Kein Morgen ihres Lebens war Irene je strahlender vorgekommen als dieser 22.Juni 1937. Das Meer glitzerte diamanten unter einem Himmel, der von einer solchen Klarheit war, wie sie es in den Jahren in der Stadt nie für möglich gehalten hätte. Von ihrem Fenster aus war die Leuchtturminsel nun ganz deutlich zu erkennen, genau wie die kleinen Felsen in der Mitte der Bucht, die aussahen wie der Kamm eines Meeresdrachens. Die ordentlich aufgereihten Häuser an der Uferpromenade des Dorfes, hinter dem Strand des Engländers, verschwammen im Dunst, der von der Fischermole aufstieg, zu einem flimmernden Aquarell. Wenn sie die Augen halb schloss, wirkte das Bild wie das Paradies von Claude Monet, dem Lieblingsmaler ihres Vaters.
Irene riss das Fenster weit auf und ließ die salzgeschwängerte Meeresluft ins Zimmer strömen. Die Möwen, die auf den Klippen hockten, beäugten sie neugierig. Neue Nachbarn. Nicht weit von ihnen entfernt entdeckte Irene Dorian, der sich bereits an seinen Lieblingsplatz zwischen den Felsen zurückgezogen hatte, wo er Luftspiegelungen und kleine Tiere abzeichnete… oder was auch immer er auf seinen einsamen Ausflügen trieb.
Irene war bereits ganz mit der Frage beschäftigt, was sie an diesem traumhaften Tag anziehen sollte, als eine unbekannte, glockenhelle Plapperstimme aus dem unteren Stockwerk zu ihr hinaufdrang. Nach ein paar Sekunden aufmerksamen Lauschens hörte sie die ruhige, sanfte Stimme ihrer Mutter heraus, die sich unterhielt oder vielmehr versuchte, kurze Bemerkungen in den wenigen Atempausen unterzubringen, die ihre Gesprächspartnerin machte.
Während sie sich anzog, versuchte Irene anhand der Stimme zu erraten, wie diese Person wohl aussehen mochte. Schon als Kind war das einer ihrer liebsten Zeitvertreibe gewesen: mit geschlossenen Augen eine Stimme zu hören und sich vorzustellen, zu wem sie wohl gehörte. Sich die Statur dazu auszumalen, das Gesicht, den Charakter…
Diesmal sah sie vor ihrem inneren Auge eine junge Frau, nicht sehr groß, quecksilbrig und quirlig, mit dunklem Haar und wahrscheinlich dunklen Augen. Mit diesem Bild im Kopf ging sie nach unten– um ihren Appetit auf ein ordentliches Frühstück zu stillen und vor allem ihre Neugier auf die Besitzerin dieser Stimme.
Als sie das Wohnzimmer im Erdgeschoss betrat, stellte sie fest, dass sie sich nur in einem Punkt geirrt hatte: die Haare des Mädchens waren strohblond. Mit dem Rest hatte sie ins Schwarze getroffen. Auf diese Weise lernte Irene die hinreißende, stets vergnügte Hannah kennen– als Erstes vom Hören.
Simone Sauvelle gab sich alle Mühe, das Abendessen, das Hannah tags zuvor für ihre Begegnung mit Lazarus Jann zubereitet hatte, mit einem köstlichen Frühstück zu erwidern. Beim Essen ging das Mundwerk des Mädchens noch schneller als beim Reden. Der Schwall an Anekdoten, Klatsch und allerlei Histörchen über das Dorf und seine Bewohner, der über sie hereinbrach, gab Simone und Irene schon nach wenigen Minuten das Gefühl, Hannah ein Leben lang zu kennen.
Zwischen einem Toast und dem nächsten lieferte Hannah ihnen eine rasche Abfolge von Schlaglichtern auf ihr Leben. Im November werde sie sechzehn; ihre Eltern hätten ein Haus im Dorf, er sei Fischer, sie Bäckerin; bei ihnen lebe auch noch ihr Cousin Ismael, der habe vor Jahren seine Eltern verloren und gehe seinem Onkel, also ihrem Vater, auf dem Boot zur Hand. Zur Schule gehe sie nicht mehr, weil Jeanne Brau, diese Hexe, die Direktorin der Dorfschule, sie als faul und begriffsstutzig angesehen habe. Nun bringe ihr halt Ismael das Lesen bei, und ihre Kenntnisse im Einmaleins würden wöchentlich besser. Sie liebe die Farbe Gelb und sammle Muscheln, die sie am Strand des Engländers suche. Am liebsten höre sie Fortsetzungsromane im Radio und gehe im Sommer zum Tanz auf dem Dorfplatz, wenn fahrende Musikgruppen vorbeikämen. Sie benutze kein Parfüm, habe aber eine Schwäche für Lippenstifte…
Wer Hannah zuhörte, erlebte etwas irgendwo zwischen Vergnügen und Erschöpfung. Nachdem sie ihr eigenes Frühstück verschlungen hatte sowie alles, was Irene nicht schaffte, hielt Hannah für einige Sekunden in ihrem Geplapper inne. Die Stille, die nun im Haus eintrat, erschien unwirklich. Aber sie währte natürlich nicht lange.
