmer in dem Flügel, den er erkunden wollte, waren fest verschlossen. Kein einziges Schloss hatte bei seinen Versuchen nachgegeben, und die Uhr schien angesichts seines völligen Scheiterns keinerlei Erbarmen mit ihm zu haben.

Die vereinbarten fünfzehn Minuten waren ergebnislos verstrichen, und die Vorstellung, die Suche für diese Nacht abzubrechen, erschien ihm verlockend. Ein Blick auf das düstere Innenleben bot ihm tausenderlei Vorwände, von hier zu verschwinden. Sein Entschluss, das Haus zu verlassen, stand bereits fest, als er Irenes Schrei hörte, kaum mehr als ein dünnes Stimmchen, das von irgendeinem entfernten Ort durch die Dunkelheit von Cravenmoore hallte. Das Echo breitete sich in verschiedene Richtungen aus. Ismael spürte, wie ihm das Adrenalin in die Adern schoss, und er rannte zum anderen Ende des endlosen Korridors, so schnell ihn seine Beine trugen.

Er hatte kaum einen Blick für den unheimlichen, von dunklen Schemen bevölkerten Tunnel, der an ihm vorbeizog. Er lief unter dem gebrochenen Licht der Kuppellaterne hindurch und ließ die Abzweigungen zu den Gängen rings um die zentrale Treppe hinter sich. Das Muster der Bodenfliesen schien sich unter seinen Füßen auszudehnen, und die schwindelerregende Flucht des Korridors wurde vor seinen Augen immer länger, als dehnte er sich ins Endlose aus.

Erneut waren Irenes Schreie zu hören, näher diesmal. Ismael durchquerte den durchsichtigen Vorhang und entdeckte schließlich das Zimmer am Ende des Westflügels. Ohne lange zu überlegen, stürzte der Junge hinein, ohne zu wissen, was ihn dort erwartete.

Im Widerschein des Feuers, das im Kamin knisterte, erkannte er undeutlich ein riesiges Zimmer. Irenes Silhouette, die sich vor einem großen, in blaues Licht getauchten Fenster abzeichnete, beruhigte ihn zunächst, doch dann sah er das blanke Entsetzen in den Augen des Mädchens. Ismael drehte sich instinktiv um, und das, was er dort vor sich sah, vernebelte ihm den Verstand, lähmte ihn wie der hypnotisierende Tanz einer Schlange.

Aus der Dunkelheit löste sich eine gewaltige Gestalt und breitete zwei große, schwarze Schwingen aus. Wie eine Fledermaus. Oder ein Dämon.

Der Engel streckte seine langen Arme aus, die in spitzen Klauen mit langen, schwarzen Fingern ausliefen. Die stählernen Klingen seiner Nägel blitzten vor seinem unter einer Kapuze verborgenen Gesicht.

Ismael wich einen Schritt in Richtung Feuer zurück, und der Engel sah auf, offenbarte im Schein der Flammen seine Gesichtszüge. Diese unheimliche Gestalt war mehr als nur eine Maschine. Etwas hatte sich in ihr Inneres zurückgezogen und verwandelte sie in eine teuflische Marionette, ein greifbares, bösartiges Wesen. Der Junge riss sich zusammen, um nicht die Augen zu schließen, und packte das Ende eines halb verkohlten Holzscheits. Das brennende Holzscheit vor dem Engel hin und her schwenkend, deutete er zur Zimmertür.

»Geh langsam zur Tür«, flüsterte er Irene zu.

Das Mädchen, vor Angst wie gelähmt, reagierte nicht auf seine Worte.

»Tu, was ich dir sage«, befahl Ismael energisch.

Der Ton seiner Stimme riss Irene aus ihrer Erstarrung. Sie nickte zitternd und machte sich auf den Weg in Richtung Tür. Sie war kaum zwei Schritte gegangen, als der Engel ihr das Gesicht zuwandte wie ein geduldig lauerndes Raubtier. Irene hatte das Gefühl, am Boden festgenagelt zu sein.

»Sieh ihn nicht an und geh weiter«, befahl Ismael, während er unaufhörlich mit dem Holzscheit vor dem Engel herumfuchtelte.

