6. Das Tagebuch der Alma Maltisse

Am nächsten Morgen war alles in eine Nebeldecke gehüllt. Als der Tag anbrach, war Irene immer noch in die Lektüre des Tagebuchs vertieft, das Ismael ihr überlassen hatte. Was vor Stunden als bloße Neugier begonnen hatte, war im Laufe der Nacht immer stärker geworden und hatte sich schließlich in Besessenheit verwandelt. Mit der ersten, von der Zeit ausgeblichenen Zeile an hatten sich die handschriftlichen Aufzeichnungen dieser mysteriösen, in den Wassern der Bucht verschollenen Dame zu einem fesselnden Geheimnis entwickelt, einem ungelösten Rätsel, das das Mädchen nicht einmal an Schlaf denken ließ.


… Heute habe ich zum ersten Mal das Gesicht des Schattens gesehen. Reglos lauernd, hat er mich stumm aus der Dunkelheit beobachtet. Ich weiß genau, was in diesen Augen lag, was ihn am Leben hält: Hass. Ich konnte seine Gegenwart spüren und wusste, dass sich unsere Tage an diesem Ort früher oder später in einen Alptraum verwandeln werden. Jetzt wird mir klar, dass er meine ganze Hilfe braucht und dass ich ihn, was auch immer geschieht, nicht allein lassen kann…


Seite um Seite schien die eigentümliche Stimme dieser Frau Irene etwas zuzuraunen, ihr Geheimnisse anzuvertrauen, die jahrelang versunken und vergessen gewesen waren. Sechs Stunden, nachdem sie mit dem Lesen des Tagebuchs begonnen hatte, war die unbekannte Frau zu einer Art unsichtbarer Freundin geworden, eine Stimme aus dem Nebel, die in Ermangelung eines anderen Trostes sie ausgewählt hatte, um ihr Innerstes zu offenbaren, ihre Erinnerungen und das Rätsel jener Nacht mitzuteilen, als sie im kalten Wasser der Leuchtturminsel den Tod gefunden haben musste, damals, in jener Septembernacht.


… Es ist wieder passiert. Diesmal waren es meine Kleider. Als ich heute Morgen mein Ankleidezimmer betrat, stand die Tür meines Schranks weit offen und alle meine Kleider, die Kleider, die er mir über die Jahre geschenkt hat, waren zerfetzt, wie von Hunderten von Messern zerschlitzt. Vor sieben Tagen war es mein Verlobungsring. Ich fand ihn verbogen und völlig zerstört auf dem Fußboden. Andere Schmuckstücke sind verschwunden. Die Spiegel in meinem Zimmer wurden zerkratzt. Mit jedem Tag wird seine Gegenwart stärker und seine Wut greifbarer. Es ist nur eine Frage der Zeit, bis seine Angriffe nicht mehr länger meinem Besitz gelten und sich gegen mich richten. Ich bin es, die er hasst. Ich bin es, die er tot sehen will. An diesem Ort ist kein Platz für uns beide…


Die Morgendämmerung hatte einen kupfergoldenen Teppich über das Meer gebreitet, als Irene auf der letzten Seite des Tagebuchs angelangt war. Ihr ging durch den Kopf, dass sie noch nie zuvor so viel über jemanden gewusst hatte. Noch nie hatte ein Mensch, nicht einmal ihre Mutter, die Geheimnisse seiner Seele mit solcher Aufrichtigkeit vor ihr ausgebreitet wie dieses Tagebuch einer Frau, die sie gar nicht kannte. Einer Frau, die Jahre vor ihrer Geburt gestorben war.


… Ich habe niemanden, mit dem ich reden kann, niemanden, dem ich die Ängste offenbaren kann, die sich Tag für Tag meiner Seele bemächtigen. Manchmal würde ich gerne zurückgehen, auf meinem Weg durch die Zeit umkehren. Dann wird mir klar, dass meine Angst und meine Trauer nicht mit seiner vergleichbar sind, dass er mich braucht und dass ohne mich sein Licht für immer verlöschen würde. Ich bitte Gott nur, dass er uns die Kraft gibt, zu überleben, dem Schatten zu entfliehen, der sich über uns legt. Bei jeder Zeile, die ich in dieses Tagebuch schreibe, kommt es mir vor, als sei es die letzte.


