10

Am nächsten Tag fuhren wir nach einer Nacht mit qualvollen Träumen zur Polizei. Die Protokolle waren auf französisch abgefaßt, ordentlich getippt und zur Unterschrift bereit. Witold übersetzte, und wir unterschrieben. Danach fuhren wir zurück ins Hotel, Kitty und ich packten.

»Ich meine, Scarlett hatte irgendwo einen Lockenstab rumliegen«, sagte Kitty.

»So?« fragte ich.

Sie sah sich um, zuckte mit den Schultern. »Na, vielleicht hatte sie ihn schon eingepackt. Die Polizei hat ja ihren Koffer.

Wahrscheinlich suchen sie nach Drogen oder so was, wo sie doch Apothekersfrau ist.«

Wir verabschiedeten uns von den Männern. Witold tat mir nun doch leid, wie er sich käsebleich und schlecht rasiert die achte Tasse schwarzen Kaffee eingoß und die schwere Aufgabe nun vor ihm stand, mindestens für einen weiteren Tag dem trauernden Ernst zu helfen.

Kitty fuhr ruhig und zügig. Sie sprach wenig, was mir sehr recht war. Jede von uns hing ihren Gedanken nach.

»Magst du den Rainer?« fragte sie plötzlich sehr direkt.

»Schon«, sagte ich vorsichtig.

Sie lachte ein wenig.

»Wir fallen alle auf ihn rein. Warum soll es dir anders gehen als mir. Er ist ein lieber Freund, wenn man damit zufrieden ist.

Und wenn ich dir einen guten Rat geben soll, versuche, damit zufrieden zu sein.«

Ich hätte Kitty gern alles erzählt, so wie ich früher gern alles Beate anvertraut hätte. Aber über meine Liebe konnte ich nicht sprechen, denn sie war schließlich das Motiv für meine Verbrechen. Ganz klar war mir das aber selber nicht.

»Ach Kitty…«, begann ich, und tat mich so schwer, wie Witold am Abend zuvor.

»Kitty, ich laufe den Männern nicht mehr nach. An dieser Wanderung reizte mich die gemischte Gesellschaft, so etwas hatte ich vorher noch nie ausprobiert.«

»Ja, das verstehe ich. Nimm’s mir nicht krumm, daß ich so daherrede. Ich wollte dir nicht zu nahe treten.«

»Ist schon gut, Kitty. Übrigens fahre ich gern mit dir Auto, du tust das so souverän.«

»Gut, daß ich nicht den dicken Apothekerschlitten fahren muß, dann wäre ich bestimmt nicht souverän.«

Kitty brachte mich vor Witolds Tür, wo mein Wagen stand.

Sie gab mir die Hand und bedauerte, daß diese Elsaßreise so traurig zu Ende gegangen war.

Ich nahm meinen Koffer, fuhr Richtung Mannheim und überlegte fieberhaft, wie ich als erstes den elektrischen Lockenstab loswerden könnte. Ich hielt am Neckarufer, holte das Corpus delicti aus dem Koffer und steckte es in die Handtasche. Dann ging ich einen Feldweg entlang und warf das Ding an einer geschützten Stelle ins Wasser.

Als ich etwa zwei Stunden zu Hause war, rief Witold an. Er meinte, Ernst und er könnten am nächsten Tag auch heimfahren. Die Leiche würde von Frankreich aus nach Ladenburg überführt. Die Polizei habe allerdings noch eine Frage: In Scarletts Gepäck befände sich die Schachtel für einen elektrischen Lockenstab, der aber nicht darinläge. Ob wir — Kitty und ich — diesen Gegenstand versehentlich eingesteckt hätten. Ich verneinte, sagte jedoch, daß auch Kitty ihn irgendwo gesehen zu haben glaubte.

»Also war das Ding mit auf der Reise?« überlegte Witold.

»Ich hatte nämlich die Idee, daß Scarlett aus Schlamperei nur die leere Schachtel mitgenommen hatte. Na ja, ich weiß weder, wie so ein Ding aussieht, noch, warum sich die Polizei dafür interessiert.«

Er verabschiedete sich und versprach, sich bald wieder zu melden.

Hinterher ärgerte ich mich. Vielleicht wäre es richtig gewesen zu behaupten, daß ich den Lockenstab eingepackt hätte. Ein neuer wäre schnell gekauft gewesen. Andererseits hatte ich keine Ahnung, welche Marke und welches Alter Scarletts Lockendreher hatte. Es würde wahrscheinlich noch viel verdächtiger aussehen, wenn das Gerät nicht zu der Originalschachtel paßte. Trotzdem war ich beunruhigt und nervös. Zum Glück hatte ich noch zwei freie Tage; ich wollte sie ganz zu meiner körperlichen und seelischen Regeneration verwenden.

Am nächsten Tag rief Frau Römer an. Ob sie mal reinschauen könne? Sie kam also nachmittags, der Dieskau lag mir in den Armen und rührte mich. Frau Römer begann vorsichtig, auf ihre geplante Amerikareise zu verweisen. Ich versicherte, daß mir der Hund jederzeit willkommen sei, und Frau Römer war beglückt. Wenn das wirklich so wäre, wollte sie demnächst einen Flug buchen und dann drei Wochen bei ihrer Tochter in Amerika bleiben. Ich ermutigte sie, ruhig doppelt so lange zu verreisen, denn wenn man schon einmal dort war… Bei dieser Gelegenheit fragte ich sie auch, ob ihre Tochter wisse, wer ihr Vater sei. Nein, sie glaube, ihr Vater sei tot.