»Wie wär’s, wenn wir beide einen Spaziergang machen und ich dir das Dorf zeige?«, fragte Hannah, plötzlich begeistert von der Aussicht, als Fremdenführerin von Baie Bleue zu dienen.
Irene und ihre Mutter wechselten einen Blick.
»Ich würde mich freuen«, antwortete Irene schließlich.
Hannah strahlte bis über beide Ohren.
»Keine Sorge, Madame Sauvelle. Ich bringe sie Ihnen gesund und munter zurück.«
Und so stürzten Irene und ihre neue Freundin aus der Tür und liefen zum Strand des Engländers hinunter, während langsam wieder Ruhe im Haus am Kap einkehrte. Simone nahm ihre Kaffeetasse und trat auf die Veranda, um den Frieden des Morgens zu genießen. Dorian winkte ihr von den Klippen aus zu.
Simone winkte zurück. Ein neugieriger Junge. Und immer allein. Er schien kein Interesse daran zu haben, Freunde zu finden, oder er wusste nicht, wie man das anstellte. Er lebte in seiner eigenen Welt, in seinen Heften, und nur der Himmel wusste, was in seinem Kopf vorging. Während sie ihren Kaffee austrank, warf Simone einen letzten Blick auf Hannah und ihre Tochter, die auf dem Weg zum Dorf waren. Hannah redete unermüdlich. Die einen zu viel, die anderen zu wenig.
Die Einweisung der Familie in die Geheimnisse und Feinheiten des Lebens in einem kleinen Küstenort nahm den größten Teil des Julis in Baie Bleue ein. Die erste Phase des Kulturschocks und der Verwirrung dauerte eine lange Woche. In diesen Tagen stellte die Familie fest, dass die Sitten und Gebräuche in Baie Bleue mit denen in Paris nichts gemeinsam hatten außer der Verwendung des Dezimalsystems. Da war zunächst die Sache mit den Uhrzeiten. Es wäre nicht vermessen zu behaupten, dass in Paris auf tausend Einwohner ebenso viele Uhren kamen, kleine Tyrannen, die das Leben mit militärischer Willkür organisierten. In Baie Bleue hingegen gab es kein anderes Stundenmaß als das der Sonne. Und keine weiteren Autos als die von Doktor Giraud, der Gendarmerie und von Lazarus. Die Reihe der Gegensätze war endlos. Und im Grunde machten nicht Zahlen den Unterschied, sondern Gewohnheiten.
Paris war eine Stadt von Unbekannten, ein Ort, an dem man jahrelang leben konnte, ohne den Namen des Menschen zu kennen, der auf der anderen Seite des Treppenhauses wohnte. In Baie Bleue hingegen war es unmöglich, zu niesen oder sich an der Nase zu kratzen, ohne dass das Ereignis in der ganzen Gemeinde großen Widerhall gefunden hätte. Es war ein Dorf, in dem ein Schnupfen eine Nachricht war und Nachrichten ansteckender waren als ein Schnupfen. Es gab keine Dorfzeitung, und es war auch keine nötig.
Es war Hannahs Auftrag, sie in das Leben, die Geschichte und die Wunder der Gemeinde einzuweisen. Da das Mädchen beim Reden eine atemberaubende Geschwindigkeit entwickelte, gelang es ihm, in einigen wenigen Vorträgen genügend Informationen und Klatsch unterzubringen, um ein ganzes Buch damit zu füllen. So erfuhren die Zuhörer, dass Laurent Savant, der örtliche Pfarrer, Tauchwettbewerbe und Marathonläufe veranstaltete und nicht nur in seinen Predigten gegen Müßiggang und mangelnde Körperertüchtigung wetterte, sondern selbst mehr Meilen auf dem Fahrrad zurückgelegt hatte als Marco Polo. Sie erfuhren außerdem, dass der Gemeinderat dienstags und donnerstags um ein Uhr mittags zusammenkam, um über Dorfangelegenheiten zu beraten, derweil Ernest Dijon, der stillschweigend auf Lebenszeit gewählte Bürgermeister, dessen Alter an das von Methusalem heranreichte, sich damit unterhielt, unterm Tisch neckisch in das Polster seines Sessels zu kneifen in der festen Überzeugung, er erkunde den strammen Oberschenkel von Antoinette Fabré, Schatzmeisterin der Gemeindeverwaltung und eine eiserne Jungfrau ohnegleichen.