Aus irgendeinem Grund, stellte Irene fest, war ihr zum Heulen zumute. Stumm vergoss sie ihre Tränen in Gedanken an die unsichtbare Dame, deren Tagebuch ein Licht in ihrem eigenen Inneren entzündet hatte. Was die Identität der Schreiberin anging, gab das Tagebuch allerdings nur zwei Wörter oben auf der ersten Seite preis.


Alma Maltisse


Kurz darauf sah Irene das Segel der Kyaneos aus dem Nebeldunst vor dem Haus am Kap auftauchen. Sie nahm das Tagebuch und schlich auf Zehenspitzen zu ihrem zweiten Treffen mit Ismael.


Nach wenigen Minuten hatte das Boot die Strömung hinter sich gelassen, die gegen die Spitze des Kaps drängte, und erreichte die Schwarze Bucht. Das Morgenlicht warf scharfe Schattenrisse auf die Steilklippen, die weite Teile der normannischen Küste bestimmten, schroffe Felswände, die dem rauen Ozean trotzten. Sonnenreflexe aus Gischt und gleißendem Silber flirrten auf dem Wasser. Der Nordwind trieb das Segelboot kräftig vorwärts, der Kiel durchschnitt die Wasseroberfläche wie ein Schwert. Für Ismael war es reine Routine, für Irene Tausendundeine Nacht.

Einer unerfahrenen Seglerin wie ihr schien dieses überbordende Schauspiel aus Licht und Wasser Tausende Abenteuer und Geheimnisse zu verheißen, die unter der Meeresoberfläche darauf warteten, entdeckt zu werden. Ismael, der am Ruder saß, lächelte ungewöhnlich viel und nahm Kurs auf die Lagune. Irene, umfangen vom Zauber des Meeres, berichtete weiter, was sie bei der ersten Lektüre von Alma Maltisse Tagebuch herausgefunden hatte.

»Sie hat es offensichtlich für sich selbst geschrieben«, erklärte sie. »Es ist merkwürdig, dass sie niemanden mit Namen erwähnt. Es ist, als erzählte sie von lauter Unsichtbaren.«

»Es ist völlig unverständlich«, stellte Ismael fest, der bereits vor einiger Zeit an der Lektüre des Tagebuchs gescheitert war.

»Überhaupt nicht«, widersprach Irene. »Es ist nur so, dass man eine Frau sein muss, um es zu verstehen.«

Angesichts dieser Behauptung wollten Ismaels Lippen eine Erwiderung formen, doch aus irgendeinem Grund behielt er seine Gedanken für sich.

Bald hatte sie der Wind von achtern zur Einfahrt der Lagune gebracht. Ein schmaler Durchlass zwischen den Felsen führte in einen natürlichen Hafen. Das Wasser in der Lagune, kaum drei bis vier Meter tief, bildete einen durchsichtigen, smaragdgrünen Garten, und der sandige Grund wellte sich unter ihren Füßen wie ein zarter weißer Schleier. Irene lauschte staunend der Verzauberung nach, in die sie der sanfte Bogen der Lagune versetzte. Ein Fischschwarm tanzte unter dem Rumpf der Kyaneos wie silbrig glitzernde Pfeile.

»Das ist unglaublich«, stammelte Irene.

»Das ist die Lagune«, erklärte Ismael prosaisch.

Dann holte er die Segel ein und warf den Anker, während das Mädchen noch unter dem ersten Eindruck dieser Umgebung stand. Die Kyaneos schaukelte sanft hin und her wie ein Blatt auf einem stillen See.

»Also, willst du die Grotte nun sehen oder nicht?«

Irenes einzige Antwort bestand in einem herausfordernden Lächeln, und ohne den Blick von ihm abzuwenden, zog sie langsam ihr Kleid aus. Ismael bekam Augen so groß wie Untertassen. Nicht einmal in seinen wildesten Phantasien hatte er mit einem solchen Auftritt gerechnet. Irene, die nun einen eng anliegenden Badeanzug trug, der so knapp war, dass er in den Augen ihrer Mutter diesen Namen niemals verdient hätte, grinste, als sie Ismaels Gesichtsausdruck sah. Nachdem sie ihn einige Sekunden mit ihrem Anblick becirct hatte, gerade lang genug, dass er sich nicht daran gewöhnen konnte, sprang sie ins Wasser und tauchte unter die sanft wogende, schimmernde Oberfläche. Ismael schluckte. Entweder er war eine lahme Schnecke oder dieses Mädchen war zu schnell für ihn. Ohne lange zu überlegen, sprang er hinter ihr ins Wasser. Er brauchte eine Abkühlung.

