4. Geheimnisse und Schatten

In Baie Bleue unterschied der Kalender nur zwei Jahreszeiten: den Sommer und den Rest des Jahres. Im Sommer arbeiteten die Leute im Dorf dreimal so viel, um die benachbarten Küstenorte zu beliefern, in denen es Badeanstalten, Touristen und Städter auf der Suche nach Strand, Sonne und bezahlter Langeweile gab. Bäcker, Kunsthandwerker, Schneider, Schreiner, Maurer und allerlei andere Berufe waren auf diese drei langen Monate angewiesen, in denen an der Küste der Normandie die Sonne schien. In diesen dreizehn oder vierzehn Wochen verwandelten sich die Einwohner von Baie Bleue in fleißige Ameisen, um dann das restliche Jahr vor sich hin zu schmachten wie billige Zigarren. Und wenn es besonders anstrengende Tage gab, dann waren es die ersten Tage im August, wenn die Nachfrage nach heimischen Produkten von Null ins Unermessliche stieg.

Einer der wenigen, der von dieser Regel ausgenommen war, war Christian Hupert. Wie auch die anderen Besitzer der Fischkutter des Dorfes schuftete er zwölf Monate im Jahr wie ein Pferd. Diese Gedanken gingen dem erfahrenen Fischer jeden Sommer zur gleichen Zeit durch den Kopf, wenn er sah, wie das Dorf ringsum in Fahrt geriet. Dann dachte er, dass er den falschen Beruf gewählt habe und es klüger gewesen wäre, mit der Tradition über sieben Generationen zu brechen und Hotelier, Ladenbesitzer oder was auch immer zu werden. Vielleicht müsste seine Tochter Hannah dann nicht die Woche über in Cravenmoore dienen, und vielleicht würde der Fischer dann seine Frau länger als dreißig Minuten am Tag sehen, eine Viertelstunde am Morgen und eine Viertelstunde am Abend.

Ismael beobachtete seinen Onkel, während beide mit der Reparatur der Lenzpumpe des Schiffes beschäftigt waren. Der abwesende Blick verriet die Gedanken des Fischers.

»Du könntest eine Schiffswerkstatt eröffnen«, schlug Ismael vor.

Sein Onkel antwortete mit einer Art Knurren.

»Oder das Schiff verkaufen und in den Laden von Monsieur Didier investieren. Seit sechs Jahren liegt er dir mit diesem Vorschlag in den Ohren.«

Sein Onkel unterbrach die Arbeit und musterte seinen Neffen. In den dreizehn Jahren, die er ihm nun den Vater ersetzte, war es ihm nicht gelungen, dem Jungen das auszutreiben, was er an diesem am meisten fürchtete und bewunderte: seine unerschütterliche, unübersehbare Ähnlichkeit mit seinem verstorbenen Vater, bis hin zu dem Hang, seine Meinung zum Besten zu geben, wenn niemand ihn um Rat gefragt hatte.

»Vielleicht solltest du das machen«, gab Christian Hupert zurück. »Ich gehe schon auf die Fünfzig zu. In meinem Alter wechselt man nicht einfach den Beruf.«

»Was beklagst du dich dann?«

»Wer beklagt sich denn?«

Ismael zuckte mit den Schultern. Die beiden widmeten sich wieder der Lenzpumpe.

»Schon gut. Ich werde kein Wort mehr sagen«, murmelte Ismael.

»Das wird uns wohl nicht vergönnt sein. Mach mal die Klemme da fest.«

»Die ist völlig hinüber. Wir sollten die Pumpe austauschen. Irgendwann werden wir eine böse Überraschung erleben.«

Hupert setzte sein berüchtigtes Lächeln auf, das den Schätzern der Warenbörse, den Hafenbehörden und anderen Schlaumeiern vorbehalten war.

»Diese Pumpe hat schon meinem Vater gehört. Und davor meinem Großvater. Und davor…«

»Genau das meine ich«, fiel Ismael ihm ins Wort. »Vielleicht wäre sie in einem Museum besser aufgehoben als hier.«

»Amen.«

»Ich habe recht. Und du weißt es.«

Seinen Onkel zur Weißglut zu treiben war neben den Ausflügen mit seinem Segelboot eine von Ismaels Lieblingsbeschäftigungen.