Hannah feuerte minütlich ein Dutzend Geschichten dieses Kalibers auf sie ab. Das lag nicht zuletzt daran, dass ihre Mutter Elisabet in der Dorfbäckerei arbeitete, die zugleich als Nachrichtenbörse, Spionagezentrale und Kummerkasten von Baie Bleue fungierte.
Die Sauvelles begriffen schon bald, dass die Geschäfte des Dorfes einer besonderen Form des Pariser Kapitalismus folgten. Die Bäckerei verkaufte scheinbar nur Baguettes, aber im Hinterzimmer hatte das Informationszeitalter Einzug gehalten. Monsieur Safont, der Schuster, reparierte Schnürsenkel, Reißverschlüsse und Schuhsohlen, doch seine Stärke und der Anziehungspunkt für seine Kundschaft waren sein Doppelleben als Astrologe sowie seine Sternenkarten…
Das Schema wiederholte sich immer wieder. Das Leben erschien ruhig und einfach, doch gleichzeitig war es undurchsichtiger als ein byzantinischer Schleier. Der Schlüssel lag darin, sich auf den besonderen Rhythmus des Dorfes einzulassen, den Leuten zuzuhören und sich von ihnen in die Rituale einführen zu lassen, die jeder Neuankömmling durchlaufen musste, bevor er behaupten konnte, ein Bewohner von Baie Bleue zu sein.
Deshalb ließ sich Simone jedes Mal, wenn sie ins Dorf ging, um die Post und die Bestellungen für Lazarus abzuholen, in der Bäckerei blicken und machte sich mit der Vergangenheit, der Gegenwart und der Zukunft vertraut. Die Frauen von Baie Bleue nahmen sie bereitwillig auf und bombardierten sie sogleich mit Fragen über ihren geheimnisvollen Arbeitgeber. Lazarus führte ein zurückgezogenes Leben und ließ sich nur selten in Baie Bleue blicken. Zusammen mit den Fluten von Büchern, die er jede Woche erhielt, machte ihn das zum Mittelpunkt endloser Spekulationen.
»Stellen Sie sich das vor, meine liebe Simone«, raunte ihr einmal Pascale Lelouch, die Frau des Apothekers, zu, »ein alleinstehender Mann… nun ja, praktisch alleinstehend, in diesem Haus, mit all diesen Büchern…«
Simone bedachte diese scharfsinnigen Ausführungen für gewöhnlich mit einem Kopfnicken und einem Lächeln, ohne weiter darauf einzugehen. Wie ihr verstorbener Mann einmal gesagt hatte, lohnte es nicht, seine Zeit damit zu vertrödeln, die Welt verändern zu wollen; es genügte zu verhindern, dass die Welt einen selbst veränderte.
Sie lernte auch, Lazarus’ sonderbare Anweisungen bezüglich seiner Korrespondenz zu respektieren. Die persönliche Post musste am Tag nach Erhalt geöffnet und dann umgehend beantwortet werden. Geschäftliche oder offizielle Schreiben mussten noch am gleichen Tag geöffnet, durften jedoch niemals vor Wochenfrist beantwortet werden. Und vor allem sollte ihm jeder Brief von einem gewissen Daniel Hoffmann aus Berlin persönlich übergeben werden und durfte niemals, unter keinen Umständen, von ihr geöffnet werden. Das Warum für all diese Dinge ging sie nichts an, beschloss Simone. Sie hatte gemerkt, dass sie gerne an diesem Ort lebte und diese Gegend bestens geeignet war, um ihre Kinder fernab von Paris großzuziehen. An welchem Tag die Post geöffnet wurde, war ihr völlig schnuppe.
