12. Doppelgänger

»Niemals zuvor und niemals danach hat eine schönere Braut vor dem Altar gestanden«, sagte die Maske. »Niemals.«

Simone konnte das stumme Weinen der Kerzen hören, die in der Dunkelheit flackerten, und hinter den Mauern das Säuseln des Windes, der durch den Wald aus Wasserspeiern strich, die Cravenmoore bekrönten. Die Stimmen der Nacht.

»Das Licht, das Alexandra in mein Leben brachte, löschte alle unglücklichen Erinnerungen aus, die mein Leben seit der Kindheit bestimmt hatten. Noch heute denke ich, dass es nur wenigen Sterblichen beschieden ist, diesen Zustand des Glücks und des Friedens kennenzulernen. Ich war nicht länger dieser Junge aus dem armseligsten Viertel von Paris. Ich vergaß das lange Eingesperrtsein im Dunkeln, ließ diesen schwarzen Keller für immer hinter mir, in dem ich immerzu Stimmen zu hören geglaubt hatte, in dem die Stimme meines schlechten Gewissens mir einflüsterte, dass dieser Schatten existierte, dem die Krankheit meiner Mutter ein Tor aus der Hölle geöffnet hatte. Ich vergaß diesen Alptraum, der mich jahrelang verfolgte… Darin hatte eine Treppe aus der Tiefe des Kellers in der Rue des Gobelins in die Unterwelt des Styx hinabgeführt. Das alles war Vergangenheit. Und wissen Sie, warum? Weil Alexandra Alma Maltisse, der wahre Engel meines Lebens, mir beibrachte, dass ich kein schlechter Mensch war, anders als meine Mutter mir immer wieder eingeredet hatte, seit ich denken konnte. Verstehen Sie, Simone? Ich war kein schlechter Mensch. Ich war wie alle anderen. Ich war unschuldig.«

Lazarus’ Stimme verstummte. Simone stellte sich vor, wie stille Tränen unter der Maske hervortropften.

»Gemeinsam erkundeten wir Cravenmoore. Viele denken, all die wundersamen Dinge, die es in diesem Haus gibt, seien mein Werk. Das stimmt nicht. Ich habe nur einen kleinen Teil davon erschaffen. Der Rest, endlose Galerien voller Meisterwerke, die nicht einmal ich durchschaue, war schon hier, als ich das Haus zum ersten Mal betrat. Ich werde nie erfahren, wie lange diese Dinge sich schon in diesem Haus befanden. Es gab eine Zeit, in der ich dachte, dass vor mir bereits andere an meiner Stelle gewesen waren. Manchmal, wenn ich schweigend in die Nacht lausche, glaube ich das Echo fremder Stimmen, fremder Schritte zu hören, die durch die Flure dieses Palasts hallen. Dann wieder denke ich, dass in all diesen Zimmern, in all diesen leeren Korridoren die Zeit stehen geblieben ist und die Geschöpfe, die diesen Ort bevölkern, einmal aus Fleisch und Blut gewesen sind. Wie ich.

Ich habe vor langer Zeit aufgehört, über diese Geheimnisse nachzugrübeln, selbst als ich nach Monaten auf Cravenmoore immer noch neue Zimmer entdeckte, in denen ich noch nie gewesen war, neue Gänge, die zu unbekannten Flügeln führten… Ich glaube, manche Orte– uralte Paläste, die man an einer Hand abzählen kann– sind viel mehr als nur Gebäude. Sie leben. Sie haben eine Seele und ihre eigene Art, zu uns zu sprechen. Cravenmoore ist einer dieser Orte. Niemand weiß, wann es erbaut wurde, noch von wem und wozu. Aber wenn dieses Haus zu mir spricht, höre ich zu…

Im Frühsommer des Jahres 1916, auf dem Gipfel unseres Glücks, geschah etwas. Eigentlich hatte das Schicksal schon ein Jahr zuvor seinen Lauf genommen, ohne dass ich etwas davon erfuhr. Am Tag nach unserer Hochzeit stand Alexandra frühmorgens auf und ging in den großen ovalen Salon, um die vielen hundert Geschenke in Augenschein zu nehmen, die wir erhalten hatten. Dabei fiel ihr Blick auf eine kleine, handgearbeitete Schatulle. Ein wahres Schmuckstück. Fasziniert öffnete Alexandra sie. Sie enthielt ein Kärtchen und einen Kristallflakon. In dem Kärtchen, das an sie gerichtet war, hieß es, dies sei ein ganz besonderes Geschenk. Eine Überraschung. Der Flakon enthalte mein Lieblingsparfüm, den Duft, den meine Mutter benutzt habe. Sie solle es bis zu unserem ersten Hochzeitstag verwahren, bevor sie es auftrage. Doch das müsse ein Geheimnis zwischen ihr und dem Unterzeichnenden bleiben, einem alten Freund aus Kindertagen, Daniel Hoffmann…

Alexandra hielt sich getreulich an die Anweisungen, in der Überzeugung, dass sie mich damit glücklich mache, und bewahrte den Flakon zwölf Monate bis zu dem angegebenen Datum auf. Als der Tag gekommen war, nahm sie ihn aus der Schatulle und öffnete ihn. Unnötig zu sagen, dass dieser Flakon kein Parfüm enthielt. Es war der Flakon, den ich am Vorabend unserer Hochzeit ins Meer geworfen hatte. Von dem Moment an, als Alexandra den Flakon öffnete, verwandelte sich unser Leben in einen Alptraum…

Zu diesem Zeitpunkt begann ich die Briefe von Daniel Hoffmann zu erhalten. Nun schrieb er mir aus Berlin, wo er, so erklärte er mir, vor einer großen Aufgabe stehe, die eines Tages die Welt verändern werde. Millionen Kinder bedenke er bei seinen Besuchen mit Geschenken. Millionen Kinder, die eines Tages die größte Armee bilden würden, die es je in der Geschichte gegeben habe. Bis heute habe ich nicht begriffen, was er damit sagen wollte…

Einem seiner ersten Schreiben lag ein uraltes, in Leder gebundenes Buch bei. Auf dem Einband stand ein einziges Wort: Doppelgänger. Haben Sie schon einmal vom Doppelgänger gehört, meine liebe Freundin? Natürlich nicht. Legenden und alte Magie interessieren niemanden mehr. Es ist ein Begriff deutschen Ursprungs; er bezeichnet den Schatten, der sich von seinem Besitzer löst und sich gegen diesen wendet. Aber das ist natürlich nur der Anfang. Und so war es auch für mich. Zu Ihrer Information sei gesagt, dass es sich bei dem Band im Wesentlichen um ein Lehrbuch über Schatten handelte. Eine Rarität. Als ich anfing, darin zu lesen, war es schon zu spät. Etwas wuchs, in der Dunkelheit dieses Hauses verborgen, heran; Monat um Monat, wie eine Schlange, die auf den Moment wartet, um aus ihrem Ei zu schlüpfen.

Im Mai 1916 geschah etwas mit mir. Das Leuchten dieses ersten Jahres mit Alexandra erlosch langsam. Wenig später begann ich die Anwesenheit des Schattens zu erahnen. Doch als ich es tat, war es bereits zu spät. Bei den ersten Angriffen kamen wir noch mit einem Schrecken davon. Alexandras Kleider wurden zerfetzt. Türen schlugen zu, wenn sie vorüberging, und unsichtbare Hände warfen Gegenstände nach ihr. Stimmen in der Dunkelheit. Es war erst der Anfang…

In diesem Haus gibt es Tausende von Winkeln, in denen sich ein Schatten verstecken kann. Mir wurde klar, dass er nichts anderes war als die Seele seines Schöpfers, Daniel Hoffmann, und dass der Schatten immer weiter wachsen und mit jedem Tag stärker werden würde. Ich hingegen würde immer schwächer werden. Alle Kraft, die in mir war, würde auf ihn übergehen, und langsam würde ich der Schatten werden und er der Gebieter, während ich in die Finsternis meiner Kindheit in Les Gobelins zurückkehrte.

Ich beschloss, die Spielzeugfabrik zu schließen und mich auf mein altes Steckenpferd zu konzentrieren. Ich wollte Gabriel wieder zum Leben erwecken, jenen Schutzengel, der in Paris über mich gewacht hatte. Auf meinem Weg zurück in die Kindheit glaubte ich, wenn es mir gelänge, ihn wieder zum Leben zu erwecken, werde er Alexandra und mich vor dem Schatten beschützen. So entwarf ich das gewaltigste mechanische Geschöpf, das ich je ersonnen hatte. Einen stählernen Koloss. Einen Engel, um mich von meinem Alptraum zu befreien.