»Ich habe keine Lust, weiter über das Thema zu diskutieren. Schluss. Aus. Ende.«

Um letzte Unklarheiten zu beseitigen, unterstrich Hupert seine Aussage mit einem energischen, entschlossenen Drehen des Schraubenschlüssels.

Plötzlich war ein verdächtiges Knirschen im Inneren der Lenzpumpe zu hören. Hupert lächelte dem Jungen zu. Zwei Sekunden später schoss die Klemme, die er soeben festgedreht hatte, im hohen Bogen über die Köpfe der beiden hinweg, gefolgt von etwas, das wie ein Kolben aussah, einem kompletten Satz Schraubenmuttern und allerlei Metallteilen. Onkel und Neffe verfolgten die Flugbahn des Schrotts, bis dieser nicht sehr diskret auf das Deck des Nachbarschiffs von Gerard Picaud niederging. Picaud, ein ehemaliger Boxer mit der Konstitution eines Stiers und dem Grips einer Muschel, nahm die Teile in Augenschein und starrte dann in den Himmel. Hupert und Ismael wechselten einen Blick.

»Ich glaube nicht, dass wir den Unterschied merken werden«, gab Ismael zu bedenken.

»Wenn ich deine Meinung wissen will…«

»… wirst du mich danach fragen. Einverstanden. Übrigens, ich hab mich gefragt, ob du etwas dagegen hast, wenn ich mir nächsten Samstag freinehme. Ich möchte ein bisschen was am Segelboot reparieren…«

»Sind diese Reparaturen zufällig blond, einen Meter siebzig groß und grünäugig?«, fragte Hupert.

Der Fischer grinste seinen Neffen verschmitzt an.

»Die Neuigkeiten verbreiten sich schnell«, sagte Ismael.

»Wenn deine Cousine ihre Finger im Spiel hat, bekommen sie Flügel, mein lieber Neffe. Wie heißt die junge Dame denn?«

»Irene.«

»Verstehe.«

»Da gibt es nichts zu verstehen.«

»Man wird sehen.«

»Sie ist nett, das ist alles.«

»Sie ist nett, das ist alles«, echote Hupert, die kühle Teilnahmslosigkeit in der Stimme seines Neffen nachäffend.

»Vergiss es. War keine gute Idee. Ich werde am Samstag arbeiten«, sagte Ismael knapp.

»Der Laderaum muss geschrubbt werden. Da liegt seit Wochen verdorbener Fisch drin, es stinkt zum Gotterbarmen.«

»Alles klar.«

Hupert lachte lauthals los.

»Du bist genauso halsstarrig wie dein Vater. Gefällt dir das Mädchen nun oder nicht?«

»Hm.«

»Sei nicht so maulfaul mir gegenüber, Romeo. Ich bin dreimal so alt wie du. Gefällt sie dir oder nicht?«

Der Junge zuckte mit den Schultern. Seine Wangen glühten wie reife Melonen. Schließlich entwischte ihm ein unverständliches Gemurmel.

»Übersetze.« Sein Onkel ließ nicht locker.

»Ich habe ja gesagt. Glaube ich jedenfalls. Ich kenne sie ja kaum.«

»Gut. Das ist mehr als das, was ich über deine Tante sagen konnte, als ich sie das erste Mal sah. Und der Himmel ist mein Zeuge, dass sie ein Engel ist.«

»Wie war sie als junges Mädchen?«

»Lass uns nicht damit anfangen, oder du verbringst den Samstag im Laderaum«, drohte Hupert.

Ismael nickte und machte sich daran, das Werkzeug einzusammeln. Sein Onkel wischte sich das Öl von den Händen, während er ihn aus dem Augenwinkel beobachtete. Das letzte Mädchen, für das er sich interessiert hatte, war eine gewisse Laura gewesen, die Tochter eines Handelsvertreters aus Bordeaux, und das war fast zwei Jahre her. Die einzige Liebe seines Neffen schienen das Meer und die Einsamkeit zu sein. Das Mädchen musste etwas Besonderes haben.

»Bis Freitag hab ich den Laderaum sauber«, verkündete Ismael.