Dorian wiederum stellte fest, dass ihm seine eifrige Beschäftigung mit der Kartographie noch genug Zeit ließ, um sich mit den Jungs aus dem Dorf anzufreunden. Niemand schien es wichtig zu finden, ob seine Familie neu hier war oder nicht und ob er ein guter Schwimmer war oder nicht (am Anfang war er das nicht, aber seine neuen Kameraden brachten ihm bei, sich leidlich über Wasser zu halten). Er lernte, dass Pétanque eine Beschäftigung für Herren im Rentenalter war und Mädchen hinterherzujagen etwas für rotznasige Fünfzehnjährige im Hormonrausch, welcher Haut und Verstand in Mitleidenschaft zog. In seinem Alter fuhr man wohl mit dem Fahrrad durch die Gegend, hing seinen Phantasien nach und interessierte sich für die Welt, in der Hoffnung, dass sich die Welt für einen selbst zu interessieren begann. Und Sonntag nachmittags ging es ins Kino. So kam es, dass Dorian eine neue, unaussprechliche Liebe entdeckte, neben der die Kartographie verblasste wie von Motten zerfressenes Pergamentpapier: Greta Garbo. Ein göttliches Geschöpf, dessen Erwähnung bei Tisch ausreichte, um ihm den Appetit zu verschlagen, obwohl sie im Grunde genommen eine alte Frau war… Dreißig Jahre!
Während Dorian grübelte, ob seine Schwärmerei für eine Frau an der Schwelle des Alters schon als pervers zu bezeichnen war, war Irene mehr als alle anderen der vollen Breitseite von Hannahs Vorstößen ausgesetzt. Jeden Tag war die Liste begehrenswerter junger Männer ohne Freundinnen zu diskutieren. Hannah glaubte, dass die Jungs Irene bald für ein sonderbares Wesen halten würden, wenn sie nach vierzehn Tagen im Dorf nicht langsam anfing, mit einem von ihnen anzubändeln. Hannah selbst war allerdings auch die Erste, die zugab, dass sich die Liste der Jungs hinsichtlich des Bizeps durchaus sehen lassen könne, dass bei der Verteilung des Hirns Gott indes sehr sparsam und rein zweckmäßig vorgegangen sei.
»Meine Liebe, wenn ich so viel Schlag hätte wie du, wäre ich schon längst Mata Hari«, sagte Hannah des Öfteren.
Irene lächelte schüchtern, während sie einen Blick auf die herumstrolchenden Jungs warf, die ihnen wie zufällig entgegenkamen.
»Ich bin nicht sicher, ob ich das möchte… Sie wirken ein bisschen einfältig.«
»Einfältig?«, brach es angesichts dieser Vergeudung von Möglichkeiten aus Hannah heraus. »Wenn du etwas Spannendes willst, dann geh ins Kino oder nimm ein Buch!«
»Ich werd’s mir überlegen«, lachte Irene.
Hannah schüttelte den Kopf.
»Du endest noch wie mein Cousin Ismael«, urteilte sie dann.
Ismael war sechzehn Jahre alt und wuchs, so hatte Hannah erzählt, nach dem Tod seiner Eltern bei ihrer Familie auf. Er arbeitete auf dem Boot seines Onkels mit, doch seine wahren Leidenschaften schienen die Einsamkeit und sein Segelboot zu sein, eine kleine Jolle, die er eigenhändig gebaut und auf einen Namen getauft hatte, an den Hannah sich nie erinnern konnte.
»Etwas Griechisches, glaube ich. Puh!«
»Und wo ist er jetzt?«, fragte Irene.
»Auf See. Die Sommermonate sind gut für die Fischer, die auf Hochseefang gehen. Papa und er sind auf der Estelle unterwegs. Sie kommen nicht vor August zurück«, erklärte Hannah.
»Das muss sehr traurig sein. Die ganze Zeit auf See verbringen zu müssen, getrennt von…«
Hannah zuckte mit den Schultern.
»Von irgendwas muss man ja leben…«
»Du magst deine Arbeit auf Cravenmoore nicht besonders, stimmt’s?«, fragte Irene.
Ihre Freundin sah sie erstaunt an.
»Es geht mich natürlich nichts an…«, stellte Irene klar.
»Die Frage macht mir nichts aus«, sagte Hannah lächelnd. »Nein, ich mag sie tatsächlich nicht sonderlich.«
»Wegen Lazarus?«
»Nein. Lazarus ist liebenswürdig, und er ist sehr gut zu uns gewesen. Als Papa vor Jahren den Unfall mit der Schiffsschraube hatte, hat er die ganze Operation bezahlt. Wenn Lazarus nicht gewesen wäre…«
»Was ist es dann?«
»Ich weiß nicht. Es ist dieser Ort. Die Maschinen… Überall stehen Maschinen, die dich die ganze Zeit anstarren.«
»Es sind nur Spielzeuge.«
»Versuch mal, eine Nacht dort zu schlafen. Sobald du die Augen schließt, geht es tick-tack, tick-tack…«
Die beiden sahen sich an.