Was war ich naiv! Kaum war dieses Monstrum in der Lage, sich von meinem Werktisch zu erheben, als jede Phantasie von Gehorsam, die ich gehegt haben mochte, zerplatzte. Nicht auf mich hörte es, sondern auf den anderen. Seinen Gebieter. Und er, der Schatten, konnte ohne mich nicht existieren, denn ich war die Quelle, aus der er seine ganze Kraft sog. Nicht nur, dass mich der Engel nicht aus diesem elenden Leben befreite, er wurde zum schlimmsten aller Wächter. Dem Wächter dieses schrecklichen Geheimnisses, das mich für immer verdammte, einem Wächter, der jedes Mal erwachen würde, wenn etwas oder jemand dieses Geheimnis in Gefahr brachte. Erbarmungslos.

Die Angriffe auf Alexandra wurden schlimmer. Der Schatten war jetzt stärker, und die Bedrohung wuchs mit jedem Tag. Er hatte beschlossen, mich zu bestrafen, indem er meine Frau leiden ließ. Ich hatte Alexandra mein Herz geschenkt, das mir nicht mehr gehörte. Diese Verfehlung sollte unser Verderben sein. Als ich kurz davor war, den Verstand zu verlieren, fiel mir auf, dass der Schatten nur aktiv wurde, wenn ich in der Nähe war. Er konnte nicht fern von mir leben. Deshalb beschloss ich, Cravenmoore zu verlassen und mich auf die Leuchtturminsel zurückzuziehen. Dort konnte er niemandem schaden. Wenn jemand den Preis für meinen Verrat zu zahlen hatte, dann war das ich. Aber ich unterschätzte Alexandras Willensstärke. Ihre Liebe zu mir. Sie ließ ihre Angst und die Gefahr für ihr Leben außer acht und machte sich in der Nacht des Maskenballs auf den Weg, um mir beizustehen. Das Boot, mit dem sie die Bucht durchquerte, hatte sich kaum der Insel genähert, als der Schatten über sie herfiel und sie in die Tiefe zog. Ich kann noch immer sein Gelächter in der Dunkelheit hören, als er aus den Wellen auftauchte. Am nächsten Tag zog er sich wieder in den Kristallflakon zurück. Die nächsten zwanzig Jahre bekam ich ihn nicht wieder zu Gesicht…«

Simone erhob sich zitternd aus ihrem Sessel und wich Schritt für Schritt zurück, bis sie mit dem Rücken an der Wand stand. Sie wollte kein einziges Wort mehr aus dem Mund dieses Mannes hören, dieses… Geisteskranken. Nur eines hielt sie aufrecht und hinderte sie daran, sich der Panik hinzugeben, die dieser Maskierte in ihr auslöste, nachdem sie seine Geschichte gehört hatte: der Zorn.

»Nein, meine Liebe, nicht doch. Machen Sie diesen Fehler nicht… Begreifen Sie nicht, was hier vorgeht? Als Sie mit Ihrer Familie hierherkamen, konnte ich nicht verhindern, dass mein Herz etwas für Sie empfand. Ich tat es nicht bewusst. Ich merkte nicht einmal, was da geschah, bis es zu spät war. Ich versuchte den Zauber zu bannen, indem ich eine Maschine nach Ihrem Ebenbild schuf…«

»Wie bitte?«

»Ich glaubte… Kurze Zeit, nachdem Sie mit Ihrer Gegenwart wieder Leben in dieses Haus brachten, erwachte der Schatten, der zwanzig Jahre in diesem verfluchten Flakon geschlafen hatte, aus seiner Starre. Schon bald fand er ein geeignetes Opfer, das ihn wieder befreite…«

»Hannah…«, murmelte Simone.

»Ich weiß, was Sie jetzt empfinden und denken müssen, glauben Sie mir. Aber es gibt keinen Ausweg. Ich habe alles getan, was ich konnte… Sie müssen mir glauben…«

Die Maske stand auf und kam auf sie zu.

»Kommen Sie keinen Schritt näher!«, schrie Simone.

Lazarus blieb stehen.

»Ich will Ihnen nicht wehtun, Simone. Ich bin Ihr Freund. Wenden Sie sich nicht von mir ab.«

Sie spürte eine Welle des Hasses, die aus ihrem tiefsten Inneren kam.

»Sie haben Hannah umgebracht…«

»Simone…«

»Wo sind meine Kinder?«

»Sie haben ihr eigenes Schicksal gewählt…«

Eine eisige Faust umklammerte ihr Herz.

»Was… Was haben Sie mit ihnen gemacht?«

Lazarus hob die behandschuhten Hände.

»Sie sind tot.«

Bevor Lazarus Jann zu Ende sprechen konnte, stieß Simone einen Schrei aus wie eine Furie, packte einen der Kerzenleuchter, die auf dem Tisch standen, und stürzte sich auf den Mann vor ihr. Der Fuß des Leuchters traf mit voller Wucht mitten auf die Maske. Das Porzellangesicht zerbrach in tausend Stücke, und der Leuchter polterte in die Finsternis. Dort war nichts.

Wie gelähmt starrte Simone auf die schwarze Masse, die vor ihr schwebte. Der Schemen legte die weißen Handschuhe ab, darunter war nur Schwärze. Erst jetzt konnte Simone die dämonische Fratze sehen, die vor ihren Augen entstand, eine Wolke aus Dunkelheit, die langsam Gestalt annahm und wütend zischelte wie eine Schlange. Ein grauenvoller Schrei gellte in ihren Ohren, ein Heulen, das sämtliche Kerzen verlöschen ließ, die im Zimmer brannten. Zum ersten und letzten Mal hörte Simone die wahre Stimme des Schattens. Dann wurde sie von den Klauen gepackt und in die Dunkelheit geschleift.


Als sie tiefer in den Wald kamen, bemerkten Ismael und Irene, wie sich die dünne Nebelschicht, die über den Bäumen hing, allmählich in einen hell leuchtenden Schleier verwandelte. Der Nebel schluckte die Lichter von Cravenmoore und verzerrte sie zu einem gespenstischen Trugbild, einem dichten goldenen Dunst. Als sie den Waldsaum erreichten, lag die Erklärung für dieses sonderbare Phänomen vor ihnen, beunruhigend und irgendwie bedrohlich. Sämtliche Fenster des Anwesens waren hell erleuchtet und verliehen dem riesigen Bau Ähnlichkeit mit einem aus der Tiefe auftauchenden Geisterschiff.

Die beiden blieben vor dem lanzenbewehrten Tor stehen, das den Zugang zum Park versperrte, und betrachteten diesen fesselnden Anblick. In den Lichtschleier eingehüllt, wirkten die Umrisse von Cravenmoore noch unheimlicher als im Dunkeln. Die Fratzen unzähliger Wasserspeier schwebten über allem wie Wächter aus einem Alptraum. Aber es war nicht dieser Anblick, der sie innehalten ließ. Da lag noch etwas in der Luft, etwas Unsichtbares, noch viel Beängstigenderes. Die Geräusche Dutzender, Hunderter sich bewegender und durchs Haus wandernder Automaten wurden vom Wind herangetragen, die scheppernde Musik eines Karussells und das mechanische Gelächter einer ganzen Heerschar von Geschöpfen, die sich an jenem Ort verbargen.

Ismael und Irene lauschten einige Sekunden wie erstarrt den Stimmen von Cravenmoore. Sie stellten fest, dass die höllische Kakophonie von dem großen Hauptportal kam. Aus dem Eingang, der sperrangelweit offen stand, krochen golden leuchtende Schwaden, hinter denen Schatten zuckten und zu einer Melodie tanzten, die einem das Blut in den Adern gefrieren ließ. Irene umklammerte instinktiv Ismaels Hand, und der Junge warf ihr einen undurchdringlichen Blick zu.

»Bist du sicher, dass du da rein willst?«, fragte er.

Hinter einem der Fenster zeichnete sich die Silhouette einer Tänzerin ab, die sich um ihre eigene Achse drehte. Irene wandte den Blick ab.

»Du brauchst nicht mitzukommen. Schließlich ist es meine Mutter…«

»Ein verlockendes Angebot. Sag das lieber kein zweites Mal«, erklärte Ismael.