»Er gehört ganz dir.«

Als Onkel und Neffe auf die Mole sprangen, um bei Einbruch der Dunkelheit zu Hause zu sein, untersuchte ihr Nachbar Picaud noch immer die mysteriösen Teile und versuchte herauszufinden, ob es in diesem Sommer Schrauben regnete oder ob der Himmel ihm ein Zeichen schicken wollte.


Im August kam es den Sauvelles bereits so vor, als lebten sie schon seit mindestens einem Jahr in Baie Bleue. Wer sie nicht kannte, war durch das Kommunikationstalent von Hannah und ihrer Mutter Elisabet Hupert über ihr Leben auf dem Laufenden. Durch ein seltsames Phänomen, das irgendwo zwischen Dorfklatsch und Zauberei anzusiedeln war, erreichten Neuigkeiten die Bäckerei, in der Elisabet Hupert arbeitete, bevor sie sich überhaupt ereigneten. Weder das Radio noch die Zeitung konnten mit ihrem Laden mithalten. Croissants und ofenfrische Neuigkeiten von morgens bis abends. So waren am Freitag die einzigen Bewohner der Blauen Bucht, die nicht über die angebliche Liebelei zwischen Ismael Hupert und der zugezogenen Irene Sauvelle auf dem Laufenden waren, die Fische und die Betroffenen selbst. Dabei tat es wenig zur Sache, ob da etwas gelaufen war oder noch laufen würde. Der kurze Segeltörn vom Strand des Engländers zum Haus am Kap war bereits in die Annalen jenes Sommers 1937 eingegangen.

Tatsächlich vergingen die ersten Augusttage in der Blauen Bucht im Handumdrehen. Simone war es endlich gelungen, sich den Grundriss von Cravenmoore einzuprägen. Die Liste sämtlicher wichtigen Aufgaben im Haushalt war schier endlos. Schon die Verständigung mit den Händlern im Dorf, die Begleichung der Rechnungen, die Buchführung und die Bearbeitung von Lazarus’ Korrespondenz nahmen ihre gesamte Zeit in Anspruch, die Minuten, die sie zum Durchatmen und Schlafen brauchte, nicht mitgezählt. Ausgerüstet mit einem Fahrrad, das Lazarus Dorian freundlicherweise als Willkommensgeschenk gemacht hatte, diente ihr Sohn als Brieftaube, und nach einigen Tagen kannte der Junge jeden Stein und jedes Schlagloch auf der Straße am Strand des Engländers.

Simone begann ihren Arbeitstag jeden Morgen damit, die ausgehende Post zu erledigen und die eingehende sorgfältig so zu sortieren, wie Lazarus es ihr erklärt hatte. Ein kleiner Notizzettel, nicht mehr als ein gefaltetes Blatt Papier, ermöglichte ihr einen raschen Überblick über alle Marotten, die Lazarus pflegte. Sie erinnerte sich noch an ihren dritten Tag, als sie um ein Haar versehentlich einen der Briefe von besagtem Daniel Hoffmann aus Berlin geöffnet hätte. Im letzten Augenblick war es ihr wieder eingefallen.

Hoffmanns Schreiben trafen mit nahezu mathematischer Präzision alle acht Tage ein. Die Pergamentumschläge waren stets mit einem »D« versiegelt. Simone gewöhnte sich rasch an, sie von den Übrigen zu trennen, und beschäftigte sich nicht weiter mit dem Thema. In der ersten Augustwoche jedoch geschah etwas, das erneut ihre Neugier bezüglich der geheimnisvollen Briefe des Herrn Hoffmann weckte.

Simone war gleich morgens in Lazarus’ Arbeitszimmer gegangen, um eine Reihe von Rechnungen und eingegangenen Zahlungen auf seinen Schreibtisch zu legen. Sie erledigte das am liebsten in den frühen Morgenstunden, bevor der Spielzeugfabrikant sein Arbeitszimmer betrat, um ihn später nicht zu unterbrechen und zu stören. Der verstorbene Armand hatte die Angewohnheit gehabt, seinen Tag mit der Durchsicht von Rechnungen und Zahlungseingängen zu beginnen. Solange er konnte.