»Tick-tack, tick-tack?«, wiederholte Irene.
Hannah bedachte sie mit einem sarkastischen Lächeln.
»Ich bin vielleicht ein Feigling, aber du bist auf dem besten Wege, eine alte Jungfer zu werden.«
»Ich mag alte Jungfern«, gab Irene zurück.
Auf diese Art verstrich fast unbemerkt ein Tag nach dem anderen auf dem Kalender, und bevor sie sich versahen, stand der August vor der Tür. Mit ihm kamen auch die ersten Sommerregen, kurze Gewitter, die nur ein paar Stunden dauerten. Simone war mit ihren neuen Aufgaben beschäftigt. Irene gewöhnte sich an das Leben mit Hannah. Und Dorian lernte zu tauchen, während er in Gedanken Landkarten der geheimen Geographie von Greta Garbo zeichnete.
Eines Tages, an einem dieser Sommertage, an denen der Regen der Nacht zuvor watteweiße Wolkenschlösser vor einem leuchtend blauen Grund aufgetürmt hatte, beschlossen Hannah und Irene, einen Spaziergang am Strand des Engländers zu machen. Vor anderthalb Monaten waren die Sauvelles in die Blaue Bucht gekommen. Und als es schien, als seien keine Überraschungen mehr zu erwarten, fingen diese gerade erst an.
In der Mittagssonne war eine Fußspur entlang des Wassersaumes zu erkennen; über dem Meer flimmerten unwirklich die Masten im fernen Hafen.
Mitten in dieser weißen Endlosigkeit aus staubfeinem Sand saßen Irene und Hannah auf den Überresten eines alten, auf Grund gelaufenen Bootes, umgeben von einem Schwarm kleiner blauer Vögel, die in den schneeweißen Stranddünen zu nisten schienen.
»Warum heißt das hier ›Strand des Engländers‹?«, fragte Irene, während sie die menschenleere Fläche betrachtete, die sich zwischen dem Dorf und dem Kap erstreckte.
»Hier lebte jahrelang in einer Hütte ein alter englischer Maler. Der arme Kerl hatte mehr Schulden als Pinsel. Er schenkte den Leuten im Dorf Bilder im Tausch gegen Essen und Kleidung. Vor drei Jahren ist er gestorben. Er wurde hier beerdigt, an dem Strand, an dem er sein ganzes Leben verbracht hatte«, erklärte Hannah.
»Wenn ich die Wahl hätte, würde ich auch gerne an einem Ort wie diesem beerdigt.«
»Das sind ja fröhliche Gedanken«, scherzte Hannah, nicht ohne einen gewissen Vorwurf.
»Ich hab’s ja nicht eilig damit«, stellte Irene klar, während ihr Blick auf ein kleines Segelboot fiel, das etwa hundert Meter vor der Küste in der Bucht kreuzte.
»Oha«, murmelte ihre Freundin. »Da ist ja der einsame Seemann. Hat es keinen Tag ausgehalten, ohne in sein Boot zu steigen.«
»Wer?«
»Gestern sind mein Vater und mein Cousin mit dem Schiff zurückgekommen«, erklärte Hannah. »Mein Vater schläft noch, aber der da… Dem ist nicht zu helfen.«
Irene sah aufs Meer hinaus und betrachtete die Jolle, die durch die Bucht glitt.
»Das ist mein Cousin Ismael. Er verbringt sein halbes Leben auf diesem Kahn, zumindest wenn er nicht mit meinem Vater an der Mole arbeitet. Aber er ist ein feiner Kerl… Siehst du dieses Medaillon?«
Hannah zeigte ihr das wunderschöne Schmuckstück, das sie an einem Goldkettchen um den Hals trug: eine im Meer versinkende Sonne.
»Es ist ein Geschenk von Ismael…«
»Es ist wunderschön«, sagte Irene, während sie das Medaillon eingehend betrachtete.
Hannah sprang plötzlich auf und stieß ein wildes Geheul aus, das den Schwarm blauer Vögel ans andere Ende des Strands katapultierte. Wenig später winkte die undeutliche Gestalt am Ruder des Segelbootes und nahm Kurs auf den Strand.
»Vor allem frag ihn nicht nach dem Boot«, riet ihr Hannah. »Und wenn er selbst auf das Thema zu sprechen kommt, dann frag ihn nicht, wie er es gebaut hat. Er kann stundenlang darüber reden, ohne aufzuhören.«
»Liegt wohl in der Familie…«
Hannah warf ihr einen wütenden Blick zu.
