Das Meer brach sich donnernd am Eingang der Fledermausgrotte. Die kalte Strömung aus der Schwarzen Bucht floss gurgelnd in die Rinnen im Fels, ein beängstigendes Geräusch, das in der in Dunkelheit getauchten Grotte widerhallte. Über ihnen war in unerreichbarer Ferne die Öffnung im Fels zu sehen, die an das Auge einer Kuppel erinnerte. In wenigen Minuten war der Wasserstand um mehrere Zentimeter gestiegen. Irene stellte bald fest, dass die Felsfläche, auf der sie wie Schiffbrüchige kauerten, immer kleiner wurde. Millimeter für Millimeter.
»Die Flut kommt«, murmelte sie.
Ismael nickte nur niedergeschlagen.
»Was wird jetzt mit uns geschehen?«, fragte sie, auch wenn sie die Antwort erahnte. Aber sie hoffte, der Junge, der doch immer für eine Überraschung gut war, werde im letzten Augenblick irgendeinen Trumpf aus dem Ärmel schütteln.
Er warf ihr einen düsteren Blick zu, der Irenes Hoffnungen augenblicklich zunichte machte.
»Wenn das Wasser steigt, versperrt es den Höhleneingang«, erklärte Ismael. »Und dann bleibt kein anderer Ausweg mehr als die Öffnung in der Höhlendecke, aber die ist von hier aus unerreichbar.«
Er machte eine Pause, und sein Gesicht versank in der Dunkelheit.
»Wir sitzen in der Falle, draußen ist die Strömung zu stark«, sagte er schließlich.
Die Vorstellung der langsam ansteigenden Flut, die sie in einem dunklen, kalten Alptraum wie Ratten ertränkte, ließ Irene das Blut in den Adern gefrieren. Auf ihrer Flucht vor dem mechanischen Ungeheuer hatte die Aufregung so viel Adrenalin in ihre Adern gepumpt, dass sie nicht mehr klar denken konnte. Während sie nun in der Dunkelheit vor Kälte zitterte, kam ihr die Aussicht auf einen langsamen Tod unerträglich vor.
»Es muss doch einen Weg geben, hier herauszukommen«, wandte sie ein.
»Nein, gibt es nicht.«
»Und was machen wir jetzt?«
»Fürs Erste, abwarten…«
Irene begriff, dass sie den Jungen auf der Suche nach Antworten nicht weiter bedrängen durfte. Wahrscheinlich stand er, der die Gefahren der Höhle kannte, größere Ängste aus als sie. Und recht betrachtet, konnte ihnen ein Themenwechsel nicht schaden.
»Noch etwas…«, begann sie. »In Cravenmoore… Als ich in dieses Zimmer kam, habe ich dort etwas gesehen. Etwas über Alma Maltisse…«
Ismael warf ihr einen unergründlichen Blick zu.
»Ich glaube… Ich glaube, Alma Maltisse und Alexandra Jann sind ein und dieselbe Person. Alma Maltisse war Alexandras Mädchenname, bevor sie Lazarus heiratete«, erklärte Irene.
»Das ist unmöglich. Alma Maltisse ist vor Jahren vor der Leuchtturminsel ertrunken«, wandte Ismael ein.
»Aber ihre Leiche wurde nie gefunden…«
»Es ist unmöglich«, beharrte der Junge.
»Als ich in diesem Zimmer war, habe ich ein Bild von ihr gesehen… Und da lag jemand im Bett. Eine Frau.«
Ismael rieb sich die Augen und versuchte seine Gedanken zu ordnen.
»Einen Moment. Mal angenommen, du hättest recht. Mal angenommen, Alma Maltisse und Alexandra Jann wären ein und dieselbe Person. Wer ist dann die Frau, die du auf Cravenmoore gesehen hast? Wer ist die Frau, die all diese Jahre unter der Identität von Lazarus’ kranker Frau dort gelebt hat?«, fragte er.