»In Ordnung«, sagte Irene. »Und egal, was passiert…«

»Egal, was passiert.«

Ohne auf das Lachen, die Musik, die Lichter und die schauerliche Prozession schemenhafter Gestalten zu achten, die durch das Haus geisterten, gingen die beiden die Treppe von Cravenmoore hinauf. Als Ismael spürte, wie sie der Geist des Hauses umfing, wurde ihm klar, dass alles, was sie bisher gesehen hatten, nur der Auftakt gewesen war. Es waren nicht der Engel und Lazarus’ übrige Automaten, die ihm Angst einjagten. Da war noch etwas in diesem Haus. Etwas Spürbares und Mächtiges. Etwas, das Hass und Wut ausstrahlte. Und irgendwie wusste Ismael, dass es auf sie wartete.


Dorian hämmerte immer wieder an die Tür der Gendarmerie. Der Junge war außer Atem, und seine Beine waren kurz davor, zu versagen. Wie ein Besessener war er durch den Wald zum Strand des Engländers gerannt und dann immer weiter auf der schier endlosen Straße, die an der Bucht entlang zum Dorf führte, während die Sonne hinterm Horizont versank. Er war keine Sekunde stehen geblieben, denn ihm war klar, dass er zehn Jahre keinen Schritt mehr machen würde, sobald er einmal anhielt. Nur ein Gedanke trieb ihn vorwärts: das Bild dieses gespenstischen Schemens, der seine Mutter in die Finsternis davonschleppte. Er brauchte nur daran zu denken, und er wäre bis ans Ende der Welt gelaufen.

Schließlich öffnete sich die Tür der Gendarmerie, und die rundliche Gestalt Kommissar Jobarts schob sich zwei Schritte vor. Mit winzigen Äuglein musterte der Gendarm den Jungen, der aussah, als würde er gleich in Ohnmacht fallen. Dorian hatte das Gefühl, vor einem Rhinozeros zu stehen. Der Gendarm setzte ein hämisches Lächeln auf, dann hakte er die Daumen routiniert in die Taschen der Uniformjacke ein und setzte sein Wer-stört-mich-um-diese-Uhrzeit-Gesicht auf. Dorian seufzte und versuchte zu schlucken, aber sein Mund war vollkommen trocken.

»Was gibt’s?«, blaffte Jobart.

»Wasser…«

»Das hier ist keine Kneipe, Kamerad Sauvelle.«

Die feine Ironie sollte wahrscheinlich die beneidenswerte Auffassungsgabe und den Spürsinn des Dickhäuters zeigen. Immerhin ließ Jobart den Jungen herein und gab ihm ein Glas Leitungswasser. Dorian hätte niemals gedacht, dass Wasser so köstlich schmecken könnte.

»Mehr.«

Jobart reichte ihm noch ein Glas, diesmal begleitet von seinem Sherlock-Holmes-Blick.

»Hier.«

Dorian trank es bis auf den letzten Tropfen aus und sah dann den Polizisten an. Irenes Anweisungen kamen ihm klar und deutlich in den Sinn.

»Meine Mutter hatte einen Unfall und ist verletzt. Schwer verletzt. Sie ist in Cravenmoore.«

Jobart benötigte einige Sekunden, um so viel Information zu verarbeiten.

»Was für einen Unfall?«, erkundigte er sich im Tonfall des scharfsinnigen Beobachters.

»Jetzt machen Sie schon!«, brach es aus Dorian heraus.

»Ich bin allein. Ich kann die Wache nicht verlassen.«

Der Junge seufzte. Von allen Schwachköpfen, die es auf diesem Planeten gab, hatte er auf ein echtes Prachtexemplar treffen müssen.

»Rufen Sie Unterstützung über Funk! Tun Sie etwas! Und zwar sofort!«

In Dorians Stimme und seinem Blick lag eine Beunruhigung, die Jobart dazu brachte, seinen beachtlichen Hintern zum Funkgerät zu schieben und den Apparat einzuschalten. Er drehte sich noch einmal um und sah den Jungen argwöhnisch an.

»Jetzt machen Sie schon! Los!«, schrie Dorian.


Als Lazarus plötzlich wieder zu sich kam, spürte er einen stechenden Schmerz im Nacken. Er führte die Hand dorthin und betastete die offene Wunde. Er erinnerte sich vage an Christians Gesicht im Flur des Westflügels. Der Automat hatte ihn niedergeschlagen und hierher geschleift. Lazarus sah sich um. Er befand sich in einem der unbenutzten Zimmer, die es in Cravenmoore zuhauf gab.

Langsam rappelte er sich auf und versuchte seine Gedanken zu ordnen. Kaum dass er sich auf den Beinen hielt, überkam ihn eine tiefe Erschöpfung. Er schloss die Augen und atmete tief durch. Als er sie wieder öffnete, bemerkte er einen kleinen Spiegel an der Wand. Er stellte sich davor und betrachtete sich.

Dann trat er an ein kleines Fenster, das auf die Hauptfassade blickte, und sah zwei Gestalten durch den Park auf das Hauptportal zugehen.


Irene und Ismael traten über die Türschwelle in den Lichtstrahl, der aus der Tiefe des Hauses kam. Das Dröhnen des Karussells und das metallische Rattern Tausender zum Leben erwachter Zahnräder drang ihnen durch Mark und Bein. Hunderte kleiner mechanischer Werke bewegten sich an den Wänden. Eine ganze Welt unwirklicher Kreaturen regte sich in den Vitrinen, baumelte an Mobiles, die sich in der Luft drehten. Es war unmöglich, den Blick irgendwohin zu wenden, ohne eine von Lazarus’ Schöpfungen in Bewegung zu sehen. Uhrengesichter, Puppen, die wie Schlafwandler umhergingen, gespenstische Fratzen mit einem hungrigen Wolfsgrinsen…

»Diesmal trennst du dich aber nicht von mir«, sagte Irene.

»Das hatte ich nicht vor«, erwiderte Ismael, bedrückt von all den zappelnden Wesen ringsum.

Sie waren erst ein paar Meter weit gekommen, als das Hauptportal mit Wucht hinter ihnen zufiel. Irene schrie auf und klammerte sich an den Jungen. Die hünenhafte Gestalt eines Mannes stand vor ihnen. Sein Gesicht war von einer Maske bedeckt, die einen teuflischen Clown darstellte. Zwei grüne Pupillen funkelten unter der Maske hervor. Die beiden wichen zurück, während die Erscheinung immer näher kam. Ein Messer blitzte in ihren Händen. Irene kam schlagartig der mechanische Butler in den Sinn, der ihnen bei ihrem ersten Besuch auf Cravenmoore die Tür geöffnet hatte. Christian. Das war sein Name. Der Automat erhob das Messer.

»Nein, Christian!«, schrie Irene. »Nein!«

Der Butler erstarrte. Das Messer fiel ihm aus den Händen. Ismael sah das Mädchen verständnislos an. Die Figur beobachtete sie reglos.

»Schnell!«, drängte das Mädchen und lief tiefer ins Haus hinein.

Ismael rannte hinter ihr her, nicht ohne zuvor das Messer aufzuheben, das Christian fallen gelassen hatte. Er holte Irene unter der hohen Kuppel ein, die sich über der Treppenhalle wölbte. Das Mädchen sah sich um und versuchte sich zu orientieren.

»Wohin jetzt?«, fragte Ismael, während er immer wieder zurückschaute.

Irene zögerte, unentschlossen, welchen Weg durch das Labyrinth von Cravenmoore sie einschlagen sollten.

Plötzlich wurden sie von einem kalten Windstoß aus einem der Korridore erfasst, und der metallische Klang einer Grabesstimme drang zu ihnen herüber.

»Irene…«, flüsterte die Stimme.

Dem Mädchen gefror das Blut in den Adern. Die Stimme war erneut zu hören. Irene starrte ans Ende des Korridors. Ismael folgte ihrem Blick, und da sah er sie. In feinen Nebel gehüllt, schwebte Simone mit ausgebreiteten Armen auf sie zu. Ein teuflischer Glanz lag in ihren Augen. Hinter ihren pergamentenen Lippen blitzten stählerne Reißzähne hervor.

»Mama«, schluchzte Irene.

»Das ist nicht deine Mutter«, sagte Ismael und schob das Mädchen aus der Bahn dieser Kreatur.

Licht fiel auf ihr Gesicht und zeigte es in seiner ganzen Entsetzlichkeit. Ismael warf sich auf Irene, um den Krallen des Automaten auszuweichen. Das Geschöpf drehte sich um die eigene Achse und kam erneut auf sie zu. Das Gesicht war nur halb fertiggestellt. Die andere Hälfte war nichts weiter als eine Metallmaske.