Irene machte einen weiteren Schritt vorwärts. Das Geschöpf folgte ihr mit dem Kopf, und das Mädchen begann zu schluchzen.

Ismael nutzte die Ablenkung und zog dem Engel das Holzstück über den Kopf. Der Aufprall ließ glühende Funken regnen. Bevor er das Holzscheit wieder zurückziehen konnte, packte eine Pranke das Holz, und fünf Zentimeter lange Krallen, scharf wie Jagdmesser, zerfetzten es vor seinen Augen zu Spänen. Der Engel machte einen Schritt auf Ismael zu. Der Junge spürte, wie der Fußboden unter dem Gewicht seines Widersachers vibrierte.

»Du bist nur eine verdammte Maschine. Ein verdammter Haufen Blech…« murmelte er, während er den schrecklichen Anblick der scharlachroten Augen zu verdrängen versuchte, die unter der Kapuze des Engels hervorblitzten.

Die dämonischen Pupillen der Gestalt verengten sich langsam zu blutroten Schlitzen in kohlenschwarzer Hornhaut, bis sie an die Augen einer großen Raubkatze erinnerten. Der Engel machte einen weiteren Schritt auf ihn zu. Ismael warf einen raschen Blick zur Tür. Es waren mehr als acht Meter bis dorthin. Für ihn gab es kein Entkommen, für Irene hingegen schon.

»Wenn ich es dir sage, rennst du zur Tür und bleibst nicht eher stehen, bis du aus dem Haus heraus bist.«

»Was redest du da?«

»Keine Diskussionen jetzt«, befahl Ismael, ohne den Blick von dem Wesen abzuwenden. »Lauf!«

Der Junge überschlug gerade, wie lange er brauchen würde, um zum Fenster zu gelangen und zu versuchen, über die Gesimse der Fassade zu entkommen, als das Unerwartete geschah. Statt zur Tür zu rennen und zu fliehen, packte Irene ein brennendes Holzscheit aus dem Kamin und stellte sich dem Engel gegenüber.

»Sieh mich an, du Ungeheuer«, brüllte sie und setzte mit dem flackernden Holzstück den Umhang des Engels in Brand. Der Schatten, der sich in seinem Inneren verbarg, ließ einen wütenden Schrei los.

Entsetzt warf sich Ismael auf Irene und riss sie gerade noch rechtzeitig zu Boden, bevor die messerscharfen Krallen sie in der Luft zerfetzen konnten. Der Umhang des Engels ging in Flammen auf, und die riesige Gestalt verwandelte sich in eine Feuerspirale. Ismael packte Irene am Arm und zog sie hoch. Gemeinsam versuchten sie zum Ausgang zu laufen, doch der Engel stellte sich ihnen in den Weg, nachdem er sich von dem lichterloh brennenden Umhang befreit hatte, der ihn verhüllte. Ein Gerippe aus geschwärztem Stahl kam unter den Flammen zum Vorschein.

In Erwartung weiterer sinnloser Heldentaten ließ Ismael das Mädchen keine Sekunde los, zog sie zum Fenster und warf einen Sessel in die Scheibe. Ein Scherbenregen prasselte herunter, und der kalte Nachtwind wehte die Vorhänge bis an die Decke. Sie hörten die Schritte des Engels hinter sich.

»Schnell! Spring auf den Mauervorsprung!«, schrie der Junge.

»Was?«, wimmerte Irene ungläubig.

Ohne lange zu zögern, drängte er sie nach draußen. Das Mädchen taumelte durch das klaffende Loch in der Scheibe und sah sich einem Abgrund von fast vierzig Metern gegenüber. Ihr blieb beinahe das Herz stehen, überzeugt, dass sie in Sekundenbruchteilen in die Tiefe stürzen werde. Doch Ismael lockerte seinen Griff keinen Millimeter und zog sie mit Schwung wieder auf das schmale Sims, das an der Fassade entlanglief wie ein Laufgang in den Wolken. Dann kletterte er hinterher und schob sie vorwärts. Der Wind kühlte den Schweiß, der ihm übers Gesicht rann.

