11. Das Gesicht unter der Maske

Das Erste, was Irene sah, als sie aufwachte, waren zwei dunkle, undurchdringliche Augen, die sie eingehend musterten. Das Mädchen zuckte zusammen, und die Möwe flog erschreckt davon. Irenes Lippen fühlten sich rissig und trocken an, ihre Haut brannte, und es juckte sie am ganzen Körper. Ihre Muskeln kamen ihr wie Pudding vor und der Kopf wie aus Watte. Eine Welle der Übelkeit stieg ihr von der Magengrube bis in den Kopf. Als sie sich aufsetzte, stellte sie fest, dass dieses merkwürdige Brennen, das ihren Körper wie Säure zu zerfressen schien, von der Sonne kam. Sie hatte einen bitteren Geschmack auf den Lippen. Das undeutliche Bild einer kleinen Felsbucht drehte sich um sie wie ein Karussell. Sie hatte sich noch nie im Leben schlechter gefühlt.

Als sie sich erneut streckte, entdeckte sie Ismael neben sich. Hätte er nicht stoßweise geatmet, Irene hätte geschworen, dass er tot war. Sie rieb sich die Augen und legte dann ihre mit Schürfwunden übersäte Hand an den Hals ihres Gefährten. Puls. Sie streichelte Ismaels Gesicht, und wenig später schlug der Junge die Augen auf. Die Sonne blendete ihn einen Augenblick.

»Du siehst furchtbar aus«, murmelte er und lächelte mühsam.

»Du müsstest dich mal sehen«, erwiderte das Mädchen.

Wie zwei Schiffbrüchige, die der Sturm am Strand ausgespien hat, standen die beiden taumelnd auf und flüchteten sich in den Schatten eines herabgestürzten Baumstamms zwischen den Klippen. Die Möwe, die ihren Schlaf bewacht hatte, ließ sich erneut im Sand nieder. Ihre Neugier war noch nicht befriedigt.

»Wie spät mag es sein?«, fragte Irene, während sie gegen das wilde Pochen ankämpfte, das bei jedem Wort gegen ihre Schläfen hämmerte.

Ismael zeigte ihr seine Uhr. Das Zifferblatt stand voller Wasser, und der abgerissene Sekundenzeiger erinnerte an einen versteinerten Aal in einem Fischglas. Der Junge hielt beide Hände schützend vor die Augen und beobachtete die Sonne.

»Es ist Mittag vorbei.«

»Wie lange haben wir geschlafen?«, fragte sie.

»Nicht lange genug«, entgegnete Ismael. »Ich könnte eine ganze Woche am Stück schlafen.«

»Zum Schlafen ist jetzt keine Zeit«, drängte Irene.

Er nickte und suchte die Klippen nach einem möglichen Fluchtweg ab.

»Das wird nicht leicht. Ich kenne nur den Weg übers Meer in die Lagune…«, begann er.

»Was ist hinter den Felsen?«

»Der Wald, durch den wir gekommen sind.«

»Worauf warten wir dann noch?«

Ismael betrachtete erneut die Klippen. Eine Wand aus spitzen steinernen Nadeln ragte vor ihnen auf. Diese Felsen zu erklimmen würde seine Zeit brauchen, ganz zu schweigen von den zahllosen Möglichkeiten, Bekanntschaft mit dem Gesetz der Schwerkraft zu machen und sich den Kopf zu zerschmettern. »Wie ein Ei, das auf dem Boden zerschellt«, dachte er. »Ein perfektes Ende.«

»Kannst du klettern?«, fragte er dann.

Irene zuckte mit den Schultern. Der Junge betrachtete ihre nackten, von Sand bedeckten Füße. Die weiße Haut an Armen und Beinen war völlig ungeschützt.

»Ich hatte Sport in der Schule und war eine der Besten beim Seilklettern«, sagte sie. »Ich nehme an, das ist dasselbe.«

Ismael seufzte. Ihre Probleme waren noch nicht ausgestanden.


Für Sekunden war Simone Sauvelle wieder acht Jahre alt. Sie sah wieder die kupferfarbenen und silbernen Lichter, die flüchtige Bilder aus Rauch in die Luft malten. Sie nahm den intensiven Duft des verbrennenden Wachses wahr, die flüsternden Stimmen im Halbdunkel, das unsichtbare Flackern hunderter Kerzen, die in diesem geheimnisvollen, wundersamen Palast brannten, der die Erinnerungen ihrer Kindheit verzaubert hatte: die altehrwürdige Kathedrale Saint Etienne. Doch der Zauber währte nur diese paar Sekunden.

Als ihre müden Augen wenig später durch die unheimliche Finsternis irrten, die sie umgab, begriff Simone, dass diese Kerzen nicht in einer Kapelle standen, dass die Lichtflecken, die auf den Wänden tanzten, alte Fotografien waren und die Stimmen ein fernes Flüstern, das nur in ihrem Kopf existierte. Ihr Gefühl sagte ihr, dass sie sich weder im Haus am Kap befand noch an irgendeinem anderen Ort, an den sie sich erinnern konnte. In ihrem Kopf hallte ein unscharfes Echo der vergangenen Stunden wider. Sie wusste noch, dass sie sich mit Lazarus auf der Veranda unterhalten hatte. Sie wusste noch, dass sie sich ein Glas heiße Milch gemacht hatte, bevor sie zu Bett gegangen war, und sie erinnerte sich noch an die letzten Worte, die sie in dem Buch gelesen hatte, das auf ihrem Nachttisch lag.

Nachdem sie das Licht gelöscht hatte, erinnerte sie sich vage, von einem schreienden Kind geträumt zu haben, und an das merkwürdige Gefühl, mitten in der Nacht aufzuwachen und zu beobachten, wie die Schatten durch die Dunkelheit zu wandern schienen. Darüber hinaus verschwammen ihre Erinnerungen wie die Ränder einer unvollendeten Zeichnung. Ihre Hände berührten einen Baumwollstoff, und Simone wurde klar, dass sie noch ihr Nachthemd trug. Sie stand auf und näherte sich langsam der Wand, von der das Licht Dutzender weißer Kerzen zurückstrahlte, die sorgfältig in von wächsernen Tränen überzogenen Kandelabern aufgestellt waren.

Die Flammen knisterten gleichmäßig. Dieses Geräusch waren die Stimmen, die sie zu hören geglaubt hatte. Der goldene Widerschein all dieser brennenden Lichter weitete ihre Pupillen, und eine seltsame Helligkeit durchflutete ihren Geist. Die Erinnerungen kamen tropfenweise, wie ein Regenschauer bei Tagesanbruch. Mit ihnen kam der erste Panikanfall.

Sie erinnerte sich an die Berührung unsichtbarer Hände, die sie durch die Dunkelheit trugen. Sie erinnerte sich an eine Stimme, die ihr etwas ins Ohr flüsterte, während jede Faser ihres Körpers erstarrt war, unfähig, zu reagieren. Sie erinnerte sich an eine schemenhafte Gestalt, die sie durch den Wald trug. Sie erinnerte sich, wie dieser gespenstische Schatten ihren Namen geflüstert hatte und wie sie, starr vor Angst, begriffen hatte, dass all dies kein Alptraum war. Simone schloss die Augen und schlug die Hände vor den Mund, um einen Schrei zu unterdrücken.