An jenem Morgen jedenfalls betrat Simone wie gewöhnlich das Arbeitszimmer und bemerkte Tabakgeruch in der Luft, was sie vermuten ließ, dass Lazarus bis spät in die Nacht dort gewesen war. Sie legte gerade die Unterlagen auf seinen Schreibtisch, als sie bemerkte, dass etwas in der nächtlichen Glut des Kamins verkohlte. Neugierig trat sie näher heran und versuchte mit dem Schürhaken herauszufinden, was es war. Auf den ersten Blick schien es sich um einen verschnürten Packen Papier zu handeln, den das Feuer nicht ganz vernichtet hatte. Sie wandte sich gerade zum Gehen, als sie in der Glut klar und deutlich das Siegelzeichen auf dem Papierstoß erkannte. Briefe. Lazarus hatte Daniel Hoffmanns Briefe ins Feuer geworfen, um sie zu vernichten. Was auch immer der Grund dafür sein mochte, sagte sich Simone, es ging sie nichts an. Sie legte den Schürhaken beiseite und verließ das Arbeitszimmer, fest entschlossen, nie mehr in den persönlichen Angelegenheiten ihres Arbeitgebers herumzuschnüffeln.


Hannah wurde vom Prasseln des Regens geweckt, der an die Fensterscheiben klopfte. Es war Mitternacht. Das Zimmer war in bläuliche Dunkelheit getaucht, und das Wetterleuchten draußen über dem Meer warf gespenstische Schatten rings um sie herum. An der Wand tickte mechanisch eine von Lazarus’ sprechenden Uhren, während die Augen in dem Grinsegesicht unablässig von einer Seite zur anderen huschten. Hannah seufzte. Sie hasste es, auf Cravenmoore zu übernachten.

Bei Tageslicht kam ihr Lazarus Janns Haus wie ein riesiges Museum voller Wunderwerke vor. Doch mit Einbruch der Nacht verwandelten sich die vielen hundert mechanischen Geschöpfe, Masken und Automaten in eine schaurige Gesellschaft, die nie schlief, sondern wach und aufmerksam in der Dunkelheit des Hauses wartete, unbeirrt lächelnd und ohne den Blick abzuwenden.

Lazarus schlief in einem der Zimmer im Westflügel, gleich neben dem Zimmer seiner Frau. Abgesehen von diesen beiden und Hannah selbst wurde das Haus lediglich von den Geschöpfen des Spielzeugfabrikanten bevölkert. In jedem Korridor, in jedem Zimmer standen sie. In der Stille der Nacht konnte Hannah das Schnarren ihrer mechanischen Eingeweide hören. Manchmal, wenn sie nicht schlafen konnte, stellte sie sich stundenlang vor, wie sie reglos dastanden, während ihre gläsernen Augen in der Dunkelheit funkelten.

Sie hatte die Augen gerade wieder geschlossen, als sie zum ersten Mal das Geräusch hörte, ein regelmäßiges, vom Regen gedämpftes Klopfen. Hannah stand auf und tapste durchs Zimmer bis zum hellen Ausschnitt des Fensters. Das Gewitter hing nun über dem Gewirr der Türme, Bögen und verschachtelten Dächer von Cravenmoore. Die Wolfsmäuler der Wasserspeier spien Bäche schwarzen Wassers in die Tiefe. Wie sie diesen Ort hasste…

Wieder drang das Geräusch an ihr Ohr, und Hannahs Blick fiel auf die Fensterreihe des Westflügels. Der Wind schien eines der Fenster im dritten Stock aufgestoßen zu haben. Die Vorhänge wehten im Regen, und die Fensterflügel schlugen immer wieder auf und zu. Das Mädchen verfluchte sein Schicksal. Allein die Vorstellung, auf den Korridor hinauszugehen und durch das ganze Haus bis zum Westflügel zu laufen, ließ ihr das Blut in den Adern gefrieren.

Bevor die Angst sie von ihrer Pflicht abhielt, schlüpfte sie in einen Morgenmantel und Hausschuhe. Elektrisches Licht gab es nicht, also nahm sie einen Kerzenleuchter und entzündete die Kerzen. Ihr kupfergoldenes Flackern tauchte die Umgebung in unheimliches Licht. Hannah legte die Hand auf den kalten Türknauf des Zimmers und schluckte. In der Ferne schlugen immer wieder die Fensterflügel jenes dunklen Zimmers. Als warteten sie auf sie.