»Es ist die Puppe, die wir gesehen haben. Nicht deine Mutter«, sagte der Junge, der versuchte, das Mädchen aus der Erstarrung zu reißen, die die Erscheinung in ihr ausgelöst hatte. »Dieses Wesen bewegt sie, als ob sie Marionetten wären…«

Der Mechanismus, der den Automaten hielt, ließ ein Quietschen vernehmen. Ismael konnte sehen, wie die Krallen erneut auf sie zuschossen. Der Junge packte Irene und lief davon, ohne genau zu wissen, wohin. So schnell ihre Füße sie trugen, rannten sie einen Flur entlang. Dieser war gesäumt von Türen, die aufflogen, wenn sie vorbeikamen; Schemen lösten sich von der Decke.

»Schnell!«, schrie Ismael, als er das Knarren der Halteseile hinter sich hörte.

Irene drehte sich um und blickte zurück. Das Raubtiergebiss dieser monströsen Nachbildung ihrer Mutter schnappte zwanzig Zentimeter vor ihrem Gesicht zu. Fünf nadelspitze Krallen fuhren auf ihr Gesicht zu. Ismael zog sie beiseite und stieß sie in einen, so schien es, sehr großen, dunklen Raum.

Das Mädchen fiel der Länge nach hin, und Ismael schlug die Tür hinter sich zu. Die Krallen des Automaten bohrten sich durch die Tür wie tödliche Pfeilspitzen.

»Mein Gott…«, seufzte er. »Nicht noch mal…«

Irene blickte auf. Ihre Haut war weiß wie Papier.

»Bist du in Ordnung?«, fragte Ismael sie.

Das Mädchen nickte abwesend und sah sich dann um. Bücherwände wuchsen schier endlos in die Höhe. Tausende und Abertausende von Büchern formten eine babylonische Spirale, ein Labyrinth aus Leitern und Laufgängen.

»Wir sind in Lazarus’ Bibliothek.«

»Na, dann hoffe ich, dass es noch einen zweiten Ausgang gibt. Ich habe nämlich nicht vor, mich noch mal da draußen blicken zu lassen«, sagte Ismael und deutete hinter sich.

»Es muss einen geben. Glaube ich zumindest, aber ich weiß nicht, wo«, sagte sie. Sie ging in die Mitte des großen Raums, während der Junge die Tür mit einem Stuhl verbarrikadierte.

Wenn diese Barriere länger als zwei Minuten hält, sagte er sich, glaube ich auf der Stelle an Wunder. Hinter ihm murmelte Irene etwas. Er drehte sich um und sah sie neben einem Lesetischchen stehen, wo sie ein uralt aussehendes Buch in Augenschein nahm.

»Hier ist etwas«, sagte sie.

Eine dunkle Vorahnung stieg in ihm auf.

»Lass das Buch liegen.«

»Warum?«, fragte Irene verständnislos.

»Lass es liegen.«

Das Mädchen schlug das Buch zu und tat, was ihr Freund verlangte. Die Goldbuchstaben auf dem Einband glänzten im Widerschein des Kaminfeuers, das die Bibliothek wärmte: Doppelgänger.

Irene hatte sich gerade ein paar Schritte von dem Tisch entfernt, als sie ein heftiges Beben unter ihren Füßen durch den Raum laufen spürte. Die Flammen im Kamin wurden schwächer, und einige Bände in den endlosen Regalreihen begannen zu zittern. Das Mädchen lief zu Ismael.

»Was zum Teufel…«, setzte er an, denn auch er nahm dieses deutliche Grollen wahr, das tief aus dem Inneren des Hauses zu kommen schien.

In selben Augenblick klappte plötzlich das Buch auf, das Irene auf das Tischchen gelegt hatte. Das Kaminfeuer verlosch, von einem eisigen Lufthauch erstickt. Ismael schlang seine Arme um das Mädchen und drückte es an sich. Von unsichtbarer Hand bewegt, begannen Bücher in die Tiefe zu stürzen.

»Hier ist jemand«, flüsterte Irene. »Ich kann es spüren…«

Die Seiten des Buches begannen sich langsam im Windhauch umzuwenden. Ismael starrte auf die Seiten des alten Bandes, die von innen heraus leuchteten, und bemerkte, wie sich die Buchstaben einer nach dem anderen aufzulösen schienen und eine Wolke aus schwarzem Gas formten, die über dem Buch schwebte. Dieses unförmige Gebilde schluckte Wort um Wort, Satz um Satz.

Die Form, die sich nun verdichtete, erinnerte ihn an einen Geist aus schwarzer Tinte, der in der Luft schwebte.

Die schwarze Wolke dehnte sich aus, und aus dem Nichts entstanden Hände, Arme, ein Rumpf. Ein regloses Gesicht tauchte aus der Dunkelheit auf.

Starr vor Schreck, betrachteten Ismael und Irene diese Erscheinung und sahen, wie ringsum weitere Formen, weitere Schatten den Seiten der zu Boden gefallenen Bücher entstiegen. Langsam erstand unter ihren ungläubigen Blicken eine ganze Armee von Schatten. Schatten von Kindern, von Greisen, von Damen in eigenartigen Kleidern… Sie wirkten wie gefangene Geister, zu schwach, um Form und Gestalt anzunehmen. Tote Gesichter, müde und willenlos. Bei ihrem Anblick hatte Irene das Gefühl, es mit verlorenen Seelen zu tun zu haben, die in einem furchtbaren Zauber gefangen waren. Sie sah, wie sie ihnen hilfesuchend die Hände entgegenstreckten, doch ihre Finger lösten sich zu flüchtigem Dunst auf. Sie konnte den Schrecken ihres Alptraums spüren, des schwarzen Traums, der sie in seinen Fängen hielt.

In den wenigen Sekunden, die diese Vision dauerte, fragte sie sich, wer diese Gestalten waren und wie sie hierhergekommen waren. Waren es unvorsichtige Besucher dieses Anwesens gewesen, so wie sie selbst? Für einen Augenblick hoffte sie, ihre Mutter unter diesen verdammten Seelen, diesen Geschöpfen der Nacht zu entdecken. Doch auf eine Geste des Schattens hin verschmolzen ihre durchlässigen Körper zu einem schwarzen Strudel, der durch den Saal wirbelte.

Der Schatten öffnete seinen Schlund und verschlang all diese Seelen, nahm ihnen die wenige Kraft, die noch in ihnen lebte. Auf ihr Verschwinden folgte eine tödliche Stille. Dann öffnete der Schatten die Augen, und sein Blick leuchtete blutrot durch die Dunkelheit.

Irene wollte schreien, doch ihre Stimme ging in dem ohrenbetäubenden Getöse unter, das Cravenmoore erschütterte. Nacheinander schlugen sämtliche Türen und Fenster des Hauses zu und verwandelten es in ein finsteres Grab. Ismael hörte das düstere Dröhnen durch die endlosen Gänge von Cravenmoore laufen und spürte, wie seine Hoffnung, diesen Ort lebend zu verlassen, in der Dunkelheit dahinschwand.

Nur ein schwacher Lichtstrahl durchzog die Kuppel wie ein dünnes Drahtseil hoch oben in einem unheimlichen Zirkuszelt. Das Licht zog Ismaels Blick an, und ohne eine Sekunde länger zu warten, nahm er Irene bei der Hand und führte sie, blind tastend, ans andere Ende des Saals.

»Vielleicht ist dort der zweite Ausgang«, flüsterte er.

Irene folgte mit dem Blick dem Zeigefinger des Jungen. Sie bemerkte den Lichtfaden, der durch ein Schlüsselloch zu fallen schien. Die Bibliothek war wie ein nach oben zulaufendes Oval aufgebaut; ein schmaler Umgang führte spiralförmig die Wand hinauf und diente als Zugang zu den einzelnen Galerien, die von dort abzweigten. Simone hatte ihr von dieser architektonischen Laune erzählt: Wenn man diesem Gang bis zum Ende folge, gelange man fast bis in den dritten Stock des Hauses. Eine Art Turm von Babel mit Türen, stellte sie sich vor. Jetzt war sie es, die Ismael zu dem Umgang führte und dort rasch nach oben lief.

»Wo willst du hin?«, fragte der Junge.

»Vertrau mir.«

Ismael rannte hinter ihr her. Er spürte, wie der Boden unter seinen Füßen langsam anstieg, je weiter sie kamen. Ein kalter Lufthauch streifte seinen Nacken, und Ismael sah, wie sich der zähe schwarze Fleck auf dem Boden hinter ihm ausdehnte. Der Schatten hatte eine beinahe feste Struktur, nur seine Umrisse schienen mit der Dunkelheit zu verschmelzen. Der gespenstische Fleck breitete sich aus wie eine dicke, glänzende Öllache.