Übrigens trug ich an diesem Nachmittag die Brosche, um Frau Römer zu ehren. Ich hatte sie Ernst Schröder noch nicht übergeben, plante aber, sie ihm nach der Beerdigung zu schicken. Frau Römer war glücklich, daß ich das wertvolle Stück angesteckt hatte.

Sie erzählte von ihrem alten Hund, der anscheinend nicht mehr gut sehen und riechen konnte.

»Als junger Hund war der Dieskau ein großer Katzenjäger.

Überhaupt fegte er hinter allem her, was sich bewegte, auch hinter Vögeln. Bei zunehmender Erfahrung hat er das wenigstens aufgegeben.« Sie lachte vor sich hin.

»Einmal, als er noch sehr jung und dumm war, nahm ich ihn mit auf einen Segel- und Sportflugplatz. Von weitem konnte man sehen, wie so ein Riesenvogel auf die grüne Wiese zuflog und sanft landete. Der Hund war nicht an der Leine und schoß davon, um diese Beute zu fangen. Ich natürlich hinter ihm her, denn er war unter der Absperrung durchgewitscht. Mit viel Geschrei und Gerufe gelang es mir, ihn zurückzukommandieren.

Na, sagte ich, was hättest du denn mit diesem Vogel gemacht, du kleiner Hund, wenn du ihn erwischt hättest?«

Ich lachte auch ein wenig, pflichtgemäß.

Frau Römer fuhr fort: »Später kam mir dieses Bild oft wie ein Symbol vor. Auch ich, beziehungsweise alle Menschen, rasen hinter einem großen Ziel her, wollen unbedingt alles haben und erkennen ebensowenig wie der kleine Hund, daß diese Beute das falsche Kaliber hat und wir gar nichts damit anfangen könnten.«

Sie sah mich an und meinte: Ȇbrigens, was ganz anderes!

Gehen Sie mal zum Arzt, Frau Hirte, Sie gefallen mir in letzter Zeit gar nicht.«

Ich lag an diesem freien Tag hauptsächlich im Bett. Am Sonntag abend ließ Witold von sich hören, Kitty hatte sich gar nicht gemeldet. Ernst und er seien wieder zu Hause. Die Apotheke sei geschlossen. Ernst beschäftige sich intensiv mit seinen Kindern.

Ich fragte nach der Beerdigung.

»Kommenden Mittwoch«, antwortete Witold, »die Obduktion hat übrigens ergeben, daß Scarlett ertrunken ist.

Wie wir schon dachten, hatte sie einen Herzanfall, wurde bewußtlos und ertrank.«

»Witold, wie geht es dir?« wollte ich wissen.

»Den Umständen entsprechend«, sagte er kurz.

Ich entschloß mich zu einer Bemerkung.

»Du hast mit Scarlett noch nachts eine Zigarette geraucht«, begann ich, »da es aber sicher unwichtig in diesem Zusammenhang ist, habe ich der Polizei nichts erzählt.«

Witold gab einen Laut von sich, der ziemlich waidwund klang.

»Thyra, ein für allemal: Du brauchst mich nicht zu beschützen. Ich kann auf mich selbst aufpassen.«

»Warum hast du dann nichts davon gesagt?«

»Aus Respekt vor der Toten und natürlich vor Ernst. Es war so schon schlimm genug für ihn. Soll er nun auch noch Zweifel kriegen, ob seine Frau ihn mit seinem Freund betrogen hat?«

»Aber sie hat«, konstatierte ich.

Ich hörte Witolds Feuerzeug klicken und dann das heftige Ein- und Ausatmen.

»Purer Quatsch«, sagte er zornig, »wir haben ziemlich lange draußen gesessen und geredet, aber das war’s auch.«

»Warum seid ihr denn dann noch ins Auto gestiegen?« fragte ich.

Witold erregte sich.

»Wenn das ein Verhör sein soll, dann würde ich an deiner Stelle erst mal vor der eigenen Tür kehren. Wir sind ins Dorf gefahren, um Zigaretten zu holen. Tschüs!«, er legte auf, wütend.

Nach zehn Minuten rief er wieder an.

»Thyra, nimm’s mir nicht krumm, ich bin dabei, die Nerven zu verlieren. Natürlich ist es nett von dir gewesen, nichts über unseren nächtlichen Treff zu verraten. Ich danke dir dafür. — Hast du denn gehört, als Scarlett wieder zurückkam?«

Aha, die lange Zeit im Auto reichte nicht für einen kleinen Trip zum Zigarettenautomaten. Witold befürchtete wohl, daß ich durchaus ahnte, daß im Auto nicht bloß geraucht worden war.

»Natürlich habe ich sie nicht gehört«, versicherte ich, »ich bin wohl gegen zwölf fest eingeschlafen.«

Er schien beruhigt zu sein, sprach über etwas anderes und fragte schließlich, ob ich zur Beerdigung käme.

»Um wieviel Uhr ist sie denn?« wollte ich wissen.

»Um vierzehn Uhr ist die Trauerfeier in der Kapelle vom Ladenburger Friedhof, soviel ich weiß.«

»Das wird nicht gehen, ich kann nicht schon wieder freinehmen«, erklärte ich, denn ich hatte kein Verlangen, in so kurzer Zeit eine zweite Totenfeier mitzumachen. Wir verabschiedeten uns freundlich.