Ismael und Irene schwammen zum Eingang der Fledermausgrotte. Der Tunnel verschwand im Fels wie eine in Stein gehauene Kathedrale. Eine schwache Strömung kam aus dem Inneren und strich unter Wasser über ihre Haut. Das Innere der Meeresgrotte erweiterte sich zu einer Kuppel mit Hunderten langer Felsnadeln, die in die Tiefe hingen wie versteinerte Tränen aus Eis. Glitzerndes Wasser fing sich in zahllosen Nischen zwischen den Felsen, und von dem sandigen Boden ging ein geisterhaftes, phosphoreszierendes Leuchten aus, das einen Teppich aus Licht im Inneren der Grotte ausbreitete.

Irene tauchte und öffnete unter Wasser die Augen. Eine Welt aus tanzenden Lichtreflexen schwebte vor ihr, bevölkert von seltsamen, faszinierenden Kreaturen. Kleine Fische, deren Schuppen je nach Lichteinfall die Farbe wechselten. Bunt schillernde Pflanzen auf den Felsen. Winzige Krebse, die über den sandigen Meeresboden krabbelten. Das Mädchen betrachtete das Leben in der Grotte, bis ihr die Luft ausging.

»Wenn du so weitermachst, wächst dir noch ein Fischschwanz wie den Meerjungfrauen«, sagte Ismael.

Sie zwinkerte ihm zu und küsste ihn im gedämpften Licht der Grotte.

»Ich bin eine Meerjungfrau«, flüsterte sie, während sie tiefer in die Fledermausgrotte hineinschwamm.

Ismael wechselte einen Blick mit einem gleichmütigen Krebs, der ihn von der Felswand aus musterte und ein menschenkundliches Interesse an der Szene zu haben schien. Der wissende Blick des Schalentieres ließ keinen Zweifel. Man machte sich wieder über ihn lustig.


Ein ganzer Fehltag, dachte Simone. Hannah war seit Stunden verschwunden, ohne Bescheid zu geben. Simone fragte sich, ob sie es mit einem rein disziplinarischen Problem zu tun hatte. Hoffentlich war es so. Sie hatte den ganzen Sonntag damit verbracht, auf Nachrichten von dem Mädchen zu warten. Wahrscheinlich hatte es nach Hause gemusst, dachte sie. Eine kleine Unpässlichkeit. Eine unvorhergesehene Verpflichtung. Sie hätte sich mit jeder Erklärung zufriedengegeben. Nach stundenlangem Warten beschloss sie, etwas zu unternehmen. Sie wollte gerade zum Hörer greifen, um bei Hannah zu Hause anzurufen, als ihr ein eingehender Anruf zuvorkam. Die Stimme am anderen Ende kam ihr unbekannt vor, und die Art und Weise, wie sich ihr Besitzer vorstellte, trug nicht eben dazu bei, sie zu beruhigen.

»Guten Tag, Madame Sauvelle. Mein Name ist Henri Faure. Ich bin der Chefinspektor der Gendarmerie von Baie Bleue«, erklärte er, und jedes Wort klang bedeutungsschwerer als das vorherige.

In der Leitung herrschte angespanntes Schweigen.

»Madame?«, fragte der Polizist schließlich.

»Ich höre.«

»Es fällt mir nicht leicht, Ihnen das mitzuteilen…«


Dorian hatte seine Botengänge für diesen Tag beendet. Die Aufträge, die Simone ihm anvertraut hatte, waren alle erledigt, und die Aussicht auf einen freien Nachmittag beflügelte ihn. Als er zum Haus am Kap kam, war Simone noch nicht von Cravenmoore zurück und seine Schwester Irene musste sich irgendwo mit diesem Freund herumtreiben, den sie sich geangelt hatte. Nachdem er ein paar Gläser kalte Milch heruntergestürzt hatte, kam ihm das leere Haus ohne die Frauen ein wenig unheimlich vor. Man gewöhnte sich so an sie, dass die Stille irgendwie beunruhigend war.