Sie zog die Zimmertür hinter sich zu und sah sich der endlosen Flucht des Korridors gegenüber, der in der Dunkelheit verschwand. Sie hob den Kerzenleuchter hoch und trat in den Korridor, der von den im Nichts schwebenden Schattenrissen der schlaftrunkenen Spielzeuge flankiert wurde. Hannah sah stur geradeaus und ging rasch weiter. Im dritten Stock standen zahlreiche von Lazarus’ alten Automaten, Kreaturen, die sich ungelenk bewegten und deren Gesichtszüge häufig grotesk und nicht selten bedrohlich wirkten. Fast alle waren in Vitrinen hinter Glas gebannt, in denen sie plötzlich ohne Vorwarnung zu Leben erwachten, einem inneren Mechanismus gehorchend, der sie aufs Geratewohl aus ihrem mechanischen Schlaf erweckte.

Hannah kam an Madame Sarou vorbei, der Wahrsagerin, die mit ihren pergamentenen Händen die Tarotkarten mischte, eine auswählte und sie dem Zuschauer zeigte. Trotz aller Bemühungen konnte das Mädchen nicht anders, als die gespenstische Gestalt dieser aus Holz geschnitzten Zigeunerin zu betrachten. Die Augen der Zigeunerin öffneten sich, und ihre Hände streckten ihr eine Karte entgegen. Hannah schluckte. Die Karte zeigte einen roten, in Flammen gehüllten Teufel.

Ein paar Meter weiter pendelte der Rumpf des Maskenmannes von einer Seite zur anderen. Der Automat riss sich immer neue Masken herunter, doch das Gesicht blieb unsichtbar. Hannah wandte den Blick ab und ging hastig weiter. Sie war hunderte Male bei Tageslicht durch diesen Korridor gegangen. Es waren nur leblose Maschinen, die sie nicht beachten und erst recht nicht fürchten musste.

Mit diesem beruhigenden Gedanken bog sie in den Korridor ein, der zum Westflügel führte. Auf einer Seite des Gangs stand das Miniaturorchester von Maestro Firetti. Gegen eine Münze spielten die Figuren eine besondere Version von Mozarts Türkischem Marsch.

Hannah blieb vor der letzten Tür des Korridors stehen, einer schweren Eichenholztür. Jede Tür auf Cravenmoore zierte ein anderes Relief, das Szenen aus bekannten Märchen zeigte: die Gebrüder Grimm, in kunstvollen, rätselhaften Schnitzereien verewigt. In den Augen des Mädchens allerdings waren die Bilder einfach nur gruselig. Sie hatte diesen Raum noch nie betreten; eines von vielen Zimmern im Haus, in die sie noch nie einen Fuß gesetzt hatte. Und sie würde es auch nicht tun, solange es nicht notwendig war.

Das Fenster auf der anderen Seite der Tür schlug auf und zu. Der kalte Lufthauch der Nacht drang durch die Türritzen und streifte ihre Haut. Hannah warf einen letzten Blick in den langen Korridor hinter ihr. Die Gesichter des Orchesters spähten aus dem Dunkel. Man hörte deutlich das Rauschen des Wassers und den Regen auf den Dächern von Cravenmoore, der sich anhörte wie das Krabbeln tausender kleiner Spinnen. Das Mädchen atmete tief durch, legte die Hand auf den Türknauf und betrat das Zimmer.

Ein eisiger Windstoß umfing sie, schlug heftig die Tür hinter ihr zu und brachte die Kerzen zum Erlöschen. Die vom Regen durchnässten Voilevorhänge wehten im Wind wie Leichentücher. Hannah trat einige Schritte ins Zimmer und schloss rasch das Fenster, dessen Griff der Wind gelockert hatte. Das Mädchen tastete mit zittrigen Fingern in der Tasche ihres Morgenmantels und zog die Streichholzschachtel hervor, um die Kerzen wieder anzuzünden. Im flackernden Licht des Leuchters erwachte die Dunkelheit um sie herum zum Leben. Hinter den Kerzen war etwas zu erkennen, das in ihren Augen wie das Zimmer eines Kindes aussah. Ein kleines Bett neben einem Schreibtisch. Bücher und Kinderkleidchen auf einem Stuhl. Ein Paar ordentlich vor dem Bett aufgestellte Schuhe. Ein winziges Kreuz, das an einem der Bettpfosten hing.