Ihr erster Gedanke galt ihren Kindern. Was war mit Irene und Dorian geschehen? Waren sie noch im Haus? Hatte diese unbeschreibliche Erscheinung sie geholt? Mit herzzerreißender Macht brannten ihr diese Fragen auf der Seele. Sie lief dorthin, wo sie die Tür vermutete, und rüttelte vergeblich an der Klinke, sie schrie und heulte, bis Erschöpfung und Verzweiflung sie übermannten. Allmählich brachte eine kalte Gleichgültigkeit sie in die Wirklichkeit zurück.

Sie war gefangen. Wer auch immer sie mitten in der Nacht entführt hatte, hatte sie in diesem Raum eingesperrt und womöglich auch ihre Kinder in seine Gewalt gebracht. Der Gedanke, er könne ihnen wehgetan oder sie verletzt haben, lag außerhalb ihrer Vorstellungskraft. Wenn sie etwas für sie tun wollte, dann musste sie jeden neuen Anflug von Panik unterdrücken und die Kontrolle über ihre Gedanken behalten. Simone ballte die Fäuste, während sie sich diese Worte immer wieder vorsagte. Sie atmete mit geschlossenen Augen tief durch, bis sie spürte, wie ihr Herz wieder im normalen Rhythmus schlug.

Dann öffnete sie die Augen wieder und sah sich aufmerksam um. Je rascher sie verstand, was hier vor sich ging, desto schneller würde sie hier rauskommen und Irene und Dorian zu Hilfe kommen können.

Das Erste, was ihr ins Auge fiel, waren die kleinen, schlichten Möbel. Kindermöbel, einfach geschreinert, fast schon ärmlich. Sie war in einem Kinderzimmer, aber ihr Gefühl sagte ihr, dass dort schon lange kein Kind mehr lebte. Die Persönlichkeit, die diesen Ort fast greifbar durchdrang, strahlte Alter und Verfall aus. Simone trat ans Bett und setzte sich hin, um das Zimmer von dort aus zu betrachten. In diesem Zimmer gab es keine Unschuld. Was sie spürte, war Dunkelheit. Bosheit.

Das schleichende Gift der Angst begann ihre Adern zu durchströmen, doch Simone ignorierte ihre Warnzeichen, ergriff einen der Kerzenleuchter und näherte sich der Wand. Unzählige Zeitungsausschnitte und Fotografien bildeten eine Collage, die sich im Dunkel verlor. Ihr fiel auf, mit welcher Sorgfalt all diese Bilder an die Wand geheftet worden waren. Ein düsteres Museum der Erinnerungen entfaltete sich vor ihren Augen, und jeder dieser Ausrisse schien stumm von der Bedeutung zu erzählen, die hinter all dem steckte. Eine Stimme, die sich aus der Vergangenheit bemerkbar zu machen versuchte. Simone hielt die Kerze eine knappe Handbreit vor die Wand und ließ die Flut von Fotografien und Abbildungen, Wörtern und Illustrationen auf sich einströmen.

Beim Überfliegen der Berichte blieben ihre Augen an einem vertrauten Namen hängen: Daniel Hoffmann. Der Name kam wie ein Schlaglicht aus ihrer Erinnerung zum Vorschein. Die geheimnisvolle Person aus Berlin, deren Korrespondenz sie Lazarus’ Anweisungen zufolge aussortieren sollte. Die merkwürdige Gestalt, deren Briefe, wie Simone durch Zufall herausgefunden hatte, in den Flammen gelandet waren. Doch etwas stimmte an der ganzen Sache nicht. Der Mann, von dem in diesen Artikeln die Rede war, lebte nicht in Berlin, und den Erscheinungsdaten der Zeitungen zufolge musste er mittlerweile in einem unwahrscheinlich hohen Alter sein. Verwirrt vertiefte sich Simone in den Text des Berichts.

Der Hoffmann aus den Zeitungsartikeln war ein reicher Mann, unfassbar reich. Ein paar Zentimeter weiter berichtete Le Figaro auf der ersten Seite von einem Brand in einer Spielzeugfabrik. Hoffmann war bei dem Unglück ums Leben gekommen. Flammen schlugen aus dem Gebäude, und davor drängte sich eine Menschenmenge, die gebannt das grauenvolle Schauspiel beobachtete. Unter ihnen befand sich ein Junge, der mit verängstigten Augen verloren in die Kamera blickte.

Derselbe Blick war auf einem anderen Ausschnitt zu sehen. Diesmal schilderte der Artikel die düstere Geschichte eines Jungen, der sieben Tage in völliger Dunkelheit in einem Keller eingesperrt gewesen war. Polizeibeamte hatten ihn entdeckt, nachdem sie seine Mutter tot in einer der Wohnungen vorgefunden hatten. Das Gesicht des Jungen, der knapp sieben oder acht Jahre zählen mochte, war ein bodenloser Abgrund.

Ein heftiger Schauder durchlief ihren Körper, während sich die Bruchstücke eines unheimlichen Rätsels in ihrem Kopf zusammenzufügen begannen. Doch da war noch mehr, und die faszinierende Macht dieser Bilder war hypnotisierend. Die Zeitungsausschnitte schritten in der Zeit voran. In vielen war von verschwundenen Personen die Rede, Menschen, von denen Simone noch nie gehört hatte. Unter ihnen stach ein strahlend schönes Mädchen hervor, Alexandra Alma Maltisse, Erbin eines Stahlimperiums aus Lyon, die einer Zeitschrift aus Marseille zufolge die Verlobte eines jungen, aber angesehenen Ingenieurs und Spielzeugerfinders war, Lazarus Jann. Neben diesem Bericht zeigte eine Reihe von Fotografien das glückliche Paar beim Verteilen von Spielzeug in einem Waisenhaus in Montparnasse. Die beiden strahlten förmlich vor Glück. »Es ist mein fester Vorsatz, dass alle Kinder in diesem Land ungeachtet ihrer Lebenssituation ein Spielzeug besitzen sollen«, erklärte der Erfinder unter der Fotografie.

Daneben zeigte eine andere Zeitung die Vermählung von Lazarus Jann und Alexandra Maltisse an. Das offizielle Verlobungsfoto war am Fuß der Freitreppe von Cravenmoore gemacht worden.

Ein vor Jugend strotzender Lazarus umarmte seine Braut. Keine einzige Wolke trübte dieses traumhafte Bild. Der junge, umtriebige Lazarus Jann hatte das prächtige Anwesen erworben, um dort seinen ehelichen Hausstand zu gründen. Mehrere Bilder von Cravenmoore illustrierten den Artikel.