Dorian beschloss, die Stunden zu nutzen, die es noch hell sein würde, um den Wald von Cravenmoore zu erkunden. Genau wie Simone vorhergesagt hatte, waren die unheimlichen Schatten bei Tageslicht nichts weiter als Bäume, Büsche und Gestrüpp. Mit diesem Gedanken ging der Junge immer tiefer in den dichten, labyrinthischen Wald hinein, der zwischen dem Haus am Kap und Lazarus Janns Anwesen lag.

Er war zehn Minuten ohne festes Ziel umhergestreift, als er zum ersten Mal auf Spuren stieß, die von den Klippen in den Wald hineinführten und am Rand einer Lichtung auf unerklärliche Weise verschwanden. Der Junge kniete nieder und betastete die Spuren, undeutliche Abdrücke, die sich tief in den Waldboden gegraben hatten. Wer oder was auch immer diese Abdrücke hinterlassen hatte, besaß ein beachtliches Gewicht. Dorian untersuchte noch einmal das letzte Stück der Spur bis zu der Stelle, wo sie verschwand. Wenn man den Indizien Glauben schenken durfte, war derjenige, der sie verursacht hatte, an dieser Stelle stehen geblieben und hatte sich in Luft aufgelöst.

Er sah nach oben und betrachtete das Gewirr aus Licht und Schatten in den Baumkronen. Einer von Lazarus’ Vögeln flatterte in den Zweigen. Dem Jungen lief es kalt den Rücken hinunter. Gab es kein einziges lebendes Tier in diesem Wald? Die einzig greifbare Gegenwart war jene dieser mechanischen Geschöpfe, die aus den Schatten auftauchten und wieder verschwanden, ohne dass man sich vorstellen konnte, woher sie kamen und wohin sie gingen. Sein Blick wanderte weiter über das Blätterwerk des Waldes und blieb dann an einer tiefen Scharte in einem nahen Baum hängen. Dorian trat zu dem Baumstamm und nahm die Stelle in Augenschein. Irgendetwas hatte eine tiefe Wunde ins Holz geschlagen. Ähnliche Schrammen zogen sich den ganzen Stamm hinauf bis zum Wipfel. Der Junge schluckte heftig und beschloss, das Weite zu suchen.


Ismael schwamm mit Irene zu einem kleinen, flachen Felsen, der in der Mitte der Grotte einige Handbreit aus dem Wasser ragte, und die beiden legten sich darauf, um ein wenig auszuruhen. Das Licht, das durch den Höhleneingang fiel, wurde im Inneren reflektiert und warf seltsam tanzende Schemen auf die Kuppel und die Wände der Grotte. Das Wasser schien hier wärmer zu sein als im offenen Meer, ein zarter Dunstschleier stieg daraus empor.

»Gibt es noch mehr Zugänge zu der Höhle?«, fragte Irene.

»Noch einen, aber der ist gefährlich. Der einzig sichere Weg hinein und heraus führt über das Meer, durch die Lagune.«

Das Mädchen betrachtete das Schauspiel des sich stetig verändernden Lichts, in dem das Innere der Höhle lag. Von diesem Ort ging eine unwiderstehliche, hypnotische Stimmung aus. Für einige Sekunden glaubte sich Irene im großen Saal eines Felspalastes, an einem sagenhaften Ort, der nur im Traum existieren konnte.

»Es ist… magisch«, sagte sie.

Ismael nickte zustimmend.

»Manchmal komme ich hierher und sitze stundenlang auf einem der Felsen, während ich zusehe, wie das Licht unter Wasser die Farbe wechselt. Es ist meine persönliche Kirche…«

»Weit weg von der Welt, nicht wahr?«

»So weit, wie du dir nur vorstellen kannst.«

»Du magst die Menschen nicht besonders, stimmt’s?«

»Kommt auf die Menschen an«, antwortete er mit einem Lächeln auf den Lippen.

»Ist das ein Kompliment?«

»Vielleicht.«

Der Junge sah rasch weg und betrachtete den Höhleneingang.