Ich mußte wieder ins Büro, obgleich es mir reichlich schwer fiel. Nichts von meiner Arbeit war delegiert oder gar vom Chef selbst übernommen worden, alles häufte sich auf meinem Schreibtisch, was ich in dieser Woche zu tun gehabt hätte.

Wäre ich doch ganze drei Wochen weggefahren, dann wäre das nicht möglich gewesen! Ich war für die nächste Zeit mit Überstunden eingedeckt. Langweilige Aktenberge würden meine Büro- und Freizeit ausfüllen. Die Gedanken an Verliebtheit, gutes Essen und Wandern waren weit weg, aber auch die Erinnerung an tote Frauen, an Gefahr und Nervenkitzel wurde von meinem Berufsleben ziemlich verdrängt. Früher hatte es mir nicht viel ausgemacht, auch mal abends einen wichtigen Fall zu bearbeiten. Wahrscheinlich durchlief ich jetzt gerade einen Schub des Alterns oder den endgültigen Beginn der Menopause, denn es fiel mir unendlich schwer, zeitig aufzustehen, den Tag über konzentriert zu arbeiten und noch am späten Abend Wäsche aufzuhängen und meine Tasse zu spülen. Fast vergaß ich, täglich an Witold zu denken, dem noch vor kurzem mein erster innerlicher Gruß am Morgen und mein letzter am Abend gegolten hatte.

Nach etwa fünf Tagen, die mit mühseliger Arbeit ausgefüllt waren, rief er an. Witold war aufgeregt. Kaum brachte er seine übliche freundliche Einleitung, mit der er immer seine Gespräche begann und die nur der Frage nach meiner Befindlichkeit galt, zustande.

»Erinnerst du dich, Thyra, daß man früher immer von ›Kommissar Zufall‹ sprach? Heute ist dieser erfolgreichste aller Polizisten durch ›Kommissar Computer‹ ersetzt worden.

Jedenfalls gibt es nun viele junge Kriminalisten, die ihren Computer pausen- und gnadenlos mit Daten, Fakten, Personen und Untaten füttern und auf diesem Wege zuweilen Zusammenhänge entdecken, auf die sie sonst nicht gekommen wären.«

Ich lauschte angespannt. »Na und?« hauchte ich.

»Also, ich wurde mal wieder zur Ladenburger Polizei zitiert.

Nach Hilkes Tod war ich häufig dort, aber in der letzten Zeit herrschte Funkstille.

Nun, um es nicht zu spannend zu machen: Die elsässische Polizei hat den Fall Pamela Schröder abgeschlossen und ihren Ladenburger Kollegen weitergegeben. Und in Ladenburg sitzt also ein Computerfreak. Auch ohne technische Hilfe war ihm bereits aufgefallen, daß die Ehefrauen von zwei befreundeten Männern innerhalb kurzer Zeit unter relativ unklaren Umständen gestorben sind. Aber jetzt wird es interessant. Er kennt einen Kollegen an der Bergstraße, der Beates Fall bearbeitet hat und der ebenfalls computerbesessen ist. Sie dachten beide, daß alle diese Fälle in räumlicher Nähe stattfanden und daß alle drei Frauen weder alt noch krank waren. Thyra, das gleiche habe ich neulich auch zu dir gesagt, und ich bin kein Kommissar!«

»Ich verstehe überhaupt nicht, was du mit dem Computer willst«, sagte ich.

»Das kommt doch gerade. Also, die beiden Kriminalisten fütterten ihre Computer mit allen Personen, die mit diesen drei toten Frauen zu tun hatten. Natürlich haben sie auch noch viele andere Spuren verfolgt, die im Sande verliefen. Na, jedenfalls stellten sie fest, daß ich alle drei gekannt habe, zwei davon sehr gut. Daß ich mit Vivian befreundet war, wußten sie übrigens genau, sie müssen mich gelegentlich observiert haben.«

»Ja, aber was für Schlüsse ziehen sie nun daraus?«

»Thyra, sie haben mir natürlich nicht unter die Nase gerieben, daß sie mich für einen begnadeten Frauenmörder halten. Aber vielleicht denken sie doch in diese Richtung.

Jedenfalls werde ich wieder beobachtet, das habe ich heute deutlich gemerkt.«

»Haben sie auch etwas über mich gesagt?«

»Sie sagten, daß beispielsweise auch Ernst Schröder diese drei Frauen gekannt habe — er steht nicht anders da als ich. Sie werden sich bestimmt mit ihm beschäftigen. Vermutlich bin ich aber noch mehr verdächtig, weil die Serie mit meiner Frau begann.«

»Und was war mit mir?« fragte ich wieder.

»Namentlich haben sie dich nicht erwähnt. Tatsächlich hast du Hilke ja nicht gekannt. Aus meinem Umkreis haben viele Leute sowohl Scarlett als auch Hilke gekannt, jedoch nicht Beate. Sie konzentrieren sich vermutlich erst mal auf diejenigen Menschen, die mit allen drei Toten in Beziehung standen, und das sind höchstwahrscheinlich nur Ernst und ich.«

»Meinst du, daß sie mich auch sprechen wollen?«

Witold überlegte kurz, im Augenblick dachte er hauptsächlich an sich selbst.