»Ich weiß es nicht. Je mehr wir über diese Sache herausfinden, desto weniger verstehe ich«, sagte Irene. »Und da ist noch etwas, das mich beschäftigt. Was hat diese Figur zu bedeuten, die wir in der Spielzeugfabrik gesehen haben? Es war eine Nachbildung meiner Mutter. Schon bei dem Gedanken stehen mir die Haare zu Berge. Lazarus baut eine Puppe mit dem Gesicht meiner Mutter…«
Eiskaltes Wasser umspülte ihre Knöchel. Seit sie dort saßen, war der Meeresspiegel mindestens eine Handbreit angestiegen. Die beiden wechselten einen erschreckten Blick. Das Meer donnerte erneut, und ein Wasserschwall schwappte in den Höhleneingang. Es versprach eine sehr lange Nacht zu werden.
Um Mitternacht hatte sich ein Nebelschleier über die Klippen gelegt, der nun Stufe für Stufe vom Anleger zum Haus am Kap hinaufkroch. Auf der Veranda baumelte noch die Öllampe, deren Licht nur noch müde flackerte. Abgesehen vom Rauschen des Meeres und dem Rascheln der Blätter im Wald herrschte absolute Stille. Dorian lag im Bett, in der Hand ein kleines Glas mit einer brennenden Kerze darin. Er wollte nicht, dass seine Mutter das Licht sah, und außerdem hatte er nach dem Vorgefallenen kein Vertrauen mehr in seine Nachttischlampe. Die Flamme flackerte launisch in seinem Atem wie eine tanzende Feuerelfe. Lichtreflexe ließen in jeder Ecke unerwartete Formen erstehen. Dorian seufzte. In dieser Nacht würde er für kein Geld der Welt ein Auge zutun können.
Kurz nachdem Lazarus sich verabschiedet hatte, hatte Simone einen Blick in sein Zimmer geworfen, um sich zu vergewissern, dass es ihm gut ging. Dorian hatte sich, vollständig angezogen, unter die Bettdecke gekauert und eine seiner Glanzvorstellungen vom süßen Schlaf der Gerechten gegeben. Daraufhin war seine Mutter zufrieden in ihrem Schlafzimmer verschwunden, um seinem Beispiel zu folgen. Seitdem waren Stunden vergangen, wenn nicht gar Jahre, wie es dem Jungen vorkam. Die nicht enden wollende Nacht hatte ihm Gelegenheit gegeben, sich darüber klar zu werden, dass seine Nerven gespannt waren wie die Saiten eines Klaviers. Bei jedem Lichtschein, jedem Knarren, jedem Schatten begann sein Herz wie wild zu rasen.
Langsam wurde das Licht der Kerze schwächer, bis nur noch ein blaues Flämmchen übrigblieb, dessen fahler Schein kaum noch die Dunkelheit durchdrang. Augenblicklich legte sich wieder Finsternis über den Raum, aus dem sie nur widerstrebend gewichen war. Dorian konnte spüren, wie das heiße Wachs hinuntertropfte und in dem Glas erkaltete. Vom Nachttisch aus beobachtete ihn schweigend der Bleiengel, den Lazarus ihm geschenkt hatte. »Ist ja schon gut«, dachte Dorian und beschloss, zu seinem bevorzugten Mittel gegen Schlaflosigkeit und Alpträume zu greifen: etwas zu essen.
Er schlug die Bettdecke zurück und stand auf. Er hatte entschieden, auf Schuhe zu verzichten, um das Knarren, Knarzen und Knacken zu vermeiden, das seine Füße förmlich anzuziehen schienen, wann immer er vorhatte, lautlos durch das Haus am Kap zu schleichen, und nun nahm er seinen ganzen Mut zusammen und tappte auf Zehenspitzen quer durchs Zimmer zur Tür. Die Klinke herunterzudrücken, ohne dass das übliche Mitternachtskonzert rostiger Türangeln einsetzte, kostete ihn zehn lange Sekunden, aber es war die Mühe wert. In Zeitlupe öffnete er die Tür und prüfte, ob die Luft rein war. Der Flur lag im Dunkeln, und die Treppe zeichnete sich als Schatten an der Wand ab. Kein Staubkörnchen regte sich in der Luft. Dorian zog die Tür hinter sich zu und schlich vorsichtig bis zum Treppenabsatz, an Irenes Zimmer vorbei.