Sekunden später hatte das Gebilde aus flüssiger Schwärze seine Füße erreicht. Ismael spürte eine eisige Kälte, als laufe er über gefrorenes Wasser.

»Schnell!«, schrie er.

Wie sie vermutet hatten, kam der Lichtstrahl durch das Schlüsselloch einer Tür, die nur noch ein halbes Dutzend Schritte von ihnen entfernt war. Ismael rannte schneller, und es gelang ihm, den Schatten unter seinen Füßen für einen kurzen Moment abzuschütteln. Die Wahrscheinlichkeit, dass diese Tür nicht abgeschlossen war, erschien ihm gleich Null. Es würde ihnen wenig nutzen, die Tür zu erreichen, wenn diese nirgendwohin führte.

Irene tastete im Dunkeln das Schloss ab, auf der Suche nach einer Sperrfeder, um sie zu öffnen. Der Junge drehte sich nach dem Schatten um, und sein Blick fiel auf die pechschwarze Masse, die sich vor ihm erhob, eine Skulptur aus dichtem Gas, die langsam Gestalt annahm. Ein finsteres Gesicht bildete sich heraus. Ein vertrautes Gesicht. Ismael glaubte, seine Augen würden ihm einen Streich spielen. Er blinzelte. Das Gesicht blieb. Sein eigenes Gesicht.

Sein dunkles Ebenbild grinste ihn boshaft an, und eine Reptilienzunge schnellte zwischen den Lippen hervor. Instinktiv zog Ismael das Messer, das er dem Automaten in der Eingangshalle abgenommen hatte, und fuchtelte damit vor dem Schatten herum. Die Gestalt hauchte ihren eisigen Atem darauf, und ein Netz aus Eiskristallen überzog die Waffe von der Spitze bis zum Heft. Das gefrorene Metall brannte in seiner Handfläche. Die Kälte, eine bittere Kälte, brannte genauso oder noch stärker als Feuer.

Ismael war kurz davor, die Waffe fallen zu lassen, aber er kämpfte gegen die Muskelstarre an, die seinen Unterarm lähmte, und versuchte die Klinge durch das Gesicht des Schattens zu ziehen. Die Klinge trennte die Zunge ab, die auf einen seiner Füße fiel. Sofort umhüllte die kleine schwarze Masse seinen Knöchel wie eine zweite Haut und begann langsam nach oben zu kriechen. Der Kontakt mit dieser zähen, kalten Materie verursachte ihm Übelkeit.

In diesem Augenblick hörte er das Schloss knacken, mit dem sich Irene hinter seinem Rücken abmühte, und ein Tunnel aus Licht öffnete sich vor ihnen. Das Mädchen lief auf die andere Seite der Tür. Ismael folgte ihr, dann knallte er die Tür zu und ließ ihren Verfolger auf der anderen Seite zurück. Das abgetrennte Stück des Schattens kletterte sein Bein hinauf und nahm die Gestalt einer großen Spinne an. Ein heftiger Schmerz durchfuhr sein Bein. Ismael schrie auf, und Irene versuchte dieses vielbeinige Monstrum abzuschütteln. Nun wandte sich die Spinne gegen das Mädchen und sprang es an. Irene schrie entsetzt auf.

»Mach sie weg!«

Der Junge blickte sich verzweifelt um und entdeckte, woher das Licht kam, das sie geleitet hatte. Eine lange Reihe von Kerzen verlor sich in der Dunkelheit wie eine gespenstische Prozession.

Der Junge ergriff eine der Kerzen und näherte die Flamme der Spinne, die auf Irenes Hals zukroch. Beim Kontakt mit dem Feuer stieß das Tier ein wütendes, schmerzerfülltes Zischen aus und zerfloss zu einem Regen aus schwarzen Tropfen, die zu Boden prasselten. Ismael ließ die Kerze fallen und zog Irene beiseite. Die Tropfen glitten wie Gelatine über den Fußboden und verschmolzen zu einem einzigen Körper, der zur Tür kroch und auf der anderen Seite verschwand.

»Das Feuer. Das Feuer macht ihm Angst…«, sagte Irene.

»Dann werden wir ihm genau das geben.«

Ismael hob die Kerze wieder auf und stellte sie vor den Türspalt, während sich Irene in dem Raum umsah, in dem sie sich befanden. Er wirkte wie ein kahler Vorraum, unmöbliert und von jahrzehntealtem Staub bedeckt. Vielleicht hatte diese Kammer irgendwann einmal als Lagerraum oder zusätzliches Archiv der Bibliothek gedient. Bei genauerem Hinsehen allerdings waren Formen an der Decke zu erkennen. Dünne Rohre. Irene nahm eine Kerze und hielt sie über ihren Kopf, um den Raum zu untersuchen. Fliesen und Mosaike erstrahlten im Kerzenschein an den Wänden.

»Wo zum Teufel sind wir?«, fragte Ismael.

»Ich weiß es nicht. Sieht aus wie Duschen…«

Das Licht der Kerze fiel auf die Metallbrausen, trichterförmige Gebilde mit Hunderten von Löchern, in denen die Rohre ausliefen. Die Öffnungen waren verrostet und von einer Festung aus Spinnweben überzogen.

»Was auch immer das sein soll, hier hat seit Jahrhunderten keiner mehr…«

Er hatte den Satz noch nicht zu Ende gesprochen, als ein metallisches Kreischen zu vernehmen war, das unverwechselbare Geräusch eines verrosteten Wasserhahns, der aufgedreht wurde. Dort drinnen, direkt neben ihnen.

Irene leuchtete mit der Kerze an die gekachelte Wand, und die beiden sahen zwei Zugangshähne, die sich langsam drehten.

Ein tiefes Brummen lief durch die Wände. Dann, nach einigen Sekunden Stille, konnten sie das Geräusch zuordnen. Es war das Geräusch von etwas, das durch die Rohre über ihren Köpfen kam. Etwas zwängte sich durch die engen Leitungen.

»Er ist hier!«, schrie Irene.

Ismael nickte, ohne den Blick von den Brauseköpfen zu wenden. Nach einigen Sekunden begann eine undurchdringliche Masse aus den Öffnungen zu triefen. Irene und Ismael wichen langsam zurück, ohne den Blick von dem Schatten zu wenden, der sich langsam vor ihnen aufbaute, so wie die Körner einer Sanduhr einen Berg formen, wenn sie nach unten rieseln.

Zwei Augen zeichneten sich im Dunkeln ab. Lazarus’ freundliches Gesicht lächelte ihnen entgegen. Ein beruhigender Anblick, hätten sie nicht sofort gewusst, dass es nicht Lazarus war, den sie vor sich hatten. Irene machte einen Schritt auf ihn zu.

»Wo ist meine Mutter?«, fragte sie herausfordernd.

Eine tiefe, nicht menschliche Stimme war zu hören.

»Sie ist bei mir.«

»Halt Abstand von ihm«, warnte Ismael.

Der Schatten starrte ihn an, und der Junge schien in Trance zu fallen. Irene schüttelte ihren Freund und wollte ihn von dem Schatten wegziehen, doch er stand noch immer unter dem Einfluss dieses Wesens und war unfähig zu reagieren. Das Mädchen trat zwischen die beiden und gab Ismael eine Ohrfeige, die ihn aus seinem Bann riss. Das Gesicht des Schattens zerschmolz zu einer wütenden Grimasse, und zwei lange Arme streckten sich nach ihnen aus. Irene stieß Ismael gegen die Wand und versuchte dem Griff der Klauen zu entkommen.

In diesem Augenblick öffnete sich eine Tür in der Dunkelheit, und ein Licht leuchtete am anderen Ende des Raumes auf. Die Gestalt eines Mannes mit einer Öllampe in der Hand zeichnete sich im Türrahmen ab.

»Raus hier!«, brüllte er, und Irene erkannte seine Stimme. Es war Lazarus Jann, der Spielzeugfabrikant.

Der Schatten stieß ein hasserfülltes Geheul aus, und die Kerzen verloschen eine nach der anderen. Lazarus ging auf den Schatten zu. Sein Gesicht wirkte viel älter, als Irene es in Erinnerung hatte. Seine geröteten Augen verrieten furchtbare Erschöpfung. Die Augen eines Mannes, der von einer grausamen Krankheit verzehrt wurde.

»Raus hier!«, brüllte er erneut.

Der Schatten zeigte kurz seine dämonische Fratze und verwandelte sich dann in eine Gaswolke, die in die Ritzen des Fußbodens kroch und schließlich durch einen Mauerspalt verschwand. Bei seiner Flucht machte er ein Geräusch, das dem Heulen des Windes hinter den Fenstern glich.