»Was weiß ich? Vielleicht unter ›ferner liefen‹. Aber man wird bei dir kein Motiv finden.«

»Witold, um Gottes willen, von wo rufst du an?«

»Von einer Zelle, ich bin doch nicht verrückt. — Bei mir liegt theoretisch ein Motiv vor, meine Frau umgebracht zu haben: Ich konnte ihren Suff nicht mehr ertragen. Aber bei den zwei anderen? Beate hatte nichts gegen meine Beziehung zu Vivian, niemand kann glauben, ich hätte sie aus dem Weg räumen müssen, um dieses Mädchen zu kriegen. Und falls man mir unterstellt, ein Auge auf Scarlett geworfen zu haben, dann hätte ich ja viel eher ihren Mann ermorden müssen.«

»Geht man etwa davon aus, daß es sich in allen Fällen um Mord handelt?« fragte ich, nun auch äußerst irritiert.

»Das sagen sie nicht so direkt. Sie meinen nur, es gebe allzu viele Ungereimtheiten. Wie würdest du dich denn an meiner Stelle verhalten? Weder bei Hilke noch bei Scarlett habe ich ein reines Gewissen.«

»Du solltest dir das auf keinen Fall anmerken lassen«, riet ich.

Dachte er gar nicht an mich? Kam ihm überhaupt kein Verdacht? Vor kurzem war er doch nahe an die Wahrheit herangekommen. Er ist egozentrisch, dachte ich, auch Ernst interessiert ihn nicht sonderlich. Ich versprach, über alles nachzudenken, nichts über seine (und meine) Rolle bei Hilkes Tod zu sagen, auch nicht über sein Rendezvous mit Scarlett kurz vor ihrem Ende.

Ich mußte auf der Hut sein. Man glaubte also, drei Frauen könnten ermordet worden sein und eventuell alle vom gleichen Täter. Ich mußte überlegen, was ich bei einem möglichen Verhör sagen sollte. Und denkbar war durchaus, daß auch mein Telefon abgehört wurde und man mich beschattete.

Mittwoch abend. Die Beerdigung von Scarlett mußte wohl vorbei sein. Witold und Kitty waren sicher wieder zu Hause.

Ich mochte nicht anrufen, sondern fuhr vom Büro aus nach Ladenburg. Vor Witolds Tür stand Beates Auto. Sekundenlang setzte mein Herz aus, bis ich begriff, daß es Vivian sein mußte.

Nein, die wollte ich nicht bei einem Tête-à-tête mit ihm überraschen. Ich fuhr sofort weiter. Nach Hause wollte ich auch nicht, daher beschloß ich, Kitty zu besuchen.

Obgleich ich schon einmal mit Witold zu Kitty gefahren war, fiel es mir nicht leicht, ihre Wohnung in Schriesheim zu finden, ich mußte zweimal fragen. Es war ein Mehrfamilienhaus in einer Wohngegend. Ich schellte. Die Tür wurde sofort aufgerissen. Kitty stand mit einem Kind im Flur. Sie wunderte sich nicht über meinen Besuch, verabschiedete sich von der Nachhilfeschülerin und machte mit ihr einen neuen Termin aus, dann gingen wir ins Wohnzimmer.

Kittys Wohnung war nordisch hell, eine Gitarre hing an der Wand, blaue Flickenteppiche lagen am Boden, auf den Segeltuchsesseln hingen Schaffelle. An den Wänden standen rohe Holzregale mit vielen Büchern, auf dem Schreibtisch lauerte eine Katze.

Um einen Moment der Befangenheit zu überbrücken, trat ich auf die Katze zu und wollte sie streicheln, aber das Tier sprang ängstlich weg und versteckte sich. Kitty ließ mich Platz nehmen und verschwand in der Küche: Sie wollte Teewasser aufsetzen. Witolds Buch lag auf dem Schreibtisch. Ein Foto von ihm und ihr, wohl von einer gemeinsamen Klassenfahrt, hing sehr delikat gerahmt und ein wenig versteckt in der Fensterecke. In mir wallte nun doch eine eifersüchtige Wut auf, denn solche Fotos besaß ich nicht.

Als Kitty mit zwei irdenen unglasierten Teeschalen, braunem Zucker und Ingwerplätzchen wieder erschien, fragte ich, ob ihre Fotos von der Elsaßwanderung fertig wären. Sie sah mich entsetzt an.

»Mein Gott, nach diesem Schock denkst du noch an Fotos!

Der Film ist nur halb verknipst, sicher werde ich die andere Hälfte noch monatelang für eine passende Gelegenheit aufheben.«

Nun fragte ich, wie die Beerdigung gewesen sei. Kitty rannte wieder in die Küche, um das kochende Wasser in die Teekanne zu schütten.

»Natürlich war es schrecklich«, begann sie, »der Pfarrer hat aber wenigstens eine gute Rede gehalten, weder sentimental noch banal. Wir alle waren ergriffen. Ernst und die beiden Kinder — das war kaum zum Ertragen! Ein so großes Leid, das kann ich dir gar nicht schildern!« Kitty hatte Tränen in den Augen.

»Waren viele Leute da?«

»Ganz Ladenburg, so schien mir. Auch das halbe Lehrerkollegium, die Schulklassen von Oleg und Annette, verschiedene Vereine. Die Schröders sind sehr beliebt. — Ach, es ist schon tragisch, wenn eine Mutter von zwei Kindern stirbt.«

Ich hörte wieder mit Genugtuung von der großen Beerdigung. Alles mein Werk. Jetzt tat es mir doch leid, nicht dabei gewesen zu sein.