Hannah trat ein wenig näher. Diese Gegenstände und Möbelstücke hatten etwas Sonderbares, etwas Beunruhigendes, das sie nicht einordnen konnte. Ihre Augen erforschten erneut das Kinderzimmer. Es gab keine Kinder auf Cravenmoore. Es hatte nie welche gegeben. Was sollte dieses Zimmer?

Plötzlich fiel es ihr auf. Jetzt begriff sie, was sie anfänglich verwirrt hatte. Es war nicht die Ordnung. Es war nicht die Sauberkeit. Es war etwas so Einfaches, so Simples, dass es einem schwerfiel, überhaupt auf diesen Gedanken zu kommen. Dies hier war das Zimmer eines Kindes. Aber es fehlte etwas… Spielzeug. Es gab im ganzen Zimmer kein einziges Spielzeug.

Hannah hob den Leuchter hoch und entdeckte noch etwas an den Wänden. Blätter. Zeitungsausschnitte. Das Mädchen stellte den Kerzenleuchter auf dem Kinderschreibtisch ab und ging näher heran. Eine Collage aus alten Zeitungsausschnitten und Fotografien bedeckte die Wand. Auf einem Porträt war eine blasse Dame zu sehen; ihre Gesichtszüge waren hart, streng, und von ihren schwarzen Augen ging etwas Bedrohliches aus. Dasselbe Gesicht war auch noch auf weiteren Bildern zu sehen. Hannahs Blick fiel auf ein Bild der geheimnisvollen Frau mit einem Kind auf dem Arm.

Ihr Blick wanderte weiter über die Wand und blieb an alten Zeitungsausschnitten hängen, deren Schlagzeilen in keinem Zusammenhang zu stehen schienen. Meldungen über einen schrecklichen Brand in einer Pariser Fabrik und einen gewissen Hoffmann, der bei der Tragödie verschwunden war. Fast zwanghaft schien sich die Spur dieses Ereignisses durch die ganze Sammlung von Zeitungsausschnitten zu ziehen, die wie Grabsteine entlang der Mauern eines Friedhofs der Erinnerungen aufgereiht waren. Und mittendrin, umgeben von Dutzenden anderer unleserlicher Ausrisse, die Titelseite einer Zeitung aus dem Jahr 1890. Darauf das Gesicht eines Kindes. Seine Augen waren schreckgeweitet, die Augen eines geprügelten Tieres.

Die Ausdruckskraft dieses Bildes traf sie mit voller Wucht. Dieser knapp Sechs- oder Siebenjährige schien Augenzeuge eines entsetzlichen Geschehens geworden zu sein, das er kaum begreifen konnte. Hannah fror. Es war eine intensive Kälte, die aus ihrem eigenen Inneren kam. Ihre Augen versuchten den verblassten Text zu entziffern, der das Bild umgab. »Ein achtjähriger Knabe wurde aufgefunden, nachdem er acht Tage allein in einem dunklen Keller eingesperrt gewesen war«, stand unter dem Foto. Hannah betrachtete erneut das Gesicht des Kleinen. Da war etwas Vertrautes in seinem Gesicht, vielleicht in seinen Augen…

Genau in diesem Moment glaubte Hannah eine Stimme zu hören, eine Stimme, die hinter ihrem Rücken wisperte. Sie fuhr herum, doch dort war niemand. Das Mädchen seufzte erleichtert auf. Die trüben Lichtsäulen, die von den Kerzen aufstiegen, trafen in der Luft auf Tausende Staubkörnchen und verbreiteten einen purpurfarbenen Nebel ringsum. Sie trat an eines der Fenster und wischte mit den Fingern über die beschlagene Scheibe. Der Wald lag im Nebel. In Lazarus’ Arbeitszimmer im Flügel schräg gegenüber brannte Licht, und in dem warmen, goldenen Widerschein, der hinter den Vorhängen flackerte, zeichnete sich seine Silhouette ab. Ein dünner Lichtstrahl fiel durch die freigewischte Stelle auf der Scheibe und zog sich wie ein heller Faden durch das Zimmer.