Seine Schwester war vor Stunden unter dem Vorwand, sie habe rasende Kopfschmerzen, schlafen gegangen, obwohl Dorian vermutete, dass sie noch las oder alberne Liebesbriefe an diesen Fischer schrieb, mit dem sie neuerdings mehr Stunden verbrachte, als ein Tag lang war. Seit er sie in Simones Kleid gesehen hatte, wusste er, dass von ihr nur noch eines zu erwarten war: Probleme. Während er wie ein Indianer auf der Pirsch die Treppe hinunterschlich, schwor sich Dorian, dass er mehr Haltung an den Tag legen würde, sollte er eines Tages die Dummheit begehen, sich zu verlieben. Frauen wie Greta Garbo machten sich nichts aus solchem Blödsinn wie Liebesbriefchen und Blumen. Er mochte ein Feigling sein; aber ein Lackaffe, niemals.
Im Erdgeschoss angelangt, stellte Dorian fest, dass eine Nebelbank das Haus umgab und die Schwaden den Blick aus allen Fenstern verwehrten. Das Lächeln, mit dem er sich auf Kosten seiner Schwester lustig gemacht hatte, verflog. »Kondensiertes Wasser«, sagte er sich. »Es ist nur kondensiertes Wasser, das sich niederschlägt. Elementare Chemie.« Nach dieser beruhigenden wissenschaftlichen Erklärung achtete er nicht weiter auf den Nebel, der durch die Fensterritzen kroch und in die Küche waberte. Dort stellte er fest, dass die Romanze zwischen Irene und ihrem Schwarzen Korsar auch ihre positiven Seiten hatte: Seit sie sich mit ihm traf, hatte seine Schwester die Schachtel mit der köstlichen Schweizer Schokolade nicht mehr angerührt, die Simone in der zweiten Schublade des Vorratsschranks aufbewahrte.
Er leckte sich über die Lippen wie eine Katze und machte sich über das erste Praliné her. Die köstliche Geschmacksexplosion von Trüffel, Mandel und Kakao trübte ihm die Sinne. Was ihn betraf, war Schokolade nach der Kartographie die wohl großartigste Erfindung der Menschheit. Insbesondere Pralinen. »Ein erfinderisches Volk, die Schweizer«, dachte Dorian. »Uhren und Schokolade, die Essenz des Lebens.« Ein plötzliches Geräusch riss ihn auf einen Schlag aus seinen angenehmen Überlegungen. Wie erstarrt hörte Dorian erneut das Geräusch, und die zweite Praline glitt ihm aus den Fingern. Jemand klopfte an der Tür.
Der Junge versuchte zu schlucken, aber sein Mund war ganz trocken. Erneut waren zwei präzise Schläge gegen die Haustür zu vernehmen. Dorian ging ins Wohnzimmer, ohne den Blick vom Eingang abzuwenden. Nebel kroch unter der Türschwelle hindurch. Wieder wurde zweimal an die Tür geklopft. Dorian blieb davor stehen und zögerte kurz.
»Wer ist da?«, fragte er mit gebrochener Stimme.
Erneutes zweimaliges Klopfen war die einzige Antwort, die er erhielt. Der Junge trat ans Fenster, doch durch die Nebeldecke war nichts zu sehen. Es waren auch keine Schritte auf der Veranda zu hören. Der Unbekannte war gegangen. Vielleicht ein Wanderer, der sich verlaufen hatte, dachte Dorian. Er wollte gerade in die Küche zurückgehen, als das zweimalige Klopfen erneut zu vernehmen war, diesmal jedoch an der Fensterscheibe, kaum zehn Zentimeter von seinem Gesicht entfernt. Ihm blieb fast das Herz stehen. Dorian wich langsam in die Mitte des Wohnzimmers zurück, bis er rückwärts gegen einen Sessel stieß. Instinktiv packte der Junge einen Kerzenleuchter aus Metall und hielt ihn vor sich.