Immer mehr Bilder und Zeitungsausschnitte reihten sich aneinander und vergrößerten diese Galerie von Personen und Ereignissen aus der Vergangenheit. Simone blieb stehen und machte kehrt. Das Gesicht dieses verlorenen, verängstigten Jungen ließ sie nicht los. Ihre Augen versanken in diesem verzweifelten Blick, und langsam erkannte sie darin den Blick wieder, in den sie Hoffnungen und Freundschaft gesetzt hatte. Es war nicht der Blick dieses Jean Neville, von dem Lazarus ihr erzählt hatte. Dieser Blick war ihr vertraut, schmerzlich vertraut. Es war der Blick von Lazarus Jann.

Eine schwarze Wolke breitete einen Schleier über ihr Herz. Sie atmete tief durch und schloss die Augen. Aus irgendeinem Grund wusste Simone schon, dass sich noch jemand im Zimmer befand, noch bevor die Stimme hinter ihrem Rücken erklang.


Um kurz vor vier am Nachmittag standen Ismael und Irene oben auf den Klippen. Die blauen Flecke und Schnittwunden, die der Stein ihnen an Armen und Beinen beigebracht hatte, zeugten von dem schwierigen Aufstieg. Das war der Preis dafür, dass sie diesen verbotenen Pfad betreten hatten. Ismael hatte damit gerechnet, dass der Aufstieg schwierig werden würde, doch die Wirklichkeit hatte sich als noch schlimmer und gefährlicher erwiesen als befürchtet. Irene hatte, ohne eine Sekunde zu zögern und ohne auch nur einmal den Mund aufzumachen, um sich über die Kratzer zu beklagen, die ihr die Haut aufrissen, einen Mut an den Tag gelegt, den er noch nie zuvor bei einem Menschen gesehen hatte.

Das Mädchen war nach oben geklettert und hatte sich auf Felsvorsprünge gewagt, auf die niemand bei klarem Verstand einen Fuß gesetzt hätte. Als sie schließlich den Waldrand erreichten, umarmte Ismael sie nur schweigend. Die Stärke, die in diesem Mädchen brannte, konnte nicht einmal ein ganzer Ozean löschen.

»Müde?«

Atemlos schüttelte Irene den Kopf.

»Hat dir schon mal jemand gesagt, dass du der sturste Mensch auf diesem Planeten bist?«

Ein leises Lächeln erschien auf den Lippen des Mädchens.

»Warte, bis du meine Mutter kennenlernst.«

Bevor Ismael etwas erwidern konnte, nahm sie ihn bei der Hand und zog ihn in den Wald. Hinter ihnen glitzerte in schwindelerregender Tiefe die Lagune.

Wenn ihm einer gesagt hätte, dass er eines Tages diese teuflischen Klippen hinaufklettern würde, hätte er ihm nicht geglaubt. Was allerdings Irene anging, so war er bereit, alles zu glauben.


Simone wandte sich langsam der Dunkelheit zu. Sie konnte die Gegenwart des Eindringlings spüren, sie konnte sogar das Hauchen seines langsamen Atems hören. Aber sehen konnte sie ihn nicht. Der Schein der Kerzen verschwamm zu einem undurchdringlichen Lichtkreis, hinter dem sich das Zimmer in einen dunklen, bodenlosen Bühnenraum verwandelte. Simone starrte in die Finsternis. Eine seltsame Ruhe überkam sie und ließ sie so klar denken, dass sie selbst überrascht war. Ihre Sinne schienen mit unheimlicher Genauigkeit jedes kleine Detail ihrer Umgebung zu erfassen. Sie nahm jede Regung der Luft, jedes Geräusch, jeden Lichtreflex wahr. Hinter diesem Zustand merkwürdiger Ruhe verschanzt, stand sie schweigend der Dunkelheit gegenüber und wartete, dass sich der Besucher zu erkennen gab.

»Ich hatte nicht erwartet, Sie hier zu sehen«, sagte schließlich eine Stimme aus der Dunkelheit, eine leise, distanzierte Stimme. »Haben Sie Angst?«

Simone schüttelte den Kopf.

»Gut. Das brauchen Sie auch nicht. Sie brauchen keine Angst zu haben.«

»Wollen Sie sich weiter dort verstecken, Lazarus?«

Auf ihre Frage folgte ein langes Schweigen. Lazarus’ Atmen war deutlicher zu hören.

»Ich ziehe es vor, hier zu bleiben«, antwortete er schließlich.

»Warum?«

Etwas blitzte im Dunkeln auf. Ein flüchtiges, fast unmerkliches Funkeln.

»Weshalb setzen Sie sich nicht, Madame Sauvelle?«

»Ich ziehe es vor, stehen zu bleiben.«

»Wie Sie wollen.« Der Mann machte erneut eine Pause. »Wahrscheinlich werden Sie sich fragen, was geschehen ist.«

»Unter anderem«, sagte Simone brüsk. Die Entrüstung war aus ihrem Tonfall herauszuhören.

»Vielleicht ist es am einfachsten, wenn Sie mir Ihre Fragen stellen und ich versuche, sie zu beantworten.«

Simone ließ ein wütendes Schnaufen vernehmen.

»Meine erste und einzige Frage lautet, wie ich hier rauskomme«, sagte sie knapp.

»Ich fürchte, die Antwort darauf ist mir nicht möglich. Noch nicht.«

»Warum nicht?«

»Ist das eine weitere Frage?«

»Wo bin ich?«

»Auf Cravenmoore.«

»Wie bin ich hierhergekommen und weshalb?«

»Jemand hat sie hergebracht…«

»Sie?«

»Nein.«

»Wer dann?«

»Jemand, den Sie nicht kennen… noch nicht.«

»Wo sind meine Kinder?«

»Ich weiß es nicht.«

Simone ging langsam auf die Dunkelheit zu, das Gesicht zorngerötet.

»Sie verdammtes Scheusal!«

Sie ging auf die Stelle zu, von wo die Stimme kam. Allmählich nahmen ihre Augen eine Gestalt in einem Lehnsessel wahr. Lazarus. Aber etwas an seinem Gesicht war seltsam. Simone blieb stehen.

»Es ist eine Maske«, sagte Lazarus.

»Wozu?«, fragte sie, während sie spürte, wie sich die Ruhe, die sie empfunden hatte, mit atemberaubender Geschwindigkeit verflüchtigte.

»Masken enthüllen das wahre Gesicht eines Menschen…«

Simone bemühte sich, die Ruhe zu bewahren. Ihrer Wut freien Lauf zu lassen würde zu nichts führen.

»Wo sind meine Kinder? Bitte…«

»Ich habe es Ihnen doch schon gesagt, Madame Sauvelle. Ich weiß es nicht.«

»Was haben Sie mit mir vor?«

Lazarus streckte eine Hand aus, die in einem Satinhandschuh steckte. Die Oberfläche der Maske blitzte erneut auf. Das war das Funkeln, das sie zuvor bemerkt hatte.