Erneut erklang die Stimme, deutlicher und näher diesmal. Sie wisperte ihren Namen. Hannah wandte sich dem dunklen Zimmer zu und bemerkte zum ersten Mal das Leuchten, das von einem kleinen Kristallflakon ausging. Der Flakon, schwarz wie Obsidian, stand in einer kleinen Wandnische, umgeben von Lichtreflexen.

Das Mädchen trat langsam näher und nahm den Flakon in Augenschein. Auf den ersten Blick wirkte er wie eine Parfümflasche, aber sie hatte noch nie ein so schönes Exemplar gesehen wie dieses, einen so feinen Kristallschliff, wie ihn dieser Flakon aufwies. Ein Verschluss in Form eines Prismas warf ringsum einen Regenbogen. Hannah verspürte einen unwiderstehlichen Drang, diesen Gegenstand in die Hand zu nehmen und mit den Fingerspitzen die perfekten Linien des Kristalls nachzuziehen.

Mit äußerster Vorsicht umfasste sie den Flakon. Er wog mehr, als sie erwartet hatte, und das Kristall fühlte sich kalt an, schmerzte fast beim Kontakt mit der Haut. Sie hielt ihn auf Höhe der Augen und versuchte hineinzuspähen. Alles, was sie erkennen konnte, war undurchdringliche Schwärze. Im Gegenlicht allerdings kam es Hannah so vor, als bewegte sich etwas in seinem Inneren. Eine träge, schwarze Flüssigkeit, ein Parfüm vielleicht…

Mit zitternden Fingern packte sie den geschliffenen Kristallverschluss. Im Flakon regte sich etwas. Hannah zögerte einen Moment. Doch die Vollkommenheit dieses Gefäßes schien den verführerischsten Duft zu versprechen, den sie sich vorstellen konnte. Langsam drehte sie den Verschluss. Die Schwärze im Inneren des Flakons geriet erneut in Bewegung, aber sie achtete nicht mehr darauf. Schließlich gab der Verschluss nach.

Ein unbeschreibliches Geräusch, ein Zischen wie von Gas, das unter Druck entweicht, erfüllte den Raum. Im Bruchteil einer Sekunde quoll eine schwarze Masse aus dem Flaschenhals und breitete sich in der Luft aus wie ein Tintenfleck in einem See. Hannah spürte, wie ihre Hände zitterten und diese wispernde Stimme sie umfing. Als sie erneut den Flakon betrachtete, stellte sie fest, dass das Kristall jetzt durchsichtig war und das, was darin gewesen war, sich durch ihre Hilfe befreit hatte. Das Mädchen stellte den Flakon an seinen Platz zurück. Sie spürte einen kalten Lufthauch durch das Zimmer streichen, der eine Kerze nach der anderen verlöschen ließ. Während sich die Dunkelheit über den Raum senkte, wurde etwas Neues in der Schwärze sichtbar. Eine unheimliche Form kroch über die Wände und tauchte sie in Finsternis.

Ein Schatten.

Hannah wich langsam zur Tür zurück. Ihre zitternden Hände legten sich auf den kalten Türknauf hinter ihrem Rücken. Langsam öffnete sie die Tür, ohne die Augen von der Dunkelheit abzuwenden, und machte sich bereit, das Zimmer so schnell wie möglich zu verlassen. Etwas kam auf sie zu, sie konnte es fühlen.

Einmal draußen, drehte das Mädchen den Türknauf, um das Zimmer abzuschließen, doch das Kettchen um ihren Hals verhakte sich in einem der Türreliefs. Gleichzeitig war aus dem Zimmer ein durchdringendes, schauriges Geräusch zu hören, das Zischen einer riesigen Schlange. Hannah spürte, wie Tränen des Entsetzens ihre Wangen hinabrannen. Das Kettchen zerriss, und das Mädchen hörte, wie das Medaillon in der Dunkelheit zu Boden fiel. Von ihrer Fessel befreit, stürzte Hannah in den finsteren Tunnel, der sich vor ihr öffnete. Die Tür an seinem Ende, die zur Treppe des hinteren Flügels führte, stand offen. Das gespenstische Zischen war erneut zu hören. Näher diesmal. Hannah rannte zum Treppenabsatz. Sekunden später hörte sie das Geräusch des Türgriffs, der sich in der Dunkelheit zu drehen begann. Diesmal entrang sich ihrer Kehle ein panischer Schrei, und das Mädchen stürzte die Treppe hinunter.