»Geh weg…«, flüsterte er.
Für Sekundenbruchteile schien sich in dem Nebel auf der anderen Seite der Fensterscheibe ein Gesicht zu formen. Dann plötzlich stieß ein heftiger Windstoß das Fenster auf. Eisige Kälte drang Dorian durch Mark und Bein, und entsetzt beobachtete er, wie sich ein schwarzer Fleck auf dem Boden ausbreitete.
Ein Schatten.
Die Masse kroch auf ihn zu und nahm allmählich Gestalt an, richtete sich vom Boden auf wie eine Marionette aus Finsternis, die von unsichtbaren Fäden gehalten wurde. Der Junge versuchte mit dem Kerzenleuchter nach dem Eindringling zu schlagen, doch das Metall ging einfach durch den dunklen Schemen hindurch. Dorian trat einen Schritt zurück, und der Schatten legte sich über ihn. Zwei Hände aus schwarzem Nebel umfassten seinen Hals; er spürte die eisige Berührung auf seiner Haut. Die Umrisse eines Gesichts zeichneten sich vor ihm ab. Ein Schauder durchlief seinen ganzen Körper. Eine knappe Handbreit vor seinem Gesicht erschien das Antlitz seines Vaters. Armand Sauvelle lächelte ihm zu. Ein Wolfsgrinsen, grausam und voller Hass.
»Hallo Dorian. Ich bin gekommen, um Mama zu holen. Bringst du mich zu ihr, Dorian?«, raunte der Schatten.
Der Klang dieser Stimme ließ ihm das Blut in den Adern gefrieren. Das war nicht die Stimme seines Vaters. Diese dämonisch glühenden Lichtpunkte waren nicht seine Augen. Und auch diese langen, spitzen Zähne, die zwischen den Lippen hervorbleckten, gehörten nicht Armand Sauvelle.
»Du bist nicht mein Vater…«
Das Wolfsgrinsen des Schattens erlosch, und das Gesicht zerfloss wie Wachs in der Flamme.
Ein hasserfülltes tierisches Brüllen gellte ihm in den Ohren, und eine unsichtbare Kraft schleuderte ihn ans andere Ende des Zimmers. Dorian krachte gegen einen der Sessel, der dabei umfiel.
Benommen rappelte sich der Junge wieder auf, um gerade noch zu sehen, wie der Schatten die Treppe hinaufkroch, eine zum Leben erwachte Teerpfütze, die nun die Stufen erklomm.
»Mama!«, schrie Dorian und stürzte zur Treppe.
Der Schatten blieb stehen und starrte ihn an. Seine Obsidianlippen formten unhörbar ein Wort. Seinen Namen.
Da zerbarsten die Fensterscheiben im ganzen Haus in einem Schauer tödlicher Scherben, und der Nebel strömte heulend in das Haus am Kap, während der Schatten weiter in den ersten Stock hinaufglitt. Dorian stürzte hinter diesem gespenstischen Gebilde her, das über den Boden auf Simones Schlafzimmertür zukroch.
»Nein!«, brüllte der Junge. »Fass meine Mutter nicht an!«
Der Schatten grinste, und im nächsten Moment wurde die schwarze Masse zu einem Strudel, der im Türschloss des Schlafzimmers verschwand. Danach folgte eine Sekunde tödlicher Stille.
Dorian rannte auf die Tür zu, doch noch bevor er sie erreichen konnte, wurde sie mit der Stärke eines Hurrikans aus den Angeln gehoben und zerschellte mit Wucht am Ende des Flurs. Dorian warf sich zur Seite und konnte um Haaresbreite ausweichen.