Lazarus beobachtete noch einige Sekunden die Mauerspalte, dann wandte er ihnen seinen durchdringenden Blick zu.

»Was habt ihr hier zu suchen?«, fragte er, ohne seine Wut zu verbergen.

»Ich bin hergekommen, um meine Mutter zu suchen, und ich werde nicht ohne sie hier weggehen«, erklärte Irene und hielt seinem eindringlichen, forschenden Blick stand, ohne mit der Wimper zu zucken.

»Du weißt nicht, mit wem du es zu tun hast…«, sagte Lazarus. »Schnell, dort entlang. Er wird bald zurückkommen.«

Lazarus führte sie durch die Tür hinaus.

»Was ist das? Was haben wir da gesehen?«, fragte Ismael.

Lazarus sah ihn lange an.

»Das bin ich. Das, was du gesehen hast, bin ich…«


Lazarus führte sie durch ein verworrenes Tunnellabyrinth, das sich parallel zu Fluren und Korridoren durch Cravenmoore zu ziehen schien. Zu beiden Seiten der schmalen Gänge lagen zahlreiche verschlossene Türen, Zweitzugänge zu den vielen Dutzend Zimmern und Salons des Hauses. Ihre Schritte hallten in dem engen Gang wider und erweckten den Eindruck, dass sie von einer unsichtbaren Armee verfolgt würden.

Lazarus’ Laterne warf einen warmen Lichtkreis auf die Wände. Ismael beobachtete, wie ihre Schatten, seiner und Irenes, neben ihnen an der Wand entlangwanderten. Lazarus warf keinen Schatten. Der Spielzeugfabrikant blieb vor einer hohen, schmalen Tür stehen, zog einen Schlüssel hervor und schloss auf. Er spähte ans Ende des Ganges, durch den sie gekommen waren, und bedeutete ihnen dann, einzutreten.

»Hier entlang«, sagte er nervös. »Hierher wird er nicht kommen. Zumindest nicht in den nächsten Minuten…«

Ismael und Irene wechselten einen misstrauischen Blick.

»Euch bleibt nichts anderes übrig, als mir zu vertrauen«, gab Lazarus zu bedenken.

Der Junge seufzte und betrat dann das Zimmer, gefolgt von Irene und Lazarus. Dieser schloss die Tür wieder. Im Schein der Laterne war eine Wand mit unzähligen Fotografien und Zeitungsartikeln zu sehen. In einer Ecke standen ein kleines Bett und ein kahler Schreibtisch. Lazarus stellte die Laterne auf dem Fußboden ab und sah zu, wie die beiden Jugendlichen all diese Papierschnipsel betrachteten, die an der Wand klebten.

»Ihr müsst Cravenmoore verlassen, solange noch Zeit ist.«

Irene drehte sich zu ihm um.

»Er will nicht euch«, setzte der Spielzeugfabrikant hinzu, »sondern Simone.«

»Weshalb? Was hat er mit ihr vor?«

Lazarus senkte den Blick.

»Er will sie vernichten. Um mich zu strafen. Und euch steht das gleiche Schicksal bevor, wenn ihr euch ihm in den Weg stellt.«

»Was hat das alles zu bedeuten? Was wollen Sie uns damit sagen?«, fragte Ismael.

»Ich habe euch alles gesagt, was ich zu sagen habe. Ihr solltet von hier verschwinden. Früher oder später wird er zurückkehren, und dann kann ich nichts mehr tun, um euch zu schützen.«

»Aber– wer wird zurückkommen?«

»Du hast ihn mit eigenen Augen gesehen.«

In diesem Moment war irgendwo im Haus ein fernes Grollen zu hören. Es kam näher. Irene schluckte und sah Ismael an. Schritte. Einer nach dem anderen, dröhnend wie Schüsse, immer näher. Lazarus lächelte schwach.

»Das ist er«, verkündete er. »Euch bleibt nicht viel Zeit.«

»Wo ist meine Mutter? Wohin hat er sie gebracht?«, wollte das Mädchen wissen.

»Ich weiß es nicht, aber selbst wenn ich es wüsste, würde es nichts nützen.«

»Sie haben diese Maschine mit ihrem Gesicht gebaut…«, warf Ismael ihm vor.

»Ich glaubte, er würde sich damit begnügen, aber er wollte mehr. Er wollte sie.«

Die entsetzlichen Schritte waren nun hinter der Tür zu hören. Sie kamen den Gang entlang.

»Auf der anderen Seite dieser Tür«, erklärte Lazarus, »liegt ein Gang, der zur Haupttreppe führt. Wenn ihr noch einen Funken Verstand besitzt, dann lauft und betretet dieses Haus nie wieder.«

»Wir gehen nirgendwo hin«, erklärte Ismael. »Nicht ohne Simone.«

Die Tür, durch die sie gekommen waren, wurde heftig erschüttert. Sekunden später sickerte eine schwarze Masse unter der Türschwelle hindurch.

»Lass uns verschwinden«, drängte Ismael.

Der Schatten legte sich um die Laterne und zerbrach das Glas. Ein eisiger Lufthauch ließ die Flamme verlöschen. Aus der Dunkelheit sah Lazarus, wie Irene und Ismael durch den zweiten Ausgang entkamen. Neben ihm formte sich eine schwarze, geheimnisvolle Gestalt.

»Lass sie in Ruhe«, flüsterte er. »Es sind nur zwei Kinder. Lass sie gehen. Nimm endlich mich. Ist es nicht das, was du willst?«

Der Schatten lachte.


Der Flur, in dem sie sich befanden, kreuzte die zentrale Achse von Cravenmoore. Irene erkannte das Gewirr von Gängen wieder und führte Ismael unter der Kuppel hindurch. Hinter den Scheiben waren die vorüberziehenden Wolken zu sehen, gewaltige Riesen aus schwarzer Watte, die ihre Bahn am Himmel zogen. Die Laterne, die den Scheitel der Kuppel bekrönte, verbreitete einen Kranz kaleidoskopartiger Reflexe.

»Da entlang«, bestimmte das Mädchen.

»Da entlang wohin?«, fragte Ismael nervös.

»Ich glaube, ich weiß, wo er sie festhält.«

Der Junge blickte über die Schulter zurück. Der Korridor lag im Dunkeln, ohne ein sichtliches Zeichen von Bewegung, obwohl Ismael klar war, dass der Schatten sich aus dieser Richtung nähern konnte, ohne dass sie ihn bemerkten.

»Ich hoffe, du weißt, was du tust«, sagte er. Er wollte so schnell wie möglich von dort weg.

»Komm.«

Irene betrat einen der Seitenflügel, der sich in der Dunkelheit verlor, und Ismael folgte ihr. Allmählich wurde das Licht der Laterne schwächer, und die Umrisse der mechanischen Geschöpfe, die den Korridor säumten, verwandelten sich in dunkel glänzende Schemen. Ihre Schritte gingen in dem Plappern, Lachen und Hämmern Hunderter mechanischer Räderwerke unter. Der Junge wandte sich erneut um und spähte zum Anfang dieses Tunnels, den sie entlanggingen. Ein kalter Lufthauch zog durch den Gang. Als er sich umsah, erkannte Ismael die Gazevorhänge wieder, die vor ihnen wehten, bestickt mit einem Buchstaben, der sich sanft wiegte.


A


»Ich bin sicher, dass er sie hier festhält«, sagte Irene. Hinter den Vorhängen war am Ende des Korridors die geschnitzte Holztür zu sehen. Sie war geschlossen. Erneut umfing sie ein kalter Lufthauch, der die Vorhänge in Bewegung brachte. Ismael blieb stehen und starrte in die schwarze Finsternis. Angespannt versuchte er, etwas zu erkennen.

»Was ist los?«, fragte Irene, als sie die Unruhe bemerkte, die sich seiner bemächtigt hatte.

Der Junge öffnete den Mund, um zu antworten, doch er blieb stumm. Sie spähte in den Korridor hinter ihnen. Ein kleiner Lichtpunkt am Ende des Tunnels. Der Rest war Dunkelheit.

»Er ist da«, sagte Ismael. »Er beobachtet uns.«

Irene klammerte sich an ihn.

»Spürst du es nicht?«

»Lass uns nicht länger hierbleiben, Ismael.«

Er nickte, doch in Gedanken war er woanders. Irene nahm ihn bei der Hand und zog ihn zu der Tür. Der Junge behielt die ganze Zeit den Gang hinter ihnen im Auge. Als das Mädchen schließlich vor der Tür stehen blieb, wechselten die beiden einen Blick. Wortlos legte Ismael die Hand auf den Türknauf und drehte ihn vorsichtig. Das Schloss gab mit einem leisen metallischen Klicken nach, und durch das Gewicht des schweren Türblatts schwang die Tür an den Angeln nach innen.