»Ich tue Ihnen nichts, Simone. Sie brauchen keine Angst vor mir zu haben. Sie müssen mir vertrauen.«

»Ein etwas unpassendes Ansinnen, finden Sie nicht?«

»Es ist zu Ihrem eigenen Besten. Ich versuche Sie zu beschützen.«

»Vor wem?«

»Setzen Sie sich doch, bitte.«

»Was zum Teufel geht hier vor? Warum sagen Sie mir nicht, was los ist?«

Simone merkte, wie ihre Stimme zu einem dünnen, kindlichen Wispern wurde. Weil sie merkte, dass sie sich am Rand der Hysterie bewegte, ballte sie die Fäuste und atmete tief durch. Dann trat sie ein paar Schritte zurück und nahm in einem der Sessel Platz, die rings um ein leeres Tischchen standen.

»Danke«, flüsterte Lazarus.

Eine Träne rollte ihr die Wange hinab.

»Zunächst einmal sollen Sie wissen, dass ich es zutiefst bedauere, dass Sie in all das hineingezogen wurden. Ich hätte nie gedacht, dass es so weit kommen würde«, erklärte der Spielzeugfabrikant.

»Es gab nie einen Jungen namens Jean Neville, nicht wahr?«, fragte Simone. »Dieser Junge waren Sie. Die Geschichte, die Sie mir erzählt haben… Das war die halbe Wahrheit Ihrer eigenen Geschichte.«

»Ich sehe, Sie haben meine Sammlung von Zeitungsausschnitten gelesen. Das hat sie wahrscheinlich zu einigen interessanten, aber falschen Schlussfolgerungen kommen lassen.«

»Die einzige Schlussfolgerung, die ich gezogen habe, Monsieur Jann, ist die, dass Sie ein kranker Mann sind, der Hilfe braucht. Ich weiß nicht, wie Sie es geschafft haben, mich hierherzubringen, aber ich versichere Ihnen, dass mich mein erster Gang zur Gendarmerie führen wird, sobald ich hier herauskomme. Entführung ist ein Verbrechen…«

Ihre Worte kamen ihr ebenso lächerlich wie fehl am Platz vor.

»Darf ich daraus schließen, dass Sie beabsichtigen, Ihre Stelle aufzugeben, Madame Sauvelle?«

Diese merkwürdige Form von Ironie ließ Simone hellhörig werden. Diese Bemerkung passte so gar nicht zu dem Lazarus, den sie kannte. Aber wenn etwas klar war, dann, dass sie ihn eigentlich überhaupt nicht kannte.

»Ich ahne, was Sie wollen«, gab sie kühl zurück.

»Gut. In diesem Fall gestatten Sie mir, bevor Sie zur Polizei gehen– meine Erlaubnis dazu haben Sie–, dass ich die fehlenden Teile der Geschichte ergänze, die Sie sich zweifellos bereits in Ihrem Kopf zurechtgelegt haben.«

Simone betrachtete die fahle, völlig ausdruckslose Maske. Ein Porzellangesicht, aus dem diese kalte, distanzierte Stimme hervordrang. Seine Augen waren zwei dunkle Höhlen.

»Sie werden sehen, meine liebe Simone, die einzige Moral, die sich aus dieser und jeder anderen Geschichte ziehen lässt, ist die, dass im wahren Leben, anders als in Romanen, nichts so ist, wie es scheint…«

»Versprechen Sie mir eines, Lazarus«, unterbrach sie ihn.

»Wenn es in meiner Macht steht…«

»Versprechen Sie mir, dass Sie mich mit meinen Kindern von hier fortgehen lassen, wenn ich mir Ihre Geschichte anhöre. Ich schwöre Ihnen, dass ich nicht zur Polizei gehen werde. Ich werde nur meine Familie nehmen und das Dorf für immer verlassen. Sie werden nie wieder von mir hören«, bat Simone.

Die Maske schwieg einige Sekunden.

»Das ist es, was Sie wollen?«

Sie nickte und schluckte die Tränen hinunter.

»Sie enttäuschen mich, Simone. Ich dachte, wir seien Freunde. Gute Freunde.«

»Bitte…«

Die Maske ballte die Faust.

»Gut. Wenn es Ihr Wunsch ist, mit Ihren Kindern vereint zu sein, soll es so sein. Zu seiner Zeit…«


»Erinnern Sie sich an Ihre Mutter, Madame Sauvelle? Alle Kinder haben in ihrem Herzen einen Platz für die Frau reserviert, die ihnen das Leben schenkte. Sie ist wie ein Lichtpunkt, der nie erlischt. Ein Stern am Firmament. Ich habe den größten Teil meines Lebens mit dem Versuch verbracht, diesen Punkt zu löschen. Ihn völlig zu vergessen. Doch das ist nicht leicht. Wirklich nicht leicht. Ich hoffe, dass Sie sich meine Geschichte anhören, bevor Sie über mich urteilen, mich verurteilen. Ich werde mich kurz fassen. Gute Geschichten kommen mit wenigen Worten aus…

Ich kam in der Nacht des 26.Dezember 1882 in einem heruntergekommenen Haus in der finstersten Gasse des Gobelins-Viertels von Paris zur Welt. Ein düsterer, ungesunder Ort. Haben Sie Victor Hugo gelesen, Madame Sauvelle? Wenn ja, dann wissen Sie, wovon ich rede. Dort also brachte meine Mutter mit Hilfe ihrer Nachbarin Nicole ein kleines Baby zur Welt. Es war ein so bitterkalter Winter, dass es offenbar Minuten dauerte, bis ich zu schreien begann, wie man es von einem Baby erwartet. So kam es, dass meine Mutter zunächst überzeugt war, ich sei tot geboren worden. Als sie feststellte, dass dem nicht so war, glaubte die Ärmste an ein Wunder und beschloss– Ironie des Schicksals–, mich auf den Namen Lazarus zu taufen.

Rückblickend gesehen, ist meine Kindheit für mich eine einzige Abfolge von lärmendem Geschrei in den Gassen und langen Krankheiten meiner Mutter gewesen. In einer meiner frühesten Erinnerungen sitze ich auf den Knien von Nicole, der Nachbarin, und höre zu, wie die gute Frau mir erzählt, dass meine Mutter sehr krank sei und sich nicht um mich kümmern könne, ich solle so gut sein und zu den anderen Kindern spielen gehen. Bei den anderen Kindern, von denen sie sprach, handelte es sich um eine Horde zerlumpter Jungs, die den lieben langen Tag bettelten und mit sieben Jahren bereits gelernt hatten, dass man im Viertel nur überlebte, wenn man Krimineller oder Polizist wurde. Unnötig zu erklären, welche der beiden Möglichkeiten die bevorzugte war.

Der einzige Hoffnungsschimmer in jenen Tagen im Viertel war eine geheimnisvolle Gestalt, die uns bis in unsere Träume beschäftigte. Ihr Name war Daniel Hoffmann, und dieser Name war für uns alle so phantastisch, dass viele sogar an der Existenz des Mannes zweifelten. Der Legende zufolge streifte Hoffmann in unterschiedlichen Verkleidungen und unter verschiedenen Identitäten durch die Straßen von Paris, um Spielzeug an die armen Kinder zu verteilen, das er in seiner Fabrik hergestellt hatte. Alle Kinder in Paris hatten von ihm gehört und träumten davon, dass eines Tages sie die Glücklichen sein würden.