»Warum warst du nicht dort?« wollte Kitty wissen.

Ich erklärte ihr, daß es schon große Schwierigkeiten gegeben hätte, für diese Wanderung freizukriegen; an einem Nachmittag so kurz darauf sei es einfach nicht möglich gewesen.

»Meinst du, ich soll Ernst Schröder die Brosche seiner Mutter einfach als Päckchen zuschicken?« fragte ich.

Kitty überlegte und kraulte dabei die Katze.

»Ich würde noch warten. Im Augenblick hat er sicher ganz andere Dinge im Kopf. Außerdem wird ihn diese Brosche an den letzten gemeinsamen Abend erinnern. Er denkt ja leider, daß er mit dieser Broschengeschichte seine Frau verletzt hat.

Nein! Warte auf jeden Fall, bis die erste schlimme Zeit vorbei ist. Dann kann Rainer ja vorsichtig anfragen, ob er die Brosche überhaupt noch haben will.«

Ein vernünftiger Rat, aber ich hatte einen fast unbezähmbaren Drang, Frau Römers Brosche wegzugeben, sie loszuwerden. Vielleicht wollte ich damit etwas wiedergutmachen…

»Wie geht es Witold?« Ich konnte nicht anders und mußte diese Frage stellen.

Kitty betrachtete mich. Sie war müde. In ihren alten Jeans und einem noch älteren Norwegerpullover hing sie im Schaffell und hatte einen großen Teil ihrer frischen Wandervogelaura gegen eine gestreßte Lehrerinnenfreundlichkeit eingetauscht.

»Rainer mochte Scarlett sehr, glaub’ ich. Ihr Tod geht ihm nahe«, sie zögerte ein wenig, »ich nehme aber an, seine junge Freundin wird ihn trösten.«

Die letzten Worte waren trotzig. Kitty wollte, daß ich von Vivians Existenz erfuhr, offensichtlich war sie ebenso als »einzige Vertraute« eingeweiht worden wie ich. Ich beschloß, nicht zu lügen.

»Ich weiß von seiner Freundschaft mit Vivian«, sagte ich, »er hat mir natürlich davon erzählt.«

Das schien Kitty nicht allzu sehr zu verwundern, sondern nur ihren Verdacht zu bestätigen, daß wir beide als vertraute Beichtschwester für diesen Charmeur fungierten. Konnte man ihm das vorwerfen? Wahrscheinlich machte er keine falschen Versprechungen und Liebeserklärungen, sondern kostete es nur aus, möglichst viele Eisen im Feuer zu haben.

Kitty seufzte. Sie schien ähnlichen Gedanken nachzusinnen.

Ich wagte aber nicht, nach ihrer Beziehung zu fragen.

Es wurde nun schon früh dunkel. Ich beschloß, wieder über Ladenburg zurückzufahren. Aus alter Gewohnheit stellte ich den Wagen ab, lief zu Fuß an Witolds Haus vorbei und starrte auf Beates Auto. Ich kroch in die Apfelbäume, die allerdings ihre Blätter abwarfen und teilweise schon kahl waren.

Im Wohnzimmer saß Vivian ganz allein und weinte.

Eigentlich hatte ich etwas anderes erwartet, beispielsweise eine Verführungsszene. Aus der Küche kommend, betrat ein junger Mann die Bühne, es war wohl der älteste Sohn, und stellte ein Tablett mit Brot, Butter und Aufschnitt auf den Tisch. Witold rief aus der Küche, und der Sohn holte einen wurzeligen Korkenzieher aus der Schublade und verschwand. Vivian schneuzte sich. Ihre Augen waren verschmiert, die Nase rot.

Nun kam Witold, strubbelte ihr im Vorbeigehen freundlich übers schwarze Haar und stellte Rotwein und Gläser auf den Tisch. Die drei setzten sich und aßen. Sie waren nicht sonderlich lustig, sondern ziemlich still. Aber trotzdem ging von dieser Szene des gemeinsamen Essens unter einer Hängelampe ein Zauber der Geborgenheit aus, der mich mehr erregte, als es eine erotische Vorführung zustande gebracht hätte. Ein grenzenloses Heimweh nach menschlicher Gesellschaft und Zugehörigkeit überkam mich. Meine Ausgeschlossenheit von jeglichem familiärem Leben würde erst mit meinem Tod enden, das wurde mir klar. Und wieder fiel mir der Revolver ein, der inzwischen in meinem Badezimmer versteckt war. Er lag in einem ausgedienten Kulturbeutel ganz oben auf dem Medizinschränkchen.

Vielleicht sollte ich ihn bald an den eigenen armen Kopf setzen.

Die Glastür war fest verschlossen, von den Gesprächen der drei war kaum etwas zu vernehmen. Der Sohn holte eine Zeitung und schien etwas nachzulesen, worüber man diskutierte. Ich wagte nicht, mich nahe heranzupirschen. Es war kalt. Ich war einsam.

Schließlich ging der Sohn mit Vivian aus dem Haus, sie fuhren gemeinsam mit Beates Auto davon. Witold trug das Geschirr in die Küche. Seine Bewegungen waren lahm, sein Gesicht zeigte einen leicht resignierten Ausdruck. Ich beschloß heimzufahren.