Ein flüchtiger blauer Dunst lag über dem Raum, nur durchbrochen von dem scharlachroten Flackern des Feuers.

Irene trat ein paar Schritte ins Zimmer. Alles war genau so, wie sie es in Erinnerung hatte. Das große Porträtbild von Alma Maltisse leuchtete über dem Kamin. Lichtreflexe tasteten sich durch die dichte Atmosphäre des Zimmers und deuteten die Umrisse der Vorhänge aus durchscheinender Seide an, die das Himmelbett verhüllten. Ismael schloss vorsichtig die Tür hinter sich und folgte Irene.

Das Mädchen hielt ihn am Arm zurück. Sie deutete auf einen Lehnsessel, der mit dem Rücken zu ihnen vor dem Feuer stand. Über eine der Lehnen hing eine bleiche Hand, die wie eine verwelkte Blume auf den Boden gesunken war.

Daneben blitzten Glasscherben in einer Pfütze aus Flüssigkeit wie glitzernde Perlen auf einem Spiegel. Irene spürte, wie ihr Herz zu rasen begann. Sie ließ Ismaels Hand los und ging Schritt für Schritt auf den Sessel zu. Das flackernde Licht der Flammen beschien ein regloses Gesicht: Simone.

Irene kniete neben ihrer Mutter nieder und nahm ihre Hand. Sekundenlang gelang es ihr nicht, ihren Puls zu ertasten.

»Oh mein Gott…«

Ismael stürzte zum Schreibtisch und griff nach einem kleinen Silbertablett. Dann lief er zu Simone und hielt es ihr vors Gesicht. Eine schwache Dunstwolke beschlug die Oberfläche. Irene atmete tief durch.

»Sie lebt«, sagte Ismael. Er betrachtete das Gesicht der bewusstlosen Frau und glaubte in ihr eine gereifte, weise Irene wiederzuerkennen.

»Wir müssen sie hier wegbringen. Hilf mir mal.«

Sie postierten sich zu beiden Seiten von Simone, umfassten sie mit den Armen und versuchten sie aus dem Sessel hochzuziehen.

Sie hatten sie kaum einige Zentimeter hochgehievt, als im Zimmer ein tiefes, unheimliches Zischeln zu vernehmen war. Die beiden hielten inne und blickten sich um. Das Feuer vervielfachte ihre eigenen Schatten an den Wänden.

»Wir dürfen keine Zeit verlieren«, drängte Irene.

Ismael hob Simone erneut hoch, doch diesmal war das Geräusch schon viel näher zu hören. Seine Augen irrten durch die Dunkelheit. Das Porträt! Mit einem Mal verformte sich der Schleier, der das Ölbild überzog, zu einer Platte aus dunkler Flüssigkeit, die Gestalt annahm und zwei lange, in messerscharfen Klauen auslaufende Arme ausstreckte.

Ismael versuchte zurückzuweichen, doch der Schatten schnellte von der Wand wie eine Katze, glitt durch die Dunkelheit und duckte sich hinter ihn. Für einen kurzen Augenblick konnte der Junge nur seinen eigenen Schatten sehen, der ihn beobachtete. Dann wuchs aus den Umrissen seiner eigenen Silhouette eine andere Gestalt hervor, die sich dickflüssig ausdehnte, bis sie seinen eigenen Schatten vollständig verschluckt hatte. Der Junge merkte, wie Simones Körper seinen Armen entglitt. Eine kräftige Faust aus eiskaltem Gas umklammerte seinen Hals und schleuderte ihn mit gewaltiger Kraft gegen die Wand.

»Ismael!«, schrie Irene.

Der Schatten wandte sich ihr zu. Das Mädchen rannte ans andere Ende des Zimmers, doch die Dunkelheit zu ihren Füßen umschloss sie wie eine tödliche Blume. Sie spürte die eisige, schaudererregende Berührung des Schattens, der ihren Körper umhüllte und ihre Muskeln lähmte. Vergeblich versuchte sie sich zur Wehr zu setzen, während sie entsetzt zusah, wie sich von der Decke ein Tuch aus Finsternis herabsenkte, das allmählich die vertrauten Formen von Hannahs Gesicht annahm. Das gespenstische Ebenbild warf ihr einen hasserfüllten Blick zu, und zwischen den düsteren Lippen blitzten lange, feucht glänzende Reißzähne auf.

»Du bist nicht Hannah«, sagte Irene mit versagender Stimme.

Der Schatten schlug ihr ins Gesicht, und eine Schnittwunde klaffte in ihrer Wange. Die Blutstropfen, die aus der Wunde hervorquollen, wurden augenblicklich von dem Schatten absorbiert, als würden sie von einer starken Luftströmung angesogen. Zwei lange, spitze Krallen kamen langsam auf ihre Augen zu.

Als sich Ismael, noch benommen von dem Aufprall, wieder aufrappelte, hörte er die raue, bösartige Stimme. Der Schatten stand mitten im Raum und hatte Irene gepackt, bereit, sie zu vernichten. Der Junge schrie auf und warf sich gegen die Masse. Sein Körper ging einfach so hindurch, und der Schatten zersprang in Tausende winziger Tröpfchen, die wie ein Schauer aus flüssiger Kohle zu Boden prasselten. Ismael zog Irene hoch und brachte sie außer Reichweite des Schattens. Dessen Bestandteile verschmolzen auf dem Fußboden zu einem Wirbel, der die Möbelstücke ringsum erschütterte und als tödliche Geschosse gegen Wände und Fenster schleuderte.

Ismael und Irene warfen sich auf den Boden. Der Schreibtisch flog durch eine der Fensterscheiben und pulverisierte sie dabei förmlich. Ismael wälzte sich auf Irene, um sie vor den Scherben zu schützen. Als er wieder hochsah, nahm der dunkle Strudel festere Formen an. Zwei riesige schwarze Flügel breiteten sich aus, und der Schatten erschien wieder, größer und stärker denn je. Er hob eine seiner Klauen und zeigte die offene Handfläche. Zwei Augen und Lippen waren darauf zu sehen.

Ismael zog erneut sein Messer und hielt es der Erscheinung entgegen, während er sich vor Irene stellte. Der Schatten richtete sich auf und kam auf sie zu. Seine Faust umklammerte die Messerklinge. Ismael spürte, wie ein eisiger Strom seine Finger und seine Hand durchfuhr und seinen Arm lähmte.

Die Waffe fiel zu Boden, und der Schatten hüllte den Jungen ein. Irene versuchte vergeblich, ihn festzuhalten. Der Schatten zerrte Ismael zum Feuer.

In diesem Moment öffnete sich die Tür, und die Gestalt von Lazarus Jann erschien auf der Schwelle.


Das gespenstische Licht, das aus dem Wald drang, brach sich in der Windschutzscheibe des Polizeiautos, das den Konvoi anführte. Hinter ihm rasten Doktor Girauds Wagen und ein bei der Klinik von La Rochelle angeforderter Rettungswagen über die Straße am Strand des Engländers.

Dorian, der neben Chefinspektor Henri Faure saß, bemerkte als Erster den goldenen Lichtschein, der durch die Bäume drang. Hinter dem Wald waren die Umrisse von Cravenmoore zu erkennen, ein riesiges, geisterhaftes Karussell im Nebel.

Der Inspektor runzelte die Stirn und betrachtete diese Erscheinung, die er in den zweiundfünfzig Jahren, die er in diesem Dorf lebte, noch nie gesehen hatte.

»Schneller!«, flehte Dorian.

Der Inspektor sah den Jungen an, und während er beschleunigte, begann er sich zu fragen, ob an der Geschichte von diesem angeblichen Unfall irgendetwas dran war.

»Gibt es da etwas, das du uns nicht erzählt hast?«

Dorian gab keine Antwort, sondern starrte einfach geradeaus.

Der Inspektor trat das Gaspedal ganz durch.


Der Schatten wandte sich um. Als er Lazarus sah, ließ er Ismael wie ein lebloses Bündel fallen. Der Junge krachte heftig zu Boden und unterdrückte einen Schmerzensschrei. Irene rannte zu ihm.

»Bring ihn hier weg«, sagte Lazarus, während er langsam auf den zurückweichenden Schatten zuging.

Ismael bemerkte einen stechenden Schmerz in der Schulter und stöhnte.

»Bist du in Ordnung?«, fragte das Mädchen.