Hoffmann war der Herrscher über Magie und Phantasie. Nur eines konnte die Faszination für ihn zunichte machen: das Alter. Wenn die Kinder älter wurden und die Fähigkeit verloren, zu träumen und zu spielen, verschwand der Name Daniel Hoffmann aus ihrem Gedächtnis, bis sie ihn eines Tages, nun erwachsen, nicht mehr wiedererkannten, wenn sie ihn aus dem Munde ihrer eigenen Kinder hörten…

Daniel Hoffmann war der größte Spielzeugfabrikant, den es je gegeben hatte. Er besaß eine riesige Fabrik im Gobelins-Viertel. Seine Spielzeugmanufaktur erinnerte an eine mächtige Kathedrale, die sich aus der Finsternis dieses unheimlichen, von Gefahren und Armut heimgesuchten Viertels erhob. Mittendrin ragte ein spitzer Turm empor, der bis zu den Wolken reichte. Von dort erklangen jeden Tag des Jahres die Morgen- und die Abendglocken. Das Läuten dieser Glocken war in der ganzen Stadt zu hören. Jedes Kind im Viertel kannte dieses Gebäude, die Erwachsenen hingegen konnten es nicht sehen und glaubten, an dieser Stelle befände sich ein riesiges, undurchdringliches Sumpfgelände, eine Brache im dunklen Herzen von Paris.

Niemand hatte jemals Daniel Hoffmanns wahres Gesicht gesehen. Es hieß, der Spielzeugmacher bewohne einen Raum ganz oben im Turm, den er kaum je verlasse, außer wenn er in der Abenddämmerung verkleidet durch die Straßen von Paris streife, um den notleidenden Kindern der Stadt Spielzeug zu schenken. Als Gegenleistung verlange er nur eines: das Herz der Kinder, die ihm auf ewig Liebe und Gehorsam versprechen mussten. Jeder Junge aus dem Viertel hätte ihm, ohne zu zögern, sein Herz gegeben. Aber nicht alle hörten den Ruf. Gerüchte sprachen von Hunderten unterschiedlicher Verkleidungen, hinter denen Hoffmann sein wahres Ich verberge. Einige verstiegen sich zu der Behauptung, Daniel Hoffmann verwende keine Aufmachung ein zweites Mal.

Aber kehren wir zu meiner Mutter zurück. Die Krankheit, von der Nicole sprach, ist für mich noch heute ein Rätsel. Ich habe den Eindruck, dass manche Menschen wie Spielzeug mit einem Fabrikationsfehler zur Welt kommen. In gewisser Weise macht uns das alle zu kaputtem Spielzeug, finden Sie nicht? Jedenfalls ging mit dem Leiden meiner Mutter mit der Zeit ein zunehmender Verlust ihrer geistigen Fähigkeiten einher. Wenn der Körper versehrt ist, kommt nach kurzer Zeit auch der Geist vom Weg ab. So ist das Leben.

So wuchs ich also auf, und die Einsamkeit war mein einziger Begleiter, während ich davon träumte, dass eines Tages Daniel Hoffmann auftauchen werde, um mir zu helfen. Ich erinnere mich, dass ich jeden Abend vor dem Einschlafen zu meinem Schutzengel betete, er möge mich zu ihm führen. Jeden Abend. Und so kam es, dass ich, wahrscheinlich geleitet von meinen Hoffmann-Phantasien, mein eigenes Spielzeug herzustellen begann.

Dazu verwendete ich Schrott, den ich im Müll des Viertels fand. Ich baute meinen ersten Zug und eine dreistöckige Burg. Auf diese folgten ein Drache aus Pappmaché und noch später eine Flugmaschine, lange bevor Flugzeuge eine alltägliche Erscheinung am Himmel wurden. Mein liebstes Spielzeug allerdings war Gabriel. Gabriel war ein Engel. Ein wunderschöner Engel, den ich eigenhändig gebastelt hatte, damit er mich vor der Finsternis und den Gefahren des Schicksals bewahre. Ich fertigte ihn aus den Resten eines Bügeleisens und Eisenteilen, die ich in einer leerstehenden Weberei zwei Straßen von unserer Wohnung entfernt auftrieb. Doch meinem Schutzengel Gabriel war nur ein kurzes Leben beschieden.

An dem Tag, als meine Mutter mein gesamtes Spielzeugarsenal entdeckte, war Gabriel dem Tod geweiht.

Meine Mutter brachte mich in den Keller des Hauses, und dort erzählte sie mir im Flüsterton, dass jemand im Schlaf zu ihr spreche. Dabei blickte sie sich ständig um, als fürchtete sie, jemand könne in der Dunkelheit lauern. Dieser Einflüsterer habe ihr mitgeteilt, Spielzeug– jedes Spielzeug– sei das Werk des Teufels, mit dem dieser die Seelen der Kinder der Welt verderben wolle. Noch in dieser Nacht landeten Gabriel und mein gesamtes Spielzeug im Küchenherd.

Meine Mutter bestand darauf, dass wir die Spielsachen gemeinsam vernichteten, um sicherzugehen, dass sie zu Asche verbrannten. Andernfalls, so erklärte sie, werde mich der Schatten meiner verdammten Seele heimsuchen. Jedes Missverhalten, jeder Fehler, jeder Ungehorsam falle auf diesen Schatten zurück, den ich stets in mir trüge, sei er doch ein Spiegelbild meines schlechten, rücksichtslosen Verhaltens ihr und der ganzen Welt gegenüber…

Damals war ich sieben Jahre alt.

Um diese Zeit herum spitzte sich die Krankheit meiner Mutter zu. Sie fing an, mich im Keller einzusperren, wo mich der Schatten nicht finden könne, wenn er mich holen käme. Während dieser langen Gefangenschaften wagte ich kaum zu atmen, aus lauter Angst, mein Schluchzen könne den Schatten auf mich aufmerksam machen, diesen bösartigen Spiegel meiner schwachen Seele, und mich direkt in die Hölle bringen. Das alles mag Ihnen komisch oder vielleicht traurig erscheinen, Madame Sauvelle, doch für den kleinen Jungen von damals war es schauriger Alltag.

Ich will Sie nicht mit schnöden Details aus jener Zeit langweilen. Es genügt, zu erzählen, dass während eines solchen Arrests meine Mutter den letzten Rest Verstand verlor, der ihr noch geblieben war, und ich eine ganze Woche alleine in diesem stockfinsteren Keller saß. Sie werden es bereits in dem Zeitungsartikel gelesen haben, nehme ich an. Eine dieser Geschichten, die die Leute von der Presse gerne auf die Titelseite ihrer Blätter heben. Schlechte Nachrichten, besonders wenn sie ungeheuerlich und haarsträubend sind, tragen mit erstaunlichem Erfolg dazu bei, die Geldbörsen des Publikums zu öffnen. Ach ja, Sie werden sich bestimmt fragen, was ein Kind macht, das sieben Tage und Nächte in einem dunklen Keller eingesperrt ist?