Abrupt öffnete Witold die Glastür und trat auf die Terrasse.

Er atmete tief durch, und plötzlich sah er mich. Anscheinend erkannte er nur eine schemenhafte Gestalt, er rief, eher ängstlich: »Wer ist da?«

Es war gräßlich. Kein Mauseloch weit und breit. Sollte ich wegrennen? Dann könnte er mich mühelos fangen, wie eine Einbrecherin, die Böses im Schilde führte. Ich schämte mich zu Tode, trat aber ans Licht und sagte: »Ich bin’s.«

Witold sah mich fassungslos an.

Ich stotterte: »Eigentlich wollte ich dich besuchen und fragen, wie die Beerdigung gewesen ist. Als ich aber das Auto vor der Tür sah und merkte, daß du Besuch hast, wollte ich nicht stören.«

Witold rang nach Worten.

»Soll ich das etwa so verstehen, daß du mich bespitzelst?«

»Nein, um Gottes willen, nein! Das würde ich nie tun! Aber irgend etwas zog mich in den Garten, wo ich damals stand, als es mit deiner Frau passierte.«

»Meinst du, der Täter kommt an den Ort seines Verbrechens zurück?«

Witold packte mich unsanft am Handgelenk und zog mich herein. Er schloß die Tür.

»Wie oft hast du schon da draußen gestanden?« Er war so böse, daß ich richtig Angst vor ihm bekam.

»Heute zum zweitenmal. Es überkam mich auf einmal so«, stammelte ich.

»Ich glaube dir kein Wort mehr.« Witold steckte sich eine Zigarette an und musterte mich mit einem unverhohlen feindseligen Ausdruck in den Augen.

»Wenn es noch einmal vorkommt, daß ich dich in meinem Garten erwische, rufe ich die Polizei und zeige ihnen deine großen Füße!«

Das war unfair. Ich weinte los. Weniger wegen der großen Füße als wegen seiner Gehässigkeit. Ich wußte aber, daß er bei Tränenausbrüchen weich wurde, daß er trotz seiner Entrüstung immer noch ein gelernter Frauentröster war. Richtig: Nach einigen Zigarettenzügen seinerseits und einigen Schneuzern meinerseits lenkte er ein.

»Thyra, du bist ein sehr einsamer Mensch. Nein, widersprich nicht; seit Beate nicht mehr lebt, kannst du dich wohl mit niemand mehr aussprechen. Vielleicht solltest du Anschluß an eine Frauen-Selbsterfahrungsgruppe suchen oder es mit einer psychologischen Beratung probieren…«

»Meinst du, ich hätte eine Schraube locker?« schluchzte ich.

Er legte den Arm um mich.

»Das haben wir doch alle. Sicher bin ich genauso neurotisch wie du. Nur interessante und sensible Menschen brauchen einen Psychologen. Ich werde demnächst auch einen aufsuchen, ich habe schon einen Termin.«

»Mir kann keiner helfen«, plärrte ich, »am besten, ich wäre tot!«

Witold streichelte meinen Rücken, was äußerst angenehm war. Schon, damit er nicht aufhörte, weinte ich weiter.

»Aber, aber! Hier ist ein Taschentuch. Wenn du in Zukunft vor meinem Haus stehst, dann schellst du, ganz egal, ob Besuch da ist. So einfach ist das!«

Ich beruhigte mich und fragte schließlich auch Witold nach der Beerdigung. Sofort verfinsterte sich sein Gesicht.

»Nun habe ich den ganzen Zirkus mit meiner Frau schon durchgemacht, jetzt muß ich alles noch mal mit Ernst durchstehen! Mein armer Freund war unselbständig wie ein Kind. Aber du weißt ja nicht, was man sich alles vom Bestattungsunternehmer anhören muß. ›Dem Leben einen würdigen Abschluß geben‹ heißt, möglichst viel Geld in einen Sarg investieren. Früher hätte Ernst so etwas abgelehnt und das Geld lieber einem Kinderdorf gespendet, aber jetzt war er so hilflos und unglücklich, daß er nur das Teuerste für seine tote Frau bestellt hätte.«

Über diese Seite der Angelegenheit hatte ich noch gar nicht nachgedacht. Wieviel Geld hatte man bei diesen drei Beerdigungen wohl insgesamt ausgegeben?

Wir saßen stumm nebeneinander. Witold rauchte, ich knüllte nervös sein nasses Taschentuch in meinen Händen.

»Die Kinder sind ins Kino gefahren«, sagt er auf einmal beiläufig, »ich war zu müde und hatte auch keine Lust dazu.«

»Die Kinder?« fragte ich.

»Na ja«, erklärte er, »vom Alter her gehört Vivian eher zu meinen Kindern als zu mir. Sie scheint in mir auch weniger den Liebhaber als den Papa zu suchen. Mein Gott, sie hat tausend Probleme, mit denen sie nicht fertig wird.«

Ich hätte gern gewußt, ob sie nun seine feste Freundin war oder nicht. Wie wir beide so traurig nebeneinander hockten, dachte ich, daß wir auch ein Ehepaar sein könnten, das nach dem Besuch seiner Kinder wieder schweigsam zusammensitzt.

Witold schien meine Neugierde in puncto Vivian zu ahnen.