Der Weg nach unten ins Erdgeschoss kam ihr endlos vor. Hannah nahm keuchend immer drei Stufen auf einmal, während sie sich vergeblich bemühte, nicht das Gleichgewicht zu verlieren. Als sie die Tür erreichte, die in den hinteren Teil des Parks von Cravenmoore führte, waren ihre Knöchel und Knie mit blauen Flecken übersät, aber sie nahm den Schmerz kaum wahr. Das Adrenalin jagte glühend heiß durch ihre Adern und trieb sie weiter vorwärts. Die Tür, die nie benutzt wurde, war verschlossen. Hannah zerschlug das Glas mit dem Ellenbogen und brach sie von außen auf. Sie spürte den Schnitt am Unterarm erst, als sie im dunklen Park stand.

Sie rannte zum Waldrand, während die kühle Nachtluft über ihre von kaltem Schweiß durchtränkten Kleider strich und sie an ihrem Körper festkleben ließ. Bevor sie auf den Pfad einbog, der durch den Wald von Cravenmoore führte, drehte sich Hannah noch einmal zum Haus um. Sie erwartete, ihren Verfolger aus der Dunkelheit des Parks auftauchen zu sehen. Doch von der Erscheinung keine Spur. Sie atmete tief durch. Die kalte Luft brannte in ihrer Kehle und versetzte ihr einen scharfen Stich in die Lungen. Sie wollte gerade wieder loslaufen, als sie die Silhouette an die Fassade von Cravenmoore geklammert sah. Ein Gesicht wölbte sich aus der schwarzen Masse hervor, und der Schatten kroch zwischen den Wasserspeiern nach unten wie eine riesige Spinne.

Hannah stürzte sich in das Labyrinth aus Finsternis, das den Wald durchzog. Der Mond schien nun zwischen den Wolken hervor und tauchte den Dunst in blaues Licht. Der Wind entfachte ringsum die wispernden Stimmen tausender Blätter. Die Bäume standen am Wegesrand wie versteinerte Gespenster, die ihr die Arme entgegenstreckten, eine Wand aus bedrohlichen Klauen. Verzweifelt rannte sie dem Licht entgegen, das sie zum Ende dieses gespenstischen Tunnels leitete, eine Tür ins Licht, die sich immer weiter von ihr zu entfernen schien, je verzweifelter sie versuchte, sie zu erreichen.

Ein ohrenbetäubendes Getöse erfüllte den Wald. Der Schatten wälzte sich durch das Unterholz, zerstörte alles, was sich ihm in den Weg stellte, eine tödliche Fräse, die sich eine Schneise zu ihr schlug. Dem Mädchen blieb der Schrei im Halse stecken. Zweige und Gestrüpp hatten Dutzende von Schnitten an ihren Händen und Armen und in ihrem Gesicht hinterlassen. Die Erschöpfung hämmerte in ihrem Kopf und trübte ihre Sinne, flüsterte ihr ein, der Müdigkeit nachzugeben, sich einfach hinzusetzen und abzuwarten… Aber sie musste weiter. Sie musste von hier weg. Noch ein paar Meter, und sie würde die Straße erreichen, die zum Dorf führte. Dort würde sie ein Auto treffen, jemanden, der sie mitnahm und ihr half. Die Rettung war nur ein paar Sekunden entfernt, gleich hinter dem Waldrand.

Die fernen Scheinwerfer eines Wagens, der am Strand des Engländers entlangfuhr, tasteten sich durch die Dunkelheit des Waldes. Hannah richtete sich auf und schrie mit letzter Kraft um Hilfe. Hinter ihr schien ein Wirbelsturm durch den Wald zu fegen und zwischen den Ästen der Bäume aufzusteigen. Hannah sah nach oben zu der dichten Kuppel aus Zweigen, die das Gesicht des Mondes verbargen. Langsam breitete sich der finstere Schatten aus. Hannah entfuhr ein letztes Wimmern. Wie ein Regen aus Teer stürzte sich der Schatten von oben auf sie. Das Mädchen schloss die Augen und dachte an die lächelnde, lebhafte Miene ihrer Mutter.

Dann spürte sie den kalten Atem des Schattens auf ihrem Gesicht.

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