Als er sich wieder aufrichtete, bot sich seinen Augen ein alptraumhafter Anblick. Der Schatten wanderte über die Wände von Simones Zimmer. Die Umrisse seiner Mutter, die schlafend auf dem Bett lag, zeichneten sich gleichfalls als Schatten an der Wand ab. Dorian beobachtete, wie der dunkle Schemen die Wände entlangglitt und die Lippen dieser Erscheinung diejenigen des Schattens seiner Mutter berührten. Simone wälzte sich im Schlaf hin und her, auf geheimnisvolle Weise in einem Alptraum gefangen. Zwei unsichtbare Hände packten sie und hoben sie vom Laken hoch. Dorian stellte sich ihnen in den Weg. Wieder wurde er mit unbezähmbarer Wut weggestoßen und aus dem Zimmer geschleudert. Mit Simone in den Armen verschwand der Schatten rasch die Treppe hinunter. Dorian kämpfte darum, nicht das Bewusstsein zu verlieren, rappelte sich wieder auf und verfolgte ihn ins Erdgeschoss. Die Erscheinung wandte sich um, und für einen Moment starrten sich beide an.
»Ich weiß, wer du bist«, murmelte der Junge.
Ein neues, ihm unbekanntes Gesicht wurde sichtbar: Das Antlitz eines jungen, gutaussehenden Mannes mit leuchtenden Augen.
»Gar nichts weißt du«, sagte der Schatten.
Dorian beobachtete, wie die Augen der Erscheinung durch den Raum schweiften und an der Kellertür haften blieben. Die alte Holztür öffnete sich plötzlich, und der Junge spürte, wie er von einer unsichtbaren Macht dorthin geschoben wurde, ohne dass er etwas tun konnte, um es zu verhindern. Er stürzte die Treppe hinunter, der Finsternis entgegen. Die Tür schloss sich wieder, wie eine unverrückbare Grabplatte.
Dorian wusste, dass er in den nächsten Sekunden bewusstlos werden würde. Er hörte den Schatten lachen wie einen Schakal, während er seine Mutter durch den Nebel zum Wald schleppte.
Je höher die Flut in der Höhle stieg, desto deutlicher spürten Irene und Ismael, wie sich die tödliche Schlinge immer enger um sie zog, eine erstickende, tödliche Falle. Irene hatte schon den Moment vergessen, als das Wasser ihnen ihre vorläufige Zuflucht auf dem Felsen genommen hatte. Ihre Füße fanden keinen Halt mehr. Sie waren nun auf die Gezeiten und ihr eigenes Durchhaltevermögen angewiesen. Die Kälte verursachte starke Schmerzen in den Muskeln, ein Schmerz wie von tausend Nadeln, die sich in ihr Innerstes bohrten. Sie begann das Gefühl in den Händen zu verlieren, und die Erschöpfung griff mit bleiernen Krallen nach ihr, die sie an den Knöcheln zu packen und nach unten zu ziehen schienen. Eine innere Stimme flüsterte ihr zu, aufzugeben und sich dem friedlichen Schlaf zu überlassen, der sie unter Wasser erwartete. Ismael hielt das Mädchen an der Wasseroberfläche und merkte, wie ihr Körper in seinen Armen zitterte. Wie lange er so durchhalten würde, hätte er nicht sagen können. Und noch weniger, wie lange es noch dauerte, bis der Morgen kam und sich die Flut zurückzog.
»Nicht die Arme hängen lassen. Beweg dich. Hör nicht auf, dich zu bewegen«, keuchte er.
Irene nickte, am Rand der Bewusstlosigkeit.
»Ich bin müde…«, murmelte sie beinahe im Delirium.
»Nein. Du darfst jetzt nicht einschlafen«, befahl ihr Ismael.