Der Junge murmelte etwas Unverständliches, aber er stand auf und nickte. Lazarus warf ihnen einen durchdringenden Blick zu.

»Nehmt sie mit und verschwindet von hier«, befahl er.

Der Schatten vor ihm zischte wie eine Schlange vor ihrer Beute. Plötzlich sprang er an die Wand und wurde wieder von dem Bild verschluckt.

»Ihr sollt verschwinden, habe ich gesagt!«, brüllte Lazarus.

Ismael und Irene packten Simone und schleiften sie zur Tür. Bevor sie gingen, drehte sich Irene noch einmal zu Lazarus um und sah, wie der Spielzeugfabrikant an das Himmelbett trat und mit unendlicher Sanftheit die Vorhänge zur Seite schlug. Dahinter war die Gestalt einer Frau zu erkennen.

»Warte…« flüsterte Irene, während sich ihr Herz verkrampfte.

Es musste Alma sein. Ein Schauder durchlief ihren Körper, als sie die Tränen auf Lazarus’ Gesicht bemerkte. Der Spielzeugfabrikant umarmte Alma. Noch nie im Leben hatte Irene gesehen, wie jemand einen anderen mit solcher Zartheit umarmte. Jede Geste, jede Bewegung von Lazarus verrieten eine Liebe und eine Zärtlichkeit, die nur aus lebenslanger Bewunderung erwachsen sein konnten. Almas Arme umschlangen ihn ebenfalls, und für einen magischen Moment waren beide in der Finsternis vereint, fernab von dieser Welt. Irene war den Tränen nahe, doch dann zeigte sich ihnen eine neue, bedrohliche Schreckensvision.

Der Schatten kroch langsam aus dem Bild und zum Bett hinüber. Panik befiel das Mädchen.

»Vorsicht, Lazarus!«

Der Spielzeugfabrikant drehte sich um und sah, wie sich der Schatten rasend vor Wut vor ihm aufrichtete. Er hielt dem Blick dieses Höllenwesens stand, ohne Angst zu zeigen. Dann blickte er zu ihnen beiden herüber; seine Augen schienen Botschaften auszusenden, die sie nicht verstanden. Plötzlich begriff Irene, was Lazarus vorhatte.

»Nein!«, schrie sie, während sie merkte, dass Ismael sie zurückhielt.

Der Spielzeugfabrikant ging auf den Schatten zu.

»Du wirst sie mir nicht noch einmal nehmen…«

Der Schatten erhob eine seiner Klauen, um seinen Herrn zu attackieren. Lazarus griff in die Tasche seines Jacketts und zog einen glänzenden Gegenstand hervor. Einen Revolver.

Das Gelächter des Schattens hallte durch den Raum wie das Keckern einer Hyäne.

Lazarus drückte den Abzug. Ismael starrte ihn verständnislos an. Der Spielzeugfabrikant sah mit einem leisen Lächeln zu ihm, dann entglitt der Revolver seinen Händen. Ein dunkler Fleck breitete sich auf seiner Brust aus. Blut.

Der Schatten brach in ein Geheul aus, das das gesamte Haus erschütterte. Es war ein Schrei des Entsetzens.

»Mein Gott…«, wimmerte Irene.

Ismael eilte Lazarus zu Hilfe, doch der hielt ihn mit einer Handbewegung zurück.

»Nein. Lasst mich bei ihr. Und verschwindet von hier…«, flüsterte er, und ein Blutrinnsal floss aus seinem Mundwinkel.

Ismael stützte ihn und brachte ihn zum Bett. Der Anblick ihres bleichen, traurigen Gesichts traf ihn wie ein Schlag. Ismael stand Alma Maltisse von Angesicht zu Angesicht gegenüber. Ihre tränenumflorten Augen blickten ihn starr an, in einem Schlaf verloren, aus dem sie nie erwachen würde.

Eine Maschine.

In all diesen Jahren hatte Lazarus mit einer Maschine gelebt, um die Erinnerung an seine Frau lebendig zu halten, die Erinnerung, die ihm der Schatten genommen hatte.

Wie benommen trat Ismael einen Schritt zurück. Lazarus sah ihn flehend an.

»Lass mich mit ihr allein… Bitte.«

»Aber es ist nur eine… eine…«, setzte Ismael an.

»Sie ist alles, was ich habe…«

Dem Jungen wurde klar, warum man die Leiche der Frau, die vor der Leuchtturminsel ertrunken war, nie gefunden hatte. Lazarus hatte sie aus dem Wasser gefischt und ihr wieder Leben eingehaucht, ein nichtvorhandenes, mechanisches Leben. Unfähig, sich mit der Einsamkeit und dem Verlust seiner Frau abzufinden, hatte er aus ihrem Körper ein Phantom geschaffen, ein trauriges Ebenbild, mit dem er in den vergangenen zwanzig Jahren zusammengelebt hatte. Und als er in Lazarus’ brechende Augen blickte, wusste Ismael auch, dass Alexandra Alma Maltisse im Herzen des Fabrikanten auf eine ihm unbegreifliche Weise weiterlebte.

Lazarus warf ihm einen letzten, schmerzerfüllten Blick zu. Der Junge nickte langsam und ging zu Irene zurück. Sie bemerkte sein bleiches Gesicht, als hätte er soeben dem Tod persönlich ins Auge geblickt.

»Was hast du?«

»Verschwinden wir von hier. Schnell«, drängte Ismael.

»Aber…«

»Ich habe gesagt, lass uns von hier verschwinden!«

Gemeinsam schleppten sie Simone in den Korridor. Mit einem Krachen fiel die Tür hinter ihnen zu; jetzt war Lazarus im Zimmer eingeschlossen. Irene und Ismael rannten, so schnell sie konnten, durch den Gang zur Haupttreppe, wobei sie versuchten, das unmenschliche Geheul zu ignorieren, das von der anderen Seite der Tür zu vernehmen war. Es war die Stimme des Schattens.


Lazarus Jann erhob sich vom Bett und stellte sich dem Schatten taumelnd entgegen. Dieser warf ihm einen verzweifelten Blick zu. Das winzige Loch, das die Kugel gerissen hatte, wurde immer größer und verzehrte auch ihn mit jeder Sekunde. Der Schatten setzte erneut zum Sprung an, um in dem Bild zu verschwinden, doch diesmal packte Lazarus ein brennendes Holzscheit und setzte das Ölgemälde in Brand.

Das Feuer breitete sich auf der Leinwand aus wie Wellen auf einem See. Der Schatten heulte auf. Zur gleichen Zeit begannen in der Dunkelheit der Bibliothek die Seiten des schwarzen Buches zu bluten, bis sie schließlich in Flammen aufgingen.

Lazarus schleppte sich wieder zum Bett, doch der Schatten stürzte hinter ihm her, aufgebläht vor Wut und von den Flammen verzehrt, eine Spur aus Feuer hinter sich herziehend. Die Vorhänge des Himmelbetts fingen Feuer, und die Flammen züngelten bis zur Decke und über den Fußboden, alles verschlingend, was sie fanden. In Sekundenschnelle war das Zimmer ein flammendes Inferno.

Die Flammen leckten an einem der Fenster empor, und die Hitze ließ die wenigen Glasscheiben bersten, die noch heil waren, um dann mit unersättlicher Kraft die Nachtluft anzusaugen. Die Zimmertür krachte lichterloh brennend in den Korridor, und langsam, aber unaufhaltsam griff das Feuer auf das ganze Haus über.

Durch die Flammen taumelnd, holte Lazarus den Kristallflakon hervor, der den Schatten jahrelang beherbergt hatte, und hielt ihn hoch. Mit einem verzweifelten Heulen verschwand der Schatten darin. Das Glas überzog sich mit einem Netz aus Eis. Lazarus verschloss den Flakon, und nachdem er ihn ein letztes Mal betrachtet hatte, warf er ihn ins Feuer. Der Flakon zerbarst in tausend Stücke; der Schatten verging für immer wie der letzte Atemzug eines Fluchs. Und mit ihm spürte auch der Spielzeugfabrikant, wie langsam das Leben durch die tödliche Wunde entwich.


Als Irene und Ismael aus dem Hauptportal stürzten, die bewusstlose Simone zwischen sich, schlugen die Flammen bereits aus den Fenstern im dritten Stock. Binnen Sekunden zersprangen nacheinander alle Fensterscheiben und ließen einen Platzregen aus glühend heißem Glas auf den Park hinunterprasseln. Die beiden rannten zum Waldrand. Erst im Schutz der Bäume blieben sie stehen und blickten zurück.

Cravenmoore brannte.

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