»Schau nicht nach unten!«, brüllte er.

Sie waren noch nicht weit gekommen, als in dem Fenster hinter ihnen die Klaue des Engels erschien; seine Krallen fegten einen Schauer aus Glasscherben auf den Stein und hinterließen vier tiefe Scharten in den Quadern. Irene schrie auf, als sie spürte, dass ihre Füße auf dem Sims zitterten und ihr Körper gefährlich auf den Abgrund zuzuwanken schien.

»Ich kann nicht weitergehen, Ismael«, verkündete sie. »Wenn ich noch einen Schritt mache, werde ich fallen.«

»Du kannst. Und du wirst. Los«, nötigte er sie und umklammerte ihre Hand. »Wenn du fällst, fallen wir beide.«

Das Mädchen versuchte zu lächeln. Plötzlich zerbarst ein paar Meter vor ihnen ein Fenster und Tausende Glassplitter wurden nach außen geschleudert. Die Krallen des Engels erschienen in der Öffnung, und einen Augenblick später klammerte sich der Körper des Ungeheuers an die Fassade wie eine Spinne.

»Mein Gott…«, wimmerte Irene.

Ismael versuchte zurückzuweichen und zog sie hinter sich her. Der Engel kroch über den Stein; seine Gestalt verschmolz beinahe mit den teuflischen Fratzen der Wasserspeier, die den Dachfries der Fassade von Cravenmoore zierten.

Der Junge sondierte in fliegender Hast die Möglichkeiten, die sich ihnen boten. Unterdessen kam das Geschöpf Handbreit für Handbreit näher.

»Ismael…«

»Ja, ich weiß!«

Der Junge wägte ihre Chancen ab, einen Sprung aus dieser Höhe zu überleben. Sie lagen bei Null, großzügig betrachtet. Ins Zimmer zurückzuklettern dauerte zu lange. In der Zeit, die sie brauchten, um auf dem Gesims umzukehren, würde der Engel sie erwischen. Er wusste, dass ihm nur ein paar Sekunden blieben, um eine Entscheidung zu treffen, wie auch immer diese ausfiel. Irenes Hand umklammerte die seine; sie zitterte. Der Junge warf einen letzten Blick auf den Engel, der langsam, aber unausweichlich auf sie zukroch. Er schluckte und sah in die andere Richtung. Neben ihnen führte das Fallrohr der Regenrinne nach unten. Die eine Hälfte seines Hirns fragte sich, ob diese Konstruktion das Gewicht zweier Personen aushalten würde, während die andere Hälfte darüber nachsann, wie man dieses dicke Rohr zu packen bekommen könnte. Ihre letzte Chance.

»Klammere dich ganz fest an mich«, flüsterte er.

Irene sah ihn an, dann schaute sie nach unten in den Abgrund und erriet seinen Gedanken.

»Oh mein Gott!«

Ismael zwinkerte ihr zu.

»Viel Glück«, sagte er leise.

Die Klaue des Engels bohrte sich nur wenige Zentimeter von seinem Gesicht entfernt in den Stein. Irene schrie auf und umklammerte mit geschlossenen Augen Ismaels Rücken. In schwindelerregendem Fall ging es abwärts. Als das Mädchen die Augen wieder öffnete, befanden sie sich über dem Nichts. Ismael rutschte praktisch ungebremst das Fallrohr hinunter. Der Magen hing ihm bis zum Hals. Über ihnen rüttelte der Engel an dem Rohr und schlug es gegen die Fassade. Ismael spürte, wie ihm die Reibung erbarmungslos die Haut von den Händen und Unterarmen riss und eine starke Hitze erzeugte, die sich binnen Sekunden in einen rasenden Schmerz verwandeln würde. Der Engel kroch auf sie zu, er versuchte das Rohr zu umklammern… und riss es mit seinem Eigengewicht aus der Wand.

Die metallische Masse des Ungeheuers stürzte in die Tiefe und riss das ganze Regenrohr mit sich, das sich mitsamt Ismael und Irene durch die Luft bis zum Boden bog. Der Junge versuchte, nicht die Kontrolle zu verlieren, doch der Schmerz und die Geschwindigkeit, mit der sie fielen, waren stärker.

