In jener Nacht des Jahres 1937 wurden die absonderlichen Kreaturen, die das Universum des Lazarus Jann bevölkert hatten, eine nach der anderen ein Raub der Flammen. Die Zeiger sprechender Uhren zerschmolzen zu Fäden aus glühendem Blei. Tänzerinnen und mechanische Orchester, Zauberer, Hexen und Schachspielautomaten, Wunderwerke, für die es kein Morgen mehr geben würde… keines von ihnen wurde verschont. Stockwerk für Stockwerk, Zimmer für Zimmer löschte der Geist der Zerstörung für immer alles aus, was dieser magische Ort des Schreckens an Schätzen barg.
Jahrzehnte der Phantasie gingen in Rauch auf und ließen nur ein Häufchen Asche zurück. Nur die Flammen waren Zeuge, wie irgendwo in diesem Inferno die Fotografien und Zeitungsausschnitte verglühten, die Lazarus Jann gesammelt hatte, und als die Rettungskräfte vor diesem gespenstischen Scheiterhaufen vorfuhren, der den mitternächtlichen Himmel erleuchtete, schloss der verängstigte Knabe von damals in einem Zimmer, in dem es kein Spielzeug gab und niemals geben würde, für immer die Augen.
Niemals in seinem Leben würde Ismael diese letzten Augenblicke von Lazarus und seiner Gefährtin vergessen. Das Letzte, was er hatte sehen können, war, wie Lazarus sie auf die Stirn küsste. Damals schwor er sich, dass er ihr Geheimnis bis ans Ende seiner Tage für sich behalten würde.
Das erste Tageslicht enthüllte eine Wolke aus Asche, die über die purpurrote Bucht dem Horizont entgegenzog. Als sich in der Morgendämmerung der Nebel über dem Strand des Engländers lichtete, zeichneten sich langsam die Ruinen von Cravenmoore hinter den Wipfeln des Waldes ab. Rauchspiralen stiegen in den Himmel und malten Bahnen aus schwarzem Samt auf die Wolken, durchbrochen nur von Vogelschwärmen, die gen Westen flogen.
Die Nacht zog sich nur zögerlich zurück, und der kupferfarbene Dunst, der weiter draußen die Leuchtturminsel umhüllte, zerfloss zu einem Truggebilde aus weißen Flügeln, das in der morgendlichen Brise emporschwebte.
Irene und Ismael saßen im weißen Sand, irgendwo im Nirgendwo, und betrachteten die letzten Minuten jener langen Sommernacht des Jahres 1937. Schweigend hielten sie sich an den Händen und sahen zu, wie die ersten rosaroten Sonnenstrahlen, die durch die Wolken brachen, eine Kette aus glitzernden Perlen übers Meer streuten. Der Leuchtturm ragte dunkel und einsam aus dem Dunst. Ein Lächeln huschte über Irenes Lippen, als sie begriff, dass jene Lichter, die die Einheimischen im Nebel hatten aufleuchten sehen, nun für immer verlöschen würden. Die Septemberlichter waren mit der Morgendämmerung verschwunden.
Nichts, nicht einmal die Erinnerung an die Ereignisse jenes Sommers, würde die umherirrende, in der Zeit verlorene Seele der Alma Maltisse auf ihrem letzten Weg noch länger aufhalten können. Während die Brandung diese Gedanken davontrug, sah Irene zu Ismael hinüber. Die Andeutung einer Träne glitzerte in seinen Augen, doch das Mädchen wusste, dass er sie niemals weinen würde.
»Gehen wir nach Hause«, sagte er.
Irene nickte, und gemeinsam liefen sie am Strand entlang zum Haus am Kap. Dabei ging dem Mädchen nur ein einziger Gedanke durch den Kopf. In einer Welt voller Licht und Schatten mussten alle, musste jeder Einzelne von uns seinen eigenen Weg finden.