Irene blickte ihn aus halb geöffneten Augen an, ohne ihn wirklich zu sehen. Er streckte den Arm aus und tastete an der felsigen Decke entlang, bis zu der sie die Flut emporgetragen hatte. Die Binnenströmung trieb sie von der Öffnung in der Kuppel weg, immer tiefer in die Höhle hinein, und verwehrte ihnen so den einzig möglichen Fluchtweg. Sosehr er sich auch anstrengte, sich unter der Öffnung zu halten, es gab keine Möglichkeit, sich festzuklammern und so zu verhindern, dass die Strömung sie mit unaufhaltsamer Kraft davontrieb. Sie hatten kaum noch Raum zum Atmen. Und die Flut stieg erbarmungslos weiter.
Irenes Gesicht sank auf das Wasser. Ismael packte sie und zog sie an sich. Das Mädchen war völlig benommen. Er wusste von stärkeren und erfahreneren Männern, die so den Tod gefunden hatten, draußen auf dem Meer. Gegen die Kälte war man machtlos. Dieser tödliche Mantel lähmte die Muskeln und vernebelte den Verstand, während er geduldig abwartete, dass sich das Opfer seinem Ende ergab.
Ismael schüttelte das Mädchen und drehte es zu sich um. Sie stammelte sinnentleert vor sich hin. Ohne lange zu zögern, gab Ismael ihr eine kräftige Ohrfeige. Irene öffnete die Augen und schrie entsetzt auf. Für einige Sekunden wusste sie nicht, wo sie war. Im Dunkeln von eisigem Wasser umgeben und in den Armen eines Fremden, glaubte sie in ihrem schlimmsten Alptraum aufzuwachen. Dann fiel ihr alles wieder ein. Cravenmoore. Der Engel. Die Grotte. Als Ismael sie umarmte, konnte sie die Tränen nicht zurückhalten. Sie schluchzte wie ein verängstigtes Kind.
»Lass mich nicht hier sterben«, flüsterte sie.
Für den Jungen waren ihre Worte wie ein vergifteter Dolchstich.
»Du wirst nicht hier sterben. Ich verspreche es dir. Das werde ich nicht zulassen. Die Flut wird bald zurückgehen, und vielleicht läuft die Höhle nicht ganz voll… Wir müssen noch ein bisschen durchhalten. Nur noch ein kleines bisschen, dann kommen wir hier raus.«
Irene nickte und umarmte ihn noch fester. Ismael hätte seinen Worten gerne genauso geglaubt wie seine Begleiterin.
Lazarus Jann stieg langsam die Stufen der Haupttreppe von Cravenmoore hinauf. Die Aura einer fremden Gegenwart schwebte unter dem Lichtkegel der Kuppellaterne. Er bemerkte es am Geruch der Luft, an dem Gewirr aus silbrigen Staubteilchen, das sichtbar wurde, wenn das Licht darauf fiel. Als er den zweiten Stock erreichte, fiel sein Blick auf die Tür am Ende des Korridors, auf der anderen Seite des Vorhangs. Die Tür stand offen. Seine Hände begannen zu zittern.
»Alexandra?«
Der kalte Lufthauch bewegte die Vorhänge in dem finsteren Korridor. Eine dunkle Vorahnung überkam ihn. Lazarus schloss die Augen und fasste sich an die Seite. Ein stechender Schmerz durchfuhr seine Brust und breitete sich in den rechten Arm aus wie Feuer, das seine Nerven zu brennendem Staub verglühen ließ.
»Alexandra?«, stieß er erneut hervor.
Lazarus rannte zu der Tür und blieb auf der Schwelle stehen, als er die Spuren des Kampfes und die zerschmetterten Fenster sah, durch die ungehindert der kalte Nebel eindringen konnte, der vom Wald herüberwehte. Er ballte die Faust, bis er merkte, wie sich die Fingernägel in die Handfläche bohrten.
»Verflucht sollst du sein…«
Nachdem er sich den kalten Schweiß von der Stirn gewischt hatte, trat er an das Bett und schlug mit unendlicher Behutsamkeit die Vorhänge beiseite.