»Ich glaube, ich lasse dich hier am Strand sitzen und überlasse dich den Krebsen.«
»Entschuldigung.«
»Angenommen. Aber wenn du mich geschwätzig findest, dann lern erst mal meine Patentante kennen. Neben ihr wirkt der Rest der Familie stumm.«
»Ich würde sie wahnsinnig gerne kennenlernen.«
»Ha, ha.« Hannah konnte ein spöttisches Lachen nicht unterdrücken.
Ismaels Segelboot durchschnitt sauber die Brandungslinie, und der Rumpf des Bootes schob sich auf den Sand. Der Junge holte rasch das Segel ein und verzurrte es in Sekundenschnelle unten am Baum. An Übung fehlte es ihm offensichtlich nicht. Sobald er festen Boden unter den Füßen hatte, musterte er Irene unbewusst vom Kopf bis zu den Füßen und verlor dabei genauso viele Worte wie beim Segeln. Hannah, die spöttisch die Augen verdrehte und hechelnd die Zunge herausstreckte, stellte sie einander vor, auf ihre Weise natürlich.
»Ismael, das ist meine Freundin Irene«, verkündete sie liebenswürdig, »aber friss sie nicht gleich auf.«
Der Junge stieß seine Cousine mit dem Ellenbogen an und reichte dann Irene die Hand.
»Hallo…«
Sein knapper Gruß wurde von einem scheuen, aufrichtigen Lächeln begleitet. Irene schüttelte ihm die Hand.
»Keine Sorge, er ist nicht einfältig; es ist seine Art zu sagen, dass er sehr erfreut ist und all das«, bemerkte Hannah.
»Meine Cousine redet so viel, dass ich manchmal glaube, sie quatscht ein Wörterbuch leer«, stichelte Ismael. »Bestimmt hat sie dir schon gesagt, dass du mich nicht nach dem Segelboot fragen sollst…«
»Ehrlich gesagt, nein«, antwortete Irene vorsichtig.
»Aha. Hannah denkt, es ist das einzige Thema, zu dem ich etwas zu sagen habe.«
»Wenn es um Netze und Takelagen geht, bist du auch nicht schlecht, aber bei diesem Boot, mein lieber Cousin, bist du nicht mehr zu bremsen.«
Irene verfolgte amüsiert das Wortgefecht, das sich die beiden lieferten. Es schien nicht böse gemeint zu sein, zumindest nicht mehr als nötig, um dem Alltag ein wenig Würze zu verleihen.
»Ich habe gehört, ihr seid in das Haus am Kap gezogen«, sagte Ismael.
Irene betrachtete den Jungen und machte sich ein eigenes Bild. Er war etwa sechzehn; Haut und Haare verrieten, dass er eine Zeit auf See verbracht hatte. Seine Statur ließ die harte Arbeit an der Mole erkennen, und seine Hände waren mit kleinen Narben übersät, wie man sie bei den Pariser Jungs nur selten sah. Eine sehr lange, ausgeprägte Narbe zog sich über sein rechtes Bein, von etwas oberhalb des Knies bis hinunter zum Knöchel. Irene fragte sich, wo er sich diese Trophäe geholt haben mochte. Zuletzt widmete sie sich seinen Augen, dem einzigen Merkmal, das ihr wirklich außergewöhnlich vorkam. Ismaels Augen waren groß und klar und schienen wie geschaffen, um hinter einem eindringlichen und irgendwie traurigen Blick Geheimnisse zu verbergen. Sie erinnerten Irene an die Blicke der namenlosen Soldaten, mit denen sie drei kurze Minuten zu den Klängen einer viertklassigen Kapelle geteilt hatte, Blicke, hinter denen sich Angst, Traurigkeit und Verbitterung verbargen.
»Träumst du, meine Liebe?«, riss Hannah sie aus ihren Gedanken.
»Ich habe dran gedacht, dass ich spät dran bin. Meine Mutter wird sich Sorgen machen.«
»Deine Mutter wird froh sein, dass sie mal ein paar Stunden Ruhe vor dir hat. Aber wie du meinst«, sagte Hannah.
»Ich kann dich mit dem Boot hinbringen, wenn du willst«, bot Ismael an. »Das Haus am Kap hat einen kleinen Anlegeplatz zwischen den Felsen.«
Irene warf Hannah einen fragenden Blick zu.