Das Rohr entglitt seinen Händen, und die beiden stürzten auf den großen Teich zu, der neben dem Westflügel von Cravenmoore lag. Der Aufprall auf die kalte, schwarze Wasserfläche war sehr heftig. Die Geschwindigkeit des Falls beförderte sie bis auf den glitschigen Grund des Sees. Irene spürte, wie das eiskalte Wasser in ihre Nase drang und in ihrer Kehle brannte. Eine Welle panischer Angst überrollte sie. Sie öffnete die Augen unter Wasser und sah vor lauter Brennen nur ein schwarzes Loch. Da tauchte neben ihr eine Gestalt auf: Ismael. Der Junge packte sie und brachte sie an die Oberfläche. Prustend tauchten die beiden auf.

»Schnell«, drängte Ismael.

Irene bemerkte die Abschürfungen und Wunden an seinen Händen und Armen.

»Das ist nichts«, log der Junge, während er aus dem Teich kletterte.

Sie folgte ihm. Ihre Kleider waren klatschnass und klebten in der nächtlichen Kälte an ihrer Haut wie ein schmerzender Panzer aus Eis. Ismael spähte in die Dunkelheit.

»Wo ist er?«, fragte Irene.

»Vielleicht ist er beim Aufprall um-«

Etwas bewegte sich im Gebüsch. Sie erkannten die glutroten Augen sofort. Der Engel war immer noch da, und was auch immer ihn antrieb, er war nicht bereit, sie lebend davonkommen zu lassen.

»Renn!«

Die beiden stürzten, so schnell sie konnten, auf den Waldrand zu. Ihre nassen Kleider behinderten sie, und die Kälte begann ihnen in die Knochen zu dringen. Die Geräusche des Engels folgten ihnen durchs Unterholz. Ismael zog das Mädchen hinter sich her, immer tiefer in den Wald hinein, wo der Nebel dichter wurde.

»Wohin laufen wir?«, keuchte Irene, als sie merkte, dass sie einen Teil des Waldes betraten, den sie nicht kannte.

Ismael hielt sich nicht damit auf, zu antworten, und zog sie verzweifelt hinter sich her. Irene spürte, wie das Gestrüpp ihre Knöchel zerkratzte und die Erschöpfung schwer an ihren Muskeln zehrte. Sie konnte dieses Tempo nicht mehr lange durchhalten. Es war nur noch eine Frage von Sekunden, bis das Ungeheuer sie mitten im Wald einholte und mit seinen Klauen zerfleischte.

»Ich kann nicht mehr…«

»Doch, du kannst!«

Der Junge zerrte sie hinter sich her. Ihr Kopf spielte verrückt, und nur wenige Meter hinter ihnen hörte sie das Knacken der Zweige. Für einen kurzen Moment dachte sie, es würde verschwinden, doch ein stechender Schmerz im Bein brachte ihr die Wirklichkeit schmerzlich ins Bewusstsein. Eine Klaue des Engels war aus dem Gebüsch hervorgeschnellt und hatte ihr den Oberschenkel aufgeschlitzt. Das Mädchen schrie auf. Das Gesicht des Ungeheuers erschien hinter ihnen. Irene versuchte die Augen zu schließen, aber sie konnte den Blick nicht von diesem teuflischen Raubtier abwenden.

In diesem Moment tauchte der Eingang einer hinter Büschen verborgenen Höhle vor ihnen auf. Ismael rannte hinein und zog sie mit sich. Das war also der Ort, zu dem er sie führte. Eine Höhle. Glaubte Ismael etwa, der Engel werde zögern, sie auch dorthin zu verfolgen? Als einzige Antwort vernahm Irene das Geräusch, mit dem die Klauen an den Felswänden der Höhle entlangkratzten. Ismael zog sie durch den engen Gang, bis er schließlich vor einem Loch im Boden stehen blieb, einer Öffnung in die Tiefe. Ein kalter, salziger Wind strömte daraus hervor. Unten in der Dunkelheit war ein lautes Rauschen zu hören. Wasser. Das Meer.