Als Simone ihnen Tage später anvertraute, was ihr der Schatten über die wahre Geschichte von Lazarus Jann und Alma Maltisse erzählt hatte, begannen sich alle Bruchstücke des Rätsels zusammenzufügen. Doch die Tatsache, dass nun Licht auf das fiel, was sich wirklich ereignet hatte, änderte nichts mehr am Lauf der Dinge. Der Fluch hatte Lazarus Jann von seiner tragischen Kindheit bis in den Tod verfolgt. Einen Tod, von dem er im letzten Moment begriff, dass er der einzige Ausweg war. Ihm blieb nichts anderes mehr, als seine letzte Reise anzutreten, um sich wieder mit Alma zu vereinen, nun unerreichbar für seinen Schatten und den bösen Zauber jenes unbekannten Herrschers der Schattenwelt, der sich hinter dem Namen Daniel Hoffmann verbarg. Nicht einmal er würde mit all seiner Macht und seinen Machenschaften jemals das Band zerreißen können, das Lazarus und Alma jenseits von Leben und Tod vereinte.
Paris, 26.Mai 1947
Lieber Ismael,
es ist viel Zeit vergangen, seit ich Dir das letzte Mal schrieb. Zu viel Zeit. Vor knapp einer Woche schließlich geschah das Wunder. Alle Briefe, die Du mir in diesen Jahren an meine alte Adresse geschrieben hast, wurden mir durch eine freundliche Nachbarin überbracht, eine alte Frau von fast neunzig Jahren. Sie hatte sie all diese Zeit aufbewahrt in der Hoffnung, irgendwann werde sie jemand abholen kommen.
In diesen letzten Tagen habe ich sie wieder und wieder gelesen, bis zum Überdruss. Ich habe sie gehütet wie meinen wertvollsten Schatz. Es fällt mir schwer, die Gründe für mein Schweigen, die lange Abwesenheit, zu erklären. Insbesondere Dir, Ismael. Ganz besonders Dir.
Die beiden Jugendlichen damals am Strand hatten keine Ahnung, dass sich nach dem Morgen, an dem Lazarus Janns Schatten für immer verschwand, ein noch viel schrecklicherer Schatten über die Welt legen würde. Der Schatten des Hasses. Wir alle dachten wohl an jene Worte über Daniel Hoffmann und seine »Aufgabe« in Berlin.
Als ich in jenen schrecklichen Kriegsjahren den Kontakt zu Dir verlor, schrieb ich Dir Hunderte von Briefen, die nie ankamen. Ich frage mich noch immer, wo sie wohl sind, wo all diese Sätze, all diese Dinge geblieben sind, die ich Dir sagen wollte. Du sollst wissen, dass die Erinnerung an Dich und an jenen Sommer in der Blauen Bucht in diesen furchtbaren Zeiten der Finsternis die Flamme war, die mich am Leben hielt, die Kraft, die mir half, Tag um Tag zu überstehen.
Du wirst erfahren haben, dass Dorian eingezogen wurde und zwei Jahre in Nordafrika diente, von wo er mit einem Haufen absurder Blechmedaillen und einer Verletzung zurückkehrte, durch die er für den Rest seines Lebens hinken wird. Und er war einer der Glücklichen. Er kehrte zurück. Es wird Dich freuen, zu hören, dass er schließlich eine Anstellung im Kartographenamt der Handelsmarine bekam und in den raren Momenten, in denen seine Verlobte Michelle ihn lässt (Du müsstest sie sehen…), mit der Zirkelspitze Punkt für Punkt die Welt durchmisst.
Was soll ich Dir über Simone erzählen? Ich beneide sie um ihre Stärke und diese Beharrlichkeit, mit der sie uns alle so häufig durchgebracht hat. Die Kriegsjahre sind hart für sie gewesen, vielleicht noch mehr als für uns. Sie spricht nie darüber, aber manchmal, wenn ich sie schweigend am Fenster stehen sehe, wie sie die Vorübergehenden betrachtet, frage ich mich, was wohl in ihrem Kopf vorgehen mag. Sie will das Haus nicht mehr verlassen und verbringt die Stunden in Gesellschaft von Büchern. Es ist, als wäre sie auf die andere Seite einer Brücke gegangen, zu der ich keinen Zutritt habe … Manchmal überrasche ich sie dabei, wie sie alte Fotos von Papa betrachtet und dabei still vor sich hin weint.
Was mich betrifft, mir geht es gut. Vor einem Monat habe ich im Lazarett Saint Bernard aufgehört, wo ich in den vergangenen Jahren gearbeitet hatte. Es wird abgerissen. Hoffentlich verschwinden mit dem alten Gebäude auch die Erinnerungen an das Leid und den Schrecken, die ich während des Krieges dort miterlebt habe. Ich glaube, auch ich bin nicht mehr dieselbe, Ismael. In mir drinnen ist etwas geschehen.