»Ich bin zu alt für dieses Mädchen«, flüsterte er, »schließlich habe ich einen Beruf, auch den Haushalt und den Garten. Ich kann und mag nicht mehr die Nächte durchmachen — ich brauche meinen Schlaf.«

Tausend Gedanken schpssen mir durch den Kopf. Sollte ich ihm meine Liebe gestehen, sollte ich einen Versuch in diese Richtung wagen? Und wenn er dann in einem Anflug von Einsamkeit und Sentimentalität mit mir ins Bett gehen wollte?

Ich überlegte scharf, ob ich das überhaupt anstrebte.

Andererseits — wer nicht wagt, kann auch nicht gewinnen, ein alter Spruch. Ich lehnte mich ein wenig an ihn, ein zaghafter Test des Auslotens. Der Druck wurde nicht erwidert. Er ließ es geschehen, um nicht unhöflich zu sein, trachtete aber danach, sich nach Ablauf einer Toleranzminute durch Bewegung zu entziehen und nach einer weiteren Zigarette zu suchen.

Was sollte ich überhaupt über Möglichkeiten nachgrübeln, wenn sie doch von vornherein zum Scheitern verurteilt waren!

Er wollte mich nicht; nur meine platonische Verehrung tat ihm gut, und um sie zu erhalten, war er auch bereit, sich bei Gelegenheit tröstend und fürsorglich ins Zeug zu legen. Ich stand auf. Er tat es mir sofort nach, ohne mich auch nur mit der geringsten Geste zu weiterem Bleiben zu veranlassen. Wir gingen zur Tür.

»Also merk dir für die Zukunft: Ich bin immer für dich da.

Aber ich möchte nicht, daß jemand in meinem Garten steht und mich heimlich beobachtet. Allein bei diesem Gedanken könnte ich ausrasten!«, aber er lächelte ein wenig, um seinen warnenden Worten die Schärfe zu nehmen, und berührte federleicht mit seinen Lippen meine Wange. Ich verließ ihn.

Frau Römer fuhr nach Amerika. Ich bekam den Hund und fühlte mich durch seine Gegenwart ein wenig getröstet. Ich sprach viel mit ihm, wie es einsame Menschen zu tun pflegen; ich sprach auch mit den Toten, mit Beate, meiner Mutter, sogar mit Scarlett und klärte sie über meine Verwundungen und meine trübe Seelenlage auf.

Eines Abends rief Witold an; ich hatte ihn seit damals, als er mich im Garten gestellt hatte, weder gesehen noch gesprochen.

Im nachhinein war mir die Peinlichkeit dieser Situation immer deutlicher geworden, und ich hatte auf einmal das Bedürfnis, ihn nie wieder zu treffen.

Er sprach ohne lange Prämissen.

»Eben war der Computer-Polizist wieder hier. Ich rufe eigentlich nur an, um dich zu warnen. Es könnte gut sein, daß er auch bei dir noch auftaucht.«

»Gibt es neue Erkenntnisse? Muß ich auf irgend etwas besonders achten?« fragte ich.

»Na ja, wir haben ja schon darüber gesprochen. Du hattest mir zugesagt, nichts über mein nächtliches Treffen mit Scarlett und nichts über deine und meine Beteiligung an Hilkes Tod zu sagen. Kann ich mich darauf verlassen?«

»Klar, kannst du. Im Fall Hilke beruht das ganz auf Gegenseitigkeit.«

Bereits eine halbe Stunde nach diesem Gespräch war der Ladenburger Kriminalist bei mir. Ich sperrte den maulenden Hund ins Schlafzimmer. Der Mann war höflich und kühl. Er habe einige Fragen, denn es gebe in drei Mordfällen noch ungelöste Probleme, zu denen mir unter Umständen etwas einfallen könne.

Zuerst fragte er mich eingehend über mein Verhältnis zu Beate aus, obgleich doch gerade dieser Fall nicht in seinem Kompetenzbereich lag. Ich sollte überdies präzise schildern, was ich über den Unfall wußte.

»Ich kann doch nur sagen, was in allen Zeitungen stand«, meinte ich.

»Nun, vielleicht doch noch mehr als das. Ich könnte mir denken, daß Ihre Freundin mit Ihnen telefoniert und Ihnen von einem bevorstehenden Picknick erzählt hat. Es ist immerhin möglich, Frau Hirte, daß Sie eine bestimmte Person decken wollen, beispielsweise Herrn Engstern. Immerhin wußten Sie als einzige, daß Ihre Freundin in ihn verliebt war, das scheint sie nämlich sonst keinem verraten zu haben.«

»Ja, das hat sie mir anvertraut. Aber Beate hat keinen Zweifel daran gelassen, daß diese Verliebtheit bisher eine einseitige Angelegenheit war. Wenn sie mit Herrn Engstern eine Verabredung gehabt hätte, hätte sie es mir vielleicht gesagt. Sie hat aber nicht!«

Der Kriminalbeamte sah mich aufmerksam an, er schien noch weitere Zweifel zu haben.

»Der Einkaufszettel Ihrer Freundin lag in ihrem Portemonnaie, der Korb mit den Wochenendeinkäufen stand im Auto. Den Sekt kann sie natürlich von zu Hause mitgenommen haben, aber das Essen stammte nicht von ihr, daß muß jemand anderes mitgebracht haben. Der Metzger, bei dem sie ihren Sauerbraten gekauft hat, verkauft nämlich keine fertig gegrillten Hähnchen. Woher wußten Sie eigentlich, daß Beate Sperber Grillhähnchen gegessen hat?«

»Habe ich das gesagt?« fragte ich.