Zunächst einmal erlauben Sie mir die Feststellung, dass der Mensch nach einigen Stunden ohne Licht das Zeitgefühl verliert. Stunden werden zu Minuten und Sekunden. Oder Wochen, wenn Ihnen das lieber ist. Zeit und Licht hängen eng zusammen. Jedenfalls geschah in diesem Zeitraum etwas wirklich Unglaubliches. Ein Wunder. Mein zweites Wunder, wenn Sie so wollen, nach jenen ungewissen Minuten gleich nach meiner Geburt.

Meine Gebete wurden erhört. All die Nächte, in denen ich stumm gebetet hatte, waren nicht vergebens gewesen. Nennen Sie es Glück, nennen Sie es Schicksal.

Daniel Hoffmann kam zu mir. Zu mir. Von allen Kindern in Paris war ich in dieser Nacht auserwählt worden, seine Gunst zu empfangen. Ich erinnere mich noch heute, wie es leise an der Kellerluke klopfte, die nach draußen auf die Straße führte. Ich konnte sie nicht erreichen, aber ich konnte der Stimme antworten, die von draußen mit mir sprach– die wunderbarste und gütigste Stimme, die ich jemals gehört habe. Eine Stimme, die die Dunkelheit vertrieb und die Angst eines armen verängstigten Kindes dahinschmelzen ließ wie Eis in der Sonne. Und wissen Sie was, Simone? Daniel Hoffmann nannte mich beim Namen.

Und ich öffnete ihm mein Herz. Plötzlich erfüllte ein wundervolles Licht den Keller, und Hoffmann erschien wie aus dem Nichts. Er trug einen strahlend weißen Anzug. Wenn Sie ihn gesehen hätten, Simone. Er war ein Engel, ein leibhaftiger Engel des Lichts. Ich habe noch nie jemanden gesehen, der eine solche Aura von Schönheit und Frieden verbreitete.

In jener Nacht unterhielten Daniel Hoffmann und ich uns ganz vertraut, so wie Sie und ich es jetzt tun. Ich brauchte ihm nicht von Gabriel und meinen übrigen Spielsachen zu erzählen; er wusste bereits Bescheid. Hoffmann war gut informiert, müssen Sie wissen. Er wusste auch von den Geschichten, die mir meine Mutter über den Schatten erzählt hatte. Er wusste alles darüber. Erleichtert gestand ich ihm, dass dieser Schatten mich wirklich geängstigt hatte. Sie können sich nicht vorstellen, wie viel Mitgefühl und Anteilnahme von diesem Mann ausgingen. Er hörte sich geduldig an, was mir widerfahren war, und ich konnte spüren, dass er an meinem Leid und meiner Angst teilhatte. Und insbesondere verstand er, was meine größte Angst war, mein schlimmster Alptraum: der Schatten. Mein eigener Schatten, dieser bösartige Geist, der mir überallhin folgte und der alles Böse auf sich vereinte, das ich in mir trug…

Es war Daniel Hoffmann, der mir erklärte, was ich tun sollte. Bis dahin hatte ich keine Ahnung, müssen Sie wissen. Was wusste ich schon über Schatten? Was wusste ich über diese geheimnisvollen Geister, die die Menschen in ihren Träumen heimsuchten und ihnen von der Zukunft und der Vergangenheit erzählten? Nichts.

Aber er wusste. Er wusste alles. Und er war bereit, mir zu helfen.

In jener Nacht offenbarte Daniel Hoffmann mir die Zukunft. Er sagte mir, dass ich auserwählt sei, ihm an die Spitze seines Imperiums nachzufolgen. Er erklärte mir, dass sein ganzes Wissen und seine ganze Kunst eines Tages mir gehören würden und die Welt aus Armut, die mich umgab, für immer verschwinden werde. Er gab mir eine Perspektive, von der ich niemals zu träumen gewagt hätte. Eine Zukunft. Ich wusste überhaupt nicht, was das war. Er ermöglichte sie mir. Ich musste nur eines dafür tun. Ein kleines, unbedeutendes Versprechen: ich musste ihm mein Herz schenken. Nur ihm und niemandem sonst.

Der Spielzeugfabrikant fragte mich, ob ich begriffe, was das bedeute. Ich bejahte, ohne einen Augenblick zu zögern. Natürlich konnte er mein Herz haben. Er war der einzige Mensch, der jemals gut zu mir gewesen war. Der einzige Mensch, dem ich etwas bedeutet hatte. Er sagte mir, wenn ich wolle, käme ich sehr bald fort und würde weder dieses Haus noch diesen Ort jemals wiedersehen, nicht einmal meine Mutter. Und das Wichtigste, ich bräuchte mich nie wieder wegen des Schattens zu sorgen. Wenn ich tun würde, was er von mir verlange, werde eine strahlende Zukunft vor mir liegen.

Er fragte mich, ob ich ihm vertraute. Ich bejahte. Daraufhin zog er einen kleinen Kristallflakon hervor, ähnlich jenen, in denen Sie Parfüm aufbewahren würden. Lächelnd öffnete er den Verschluss, und ich wurde Zeuge eines überwältigenden Schauspiels. Mein Schatten, mein Abbild an der Wand, verwandelte sich in einen tanzenden Fleck. Eine dunkle Wolke, die von dem Flakon aufgesogen wurde, für immer in seinem Inneren gefangen. Dann verschloss Daniel Hoffmann den Flakon und reichte ihn mir. Das Kristall war kalt wie Eis.

Er erklärte mir, dass ihm von nun an mein Herz gehöre und all meine Probleme bald, sehr bald, verschwunden sein würden. Falls ich meinen Schwur nicht bräche. Ich beteuerte, dass ich so etwas niemals tun würde. Er lächelte mir noch einmal freundlich zu und überreichte mir ein Geschenk. Ein Kaleidoskop. Dann forderte er mich auf, die Augen zu schließen und mit aller Kraft an das zu denken, was ich mir am meisten wünschte auf der Welt. Während ich das tat, beugte er sich zu mir herunter und küsste mich auf die Stirn. Als ich die Augen wieder öffnete, war er nicht mehr da.

Eine Woche später befreite mich die Polizei aus diesem Loch, alarmiert von einem unbekannten Informanten, der gemeldet hatte, was bei mir zu Hause vorging. Meine Mutter war tot…

Auf dem Weg zum Kommissariat waren die Straßen auf einmal voller Feuerwehrwagen. Man konnte das Feuer in der Luft riechen. Die Polizisten, die mich begleiteten, machten einen Umweg, und da konnte ich es sehen: Am Horizont brannte Daniel Hoffmanns Fabrik. Es war einer der schrecklichsten Brände, die Paris in seiner Geschichte erlebt hatte. Die Menschen, die das Gebäude nie wahrgenommen hatten, starrten auf diese Kathedrale aus Feuer. Und da erinnerten sich alle an den Namen der Person, die einmal Träume in ihre Kinderherzen gesät hatte: Daniel Hoffmann. Der Palast des Herrschers brannte…

Die Flammen und die schwarze Rauchsäule stiegen drei Tage und drei Nächte in den Himmel, als hätte sich im dunklen Herzen der Stadt die Pforte der Hölle aufgetan. Ich war dort und habe es mit eigenen Augen gesehen. Tage später, als nur noch Asche von dem eindrucksvollen Gebäude kündete, das einmal dort gestanden hatte, verbreiteten die Zeitungen die Meldung.