»Wir sollten jetzt besser gehen. Die Flut wird bald kommen.«

»Na und?«

»Bei Flut drückt die Strömung in die Grotte, und die Höhle füllt sich bis zur Decke mit Wasser. Es ist eine tödliche Falle. Dann sitzt du fest und ersäufst wie eine Ratte.«

Plötzlich verwandelte sich die Magie des Ortes in eine Bedrohung. Irene stellte sich vor, wie die Höhle mit eiskaltem Wasser volllief, ohne eine Möglichkeit, zu entkommen.

»Kein Grund zur Eile…«, beschwichtigte Ismael.

Ohne lange abzuwarten, schwamm Irene zum Ausgang und hielt nicht eher inne, bis die Sonne ihr wieder zulachte. Er beobachtete sie dabei und lächelte vor sich hin. Das Mädchen hatte Mut.

Die Rückfahrt verlief schweigend. Die Seiten des Tagebuchs hallten in Irenes Kopf wider wie ein Echo, das nicht verstummen wollte. Eine dichte Wolkenbank war am Himmel aufgezogen, die Sonne war verschwunden, und das Meer hatte einen bleiernen, metallischen Ton angenommen. Der Wind war kühler geworden, und Irene schlüpfte wieder in ihr Kleid. Diesmal sah Ismael kaum hin, als sie sich anzog, ein Zeichen dafür, dass der Junge seinen eigenen Gedanken nachhing, wie auch immer diese aussehen mochten.

Am späten Nachmittag umfuhr die Kyaneos das Kap und hielt auf das Haus der Sauvelles zu, während die Leuchtturminsel im Dunst versank. Ismael steuerte das Boot zum Anleger und vertäute es sorgfältig wie immer, obwohl man merkte, dass er mit seinen Gedanken meilenweit entfernt war.

Als der Moment des Abschieds gekommen war, ergriff Irene die Hand des Jungen.

»Danke, dass du mich in die Höhle mitgenommen hast«, sagte sie, während sie an Land sprang.

»Du bedankst dich dauernd, und ich weiß nicht, wofür… Ich danke dir, dass du mitgekommen bist.«

Irene hätte ihn zu gerne gefragt, wann sie sich wieder sehen würden, doch ein weiteres Mal riet ihr Instinkt ihr, zu schweigen. Ismael machte das Bugtau los, und die Kyaneos wurde von der Strömung davongetragen. Irene blieb an der steinernen Treppe stehen, die die Klippe hinaufführte, und sah zu, wie sich das Segelboot entfernte. Ein Schwarm Möwen begleitete es auf seinem Weg zu den Lichtern der Mole. Der Mond zwischen den Wolken spannte eine silbrig glitzernde Brücke über das Meer, die das Segelboot zurück zum Dorf geleitete.

Auf ihrem Weg die steinerne Treppe hinauf hatte Irene ein Lächeln auf den Lippen, das niemand sehen konnte. Dieser Junge gefiel ihr wahnsinnig gut…


Als sie ins Haus kam, merkte Irene sofort, dass etwas nicht stimmte. Alles war zu aufgeräumt, zu still, zu ruhig. Das Licht im Wohnzimmer leuchtete in der bläulichen Dämmerung dieses wolkenverhangenen Abends. Dorian saß in einem Sessel und starrte schweigend in die Flammen des Kamins. Simone stand mit dem Rücken zur Tür an dem großen Fenster in der Küche und blickte aufs Meer hinaus, eine Tasse kalten Kaffees in der Hand. Das einzige Geräusch war das Säuseln des Windes, der über das Dach strich.

Dorian und seine Schwester wechselten einen Blick. Dann ging Irene zu ihrer Mutter und legte ihr die Hand auf die Schulter. Simone Sauvelle drehte sich um. In ihren Augen standen Tränen.

»Was ist passiert, Mama?«

Ihre Mutter umarmte sie. Irene drückte die Hände ihrer Mutter. Sie waren kalt. Sie zitterten.

»Es ist wegen Hannah«, flüsterte Simone.

Langes Schweigen. Der Wind rüttelte an den Fensterläden des Hauses.

»Sie ist tot«, setzte sie hinzu.

Langsam, wie ein Kartenhaus, brach die Welt rings um Irene zusammen.

Загрузка...