»Sie haben es zu Herrn Engstern gesagt«, behauptete er, »er sprach nämlich von dieser letzten Mahlzeit, als sei er dabeigewesen. Mit Sektglas und Hühnerbein habe Beate Sperber auf dem Turm gestanden und sei heruntergefallen. Wir haben den Mageninhalt der Toten nicht für die Öffentlichkeit bekanntgegeben, nur über die leere Sektflasche stand etwas in einer Zeitung. Herr Engstern behauptete zuerst, vom Grillhähnchen in der Zeitung gelesen zu haben, aber nach längerem Diskutieren meinte er, Sie hätten davon gesprochen.«

Ich zuckte mit den Schultern. Mir fiel die Szene in Bickelbach ein: Scarlett mit Sekt und Huhn. Das hatte mich damals schockartig an Beate erinnert, und wahrscheinlich hatte ich es Witold gesagt.

»Ich kann mich nicht erinnern«, meinte ich und tat unbefangen. »Falls ich es gesagt haben sollte, kann ich es eigentlich auch nur gelesen oder von einer weiteren Person gehört haben. Beate jedenfalls hat mir über dieses Picknick nichts gesagt.«

Der Beamte ging an meinen Gläserschrank. Zielstrebig suchte er meine fünf kristallenen Sektgläser heraus.

»Ein solches Kristallglas wurde von Ihrer Freundin für den Sekt verwendet. Wo ist Ihr sechstes Glas?«

»Aber ich bitte Sie«, antwortete ich entrüstet, »Gläser gehen immer mal kaputt. Wer hat schon von allen Gläsern die vollständige Zahl.«

»Sie, Frau Hirte«, entgegnete er lakonisch, »hier sehe ich zum Beispiel sechs Sherrygläser, sechs Weingläser und sechs Wassergläser. Bei Ihnen sieht alles fast wie neu aus und äußerst ordentlich.«

Das war ein unverschämter Trick, ich wurde böse.

»Na und? Ich habe keine Familie und wenig Besuch, da werden Geschirr und Gläser naturgemäß nicht viel gebraucht.

Aber Sekt trinke ich auch, wenn ich allein bin, weil ich zu niedrigen Blutdruck habe. Mir ist schon vor langer Zeit ein Glas zersprungen. Wollen Sie mir aus einem fehlenden Sektglas einen Strick drehen?«

Er sagte nichts dazu, sondern betrachtete meine Füße.

»Welche Schuhgröße haben Sie?«

»Neununddreißig«, log ich, sollte er doch nachmessen.

»Ich werde eines Ihrer Gläser mitnehmen, wenn’s geht auch Ihre Fotoalben. Außerdem möchte ich mir Ihren Schuhschrank mal ansehen. Besitzen Sie Turnschuhe?«

Ich schüttelte den Kopf. Sollte ich nach einem Durchsuchungsbefehl fragen und einen Anwalt anrufen?

Er stand auf.

»Ach so, ich möchte auch einen Blick ins Bad werfen.«

Ich ging mit ihm. Zuerst begab er sich ans Schuhregal, das er, ohne zu fragen, im Schlafzimmer fand. Der Hund knurrte ihn böse an. Er prüfte mehrere Paare und sagte vorwurfsvoll:

»Größe einundvierzig, bei neununddreißig würden Sie sich arg quälen!«

Am Kleiderschrank hielt er sich nicht sehr lange auf.

Darauf ging er ins Bad. Ich folgte. Er zog die weißen Resopalschubladen der kleinen Kommode auf und kontrollierte das Funktionieren meines Föns.

»Machen Sie mal den Medizinschrank auf!« befahl er wie ein Zöllner. Ich stand außerdem näher dran als er. Seine Augen glitten hurtig über meine Pillen- und Kosmetikvorräte.

»Und was ist da drin?« er deutete auf die Kulturtasche, die oben darauf lag.

»Ausrangierte Lockenwickler«, sagte ich.

Mit einer Kopfbewegung kommandierte er: »Runterholen, aufmachen«, gleichzeitig ging er selbst auf die Knie und öffnete die Klapptür unter dem Waschbecken, hinter der ein Eimer mit Scheuerpulver und Putzlappen stand. Ich riß den Revolver aus der Tasche und schoß ihm aus nächster Nähe direkt in die linke Schläfe, er hatte nicht einmal Zeit gehabt, sich nach mir umzudrehen.

Da lag er mit einem Loch im Kopf, Blut lief auf den Badevorleger, der Schuß dröhnte mir im Ohr. Er hatte sicher nach Scarletts Lockenstab gesucht, er hatte mein Sektglas eingesteckt, und er hätte am Ende noch herausbekommen, daß ich das Grillhähnchen bei meinem Metzger gekauft hatte.

Ich saß benommen und verstört auf dem Badewannenrand (wie schon einmal) und starrte das Blut an. Das schwerhörige Ehepaar unter mir hatte den Schuß wahrscheinlich nicht registriert, aber meine Nachbarin um so sicherer. Ich lief auf den Flur und lauschte, aber das stets dudelnde Radio war nicht zu hören, kein Licht schien durch die milchige Glasscheibe der Tür.

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