Nach einiger Zeit machten die Behörden einen Verwandten meiner Mutter ausfindig, der sich meiner annahm, und ich zog zu seiner Familie nach Cap d’Antibes. Dort wuchs ich auf und ging zur Schule. Ein normales, glückliches Leben, wie Daniel Hoffmann es mir versprochen hatte. Ich erlaubte mir sogar, eine Variante meiner Vergangenheit zu ersinnen, um sie mir selbst zu erzählen: Die Geschichte, die ich auch Ihnen erzählt habe.

An meinem achtzehnten Geburtstag erhielt ich einen Brief. Er war acht Jahre zuvor im Postamt von Montparnasse abgestempelt worden. Darin teilte mein alter Freund mir mit, in der Anwaltskanzlei eines gewissen Monsieur Gilbert Travant in Fontainebleau seien die Dokumente für ein Anwesen an der Küste der Normandie hinterlegt, das mit Vollendung der Volljährigkeit rechtmäßig in meinen Besitz übergehe. Die Nachricht auf Büttenpapier war mit einem »D« gezeichnet.

Erst einige Jahre später nahm ich Cravenmoore in Besitz. Damals war ich bereits ein aufstrebender Ingenieur. Meine Spielzeugentwürfe übertrafen alles, was man zur damaligen Zeit kannte. Bald wurde mir klar, dass die Zeit gekommen war, meine eigene Fabrik zu gründen. In Cravenmoore. Alles geschah genau so, wie es mir angekündigt worden war. Alles, bis sich der Zwischenfall ereignete. Es geschah an einem 13.Februar an der Porte Saint Michel. Sie hieß Alexandra Alma Maltisse und war das schönste Geschöpf, das ich jemals gesehen hatte.

In all diesen Jahren hatte ich stets den Flakon aufbewahrt, den Daniel Hoffmann mir in jener Nacht in dem Keller in der Rue des Gobelins übergeben hatte. Er fühlte sich noch genauso kalt an wie damals. Sechs Monate später brach ich das Versprechen, das ich Daniel Hoffmann gegeben hatte, und schenkte mein Herz diesem jungen Mädchen. Ich heiratete sie. Es war der glücklichste Tag meines Lebens. In der Nacht vor der Hochzeit, die auf Cravenmoore stattfinden sollte, nahm ich den Flakon mit meinem Schatten und ging zu den Klippen am Kap. Von dort warf ich ihn ins dunkle Wasser, um ihn für immer dem Vergessen anheimzugeben.

Natürlich brach ich mein Versprechen…«


Die Sonne senkte sich bereits über die Bucht, als Ismael und Irene durch die Bäume hindurch die Rückseite des Hauses am Kap erkennen konnten. Die Erschöpfung der beiden schien sich unauffällig an einen nicht allzu fernen Ort zurückgezogen zu haben, um in einem geeigneteren Moment zurückzukehren. Ismael hatte schon einmal von diesem Phänomen gehört, eine Art zweite Luft, wie sie Sportler bekamen, wenn sie die Grenze ihrer eigenen Leistungsfähigkeit überschritten. War dieser Punkt einmal überwunden, machte der Körper einfach weiter, ohne Anzeichen von Ermüdung zu zeigen. Natürlich nur, bis der Motor anhielt. War die Anstrengung vorüber, folgte die Strafe auf dem Fuße. Eine Bringschuld der Muskeln, sozusagen.

»Woran denkst du?«, fragte Irene, als sie die nachdenkliche Miene des Jungen bemerkte.

»Daran, dass ich Hunger habe.«

»Und ich erst mal. Ist das nicht seltsam?«

»Im Gegenteil. Nichts macht solchen Appetit wie ein ordentlicher Schreck…« scherzte Ismael.

Das Haus am Kap lag still da, nichts deutete darauf hin, dass jemand dort war. Zwei Reihen trockener Wäsche flatterten an der Leine im Wind. Ismael erhaschte aus den Augenwinkeln einen kurzen Blick auf etwas, bei dem es sich um Irenes Unterwäsche zu handeln schien. In Gedanken malte er sich aus, wie sie wohl darin aussehen mochte.

»Bist du in Ordnung?«, erkundigte sie sich.

Der Junge schluckte, aber er nickte.

»Nur müde und hungrig, das ist alles.«

Irene warf ihm ein unergründliches Lächeln zu. Für eine Sekunde erwog Ismael die Möglichkeit, dass alle Frauen insgeheim in der Lage sein könnten, Gedanken zu lesen. Besser, sich nicht mit leerem Magen solchen Überlegungen hinzugeben.

Das Mädchen versuchte die Hintertür des Hauses zu öffnen, aber offenbar hatte jemand von innen den Riegel vorgeschoben. Irenes Lächeln wich einer besorgten Miene.

»Mama? Dorian?«, rief sie, während sie einige Schritte zurücktrat und zu den Fenstern im ersten Stock hinaufsah.

»Versuchen wir es vorne«, sagte Ismael.

Sie folgte ihm ums Haus herum zur Veranda. Ein Teppich aus zerbrochenem Glas breitete sich vor ihren Füßen aus. Die beiden blieben stehen, und ihr Blick fiel auf die zerstörte Tür und die zerborstenen Fenster. Auf den ersten Blick sah es so aus, als hätte eine Gasexplosion die Tür aus den Angeln gehoben und einen Scherbenregen nach draußen geschleudert. Irene versuchte gegen die Kälte anzukämpfen, die aus ihrem Magen hochkroch. Vergeblich. Sie warf Ismael einen verängstigten Blick zu und wollte ins Haus gehen. Er hielt sie wortlos zurück.

»Madame Sauvelle?«, rief er von der Veranda aus.

Seine Stimme verhallte in der Tiefe des Hauses. Ismael ging vorsichtig hinein und sah sich die Lage an. Irene erschien hinter ihm. Der Aufschrei des Mädchens ging durch Mark und Bein.

Falls es ein Wort gab, um den Zustand des Hauses zu beschreiben, dann war es Verwüstung. Ismael hatte noch nie die Auswirkungen eines Tornados gesehen, aber er stellte sich vor, dass es so ähnlich aussehen musste wie das, was er hier vor sich hatte.

»Mein Gott…«

»Vorsicht mit den Scherben«, warnte der Junge.

»Mama!«

Der Schrei hallte durchs Haus, wie ein Geist, der von Zimmer zu Zimmer schwebte. Ohne Irene auch nur eine Sekunde loszulassen, trat Ismael an die Treppe und warf einen Blick in den oberen Stock.

»Gehen wir rauf«, sagte sie.

Sie gingen langsam die Treppe hinauf, während sie die Spuren betrachteten, die eine unsichtbare Kraft ringsum hinterlassen hatte. Irene bemerkte zuerst, dass Simones Schlafzimmer keine Tür mehr hatte.