»Es tut mir leid, mein Liebling…«, sagte er, während er sich auf die Bettkante setzte. »Es tut mir leid…«
Ein merkwürdiges Geräusch fesselte seine Aufmerksamkeit. Die Zimmertür schwang langsam hin und her. Lazarus stand auf und näherte sich vorsichtig der Tür.
»Wer ist da?«, fragte er.
Er erhielt keine Antwort, aber die Tür bewegte sich nicht mehr. Lazarus trat ein paar Schritte in den Flur hinaus und spähte in die Dunkelheit. Als er das Zischen hinter sich hörte, war es schon zu spät. Ein heftiger Schlag ins Genick ließ ihn halb bewusstlos zu Boden gehen. Er spürte, wie er an den Schultern gepackt und durch den Flur geschleift wurde. Für einen flüchtigen Moment nahmen seine Augen eine Gestalt wahr: Es war Christian, der das Hauptportal bewachte. Der Automat wandte ihm das Gesicht zu. Ein grausamer Glanz lag in seinen Augen.
Dann verlor Lazarus das Bewusstsein.
Als sich die Strömung zurückzog, die sie die ganze Nacht hindurch erbarmungslos ins Innere der Grotte gezogen hatte, wusste Ismael, dass der Morgen nicht mehr weit war. Die unsichtbaren Hände des Meeres ließen ihre Beute allmählich los, so dass es ihm nun möglich war, die bewusstlose Irene in den höher gelegenen Teil der Grotte zu bringen, wo der Wasserspiegel ihnen eine kleine Luftblase zum Atmen übrigließ. Als die Helligkeit draußen, die von dem sandigen Grund zurückgeworfen wurde, einen schwachen Lichtstrahl ins Innere der Höhle schickte und die Flut den Rückzug antrat, stieß Ismael einen Freudenschrei aus, den niemand hören konnte, nicht einmal seine Begleiterin. Der Junge wusste, dass die Höhle selbst ihnen den Weg nach draußen in die Lagune weisen würde, sobald der Wasserspiegel zu sinken begann.
Bereits seit mehreren Stunden, zwei vielleicht, hielt sich Irene nur noch mit Ismaels Hilfe über Wasser. Dem Mädchen gelang es kaum noch, wach zu bleiben. Ihr Körper zitterte nicht mehr, sondern wiegte sich einfach nur auf den Wellen wie ein lebloser Gegenstand. Während er geduldig abwartete, dass die Ebbe den Eingang freigab, wurde Ismael klar, dass Irene, wäre er nicht dagewesen, schon vor Stunden gestorben wäre.
Während er sie über Wasser hielt und ihr aufmunternde Worte zuflüsterte, die das Mädchen nicht verstehen konnte, erinnerte sich der Junge an die Geschichten, die die Seeleute über Begegnungen mit dem Tod erzählten, und dass, wenn einer einem anderen auf See das Leben rettete, ihre Seelen für immer durch ein unsichtbares Band verbunden blieben.
Allmählich wurde die Strömung schwächer, und Ismael konnte mit Irene im Schlepptau durch den Ausgang der Grotte in die Lagune schwimmen. Im bernsteinfarbenen Licht des Sonnenaufgangs, das sich den Horizont entlangzog, brachte der Junge sie ans Ufer. Als das Mädchen benommen die Augen aufschlug, blickte sie in Ismaels Gesicht, der sie lächelnd ansah.
»Wir sind am Leben«, murmelte er.
Irene fielen vor Erschöpfung die Augen wieder zu.
Ismael blickte ein letztes Mal in den Himmel und betrachtete das Morgenlicht über dem Wald und den Klippen. Es war das schönste Schauspiel, das er je in seinem Leben gesehen hatte. Dann sank er langsam neben Irene in den weißen Sand und überließ sich der Müdigkeit. Nichts hätte sie aus diesem Schlaf aufwecken können. Nichts.