»Spring!«, befahl ihr der Junge.

Irene starrte in das schwarze Loch. Der direkte Weg in die Hölle wäre einladender gewesen.

»Was ist da unten?«

Ismael keuchte erschöpft. Die Schritte des Engels klangen nah. Sehr nah.

»Die Fledermausgrotte.«

»Das ist der zweite Zugang? Du hast gesagt, der ist gefährlich!«

»Wir haben keine andere Wahl…«

Die Blicke der beiden trafen sich im Halbdunkel. Zwei Meter weiter ließ der schwarze Engel seine Krallen knirschen. Ismael nickte. Das Mädchen nahm seine Hand und sprang mit geschlossenen Augen ins Leere. Der Engel folgte ihnen und stürzte sich ebenfalls in die Höhle.

Der Fall durch die Dunkelheit erschien endlos. Als sie schließlich ins Meer eintauchten, drang eine beißende Kälte in jede ihrer Poren. Als sie wieder an die Oberfläche kamen, fiel nur ein schwacher Lichtstrahl durch die Öffnung in der Kuppel der Grotte. Die Brandung spülte sie gegen schroffe Felswände.

»Wo ist er?«, fragte Irene, bemüht, das durch das eisige Wasser ausgelöste Zittern zu unterdrücken.

Die beiden umarmten sich schweigend, während sie jeden Moment damit rechneten, dass diese Ausgeburt der Hölle aus dem Wasser auftauchte und ihnen in der dunklen Höhle den Garaus machte. Doch dieser Moment kam nicht. Ismael entdeckte ihn zuerst.

Die scharlachroten Augen des Engels leuchteten vom Grund der Grotte herauf. Sein enormes Gewicht hinderte ihn am Auftauchen. Ein wütendes Brüllen drang durch das Wasser zu ihnen. Das Wesen, das sich des Engels bediente, wand sich vor Zorn, als es feststellte, dass seine mörderische Marionette in eine Falle gegangen war, die sie unbrauchbar machte. Dieser Metallklumpen würde nie wieder an die Oberfläche gelangen. Er war dazu verdammt, auf dem Grund der Grotte zu liegen, bis das Meer einen Haufen rostigen Schrotts aus ihm gemacht hatte.

Die beiden beobachteten, wie das Glühen der Augen verblasste und schließlich im Wasser für immer erlosch. Ismael seufzte erleichtert auf. Irene weinte still vor sich hin.

»Es ist vorbei«, murmelte das Mädchen zitternd. »Es ist vorbei.«

»Nein«, sagte Ismael. »Das war nur eine leblose, willenlose Maschine. Etwas hat sie von innen heraus gelenkt. Das, was versucht hat, uns zu töten, ist immer noch da…«

»Aber was soll das sein?«

»Ich weiß es nicht…«

In diesem Moment gab es eine Explosion auf dem Grund der Grotte. Eine Wolke schwarzer Bläschen stieg an die Oberfläche und verschmolz zu einem schwarzen Gebilde, das über die Felswände bis zum Eingang in der Kuppel der Grotte glitt. Dort hielt der Schatten inne, um sie zu beobachten.

»Ist er weg?«, fragte Irene verängstigt.

Ein grausames, giftiges Lachen hallte durch die Grotte. Ismael schüttelte langsam den Kopf.

»Er lässt uns hier zurück…«, sagte der Junge, »damit die Flut den Rest erledigt…«

Der Schatten schlüpfte durch den Eingang der Höhle.

Ismael atmete auf und brachte Irene zu einem kleinen Felsen, der aus dem Wasser ragte und gerade genügend Platz für sie beide bot. Er hievte sie auf den Stein und schlang die Arme um sie. Sie zitterten vor Kälte und waren verletzt, aber für einige Minuten lagen sie einfach nur still da und atmeten tief durch. Irgendwann merkte Ismael, dass das Wasser wieder ihre Füße berührte, und er begriff, dass die Flut kam. Nicht dieses Wesen, das sie verfolgte, war in die Falle gegangen, sondern sie selbst…

Der Schatten hatte sie einem langsamen, schrecklichen Tod überlassen.

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