»Nein…«, murmelte sie.

Ismael trat rasch in den Türrahmen und sah hinein. Nichts. Dann durchsuchten die beiden nacheinander sämtliche Zimmer im ersten Stock. Gähnende Leere.

»Wo sind sie?«, fragte das Mädchen mit bebender Stimme.

»Hier ist niemand. Lass uns wieder runtergehen.«

Soweit er sehen konnte, war der Kampf oder was auch immer dort stattgefunden hatte, heftig gewesen. Der Junge behielt seine Beobachtungen für sich, aber ein dunkler Verdacht hinsichtlich des Schicksals von Irenes Familie ging ihm durch den Kopf. Das Mädchen, das noch unter Schock schien, stand lautlos weinend am Fuß der Treppe. In ein paar Minuten würde die Hysterie einsetzen, dachte Ismael. Besser er überlegte sich etwas, und zwar schnell, bevor es so weit war. Er ging in Gedanken ein Dutzend Möglichkeiten durch, eine sinnloser als die andere, als beide zum ersten Mal das Klopfen hörten. Dann war es wieder totenstill.

Irene blickte aus verweinten Augen auf und sah Ismael fragend an. Der Junge nickte und hob einen Finger, um ihr zu bedeuten, dass sie still sein solle. Das Klopfen wiederholte sich, hart und metallisch hallte es durchs Haus. Ismael brauchte einige Sekunden, bis er diese dumpfen, dunklen Schläge einordnen konnte. Metall. Etwas oder jemand schlug irgendwo im Haus auf ein Stück Metall. Das Geräusch wiederholte sich regelmäßig. Ismael spürte das Vibrieren unter seinen Füßen, und sein Blick fiel auf eine verschlossene Tür im Flur, der in die Küche im rückwärtigen Teil des Hauses führte.

»Wohin führt diese Tür?«

»In den Keller…«, antwortete Irene.

Der Junge ging zu der Tür und presste sein Ohr an das Holz, um zu lauschen. Das Klopfen erklang zum wiederholten Mal. Ismael versuchte die Tür zu öffnen, aber sie war verriegelt.

»Ist da jemand?«, rief er.

Schritte waren zu hören, die leise die Treppe hinaufkamen.

»Sei vorsichtig«, sagte Irene.

Ismael entfernte sich von der Tür. Für einen Moment schoss ihm das Bild des Engels durch den Kopf, der aus dem Keller hervorstürzte. Doch auf der anderen Seite war nur leise eine gebrochene Stimme zu vernehmen. Irene sprang auf und rannte zur Tür.

»Dorian?«

Die Stimme stammelte etwas.

Irene sah Ismael an und nickte.

»Es ist mein Bruder…«

Der Junge stellte fest, dass eine Tür aufzubrechen– oder in diesem Fall zu zertrümmern– viel komplizierter war, als die Hörspiele im Radio vorgaben. Es vergingen gut zehn Minuten, bis die Tür schließlich dem Druck einer Eisenstange nachgab, welche sie im Vorratsschrank in der Küche gefunden hatten. Schweißüberströmt trat Ismael ein paar Schritte zurück, und Irene erledigte den Rest. Das Schloss fiel zu Boden, ein Haufen Holzsplitter ragten aus dem verrosteten, klemmenden Mechanismus. Ismael fand, dass es wie ein Igel aussah.

Ein bleicher Junge tauchte aus der Dunkelheit auf. Sein Gesicht war zu einer angsterfüllten Maske verzerrt, und seine Hände zitterten. Wie ein verschrecktes Tier schmiegte sich Dorian in die Arme seiner Schwester. Diese warf Ismael einen besorgten Blick zu. Was auch immer der Junge gesehen hatte, es hatte ihn sehr mitgenommen. Irene kniete vor ihm nieder und säuberte sein schmutziges, von getrockneten Tränen fleckiges Gesicht.

»Bist du in Ordnung, Dorian?«, fragte sie ruhig, während sie den Körper des Jungen nach Verletzungen oder Brüchen abtastete.

Dorian nickte mehrmals.

»Wo ist Mama?«

Der Junge blickte auf. In seinen Augen stand das blanke Entsetzen.

»Dorian, es ist wichtig. Wo ist Mama?«

»Er hat sie mitgenommen…«, stammelte er.

Ismael fragte sich, wie lange er dort unten im Dunkeln gehockt hatte.

»Er hat sie mitgenommen…« sagte Dorian noch einmal, als stünde er unter Hypnose.

»Wer hat sie mitgenommen, Dorian?«, fragte Irene gefasst. »Wer hat Mama mitgenommen?«

Dorian sah die beiden an und lächelte dann kläglich, als sei die Frage, die sie stellten, völlig abwegig.

»Der Schatten…«, antwortete er. »Der Schatten hat sie mitgenommen.«

Ismael und Irene sahen sich an. Sie atmete tief durch und packte ihren Bruder dann an beiden Armen.

»Dorian, ich möchte dich um etwas sehr Wichtiges bitten. Verstehst du mich?«

Er nickte.

»Du musst zur Gendarmerie ins Dorf laufen und dem Kommissar sagen, dass sich auf Cravenmoore ein schrecklicher Unfall ereignet hat. Dass Mama verletzt ist und sie so schnell wie möglich kommen sollen. Hast du mich verstanden?«

Dorian sah sie verständnislos an.

»Den Schatten darfst du nicht erwähnen. Sag nur, was ich dir aufgetragen habe. Es ist sehr wichtig… Sonst wird dir niemand glauben. Sprich nur von einem Unfall

Ismael stimmte ihr zu.

»Tu es für mich und für Mama. Bekommst du das hin?«

Dorian sah Ismael an und dann seine Schwester.

»Mama hat einen Unfall gehabt und liegt verletzt in Cravenmoore. Sie braucht dringend Hilfe«, wiederholte der Junge mechanisch. »Aber es geht ihr doch gut… Oder?«

Irene umarmte ihn lächelnd.

»Ich hab dich lieb«, flüsterte sie ihm zu.

Dorian küsste seine Schwester auf die Wange, und nachdem er sich kameradschaftlich von Ismael verabschiedet hatte, rannte er los, um sein Fahrrad zu holen. Er fand es neben dem Verandageländer. Lazarus’ Geschenk war nur noch ein Gewirr aus Draht und verbogenem Metall. Der Junge starrte auf die Reste seines Fahrrads, bis Ismael und Irene aus dem Haus kamen und den unheimlichen Fund bemerkten.

»Wer ist nur zu so etwas fähig?«, fragte Dorian.

»Du solltest dich lieber beeilen, Dorian«, erinnerte ihn Irene.

Er nickte und rannte davon. Sobald er verschwunden war, traten Irene und Ismael auf die Veranda. Die Sonne ging hinter der Bucht unter, ein düsterer Ball, der die Wolken mit Blut überzog und das Meer scharlachrot färbte. Die beiden sahen sich an, und ohne dass Worte nötig waren, wussten sie, was sie im Herzen der Finsternis jenseits des Waldes erwartete.

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