»Wenn du nein sagst, brichst du ihm das Herz. Mein Cousin würde nicht mal Greta Garbo auf sein Segelboot einladen.«
»Kommst du nicht mit?«, fragte Irene, ein wenig eingeschüchtert.
»Ich würde nicht mal in diesen Kahn steigen, wenn man mir Geld dafür gäbe. Außerdem ist heute mein freier Tag, und heute Abend ist Tanz auf dem Dorfplatz. Ich an deiner Stelle würde es mir gut überlegen. Die guten Partien findest du an Land. Und das sagt die Tochter eines Fischers. Aber was rede ich. Los, mach schon. Und für dich, Seemann, wäre es besser, wenn du meine Freundin heil in den Hafen bringst. Hast du verstanden?«
Das Segelboot, das der Schrift auf dem Rumpf zufolge den Namen Kyaneos trug, nahm Kurs auf das Kap, während sich die weißen Segel blähten und der Bug durchs Wasser pflügte.
Ismael warf dem Mädchen immer wieder ein scheues Lächeln zu, während er das Boot manövrierte, und setzte sich erst hin, als das Boot auf stabilem Kurs in der Strömung lag. An die Sitzbank geklammert, spürte Irene die Wassertropfen auf ihrer Haut, die der Wind ihnen entgegensprühte. Hannah war zu einer winzigen Gestalt geschrumpft, die ihnen vom Ufer aus hinterherwinkte. Die Kraft, mit der das Segelboot durch die Bucht glitt, und das Geräusch der Wellen, die gegen den Rumpf schlugen, entlockten Irene ein Lachen, für das es keinen offensichtlichen Grund gab.
»Das erste Mal?«, fragte Ismael. »Auf einem Segelboot, meine ich?«
Irene nickte.
»Ist was anderes, stimmt’s?«
Sie nickte erneut und lächelte, ohne die Augen von der großen Narbe abwenden zu können, die sich über Ismaels Bein zog.
»Eine Muräne«, erklärte der Junge. »Ist eine ziemlich lange Geschichte.«
Irene sah auf und betrachtete die Umrisse von Cravenmoore, die hinter den Wipfeln des Waldes auftauchten.
»Was bedeutet der Name deines Bootes?«
»Das ist griechisch. Kyaneos– Cyan«, antwortete Ismael geheimnisvoll.
Als Irene verständnislos die Stirn runzelte, fuhr er fort:
»Die Griechen verwendeten dieses Wort, um ein dunkles Blau zu beschreiben, die Farbe des Meeres. Wenn Homer vom Meer spricht, vergleicht er seine Farbe mit dem von dunklem Wein. Das war sein Wort: kyaneos.«
»Ich sehe, du kannst auch über etwas anderes reden als über dein Boot und Fischernetze.«
»Ich gebe mir Mühe.«
»Wer hat dir das beigebracht?«
»Zu segeln? Das habe ich mir selbst beigebracht.«
»Nein, das über die Griechen…«
»Mein Vater hatte eine Schwäche für Geschichte. Ich besitze noch einige seiner Bücher…«
Irene schwieg.
»Hannah hat dir sicher erzählt, dass meine Eltern gestorben sind.«
Sie nickte nur. Ein paar hundert Meter vor ihnen kam die Leuchtturminsel in Sicht. Irene betrachtete sie fasziniert.
»Der Leuchtturm ist seit vielen Jahren außer Betrieb. Jetzt wird der im Hafen von Baie Bleue genutzt«, erklärte er ihr.
»Kommt niemand mehr auf diese Insel?«, fragte Irene.
Ismael schüttelte den Kopf.
»Und warum?«
»Magst du Geistergeschichten?«, gab er ihr zur Antwort.