Ich habe vieles gesehen, von dem ich niemals dachte, dass es so etwas geben könne… Die Welt ist voller Schatten, Ismael. Schatten, die viel schlimmer sind als alles, wogegen wir beide in jener Nacht in Cravenmoore gekämpft haben. Schatten, neben denen Daniel Hoffmann nichts weiter ist als ein Kinderspielzeug. Schatten, die jeder Einzelne von uns in sich trägt.
Manchmal bin ich froh, dass Papa sie nicht mehr sehen muss. Du wirst denken, dass ich eine wehmütige Träumerin geworden bin. Ganz und gar nicht. Als ich Deinen letzten Brief las, machte mein Herz einen Satz. Es war, als wäre nach zehn dunklen, regenverhangenen Jahren die Sonne wieder aufgegangen. Ich lief wieder am Strand des Engländers entlang, erkundete die Leuchtturminsel, segelte an Bord der Kyaneos durch die Bucht. In meiner Erinnerung werden diese Tage immer die wundervollsten meines Lebens sein.
Ich will Dir ein Geheimnis verraten. In den langen Winternächten des Krieges, wenn die Schüsse und die Schreie durch die Dunkelheit hallten, wanderten meine Gedanken oft dorthin zurück, zu Dir, zu jenem Tag, den wir gemeinsam auf der Leuchtturminsel verbrachten. Hätten wir diesen Ort doch nie verlassen! Wäre dieser Tag doch nie zu Ende gegangen!
Vermutlich wirst Du Dich fragen, ob ich geheiratet habe. Die Antwort lautet nein. Nicht dass Du glaubst, es hätte an Verehrern gemangelt. Ich bin immer noch eine recht begehrte junge Frau. Es gab ein paar Liebeleien. Sie kamen und gingen. Die Kriegstage waren zu hart, um alleine zu sein, und ich bin nicht so stark wie Simone. Aber mehr war es nicht. Ich habe gelernt, dass das Alleinsein manchmal ein Weg ist, der zum Frieden führt. Und monatelang habe ich mir nichts mehr gewünscht als das: Frieden.
Das ist alles. Oder nichts. Wie soll ich Dir all meine Gefühle, all meine Erinnerungen dieser Jahre schildern? Am liebsten würde ich sie mit einem Federstrich tilgen. Ich wünschte, meine letzte Erinnerung wäre die an jenen Sonnenaufgang am Strand und ich würde feststellen, dass all diese Zeit nur ein langer Alptraum gewesen ist. Ich wäre gerne wieder ein fünfzehnjähriges Mädchen, das die Welt um sich herum nicht begreift, doch das ist unmöglich.
Ich will nicht mehr schreiben. Beim nächsten Mal würde ich gerne persönlich mit Dir sprechen.
In einer Woche wird Simone für ein paar Monate zu ihrer Schwester nach Aix-en-Provence fahren. An diesem Tag werde ich zur Gare d’Austerlitz gehen und wie vor zehn Jahren den Zug in die Normandie nehmen. Ich weiß, dass Du mich erwarten wirst, und ich weiß, dass ich Dich in der Menge erkennen werde, so wie ich Dich auch erkennen würde, wenn tausend Jahre vergangen wären. Das weiß ich schon lange.
Vor einer Ewigkeit, in den schlimmsten Tagen des Krieges, hatte ich einen Traum. Darin ging ich mit Dir am Strand des Engländers entlang. Die Sonne ging unter, und die Leuchtturminsel war im Dunst zu erkennen. Alles war wie früher: das Haus am Kap, die Bucht… Sogar die Ruinen von Cravenmoore hinter dem Wald. Alles, nur wir nicht. Wir waren alt geworden. Du konntest nicht mehr zur See fahren, und meine Haare waren schlohweiß. Aber wir waren zusammen.
Seit jener Nacht wusste ich, dass irgendwann, ganz gleich, wann, unser Augenblick kommen würde. Dass an einem fernen Ort die Septemberlichter für uns aufleuchten würden und diesmal keine Schatten auf unseren Weg fielen.
Diesmal würde es für immer sein.