»Kommt darauf an…«
»Die Leute im Dorf glauben, dass die Leuchtturminsel verhext ist oder so. Es heißt, vor langer Zeit sei dort eine Frau ertrunken. Manche wollen Lichter gesehen haben. Jedes Dorf hat seine Geschichten, und dieses hier ist keine Ausnahme.«
»Lichter?«
»Die Septemberlichter«, sagte Ismael, während die Insel backbords zurückblieb. »Der Legende zufolge– falls du es so nennen willst– beobachteten die Leute in einer Nacht im Spätsommer, als im Dorf der Maskenball stattfand, wie eine maskierte Frau im Hafen ein Segelboot bestieg und aufs Meer hinausfuhr. Einige glauben, dass sie zu einem heimlichen Treffen mit ihrem Geliebten auf der Leuchtturminsel fuhr; andere, dass sie vor einem schändlichen Verbrechen floh… Alle Erklärungen sind möglich, denn tatsächlich fand niemand je heraus, wer sie wirklich war. Ihr Gesicht war ja verhüllt. Aber als sie durch die Bucht fuhr, schleuderte ein furchtbarer, plötzlich aufkommender Sturm ihr Boot gegen die Felsen und zerstörte es. Die geheimnisvolle Frau ohne Gesicht ertrank vermutlich, zumindest wurde ihre Leiche nie gefunden. Tage später schwemmte die Flut ihre von den Felsen zerstörte Maske an. Seit damals erzählen die Leute, dass im Spätsommer, wenn es Nacht wird, Lichter auf der Insel zu sehen seien…«
»Der Geist der Frau…«
»… die ihre unvollendete Fahrt auf die Insel zu Ende bringen will. So erzählt man sich.«
»Und, stimmt es?«
»Es ist eine Geistergeschichte. Entweder du glaubst daran oder nicht.«
»Glaubst du daran?«, wollte Irene wissen.
»Ich glaube nur an das, was ich sehe.«
»Ein skeptischer Seemann.«
»So in etwa.«
Irene sah erneut zu der Insel herüber. Die Wellen brachen sich donnernd an den Felsen. Die gesprungenen Scheiben des Leuchtturms brachen das Licht zu einem gespenstischen Regenbogen, der sich in dem Wasserschleier auflöste, der am Riff aufstob.
»Warst du mal dort?«, fragte sie.
»Auf der Insel?«
Ismael straffte die Leine, und mit einer Bewegung des Ruders neigte sich das Boot nach Steuerbord, drehte den Bug in Richtung Kap und durchquerte die Strömung, die vom Ärmelkanal kam.
»Vielleicht würde es dir ja gefallen, dort hinzufahren«, schlug er vor. »Zur Insel.«
»Kann man das?«
»Man kann alles. Die Frage ist, ob man sich traut«, gab Ismael mit einem herausfordernden Lächeln zurück.
Irene hielt seinem Blick stand.
»Wann?«
»Nächsten Samstag. Mit meinem Segelboot.«
»Allein?«
»Allein. Aber wenn du Angst hast…«
»Ich habe keine Angst«, wehrte Irene ab.
»Dann am Samstag. Ich hole dich vormittags am Anlegeplatz ab.«
Irene sah zur Küste hinüber. Das Haus am Kap thronte hoch oben auf den Klippen. Dorian stand auf der Veranda und beobachtete sie mit unverhohlener Neugier.
»Mein Bruder Dorian. Vielleicht möchtest du mit raufkommen, um meine Mutter kennenzulernen…«
»Ich bin nicht so gut bei solchen Vorstellungen.«
»Dann ein andermal.«
Das Segelboot glitt in den kleinen Naturhafen, der von den Klippen unterhalb des Hauses am Kap geschützt wurde. Mit großem Geschick reffte Ismael das Segel und ließ das Boot zum Anlegeplatz treiben. Dann nahm er ein Tau und sprang an Land, um das Boot festzumachen. Als es sicher vertäut war, reichte er Irene die Hand.
»Aber Homer war blind. Wie konnte er wissen, welche Farbe das Meer hat?«, fragte das Mädchen.
Ismael nahm ihre Hand und half ihr schwungvoll ans Ufer.
»Ein Grund mehr, nur das zu glauben, was du siehst«, entgegnete der Junge, der nach wie vor ihre Hand hielt. Lazarus’ Worte am ersten Abend auf Cravenmoore kamen Irene in den Sinn.
»Manchmal täuschen einen die Augen«, stellte sie fest.
»Mich nicht.«
»Danke für die Überfahrt.«
Ismael nickte, während er zögernd ihre Hand losließ.
»Bis Samstag dann.«
»Bis Samstag.«
Ismael sprang wieder ins Boot, löste das Tau und ließ sich von der Strömung vom Ufer wegtreiben, während er erneut das Segel setzte. Der Wind trieb ihn zur Ausfahrt des kleinen Hafens, und nach wenigen Sekunden erreichte die Kyaneos, auf den Wellen schaukelnd, die Bucht.
Irene blieb am Anlegeplatz stehen und sah zu, wie das weiße Segel in der endlosen Bucht immer kleiner wurde. Irgendwann stellte sie fest, dass immer noch ein Lächeln auf ihrem Gesicht klebte und ihre Hände verdächtig kribbelten. Da wusste sie, dass diese Woche sehr, sehr lang werden würde.